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Persönliche Bedeutung meiner Musik

Hier schreibe ich über die persönliche Bedeutung von einigen meiner Songs.

“hometown” ist für mich das was ich seit vielen Jahren in München beobachte: Kinder und Familien, ohne wirklich sehr viel Geld, haben dort zum Wohnen keinen Platz mehr. Die Erkenntnis, dass in der Heimatstadt die eigenen Kinder nicht mehr aufwachsen können. (“you have to leave with your children, you have to go outside”) Verantwortlich ist die Macht des Geldes. Das Zuviel und die soziale Spaltung führen dazu, dass Reiche in Altbauten arbeiten, wo früher Familien mit Kindern wohnten. Sie kommen morgens in Cabrios aus Starnberg, parken in Garagen in Schwabinger Innenhöfen, die so viel kosten, wie vor Jahren eine Wohnungsmiete.

“fun and joy” ist meine Idee davon wie es gewesen wäre, wenn ich in einer durchschnittlichen Familie aufgewachsen wäre und nicht in diversen Kinderheimen. Ich hätte mich vermutlich verhalten, wie der Durchschnitt in der Zeit meiner Jugend. (“left my home for fun and joy … having fun, drinks and sound…”) Jeden Freitag oder Samstag, die Freunde vor der Tür, die auf mich warteten. Eltern, die meinten dass ich auch mal zu Hause bleiben könnte, anstatt ständig auf Tour. (“When my parents said:
please stay at home tonight, I told them later on: oh no, oh no, oh no!) Aus heutiger Sicht vielleicht kein Schaden, dass es damals nicht so war wie ich in dem Song töse (“…discos an bars in the city, and all the girls looking so pretty, felt like a star …”). Die Wahrheit ist, dass es für mich Dergleichen gar nicht gab. Im Kinderheim lebte ich damals ziemlich isoliert unter meines Gleichen, ohne Freunde, die mich zu Hause abholten.

“fire the stone” stammt aus meinen Gedanken daran, dass Eltern während meiner Kindheit in einem Kinderheim nicht da waren, um mich vor der Gewalt Erwachsener zu schützen. Der Song bedeutet für mich auch, dass ein Beziehungsabbruch oft nicht reparabel ist. Einsamkeit, die ich in meiner Kindheit im Heim erlebte, versuche ich mit diesem Song auszudrücken. Er bedeutet für mich das was ich in Folge meiner Kindheit in Heimen, bei Pflegeeltern immer wieder erlebte: Beziehungsabbruch und später immer wieder Brüche durch Brücken die abbrachen.

“the wrong song” drückt aus, dass ich auf einem falschen Gleis unterwegs sein könnte. Wenn ich das merke, kann es Sinn machen, von Außen auf mich und den Weg den ich beschritten habe zu blicken. (“you have a look, what is going wrong on your way..”) Auch kann es ziemlich gut sein, zu überprüfen hinter welchen “Werten” ich her laufe. (“money is the topic in your brain”) Und zu guter Letzt wäre es sinnvoll das alles nicht zu spät zu überprüfen, also rechtzeitig zu merken, wenn was schief läuft (“youre dancing with the wrong song”). Denn die Lebenszeit, die ich habe ist begrenzt (“maybe its to late now, maybe your time has gone.,”).

“nature” ist die Vision, dass Menschen meines Landes andere daran hindern, Ressourcen einfach zu verschleudern. (“no more privat-jet, couse people of my country want it so”). Ich spreche in “nature” von einem Menschen, der extrem viel Konsum gewohnt ist (“I know nothing more than nice shops … nature in not mine”). Es geht um die Haltung, dass Menschen glauben, sie könnten der Natur nur ein “Existenzrecht” zusprechen (“… wanna allow to live em only”). Dass die Sache mit unserer Natur aber wesentlich komplexer ist, interessiert solche Menschen nicht. Für mich hat das  Ähnlichkeit mit Erwachsenen, die ich in den siebziger Jahren im Kinderheim in Berchtesgaden erlebt habe. Sie behandelten Kinder nicht wie ihre eigene Zukunft, sondern traten und schlugen sie.

Meinen Song “blue sky” habe ich in akustischer und Band-Version aufgenommen.
Ich sehe in dem Song die Hoffnung, dass Menschen, die unter widrigen Umständen leben oder aufwachsen, (“when you live on a noisfull road”) es schaffen können, mit positivem Denken und Handeln, in dem ich z.B. auf Menschen zu gehe, anstatt sie vorbei eilen zu lassen (“stop people passing by, than you try to get the sky”) aus einem Tal der inneren Finsternis heraus zu finden. Das ist ungefähr das, womit ich seit meiner Kindheit dauerhaft beschäftigt bin. Es lohnt sich Rückschläge, Schicksalsschläge zu überwinden und immer wieder neu anzufangen. Schicksalsschläge, Gewalt in der Kindheit, Traumatisierung … das wirkt. … Jedoch ist es möglich sich dem Wirken entgegen zu stellen und immer wieder das eigene Leben zu verändern zum Besseren. Das versuche ich mit “blue sky” auszudrücken.

Den Song “thunder” habe ich am 13.03.2013 auf dem Album nowhere auf jamendo.com erstmals veröffentlicht.
Der Song bedeutet, dass ich mein Leben lang versuche mich von Abhängigkeiten, die mir nicht gut tun, zu lösen. Indem ich das tue entstehen meist sofort neue Abhängigkeiten. “Blue thunder” ist ein Sturm, wie zum Beispiel eine Beziehung, die für mich Schlechtes bringt, ein Suchtmittel, das zerstörerisch ist, ein Arbeitsplatz, der mich ruiniert, ein Ort der mich langsam tötet, eine Wohnung die mich bis zur Existenznot arm macht, oder ein Platz für mich, den ich aber nicht haben oder einnehmen sollte, weil er mich kaputt macht. Der Song beschreibt, dass ich mich von diesen Abhängigkeiten befreien muss, indem ich sie töte. Wenn ich das nicht mache, wird “blue thunder” weiterhin mein Leben stürmen und alles was ich tue oder habe besetzen.
Warum entstand der Song und warum bedeutet er für mich das?
Ich habe im Jahr 1974 das Haus meines Vaters im Alter von 10 Jahren verlassen, weil ich dessen Gewalt nicht mehr ertragen konnte. Die Abhängigkeit vom Vater und dessen Gewalttätigkeit löste ich. Aber ich begab mich in neue Abhängigkeit: Ich wurde in einem Kinderheim mit gewalttätigen Heimleitern am Obersalzberg bei Berchtesgaden verbracht.

Den Song “leave it” habe ich am 10.11.2016 auf dem album “calling back” erstmals bei jamendo.com veröffentlicht.
In “leave it” geht es um mich im Alter von nur 10 Jahren. Das war 1974. Ich stand vor der schwersten Entscheidung meines Lebens. Davon wusste ich damals natürlich nichts und wenn es mir jemand gesagt hätte, wäre ich zu klein und dumm gewesen, es zu verstehen. Es geht in “leave it” darum, dass ich damals um 5 Uhr Morgens, an einem “Weekend-Morning”, die Flucht aus meinem Elternhaus für immer ergriffen habe. Es gab damals niemanden, der mir “the best way out of this town”, den besten Weg aus der Stadt erklärt hätte: Das meine ich im Song “leave it” so, dass mir damals niemand die Tragweite und Konsequenz aus meiner Flucht aus meinem “Parents-Home” erklärt hat. Heute weiß ich, dass das im Grunde gut so war, denn ich hatte sehr lange darüber nachgedacht zu flüchten und ich hatte viel Mühe dabei, meine Angst vor dieser endgültigen Flucht zu überwinden. Wie viel Angst ich hatte, das beschreibe ich im Buch “Zweifel” aus Sicht des damals Zehnjährigen, indem ich in dem Buch die Methode gewählt habe, von der ersten bis zur letzten Seite konsequent die Sicht des flüchtenden zehnjährigen Kindes einzunehmen.

Den Song “god is dead” habe ich 2013 auf dem Album “the fool on the hill” erstmals veröffentlicht.
Der Song findet seinen Ausgangspunkt in meiner Jugend, als ich im Alter von 14 Jahren als evangelisch getauft, die evangelische Konfirmation vor mir hatte. Ich wollte das nicht, denn ich zweifelte gewaltig daran, dass es Sinn macht, an irgend etwas zu glauben. Doch ich kam nicht drum herum, wurde evangelisch konfirmiert und bin u.a. deshalb später aus der Kirche ausgetreten.
Für mich offenbarte sich große Widersprüchlichkeit in einem katholischen Elternhaus in Berchtesgaden, das ich damals zu meinem großen Glück haben durfte. Ich war ein geflüchtetes Kind, zuvor vielfach geschlagen von meinem leiblichen Vater. Dank einer Lehrerin, die auf mein Schicksal aufmerksam geworden war, konnte ich 1977 zum Glück aus einem Kinderheim am Obersalzberg entkommen. Dort war ich jahrelang von zwei Männern, sogenannten “Heimleitern” regelmäßig schwer zusammengeschlagen worden.
In dem Song “god is dead” geht es darum, die Perspektive zu wechseln. Die Zeile “changing view is true” habe ich, seit ich meine Kindheit hinter mir lassen durfte, immer wieder umzusetzen geschafft. Meinen Blickwinkel auf meine kleine Welt zu wechseln führte schließlich dazu, dass ich merkte, was ich in dem Song in folgender Zeile singe “they pulled wool over my eyes”.
Zu erkennen, dass die Erwachsenen die mich in meiner Kindheit umgaben, offenbar eine für sie schöne Geschichte über einen Gott erfunden hatten, machte für mich die Sicht auf die Wahrheit frei. Ich merkte, dass mein Blick auf meine kleine Welt getrübt war von meiner Vorstellung, ich müsse an einen Gott glauben, der es angeblich gut mit mir meint. Eine Kindheit von Hass und Gewalt zu erleben stand jedoch in krassem Gegensatz dazu. Das macht auf Dauer krank. Als heilendes Gegenmittel baute ich meine persönliche, kindliche Lüge auf, um diesen Widerspruch meiner Kindheit zu überstehen.
Weil ich ein geschlagenes und gehasstes Kind war, lernte ich mit der Heuchelei der Erwachsenen zu leben. Eines Tages begriff ich, dass ein Gott, der mich während meiner Kindheit hasste und ständig verprügeln ließ, nicht gut für mich sein kann. Deshalb glaubte ich, dass er eine Erfindung sein musste. So entstand fast 30 Jahre später der Song von einem Gott, der wie die virtuelle Welt heute erfunden wurde.  Deshalb die Textzeile in dem Song: “he never existet, he only was listet in a virtual programm of the world”.

Der Song “healing” auf dem Album “nowhere”
bedeutet für mich, dass die Widersprüche meiner gewaltreichen Kindheit und dem Leben als Erwachsener nicht auflösbar sind. “Healing” beschreibt was unser Leben in der westlichen Zivilisation bedeutet: Die permanente Gier nach noch mehr Reichtum. Die Menschen geben sich nicht mit dem was sie haben zufrieden. “Healing” meint in dem Song nicht “Heilung”, sondern Zufriedenheit.  Es geht in dem Song um eine Unzufriedenheit, die damit zu tun hat, dass wir zu viel von dem haben, was wir glauben zu brauchen und das einfach ungesund ist.

Der Song “riding in my head”
handelt von einem Unfall. Ich wurde am 26.11.2011 bei einem Wochenendspaziergang auf einer kleinen Straße in Karlsfeld bei München von einer galoppierenden jungen Reiterin und deren Pferd einfach überrannt. Die junge Frau nannte ihr Pferd “secret gun”. Nur durch sehr viel Glück überlebte ich diesen unwahrscheinlichen Unfall. ich habe darüber das kurze Sachbuch “secret gun” geschrieben,

 

Kein Kunststück

Kein Kunststück

Ein kurzes Stück von Bernd Thümmel

Reindorf arbeitet nachts in einer kleinen Fabrik an der Pforte. Er hat den Eindruck sein Leben ziehe an ihm vorbei. Die Chance daran an Stellschrauben etwas zu verändern versucht er zu nutzen.

1. Szene

Das Bühnenbild:

Das Mobiliar des Arbeitsplatzes: Braune, halbhohe Schränke mit Ablageflächen auf denen je eine Reihe von sauber beschrifteten Ordnern steht. Auf einer der Ablagen liegt Reindorfs schwarze Dienststechuhr mit schwarzem Ledertragegurt. Hinter Reindorfs Schreibtisch, an der einzigen Wand, denn alle anderen Wände bestehen aus den hohen Fenstern, hängt eine Uhr.

Rechts neben Reindorfs Arbeitsplatz steht auf der Bühne ein Rednerpult mit einem dicken Buch in der Größe A 4. Es ist der Platz des Notators.

Die Schauspieler:

Reindorf ist erst Mitte zwanzig Jahre jung. Er trägt die Dienstbekleidung einer Bewachungsfirma bei der er im Jahre 1987 beschäftigt ist. Graue Hose mit Bügelfalte dazu ein hellblaues Hemd. Reindorf sitzt an einem großen Schreibtisch mit grüner Schreibauflage. Rings um Reindorfs Schreibtisch, seinem Arbeitsplatz, befinden sich hohe Fenster. Reindorf arbeitet in der Pforte einer Fabrik. Auf dem Schreibtisch finden sich mehrere Telefone, ein für heutige Begriffe alter Computermonitor, eine Tastatur. Mit Hilfe des Computers vermittelt Reindorf ankommende Telefonate.

Der Vorhang öffnet sich.

Reindorf sitzt an seinem großen Schreibtisch. Er stützt die Ellenbogen auf der breiten Schreibtischplatte auf. Reindorf wartet, bereit den Telefonhörer abzuheben. Gelangweilt blickt er aus einem riesigen Fenster hinaus auf die Straße, die direkt vor der gläsernen Fabrikpforte liegt. Durch die hohen Fenster scheint helles Sonnenlicht herein.

Heute ist ein heller Freitagnachmittag. An der Wand, hinter Reindorf, hängt ein großer Kalender. Der heutige sommerliche Freitag ist rot markiert. Eine Uhr neben dem Kalender zeigt vierzehn Uhr dreißig.

Leise surrend beginnen die Telefone vor Reindorf zu läuten. Reindorf hebt einen Hörer ab. Er begrüßt einen Anrufer. Das tut er mit dezenter, weicher, beinahe singender Stimme:

“Firma Blattschneider guten Tag. (Pause) Guten Tag Herr Doktor Flemming! (Pause) Selbstverständlich, das tue ich gerne!”

Reindorf betätigt, während er spricht, Tasten auf der Tastatur. Seine Augen sind starr in den leuchtenden Monitor auf dem Schreibtisch gerichtet. Reindorf behält den Hörer am Ohr. Freundlich spricht er in die Muschel:

“Es tut mir Leid Herr Doktor Flemming, aber Herr Direktor Felbig spricht gerade, möchten Sie kurz warten?”

Reindorf nickt und lächelt.

“Aber gerne Herr Doktor.”

Reindorf legt auf und hebt den Hörer des nächsten Telefons ab. Wieder begrüßt Reindorf einen Anrufer:

“Firma Blattschneider, guten Tag.”

Reindorf tippt auf der Tastatur, blickt in den Monitor.

“Einen Augenblick bitte, ich verbinde Sie mit Frau Krähenbring.”

Reindorf beugt sich näher an den hellen Monitor heran, um besser darin lesen zu können.

“Ich sehe gerade, dass die Leitung belegt ist. Möchten Sie es später noch einmal versuchen, oder wollen Sie warten?”

Während Reindorf weiter einen Hörer nach dem anderen abhebt, in gleichbleibendem singenden Ton die Anrufer begrüßt, dabei aber nicht mehr zu hören ist, betritt ein Herr die Bühne, der mit dunklem Anzug und Krawatte bekleidet ist. Der Notator tritt an das Pult am rechten Bühnenrand. Dort setzt er seine Brille auf und öffnet das dicke Buch, das bereits auf dem Pult liegt. Gezielt blättert er eine bestimmte Seite auf. Von dieser nimmt er kurz Notiz. Er wirft einen strengen Blick hinüber zu Reindorf, der weiterhin telefoniert.

Reindorf, dessen Telefongespräche wieder in den Vordergrund treten, spricht in die Muschel des weißen Telefonhöhrers:

“Aber selbstverständlich Frau Blattschneider. Sie können gerne heute Abend um 22 Uhr den Wagen ihres Gatten abholen. Ich erwarte Sie, um Ihnen die Schlüssel auszuhändigen.” Reindorf schweigt kurz, blickt dabei angestrengt in den Computermonitor, und spricht erneut in den Hörer:

“Nein Frau Blattschneider. Ihr Mann hat den Wagen, vor der Abreise heute Morgen, hier neben der Pforte, auf dem Parkplatz abgestellt. Nein heute gibt es keinen Schichtwechsel mehr. Ich arbeite freitags durchgehend von vierzehn Uhr bis samstagmorgens um acht. Ich erwarte Sie also um 22 Uhr. (Pause) Gerne Frau Blattschneider!”

Reindorf legt auf. Sofort greift er zum nächsten Hörer, um ein weiteres Gespräch anzunehmen. Unhörbar begrüßt er den Anrufer.

Jetzt spricht der Notator zum Publikum. Er liest laut und deutlich aus seinem dicken Buch vor:

“Heute ist wieder ein langer Freitag, an dem Reindorf diese Arbeit macht. Den Job verrichtet er schon seit Monaten. Vor Minuten, um vierzehn Uhr, hat er den Dienst in der Pforte der Brotfabrik angetreten. Vor Monaten hat Reindorf sein Studium der Pädagogik abgeschlossen. Mit dem Job überbrückt er die Zeit zwischen Studium und staatsbürgerlicher Pflicht, dem Dienst in der…”

Reindorf unterbricht den Notator. Er spricht in den Hörer:

“Firma Blattschneider, guten Tag. Bitte warten Sie einen kurzen Augenblick.”

Reindorf betätigt eine Taste auf der Computertastatur, mit der er den Anrufer auf eine Warteschleife legt. Den Telefonhörer behält er in der Hand. So wendet er sich an den Notator:

“Sie wissen doch, dass ich nie bei der Armee gewesen bin! Ich habe doch ein Jahr später den Dienst an der Waffe verweigert. Drei anstrengende Gerichtsverhandlungen vor einem Tribunal hat mich das 1988 gekostet.”

Der Notator antwortet:

“Sicher Herr Reindorf. Ich weiß wohl am besten, was Sie alles getan und unterlassen haben.“

Der Notator tippt auf das geöffnete Buch auf dem Pult:

„Aber wir sind gerade im Jahr 1987. Vielleicht überlegen Sie sich das mit der Armee ja noch anders?”

Der Notator durchblättert einige Seiten des großen Buches auf dem Pult. Er hebt das Buch an, um es kurz dem Publikum zu zeigen. Dazu nickt er und spricht zu Reindorf:

“Alles wichtige und manches weniger wichtige ist in diesem Buch vermerkt. Dazu gehört auch, dass Sie den Dienst mit der Waffe verweigert haben. Entschuldigen Sie also, wenn meine Bemerkung Sie provoziert hat. Wenn Sie das verändern möchten, jetzt haben Sie die Gelegenheit! Sie können beginnen, wo Sie wollen.”

Der Notator hält kurz inne. Er deutet mit einem Bleistift, mit dem er die von Reindorf gewünschten Änderungen im Buch aufnehmen wird, auf die Glastüre hinter Reindorf:

“Ich glaube da ist jemand, der etwas von Ihnen will Herr Reindorf. Und ich glaube, Sie sollten die Telefone weiter abheben, sonst bekommen Sie vielleicht Ärger.”

Alle Telefone in der Pforte läuten. Hinter der Glastür der Pforte steht ein Mann in grauem Anzug. Reindorf dreht sich mit seinem Schreibtischstuhl zur Glastür. Er sieht den Mann und springt sofort vom Stuhl auf, öffnet die Tür. Reindorf, etwas zu laut:

“Herr Direktor Felbig! Es tut mir wirklich Leid, dass ich Herrn Doktor Flemming nicht zu Ihnen durch schalten konnte.”

Der Herr im Anzug hält Reindorf einen Schlüssel vor die Nase und sagt:

“Schon gut, schon gut, kein Thema, Herr Reindorf! Bitte sagen Sie Flemming, dass er mich bis sechzehn Uhr auf dem Autotelefon erreicht.”

Reindorf hängt den Schlüssel in den Schlüsselkasten an der Wand, neben dem Kalender. Der Herr im Anzug spricht zu Reindorf, der ihm wegen des Schlüssels kurz den Rücken zuwendet. Dessen Ton wirkt dabei ein wenig herablassend:

“Ich wundere mich jeden Abend, wenn ich Sie hier sitzen sehe. Sie sind doch noch so jung! Sie könnten bei uns im Verkauf arbeiten. Junge, dynamische Leute brauchen wir. Als Verkaufsfahrer könnten Sie viel Geld machen. Das wäre eine viel anspruchsvollere Arbeit als der muffige Pfortenjob hier! Ich verstehe echt nicht, warum Sie in diesem Glaskasten sitzen und Ihre Zeit vergeuden! Bei mir würden Sie viel Geld verdienen und hätten neben einem sicheren Fixum sogar die Chance, wenn Sie entsprechende Steigerungen der Verkaufszahlen liefern, auch noch dicke zusätzliche Provisionen einzufahren!”

Reindorf:

“Ich glaube nicht, dass es für mich in Frage kommt, als Verkaufsfahrer zu arbeiten. Aber vielen Dank, ich werde mir das vielleicht mal überlegen.”

Darauf Direktor Felbig:

“Das antworten Sie mir doch jedes mal Herr Reindorf! Unentschlossenheit ist der Feind jedes Erfolgs. Mit Ihrer Haltung werden Sie noch Ihr ganzes Leben hier in dieser Vitrine veröden! Nur klare Entschlossenheit bringt in unserer Branche den großen Erfolg. Sehen Sie sich da draußen auf dem Parkplatz mal die Wagen an!”

Felbig deutet durch die breite Fensterfront hinaus auf den Firmenparkplatz.

“Mir gehört der schwarze A113 da hinten. Der ist erst eine Woche lang auf dem Markt. Meinen schönen Wagen kann ich mir doch nur leisten, weil ich weiß, was ich will und entschlossen meinen Willen durchsetze. Die Fähigkeit zu Entschlossenheit! Das ist das Erfolgskonzept unserer Firma. Reindorf, ich rate Ihnen dringend, denken Sie nicht zu lange nach! Nur Entscheidungsfähigkeit und Entschlussfreude gewinnt in unserem Business. Hier in der Pforte haben Leute wie Sie doch nichts verloren! Überlegen Sie es sich schnell und bitte kommen Sie erst in mein Büro, wenn Sie fest entschlossen sind, unsere Ware zu verkaufen! Jeder Tag, den Sie hier vergeuden, spricht gegen Sie und gegen Ihre Fähigkeit, die richtigen Entscheidungen zu treffen!”

Felbig winkt Reindorf zum Abschied mit dem Wagenschlüssel durch die langsam zufallende Glastür. Er verschwindet, einen schwarzen Aktenkoffer schwenkend, dynamischen Schritts hinaus auf den Parkplatz, um dort mit offener, fliegender Anzugjacke über den Parkplatz zu seinen A113 zu hetzen.

Reindorf setzt sich zurück an den Schreibtisch. Er hebt eines der leise summenden Telefone ab:

“Firma Blattschneider, guten Tag. Der ist gerade raus. Selbstverständlich Frau von Schleenberger, ich werde Ihre Nachricht an Herrn Direktor Felbig leiten. Gleich am Montagmorgen wird sie das erste sein, was Herr Direktor Felbig auf seinem Tisch findet.”

Den Telefonhörer hält Reindorf jetzt einige Zentimeter von seinem Ohr entfernt. Reindorf dreht seinen Schreibtischstuhl zum Notator. Aus dem Hörer piepst die laute Stimme einer Frau:

“Herr Reindorf, Herr Reindorf, ist es denn wirklich sicher, dass Herr Direktor Felbig das Haus bereits verlassen hat? Er arbeitet doch sonst immer bis spät Abends! Herr Reindorf, sind Sie noch dran?”

Reindorf fragt den Notator:

“Können wir hier kurz stoppen?”

Der Notator:

“Aber natürlich Herr Reindorf. Sie können sich aussuchen, wie es läuft. Sie haben sich ja auch ausgesucht, dass wir in dieser Szene beginnen. Ich weiß zwar nicht warum wir ausgerechnet hier anfangen, aber wie gesagt: Sie können das bestimmen.”

Reindorf:

“Ich habe hier begonnen, weil ich wissen wollte, wie ich mich damals bei dieser Arbeit gefühlt habe.”

Der Notator wirf Reindorf einen fragenden Blick hinüber:

“Und? Wie fühlen Sie sich Herr Reindorf?”

Reindorf:

“Es könnte besser sein. Ich habe Magenkrämpfe und ich fühle mich matt, als hätte ich Nächte lang nicht geschlafen. Ich dachte es wäre mir damals viel besser gegangen. Schließlich war ich erst Mitte zwanzig.”

Der Notator blättert im Buch einige Seiten zurück. Er überfliegt eine Seite und wendet sich wieder Reindorf zu:

“Sie haben im Februar mit dem Job angefangen. Jetzt ist es bereits Sommer geworden. Also arbeiten Sie schon monatelang in der Nachtschicht der Fabrik als Pförtner. Kein Wunder, dass Sie sich müde fühlen. Vielleicht hängen Müdigkeit und Magenschmerzen mit der Nachtarbeit zusammen?”

Reindorf erhebt sich behäbig vom Schreibtisch. Er geht langsam an eines der Fenster, öffnet es und blickt hinaus. Reindorf ist jung, bewegt sich aber wie ein alter Mann, der von Rückenschmerzen und vielen anderen Schmerzen geplagt ist. Reindorfs Gesicht wirkt matt und fahl, er sieht bleich, beinahe krank aus. Reindorf vor dem geöffneten Fenster:

“Es ist schön die warme Sommerluft zu atmen. Ich fühle mich aber gerädert und ziemlich übernächtigt. Habe ich mich damals wirklich monatelang so gefühlt?”

Der Notator blättert im Buch einige Seiten nach vorne und antwortet:

“Jedenfalls haben Sie beinahe ein Jahr lang diese Nachtarbeit erledigt. Wie Sie sich dabei gefühlt haben, steht nicht in Ihrer Biografie.”

Reindorf atmet tief durch. Dessen angestrengtes tiefes Atmen wirkt, als seien es für längere Zeit die letzten Atemzüge von frischer Frühlingsluft, die er sich gönnen darf. Reindorf schließt das Fenster. Er geht zurück an den Schreibtisch. Tief schnaufend lässt er sich auf dem Stuhl nieder, stützt die Ellenbogen auf den Schreibtisch, legt den Kopf schwer in beide Hände und blickt hilflos auf die vor seinem Pförtnerfenster liegende Straße in das Publikum. Er spricht leise und langsam, dabei wirkt er, als spreche er zu sich selbst:

“Jetzt weiß ich, wie es mir damals gegangen war. (Pause) Müde und matt hatte ich mich gefühlt. (Pause) So hatte ich mich nicht nur wegen der Nachtarbeit gefühlt. Es war damals mein Lebensgefühl im Allgemeinen gewesen.“ (Pause)

Er starrt auf die vor ihm liegende Straße und sagt nichts mehr. Die Telefone auf dem Tisch klingeln leise vor sich hin. Reindorf scheint das nicht zu interessieren.

Der Notator unterbricht das Schweigen:

“Sollen wir weitermachen Herr Reindorf? Sie wirken ein wenig depressiv. Das kann aber nicht der Sinn dieser Übung hier sein. Sie wollten etwas verändern! Passen Sie auf, dass Sie sich nicht darin erschöpfen, die Stimmungen ihrer späten Jugend noch einmal zu erleben. So verändern Sie sicherlich nichts an ihrer Biografie.”

Reindorf hebt jetzt den Kopf aus seinen Händen. Er blickt nachdenklich ins Publikum. Plötzlich erhebt er sich, als sei er in Eile. Er läuft unruhig in dem hellen Pfortenraum auf und ab. Er rauft sich die Schläfen, kratzt sich am Kopf. Dann setzt er sich wieder, springt aber sofort wieder auf.

Der Notator fragt:

“Über was denken Sie nach Herr Reindorf? Was beunruhigt Sie plötzlich so?”

Reindorf tritt an das Rednerpult, dicht an den Notator heran. Obwohl er vor dem Notator steht, schreit Reindorf laut:

“Sie haben gut Reden! Über was ich nachdenke?”

Und jetzt noch lauter:

“Diesen Irrsinn, den Sie hier mit mir veranstalten! Darüber denke ich nach, ist doch klar!”

Der Notator weicht vor Reindorf zurück. Mit dessen Aufschreien war nicht zu rechnen. Er fasst sich aber sofort und spricht in korrektem, amtlichem Ton zu Reindorf:

“Herr Reindorf, bitte erinnern Sie sich, dass Sie es sind, der beabsichtigt etwas zu ändern. Wir können sofort abbrechen und beenden. Das steht ihnen jederzeit frei.”

Reindorf lässt sich in den Schreibtischstuhl fallen. Matt hängen dessen Arme herunter. Nachdenklich fährt er sich über die Stirn. Leise antwortet er dem Notator:

“Sie haben Recht. Ich will das. Entschuldigen Sie meinen kurzen Ausbruch. Können wir noch mal anfangen?”

Der Notator:

“Jederzeit Herr Reindorf. Sie bestimmen was mit Ihrer Biografie geschieht. Es ist Ihr Wunsch an Ihrer Biografie und damit Ihrem Leben etwas zu verändern. Wo Sie damit beginnen, ist Ihre Sache.”

Der Notator klappt das Buch zu. Er lässt es geschlossen auf dem Rednerpult liegen und entfernt sich auf gleichem Weg, über den er zuvor die Bühne betrat. Während er geht fragt er Reindorf:

“Neubeginn dieser Szene? Gleicher Ort, gleiche Zeit Herr Reindorf?”

Reindorf sitzt immer noch schlaff im Schreibtischstuhl, den er jetzt in Richtung des langsam gehenden Notators dreht. Laut ruft der dem Notator, der bereits hinter einem Vorhang verschwunden ist, nach:

“Nein! Beginnen wir etwas früher. Bitte ein Jahr früher!”

Reindorf rauft sich nachdenklich die Haare. Er lehnt sich im Stuhl zurück, blickt an die Decke. Nochmal ruft er dem Notator nach:

“Vielleicht beginnen wir damals! Es war das Jahr in dem ich noch die Uni besucht hatte und in der Wohngemeinschaft gelebt habe. Können wir da beginnen?”

Der Notator tritt hinter dem Vorhang hervor auf die Bühne. Er bleibt am Vorhang stehen. Von dort antwortet er zu Reindorf gewandt:

“Aber selbstverständlich Herr Reindorf. Sie sind der Herr hier. Beginnen wir ein Jahr früher.”

Notator und Reindorf verlassen die Bühne.

Der Vorhang fällt.

2. Szene

Reindorf ist ein Jahr jünger.

Das Bühnenbild:

Reindorf, bekleidet mit einer verwaschenen Jeans und einem verwaschenen T-Shirt, im Eingangsraum eines alten Hauses, eigentlich einer Villa. Es ist die “Eingangshalle” der Wohngemeinschaft in der Reindorf lebt. Auf dem Boden liegt ein roter Teppich. Ein weißes Treppengeländer führt hinauf in das Obergeschoss. Drei weiße Türen gehen von dem Eingangsraum weg. Sie führen in ein Wohnzimmer, eine Küche und das Zimmer einer Bewohnerin der Wohngemeinschaft.

Reindorf steht im Eingangsraum vor einem halbhohen, alten Schrank. Darauf steht ein graues Telefon mit Wählscheibe. Reindorf blättert in einem gelben Telefonbuch. Das Pult des Notators steht rechts auf der Bühne, auf ihm liegt das dicke Buch.

Die Schauspieler:

Der Notator. Reindorf, Michaela, eine achtzehn Jahre alte Mitbewohnerin. Zwei junge Mitbewohner und eine weitere Mitbewohnerin, die nur kurz erscheinen.

Der Vorhang öffnet sich.

Reindorf blättert im Telefonbuch. Der Notator betritt die Bühne und geht zum Pult. Dort kramt er umständlich sein Brillenetui aus der Innentasche seines Jackett. Er setzt die Brille auf und steckt das Etui wieder in die Innentasche. Er schlägt das Buch auf und liest vor:

“Seit eineinhalb Jahren leben Sie in dieser Wohngemeinschaft. Das Haus, es ist eigentlich eine alte Villa, gehört den Eltern von zwei ihrer Mitbewohner. Die beiden sind alte Freunde von Ihnen. Sie hatten sie vor Jahren kennengelernt. Damals waren Sie noch ein Kind und Sie lebten nicht in dieser Stadt. Als die Eltern ihrer Freunde aus der Villa ausgezogen waren, erhielten Sie das Angebot dort einzuziehen. Die angebotenen Konditionen waren sehr gut, deshalb hatten Sie sofort zugesagt. Es war ganz klar, dass Sie annehmen, denn Sie hatten nicht genug Geld, um die üblichen Mieten in dieser Stadt zu bezahlen. Sie lebten von einem staatlichen Darlehen für ihre Studienausbildung und von Gelegenheitsjobs.”

Der Notator nimmt die Brille von der Nase, behält sie jedoch in der Hand. Er schaut zu Reindorf hinüber.

Reindorf hat, bereits während der Notator vorlas, wiederholt eine bestimmte Nummer auf dem Wählscheibentelefon gewählt. Weil die Nummer belegt war, begann er ständig von neuem zu wählen. Endlich erreicht er den gewünschten Gesprächspartner:

“Hallo Christian! Gut, dass ich Dich noch erwische. Ihr seid also noch nicht von Sylvia losgefahren? Gut! Du, es tut mir Leid, wir müssen das heutige Musiktreffen ausfallen lassen, ihr braucht gar nicht hierher zu fahren, denn ich werde jetzt doch mit aufs Wochenende nach Österreich fahren.”

Während Reindorf schweigt um dem Gesprächspartner am Telefon zuzuhören, dabei nervös am noch aufgeschlagenen Telefonbuch herum fummelt, setzt der Notator die Brille auf und liest:

“Sie sagen gerade ihrem besten Freund Christian das wöchentliche Musiktreffen ab, unter dem Vorwand, dass Sie mit den Mitbewohnern ihrer Wohngemeinschaft das Wochenende in Österreich verbringen werden. Tatsächlich aber sind Sie unentschlossen, ob Sie das wirklich tun wollen. Denn Michaela, eine Mitbewohnerin in die Sie sich verliebt haben, beabsichtigt dieses Wochenende allein in der Wohngemeinschaft zu verbringen.”

Der Notator nimmt die Brille ab, behält sie in der Hand und blickt hinüber zu Reindorf.

Reindorf spricht in die Hörmuschel:

“Tut mir echt Leid Christian! Normalerweise sage ich nicht so kurzfristig ab. Aber jetzt geht es halt nicht anders! Sorry! Treffen wir uns am nächsten Wochenende wieder?” (Kurze Sprechpause)

Reindorf in den Hörer:

“Ja Du hast recht Christian. Bis nächstes Wochenende. Tschüßchen!”

Reindorf legt den Hörer auf die Gabel. Mit einem lauten Knall klappt er das dicke Telefonbuch zu.

Jetzt öffnet sich die rechte Zimmertüre. In ihr erscheint Michaela. Sie trägt ein helles Sommerkleid. Sie kommt einige Schritte auf Reindorf zu, bleibt ein paar Meter vor ihm stehen. Sie sieht aus, als ob sie geweint hätte. Mit gedämpfter Stimme sagt sie:

“Du lässt Dein Musiktreffen ausfallen?”

Reindorf:

“Ja. Hab ich mir kurzfristig überlegt. Hab keine Lust heute auf den Lärm.”

Michaela:

“Meinetwegen hast Du aber nicht abgesagt?”

Reindorf:

“Ne, ne, vielleicht fahr ich ja doch mit nach Österreich.”

Michaela nickt.

Reindorf:

“Wie geht es Deiner Mutter?”

“Sie ist jetzt in dieser Privatklinik in der Nähe vom Englischen Garten. Der Entzug hat sie ganz schön mitgenommen.”

“Wann hast Du mit ihr gesprochen?”

“Heute morgen. Hat sich ganz schlecht angehört.”

Reindorf, der bis jetzt verkrampft am Telefon stand, geht zwei winzige Schritte auf Michaela zu. Reindorf bleibt aber auf Distanz stehen, wühlt mit beiden Händen in den Hosentaschen nach einem Taschentuch, findet keines, nimmt die Hände wieder aus den Taschen. Hilflos, weil er nicht weiß, wo er jetzt seine Hände hin tun soll, lässt er sie kurz neben den Hosentaschen baumeln, steckt sie dann aber wieder in die Hosentaschen.

Reindorf:

“Hat Dein Vater die Scheidungsvereinbarung schon mit Deiner Mutter besprechen können?”

Michaela, mit weinender Stimme:

“Ich glaube nicht, dass er das noch tun wird. Das wird er einfach seinem Anwalt überlassen.”

Reindorf greift in die Hinterntasche seiner verwaschenen Jeans. Von dort zieht er knisternd ein Päckchen Taschentücher heraus. Jetzt tritt er dicht an Michaela heran und reicht ihr ein frisches Tuch. Michaela nimmt es und wischt sich die Augen trocken. Reindorf hat die beiden Hände schon wieder in seinen Hosentaschen. Beide stehen sich nahe gegenüber.

Michaela mit weinerlicher Stimme:

“Der Anwalt wird die Scheidungsvereinbarung wahrscheinlich kommentarlos in die Klinik schicken. Es ist schon Wahnsinn, dass ich jetzt erst begreife, dass meine Mutter diese Ehe wahrscheinlich nur mit Alkohol so lange ertragen hat.”

Wieder wischt sie sich die Augen. Michaela zu Reindorf:

“Das schlimmste ist, dass sich meine Eltern wohl meinetwegen nicht schon vor Jahren getrennt haben. Sie haben gewartet, bis ich erwachsen genug bin, und bis ich ausziehe. Jetzt, wo ich hier wohne, ist es so weit. Die Ehe bricht zusammen, Mama bricht zusammen, und das alles nur wegen dem beschissenen Alkohol!”

Michaela schluchzt und weint dicht vor Reindorf. Der greift erneut in seine Hinterntasche und reicht erneut ein Taschentuch. Wieder steckt er beide Hände in die Hosentaschen. Trotz der geringen Entfernung zu Michaela, keinerlei Anzeichen für eine Annäherung von Reindorf.

Reindorf:

“Nein, Michaela, ich glaube so solltest Du das nicht sehen. Du kannst nicht schuld daran sein, dass Deine Eltern bis vor wenigen Wochen in deren gescheiterter Ehe zusammen gelebt haben.”

Michaela:

“Ich weiß, aber es ist trotzdem alles so schlimm. Für mich bricht eine Welt zusammen. Meine Kindheit bei meinen Eltern hat es nur gegeben, weil Mama Alkoholikerin geworden ist, um das alles auszuhalten!”

“Ich kann mir vorstellen, wie schlimm das für Dich ist.”

“Ich habe nie gemerkt, dass Mama so viel Alkohol trinkt. Ich komme mir vor, als wäre ich die langen Jahre bei meinen Eltern richtig dumm gewesen. Nichts habe ich begriffen…“

Reindorf unterbricht Michaela:

“Soll ich morgen mitkommen in die Klinik? Ich könnte Dich und die Kleidung für Deine Mutter in meinem Auto dort hinbringen.”

Michaela:

“Und Österreich? Wolltest Du nicht mit den anderen…”

Jetzt wird Michaela von einer laut quietschenden Tür unterbrochen. Es ist die Eingangstüre. Von dort treten zwei junge Männer und eine junge Frau auf die Bühne. Sofort tritt Reindorf einige Meter von Michaela zurück an den Telefonschrank. Auch Michaela entfernt sich, bleibt jedoch im Türrahmen ihrer Zimmertüre stehen.

Die drei Mitbewohner laufen schnell und laut durch den Eingangsraum. Einer öffnet die Tür zum Wohnzimmer, die Mitbewohnerin läuft trampelnd die Treppe hinauf, der andere betritt die Küche.

Es herrschen Hektik und Abreisestimmung. Die drei Mitbewohner suchen gepackte Taschen und Jacken zusammen. Ein Mitbewohner bleibt mit einer Reisetasche bei Reindorf stehen, während die anderen beiden, Taschen und Jacken, an Reindorf vorbei, hinaus ins Freie tragen, um sie im Wagen zu verstauen. Die beiden rufen sich gegenseitig zu:

“Sollen wir das Radio auch mit nehmen?“

„Nee lass mal lieber, in dem Ferienhaus gibt es ne gute Stereoanlage!“

„Wie wäre es mit dem Volleyball und einem Volleyballnetz? Das Zeug liegt im Keller. Wäre doch super das mitzunehmen. Oder sollen wir einfach nur die Tischtennisschläger einpacken?“

„Alles zu viel!“

„Wir haben draußen in der Garage doch Federball, das nehmen wir auf jeden Fall noch mit!“

„Hast Du den Autoschlüssel?“

„Nee, der steckt, aber vielleicht sollten wir den Ersatzschlüssel noch mitnehmen?“

O.k., ich hab ihn!“

„Wir müssen noch bei der Bank vorbeifahren, brauchen noch bares fürs Tanken.”

Der Mitbewohner, nahe bei Reindorf fragt:

“Na, hast Du noch mal überlegt?”

Reindorf:

“Ja, ich fahr nicht mit. Ich werde mich hier irgendwie vergnügen.”

Der Mitbewohner:

“Schade, aber o.k., macht es mal gut ihr zwei!”

Die drei verschwinden durch die laut quietschende Tür nach draußen. Im Eingangsraum herrscht wieder Ruhe. Reindorf steht am Telefonschrank, Michaela in der Tür ihres Zimmers.

Michaela tritt jetzt zu Reindorf an den Telefonschrank heran. Sie umarmt ihn nicht, sondern sie streichelt ihn nur leicht über die Schulter:

“Danke, dass Du mir morgen in der Klinik helfen willst. Ich bin froh, dass wir uns trotzdem so gut miteinander verstehen. Ich möchte morgen in der Klinik nicht allein sein. Du brauchst aber nicht mit rein zu kommen, sondern Du kannst draußen auf mich warten, während ich mit meiner Mama rede …”

Reindorf dreht sich von Michaela weg. Er wendet sich an den Notator:

“Was meint sie damit, dass wir uns “trotzdem so gut verstehen”?”

Der Notator setzt die Brille auf, blättert einige Seiten im Buch zurück, überfliegt dort ein Blatt:

“Sie haben sich vor vielen Monaten in Michaela verliebt. Das wird aber mehr und mehr zu einer unglücklichen Liebe, denn Michaela hatte ihnen in einer Aussprache vor wenigen Tagen erklärt, dass sie nicht in Sie verliebt ist. Trotzdem vertraut sie sich ihnen oft an. Beispielsweise die Geschichte mit den Eltern, der Scheidung, der Alkoholerkrankung der Mutter. In der Wohngemeinschaft spricht sie über diese Dinge nur mit Ihnen. Außer Ihnen hat sie dafür offenbar keine Vertrauten. Weil Michaela ihnen erklärt hat, dass sie nicht in Sie verliebt ist, verhalten Sie sich absolut korrekt. Sie respektieren deren klare Erklärung. Deshalb bleiben Sie auf Distanz zu dem Mädchen, obwohl Sie sehr in sie verliebt sind. Ihre Liebe zu ihr bleibt noch viele Jahre lang bestehen. Weil sie weiterhin ohne Gegenliebe bleibt, bleibt es bei einer unglücklichen Liebe. Erst nach Jahren lösen Sie sich von ihr.”

Reindorf kommt jetzt ans Rednerpult heran. Er will einen Blick in das dicke Buch werfen, doch der Notator wehrt ab. Reindorf tritt zwei Schritte zurück.

“Was wollen Sie wissen Herr Reindorf?”

“Wie viele Jahre war ich in diese Frau verliebt, obwohl sie mir gesagt hatte, dass sie mich nicht liebt?”

Der Notator blättert im Buch ein gutes Stück nach vorne:

“Das waren mindestens vier, vielleicht fünf Jahre.”

“Obwohl Michaela mir damals erklärt hatte, dass sie mich nicht liebte, war ich so lange Zeit deren Vertrauter?”

Der Notator:

“So steht es in ihrer Biografie Herr Reindorf. In den schwierigen und schmerzenden Monaten der Ehescheidung der Eltern des Mädchens, aber auch in belastenden Situationen späterer Jahre, und auch bei erheblichen Veränderungen in deren Leben, waren Sie für Michaela ein enger Vertrauter, vielleicht der einzige. Das kann ich Ihnen nicht sagen, denn das gehört nicht zu Ihrer Biografie.”

Reindorf sieht den Notator nachdenklich an.

Der Notator fährt fort:

“Zum Beispiel einige Jahre nach diesem Abend im Vorraum ihrer Wohngemeinschaft.”

Der Notator schlägt eine Seite im Buch auf und liest:

“Im Briefkasten Ihrer Wohnung finden Sie Jahre später, Sie leben nicht mehr in der Wohngemeinschaft, einen Brief von Michaela. Er enthält eine Kunstpostkarte mit folgendem Text: …”

Reindorf unterbricht:

“Ja, ja, ich weiß diese Postkarte von Michaela! Ich fand sie in meinem Briefkasten an dem Tag, als ich abends dieses schöne Fest in meiner Wohnung zusammen mit meinem Mitbewohner und Freund Peter veranstaltet hatte!”

Der Notator lässt sich jetzt nicht von Reindorf unterbrechen, sondern fährt fort:

“Genau! Die Kunstpostkarte mit der Nachricht, dass sie schwanger ist. Michaela schreibt Ihnen, dass es ihr besonders wichtig sei, dass Sie der erste sind, der von der Schwangerschaft erfährt. Sie schreibt, dass ihre frühe Schwangerschaft natürlich nicht ganz beabsichtigt war, denn immerhin befinde sie sich noch mitten im Studium, doch es sei nun mal geschehen und inzwischen freue sie sich sehr auf das Kind. Richtig glücklich sei sie bei der Vorstellung…”

Schnell tritt Reindorf mehrere Schritte an den Notator heran und fragt:
“Können wir das verändern?”

Der Notator:

“Sie wollen doch nicht ändern, dass Michaela Ihnen schreibt, dass sie glücklich ist! Das können Sie gar nicht ändern! Deren Glück hat mit Ihrer Biografie gar nichts zu tun, Herr Reindorf!”

“Nein, nein, ich meine die Szene in der wir gerade sind! Der Abend im Vorraum in der Wohngemeinschaft.”

Der Notator:

“Ach so, das wollen Sie ändern! Natürlich Herr Reindorf, das ist Ihre Biografie. Wollen Sie diesen Abend noch einmal haben?”

Der Notator blättert im Buch Seite für Seite zurück.

Reindorf:

“Ja bitte. Wiederholen wir die Szene.”

Reindorf geht zum Telefon im Eingangsraum der Wohngemeinschaft und fummelt am Telefonbuch herum. Der Notator verlässt die Bühne, Michaela verschwindet hinter ihrer Zimmertür.

Die Szene beginnt von neuem.

Reindorf blättert im Telefonbuch. Der Notator betritt die Bühne und geht zum Pult. Dort kramt er umständlich sein Brillenetui aus der Tasche des Jackett. Er setzt sie auf, steckt das Etui wieder in die Tasche, schlägt das Buch auf und liest vor:

“Seit eineinhalb Jahren leben Sie in dieser Wohngemeinschaft. Das Haus, es ist eigentlich eine alte Villa, gehört den Eltern von zwei…”

Reindorf, der eine Telefonnummer wählt, unterbricht den Notator, er ruft ihm zu:

“Das hatten wir doch schon! Können wir das nicht überspringen?”

Der Notator:

“Selbstverständlich Herr Reindorf, ich glaube, Sie haben nun ihren Freund erreicht.”

Er deutet zum Telefonhörer, den Reindorf neben das Telefon gelegt hat.

Reindorf nimmt den Hörer:

“Hallo Christian! Gut, dass ich Dich noch erwische. Ihr seid also noch nicht von Sylvia losgefahren. Wir müssen das heutige Musiktreffen ausfallen lassen, ihr braucht gar nicht hierher zu fahren, denn ich werde doch mit aufs Wochenende nach Österreich fahren.”

Während Reindorf jetzt schweigt und dem Gesprächspartner am Telefon zuhört, dabei nervös am noch aufgeschlagenen Telefonbuch herum fummelt, setzt der Notator die Brille auf und liest:

“Sie sagen gerade ihrem besten Freund Christian das wöchentliche Musiktreffen ab, unter dem Vorwand, dass Sie mit den Mitbewohnern ihrer Wohngemeinschaft das Wochenende in Österreich verbringen wollen. Tatsächlich aber sind Sie unentschlossen ob Sie das wirklich tun wollen. Denn Michaela, eine Mitbewohnerin in die Sie sich verliebt haben, wird dieses Wochenende allein in der Wohngemeinschaft verbringen.”

Der Notator nimmt die Brille ab, behält sie in der Hand, und blickt hinüber zu Reindorf:

„Möchten Sie das verändern, Herr Reindorf?“

Reindorf winkt dem Notator, dass der Ruhe geben soll, schüttelt dabei den Kopf, er spricht in die Hörmuschel:

“Tut mir echt Leid Christian, dass ich Dir so kurzfristig absage, aber wir treffen uns ja am nächsten Wochenende wieder.”

(Kurze Sprechpause.)

“Ja Du hast recht! Bis nächstes Wochenende. Tschüßchen.”

Reindorf legt den Hörer auf die Gabel. Mit lauten Knall klappt er das dicke Telefonbuch zu.

Jetzt öffnet sich die rechte Zimmertüre. In ihr erscheint Michaela, in hellem Sommerkleid. Sie kommt einige Schritte auf Reindorf zu, bleibt jedoch wenige Meter vor ihm stehen:

“Du lässt Dein Musiktreffen heute ausfallen?”

“Ja, ich will am liebsten die Zeit nutzen, um mit Dir etwas mehr zu reden. Ich glaube, dass es Dir zur Zeit besonders schlecht geht, stimmt das?”

Michaela nickt verlegen, antwortet aber nicht.

“Wie geht es Deiner Mutter?”

“Sie ist in dieser Privatklinik in der Nähe vom Englischen Garten. Der Entzug hat sie glaube ich ganz schön mitgenommen.”

Wann hast Du mit ihr gesprochen?”

“Heute morgen. Hat sich ganz schlecht angehört.”

Reindorf geht drei kurze Schritte auf Michaela zu. Dicht vor ihr, zieht er ein Päckchen Taschentücher aus der hinteren Tasche seiner Hose und reicht Michaela ein Tuch:

“Du hast heute schon wieder viel geweint?”

Michaela, in weinendem Ton:

“Ja, wegen der Scheidung und wegen meiner Mama in der Klinik.”

“Ich glaube das ist echt schwer für Dich.”

Michaela mit weinerlicher Stimme:

“Der Anwalt wird Mama die Scheidungsvereinbarung wahrscheinlich kommentarlos in die Klinik schicken. Es ist schon Wahnsinn, dass ich jetzt erst begreife, dass meine Mutter die Ehe wahrscheinlich nur mit Alkohol so lange ertragen hat.”

Michaela wischt mit dem Tuch die Augen. Jetzt umarmt Reindorf sie. Michaela legt ihren Kopf auf dessen Schulter und weint weiter. Reindorf streicht ihr durch die Haare.

Reindorf leise:

“Nein, Michaela, ich glaube so solltest Du das nicht sehen. Du kannst nicht schuld daran sein, dass Deine Eltern bis vor wenigen Wochen in deren gescheiterter Ehe zusammen gelebt haben.”

Michaela:

“Ich weiß, aber es ist trotzdem alles so schlimm. Für mich bricht eine Welt zusammen. Meine Kindheit bei meinen Eltern hat es nur gegeben, weil Mama Alkoholikerin geworden ist, um das auszuhalten.”

“Ich kann mir vorstellen, wie schlimm es für Dich ist.”

“Ich habe nie gemerkt, dass Mama so viel Alkohol trinkt. Ich komme mir vor als wäre ich die langen Jahre bei meinen Eltern richtig dumm gewesen. Nichts habe ich begriffen…”

Reindorf unterbricht Michaela:

“Ich könnte Dich morgen begleiten in die Klinik. Ich werde Dich und die Kleidung für Deine Mutter in meinem Auto dort hinbringen. O.k.?”

Michaela:

“Ja, o.k.”

Jetzt hört man die laut quietschende Eingangstüre. Es treten zwei junge Männer und eine junge Frau ein. Reindorf umarmt Michaela erneut. Nach wenigen Sekunden löst er die Umarmung, während die Mitbewohner an den beiden vorbei laufen, um gepackte Taschen für die Reise nach Österreich zu holen, verschwindet Michaela in ihr Zimmer.

Reindorf zum Notator:

„Können wir hier die Szene beenden? Den Rest kennen wir ja schon, ich werde nicht mit den Mitbewohnern auf das Wochenende nach Österreich fahren.“

Der Notator nickt und setzt mit dem Satz an:

„Gerne Herr Reindorf, es ist ihre Biografie, wir können hier abbrechen und…“

In diesem Augenblick erscheint Michaela in deren Zimmertür, während die Mitbewohner immer noch Taschen tragend auf und ab laufen. Sie sagt zu Reindorf:

“Danke, dass Du mir morgen in der Klinik helfen willst. Ich bin froh, dass wir uns so gut miteinander verstehen. Ich möchte morgen in der Klinik nicht allein sein. Ich freue mich, wenn Du mit kommst, dann können wir ja zu zweit mit meiner Mama reden.“

Reindorf nickt Michaela zu:

„Ja, das ist gut! Gerne komme ich mit.“

Reindorf wendet sich zum Notator, beide nicken sich gegenseitig zu.

Die Szene ist beendet.

Der Vorhang schließt sich.

3. Szene

Das Bühnenbild:

Ein spärlich möbliertes Zimmer in einer runter gekommenen Altbauwohnung mit Dachschrägen. An den schlecht gestrichenen Wänden hängen Postkarten und Fotografien, beinahe wie in einem Fotoalbum oder wie eine real gestaltete Fototapete. Ein altes Sofa steht hinten im Zimmer nahe einem geöffneten Fenster. Dort sitzen Gäste mit Gläsern in Händen. Andere sitzen auf dem Boden, einige auf Holzstühlen, weitere Gäste stehen mit Bierflaschen in der Hand im Zimmer herum oder lehnen an den Wänden. Das Zimmer ist von Zigarettenqualm verraucht.

Leise Musik, Sprechen und Lachen der Gäste, man hört das Klirren von anstoßenden Flaschen und Gläsern.

Die Schauspieler:

Der Notator, er steht rechts neben der Bühne am Pult. Reindorf, bekleidet mit einer schwarzen Hose und hellem Hemd, er hat die Bühne noch nicht betreten. Michaela trägt ein sehr weites Kleid. Sie sitzt auf einem Stuhl nahe dem Sofa, neben ihr steht ein freier Stuhl. Helen, eine hübsche Fünfundzwanzigjährige, sitzt hinten im Zimmer auf dem Sofa. Peter, der Mitbewohner von Reindorf, ein stämmiger Typ mit Wuschelkopf, trägt ein herunter hängendes, zu weites T-Shirt und eine verwaschene Jeans. Mit Bierflasche in der Hand, lehnt er an der Wand.

Der Vorhang öffnet sich

Der Notator betritt die Bühne, er geht zu seinem Pult, während die Gäste bereits im Zimmer auf der Bühne sind und man die Geräuschkulisse hört. Reindorf fehlt noch.

Der Notator setzt die Brille auf und liest aus dem Buch auf dem Pult vor:

“Sie bewohnen seit drei Jahren eine sanierungsbedürftige Altbauwohnung. Die Zeit von Schule und Uni ist vorbei. Die Wohnung ist ein Überbleibsel aus dieser Zeit. Sie bewohnen die runter gekommene Studentenbude nicht nur deshalb weiter, weil Sie nach wie vor kein Geld haben, um sich eine ordentliche Wohnung in der Stadt zu mieten, sondern Sie haben einen gewissen Hang, an längst vergangenem so lange wie möglich festzuhalten. Seit zwei Monaten haben Sie einen neuen Mitbewohner: Mit Peter verstehen Sie sich so gut, dass Sie heute Abend gemeinsame Freunde eingeladen haben, um Peters Einzug zu feiern.”

Reindorf betritt die Bühne, in der Linken eine Bierflasche, in der Rechten eine qualmende Zigarette. Er bleibt stehen und blickt sich im Zimmer um. Er geht langsam zum Sofa, wo er sich neben Helen nieder lassen möchte. Dort aber sitzt bereits ein Gast. Michaela sitzt auf einem Stuhl in der Nähe des Sofas. Neben ihr steht ein freier Stuhl. Reindorf bewegt sich langsam weiter Richtung Helen. Er versucht neben ihr auf dem Sofa Platz zu nehmen, indem er das Sofa von hinten umrundet. Dort versucht er irgendwie auf der Rückenlehne zu sitzen, um mit Helen ins Gespräch zu kommen.

Der Notator am Pult spielt nervös mit seiner Brille, beobachtet den Vorgang, setzt die Brille auf, blättert im Buch einige Seiten zurück, überfliegt eine Seite, nimmt die Brille wieder ab, ruft fragend zu Reindorf:

“Aber was tun Sie denn da, Herr Reindorf?”

Reindorf, hinter dem Sofa zwischen Helen und einem anderen Gast auf der Lehne sitzend, blickt überrascht zum Notator:

“Wieso? Ich will mich zu Helen setzen. Ich will mit ihr reden. Ich war den ganzen Abend neben ihr auf dem Sofa gesessen! Was will der Kerl von Helen?”

Reindorf deutet auf den Gast neben Helen.

“Aber Herr Reindorf! Das hatten Sie doch geändert!”

Der Notator setzt die Brille nochmal auf. Er sieht im Buch nach. Er tippt mit dem Zeigefinger auf die aufgeschlagene Seite, nimmt die Brille wieder ab, blickt zu Reindorf hinüber:

“Sie haben vor Jahren dieses Wochenende allein mit Michaela in ihrer damaligen Wohngemeinschaft verbracht. Sie waren nicht nach Österreich mitgefahren.Sie hatten deshalb sogar ihrem besten Freund Christian das wöchentliche Musiktreffen abgesagt. Haben Sie das schon vergessen?”

Reindorf kommt hinter dem Sofa vor, tritt zum Notator ans Pult.

Der Notator blättert im Buch, überfliegt einige Seiten, nimmt die Brille ab, sieht Reindorf an:

“Sie hatten mit Michaela an dem Wochenende in ihrer Wohngemeinschaft sehr lange und vertraulich gesprochen. Sie hatten sie in der Krise mit deren vom Alkohol kranken Mutter, und wegen der Scheidung der Eltern, intensiv gestützt. Sie haben Michaela an dem Wochenende geliebt, denn Sie hatte Ihr Vertrauen angenommen und sie war sehr schwach. Sie glaubte sogar daran, sich in Sie zu verlieben. Das hatten Sie geändert, Herr Reindorf.”

Reindorf steht verdutzt neben dem Notator. Er wirft kurz einen Blick zu Michaela und dem freien Stuhl.

Der Notator:

“Der freie Stuhl neben Michaela ist Ihrer Herr Reindorf! Das hatten Sie geändert. Sie sitzen heutige Abend nicht das ganze Fest über neben Helen. Sie beginnen heute keine Beziehung zu Helen, Herr Reindorf. Sie haben die Liebe von Michaela gewonnen.”

Reindorf nickt, wirkt niedergeschlagen. Langsam entfernt er sich vom Pult. Die Geräuschkulisse des Festes kehrt zurück. Reindorf geht auf Michaela zu. Er setzt sich auf den freien Stuhl. Er küsst sie auf die Wange.

“Hat es geklappt, mit dem neuen Job?”

“Ach so der Job? Ja, ja, das wird klappen.”

Reindorf schaut hinüber zu Helen auf das Sofa. Angeregt unterhält sie sich mit dem Gast. Sie lacht, trinkt und raucht Zigaretten. Beide stoßen mit Bierflaschen an und sehen dabei ganz vergnügt aus.

“Was hast Du denn ausgemacht? Wann kannst Du voraussichtlich anfangen?”

“Am Montag. Am Montagmorgen um sechs wird es losgehen. Ich bin gespannt auf die Fahrerei mit dem Verkaufslastwagen und darauf, ob ich mich wirklich zu einem Verkäufertypen entwickle. Mit den Nachtschichten als Pförtner wird es erst mal vorbei sein. Mehr Kohle wird es garantiert geben. Das Brot aus meinem LKW werde ich schon irgendwie verkaufen.”

“Da bin ich ja froh! Wir brauchen das Geld für die Wohnung und unser Kind. Brot brauchen die Menschen immer. Du kannst bestimmt neben Deiner festen Verkaufstour noch Geld machen, indem Du mehr verkaufst.”

“Dieser Felbig, mein Vorgesetzter, hat mir erklärt, dass satte Provisionen zum Fixum winken, wenn ich den Kunden zusätzlich Ware auf schwatze.”

“Super, dass Du endlich den Nachtschichtjob an der Pforte losgeworden bist. Ich bin mir sicher, wenn das Baby da ist, werden die Nächte anstrengend werden.Ich werde Dich brauchen.”

Reindorf springt jetzt vom Stuhl auf, er eilt zum Pult des Notators:

“Deshalb habe ich heute Nachmittag keine Post von Michaela, mit dieser Kunstpostkarte aus meinem Briefkasten geholt?”

Der Notator:

“Das hatten Sie vor Jahren in der Wohngemeinschaft geändert, Herr Reindorf, so wie Sie es wollten. Michaela brauchte ihnen die Postkarte nicht zu schicken. Sie waren es, der als erster von deren Schwangerschaft erfahren hat, denn Sie sind der Vater des Kindes, da braucht es keine Kunstpostkarte.”

Reindorf entfernt sich vom Pult. Er trinkt einen Schluck aus der Bierflasche, die er in Händen hält. Auf halbem Weg zu Michaela kommt Peter auf Reindorf zu. Peter lehnte die ganze Zeit über mit Gästen auf der anderen Seite des Zimmers an der Wand, und hatte sich dort unhörbar unterhalten. Er klopft Reindorf freundschaftlich auf die Schulter. Reindorf dreht sich langsam zu Peter, erschrickt beim Anblick seines Mitbewohners ein wenig. Peter zu Reindorf:

“Na, alles klar? Oder brennt bei dir gerade irgendetwas an?”

“Nein Peter, ich hab meine Eisen alle im Feuer. Es ist alles geregelt, bei mir brennt nichts an.”

“Und Michaela? Haste schon mit ihr gesprochen?”

Reindorf ist unsicher, kratzt sich am Kopf, scheint nicht zu wissen, wovon Peter spricht. Der Notator beobachtet das, drückt sich schnell die Brille auf die Nase und blättert im Buch. Peter nimmt die Unsicherheit von Reindorf wahr und hakt deshalb nach:

“Na, die Trennung meine ich! Haste schon was mit ihr besprochen?”

“Achso! Ne, ne! Ich hab mir das noch mal überlegt! Ich glaube nicht, dass es jetzt der richtige Zeitpunkt ist, für so ein Gespräch.”

“Echt nicht? Da hast Du Dir aber nicht das leichteste aus gesucht!”

Peter klopft Reindorf erneut auf die Schulter. Beide lachen sich gegenseitig an. Sie stoßen mit ihren Bierflaschen an. Man hört wieder die Geräuschkulisse des Festes. Reindorf geht zu Michaela, lässt sich langsam neben ihr nieder. Er küsst sie auf die Wange.

Der Vorhang fällt.

4. Szene

Das Bühnenbild:

Ein kleines Zimmer mit Dachschrägen. Ein mit Papieren übersähter Schreibtisch am Fenster. Daneben ein nicht gemachtes Bett. An der Wand ein Regal mit Stereoanlage. Ein Ölofen, eine große Zimmerpflanze, die zu groß ist für den winzigen Raum.

Die Schauspieler:

Reindorf, diesmal nicht mit Hemd, sondern mit einfachem Pullover, ohne Kragen und Jeans bekleidet. Reindorfs Freund Peter, der Wuschelkopf, trägt einen grünen, alten Rollkragenpullover und eine schwarze Jeans.

Der Vorhang öffnet sich

Peter und Reindorf sitzen Zigaretten rauchend und Bier trinkend vor Peters Schreibtisch, auf dem beide hin und wieder ihre Flaschen abstellen. Peter erhebt sich vom Stuhl, geht zur Stereoanlage, legt eine CD von Frank Zappa ein. Peter setzt sich wieder neben Reindorf auf den Stuhl vor den Schreibtisch. Beide unterhalten sich so leise miteinander, dass man zunächst nur die Musik von Zappa hört, sie rauchen und stoßen hin und wieder mit ihren Bierflaschen an.

Der Notator betritt die Bühne, geht zu seinem Pult, setzt die Brille auf, blättert im Buch und beginnt zu lesen. Die Musik wird dabei leiser:

“Herr Reindorf, Sie besuchen an diesem Abend Ihren Freund Peter, mit dem Sie inzwischen seit über drei Jahren nicht mehr zusammen wohnen. Die gemeinsame Studentenbude mit Peter mussten Sie aufgeben, weil der Hausbesitzer das Gebäude endgültig sanieren ließen. Sie wohnen schon lange in einer Wohnung in der Innenstadt. Ihr Freund Peter bewohnt ein Studentenzimmer am Stadtrand. Während Peter wesentlich jünger ist als Sie, er ist gerade sechsundzwanzig und studiert noch, er ist Student der Rechtswissenschaften, sind Sie bereits seit einigen Jahren voll berufstätig.”

Der Notator nimmt die Brille ab, blickt hinüber in das Studentenzimmer von Reindorfs Freund Peter. Leise hört man die Musik von Zappa.

Peter:

“Dieser Musiker war einfach ein Genie. Es ist unglaublich, was dieser Mensch zusammengebracht hat, obwohl er gleichzeitig so ein Chaot war!”

Reindorf lachend:

“Ja, das stimmt, das Chaos schlägt sich in vielen von dessen Schallplatten nieder und trotzdem ist seine Musik optimal arrangiert und musikalisch perfekt! Auch wenn sie nicht jedermanns Geschmack ist.”

Peter steht vom Stuhl auf. Er holt aus einem Regal zielsicher eine bestimmte CD. Damit setzt er sich zurück neben Reindorf.

“Diese Scheibe hier gehört zu dessen besten Werken, soweit man das bei diesem Musiker überhaupt sagen kann, weil einfach alles von dem sehr gut ist. Hier drauf aber, das muss ich sagen, findet sich das absolute Chaos, und doch ist die Platte musikalisch perfekt. Soll ich mal einlegen?”

Reindorf winkt ab:

“Nein, nein, ich kenne die Scheibe, Du hattest sie doch oft in unserer Wohngemeinschaft gespielt, damals.”

Peter mit träumerischem Gesichtsausdruck:

“Klar, damals im Westend in der Innenstadt, das waren noch Zeiten. Keine weiten Wege in die nächste Kneipe, mit der U-Bahn nicht weit zur Uni und eine Party nach der anderen. Das war toll. Dagegen hänge ich jetzt hier schon ziemlich in der Pampa herum. Ohne Auto wäre ich hier draußen echt aufgeschmissen.”

Reindorf:

“Wie läuft es denn so im Studium?”

“Naja, nichts läuft mehr. Ich zittere und warte auf die Prüfungsergebnisse.”

Reindorf:

“Echt, Du weißt immer noch nichts? Ist doch schon Wochen her, seitdem Du die Prüfungen geschrieben hast.”

“Jetzt dauert es auch nicht mehr sehr lange. Zehn Tage noch, bis Anfang Januar, dann gibt es den Brief vom Prüfungsamt.”

Reindorf:

“Unmöglich aufgebaut dieses Studium! Zuerst haste jahrelang keine einzige Prüfung, dann kommt alles auf einmal und dann dauert es fast ein halbes Jahr, bis Du weißt, ob Du jahrelang umsonst studiert hast, weil sie Dich durch fallen lassen. Dann stehst Du ohne Ausbildung da.“

Peter:

“Ja richtig! Unheimlich übel das Ende dieses Studienganges. Riesiger Druck staut sich da an. An einem Tag, wenn der Postbote den Prüfungsumschlag in Deinen Briefkasten steckt, zerplatzt der Druck in einer riesigen Explosion in Dir.”

Reindorf:

“Da will ich aber mal das beste für Dich hoffen. Und vergiss nicht: Das Leben geht auch nach so einer Prüfung weiter, auch wenn die den Bach herunter geht.”

Peter:

“Mag sein, mag sein, aber Wahnsinn wäre das schon, nach so vielen Jahren der Paukerei und Schufterei.”

Reindorf steht jetzt von seinem Stuhl auf, er tritt zum Notator ans Pult. Peter blickt ihm verdutzt hinterher:

“Wo gehst Du denn hin? Willst Du frische Luft schnappen? Soll ich mal das Fenster öffnen? Ich glaube hier im Zimmer steht sehr viel Zigarettenrauch.”

Peter steht auf, öffnet das Fenster, wirbelt mit den Armen durch die Luft um den Zigarettenqualm nach draußen zu treiben.

Reindorf zu Peter:

“Nein, nein, ich muss nicht an die frische Luft. Komme gleich wieder.”

Reindorf zum Notator:

“Können wir kurz stoppen?”

Der Notator:

“Natürlich Herr Reindorf, wie Sie wünschen.”

Reindorf rauft sich die Haare, kratz sich hinterm Ohr, läuft am Bühnenrand unruhig auf und ab. Er verschränkt die Arme, nimmt sie wieder auseinander, lässt sie kurz herunter baumeln, steckt die Hände in die Hosentaschen. Nachdenklich steht er am Bühnenrand. Er wirkt zappelig, seine Hände zittern.

“Was beunruhigt Sie so sehr Herr Reindorf? Warum sind Sie so nervös?”

Reindorf antwortet nicht. Stattdessen zündet er sich, dabei mit dem Feuerzeug fuchtelnd, eine Zigarette an, die er aus einer Schachtel vom Schreibtisch seines Freundes Peter nimmt. Paffend läuft er auf und ab, dabei schüttelt er nachdenklich den Kopf. Leicht gebückt, kopfschüttelnd und qualmend tritt er wieder an das Pult des Notators:

“Sie wissen doch genau, warum ich so unruhig bin!”

Hastig zieht er an der Zigarette und bläst dem Notator den Rauch ins Gesicht. Der hält sich deshalb schützend die Hand vor das Gesicht, versucht der Qualmfahne zu entkommen, wedelt mit der Hand den Qualm beiseite.

Reindorf:

“Das ist doch wirklich Wahnsinn, was wir hier treiben!”

Der Notator hustet jetzt, wegen Reindorfs nervösem Gequalme. Laut und scharf fragt er Reindorf:

“Wollen Sie hier lieber beenden Herr Reindorf?”

Reindorf sieht den Notator ernst von der Seite an. Wieder kratz er sich nervös am Kopf, wendet sich ab, läuft am Bühnenrand qualmend hin und her. Dabei blickt er immer wieder zum Notator hinüber.

Der Notator, jetzt in klarem, beinahe amtlich korrektem Ton:

“Es steht ihnen frei hier abzubrechen, Herr Reindorf. Es war Ihr Wunsch, Ihre Biografie zu verändern. Aus welchem Grund auch immer diese Idee in Ihrem Kopf entstanden ist, Herr Reindorf. Ich kenne den Grund nicht. Aber klar ist: Sie sind für Ihre Biografie verantwortlich. Sie können Ihre Biografie verändern. Was hier geschieht, haben Sie gewünscht! Sie können jeder Zeit damit aufhören.”

Reindorf drückt nervös die Zigarette in einen Aschenbecher auf dem Schreibtisch seines Freundes Peter. Jetzt dreht er sich wieder zum Notator und ruft mit scharfer, entschlossener Stimme:

“Nein! Lassen Sie uns fortfahren!”

Der Notator:

“Wie Sie wünschen, Herr Reindorf. Aber bitte beachten Sie, dass Sie nur Ihre Biografie verändern können. Sie können nicht die Biografie von anderen ändern, auch nicht diejenige Ihrer Freunde. Das sehen Sie an Ihrer ehemaligen Freundin Michaela, die Sie trotz des gemeinsamen Kindes verlassen hat. Sie hatten es geschafft, dass Michaela eine Zeit lang in Sie verliebt war, nun ist Sie mit einem anderen Mann glücklich. Bitte Herr Reindorf, bedenken Sie auch, dass…”

Reindorf der sich wieder auf dem Stuhl neben Peter niedergelassen hat, unterbricht jetzt den Notator:

“Ich weiß, ich weiß, ich weiß! Bitte lassen Sie uns nun fortfahren.”

Der Notator:

“Gleicher Tag, gleiche Zeit, gleicher Ort, gleiche Situation bei Ihrem Freund Peter? Oder wollen Sie an einer anderen Stelle weiter machen, Herr Reindorf? Ich möchte Sie nicht beeinflussen, aber vielleicht sollten Sie diese Stelle überspringen und stattdessen…”

Reindorf unterbricht den Notator:

“Nein, nein ich bin entschlossen hier weiter zu machen!”

Der Notator:

“Bitte!”

Reindorf fragt Peter:

“Wie geht es Dir denn mit Deiner Freundin im Moment?”

Peter sieht jetzt seinen Freund Reindorf mit deutlich genervtem Gesichtsausdruck an.

Reindorf:

“Oha! Entschuldigung. Mit der Frage hab ich wohl einen völligen Fehlgriff gelandet!”

Peter:

“Nee, nee, lass mal. Du hast voll ins Schwarze getroffen. Es läuft halt alles daneben mit dieser Frau. Aber das dürftest Du ja ganz gut kennen, von Deiner Michaela! Ihr habt ja sogar ein Kind miteinander, selbst das ist keine Garantie für eine glückliche Beziehung.”

Reindorf trifft die Antwort unerwartet. Langsam steht er auf, zieht eine neue Zigarette aus der Schachtel auf dem Schreibtisch, zündet sie an und schließt das geöffnete Fenster. Er antwortet:

“Du hast recht. Einfach war die Trennung für uns beide wirklich nicht. Verdammt viel Wäsche wurde da gewaschen und vieles kaputt gemacht. Unglaublich vieles.”

Reindorf blickt nachdenklich durch das geschlossene Fensterglas ins dunkle. Auf der Glasscheibe sieht er nur sich selbst:

“Vieles woran ich geglaubt hatte, wurde von uns beiden innerhalb weniger Wochen zertrümmert.”

Peter:

“Ich glaube, Du kannst Dir vorstellen wie es mir mit Bettina und Regina geht. Ich fühle mich hin und her gerissen zwischen zwei Extremen. Ich kann mich nicht zwei teilen. Ich weiß bald wirklich nicht mehr, was ich tun soll. Ich glaube irgendwann kracht es einfach und alles um mich herum explodiert.”

Reindorf:

“Was meinst Du denn damit?”

Der Notator ruft vom Rednerpult:

“Das ist neu!” Er notiert etwas mit einem Bleistift im Buch.

Peter antwortet noch nicht, sondern steht auf. Nachdenklich läuft er einige Schritte im Zimmer hin und her. Er bleibt an der Stereoanlage stehen, schaltet sie aus, lässt die CD herausfahren und packt sie zurück in deren Hülle.

“Ach nichts besonderes. Ich weiß einfach noch nicht, was demnächst passiert. Aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass etwas geschehen wird. Da staut sich so viel an in mir. Ich muss etwas ändern, denn so kann es nicht weitergehen.”

Reindorf kratz sich nachdenklich am Kopf, antwortet aber nicht.

Peter hat eine andere CD in der Hand, hält sie Reindorf kurz unter die Augen und fragt: “Willst Du die hier hören?”

Reindorf nickt:

“Ja, warum nicht?”

Peter schaltet die Stereoanlage wieder an, legt die CD ein.

Es ertönt der Titel “Mama” von Frank Zappa.

Der Vorhang fällt, die Musik läuft leise weiter, solange der Vorhang geschlossen ist.

5. Szene

Das Bühnenbild:

Ein ordentlich gedeckter Kaffeetisch in der solide geführten Wohnung einer Pfarrerin.

Die Schauspieler:

An dem Kaffeetisch treffen sich Reindorf, dessen Musikfreund Christian, Bettina, die Freundin von Peter, eine Pfarrerin und Martin (wie Reindorf ein Freund von Peter).

Der Vorhang öffnet sich.

Der Notator betritt die Bühne, geht zum Rednerpult, setzt die Brille auf und liest aus dem Buch vor:

„Niemand von Ihnen hatte geahnt, dass Peter so etwas tun würde. Sie, Herr Reindorf und Ihre Freunde, haben Peter nicht so eingeschätzt. Peter war einer Ihrer wenigen nahen Freunde. Deshalb gehört Peters Suizid untrennbar zu einem Teil Ihrer Biografie, aber, und das ist wichtig Herr Reindorf: Peters früher Tod ist nicht Ihre Biografie.”

Es läutet. Die Pfarrerin betritt die Bühne, geht zur Tür und öffnet.

Alle Besucher stehen vor der Tür, sie treten nacheinander ein. Zuerst Bettina, gefolgt von Reindorf, Christian und Martin. Alle tragen schwere Wintermäntel, die sie an der Garderobe aufhängen. Die Pfarrerin weist den Besuchern Plätze am Kaffeetisch zu.

“Bitte bedienen Sie sich. Kaffee oder Tee?”

Sie weist auf die beiden Kannen auf dem Tisch. Die Besucher danken und greifen zu.

“Es freut mich sehr, dass wir uns so kurzfristig zu diesem Termin finden konnten. Mit Peters Eltern habe ich gestern einen Text vorbereitet. Den Ablauf der Beisetzung haben wir gemeinsam festgelegt.”

Bettina schnupft in ein Taschentuch, sie wischt sich die verweinten Augen.

“Peters Eltern wünschen sich, dass Sie, die engsten Vertrauten und Freunde von deren einzigem Sohn, den Text, den ich am Grab sprechen werde, mit Ihren Erfahrungen und Kenntnissen von deren Sohn ergänzen. Weil ich Sie alle kaum kenne, schlage ich vor, dass jeder von Ihnen…”

Christian, der Musikfreund von Reindorf, setzt die Kaffeetasse ab, fällt der Pfarrerin ins Wort:

“Ich kann es immer noch nicht fassen, dass er wirklich tot ist. Erst seit gestern, als ich seinen leblosen Körper gesehen habe, in dem kalten Nebenraum der Aussegnungshalle, ist mir klar, dass er es tatsächlich getan hat.”

Christian sieht die Pfarrerin an und sagt:

“Aber entschuldigen Sie, ich habe Sie unterbrochen.”

“Bitte sprechen Sie ruhig weiter. Sind Sie ein Studienfreund von Peter?”

Jetzt meldet sich Martin:

“Nein, nein, äh, das bin ich.”

Martin sieht Christian an und sagt:

“Wie war das eigentlich am Abend vor der Nacht als Peter gestorben ist, ich meine, als er sich, ja, als er sich das Leben genommen hat? Seid ihr beide da nicht wegen irgendeiner Aktion mit einer Tante von einem Fernsehsender verabredet gewesen?”

Auf die Frage antwortet Reindorf:

“Ja stimmt, wir haben deshalb den ganzen Abend lang auf Peter gewartet. Wir hatten einen Termin mit dieser Filmtante von einem privaten Kanal, wie heißt der noch gleich…”

Reindorf schaut seinen Musikfreund Christian fragend an, doch dem fällt der Name auch nicht ein. Christian spricht weiter:

“Äh, keine Ahnung, ist ja auch wurscht. Ich hatte das Treffen mit dieser Kamerafrau organisiert. Ich hatte sogar einen Schlager zusammen mit einer Bekannten komponiert. Der Kanal war auf uns bei irgendeinem Auftritt aufmerksam geworden. Die wollten an diesem Abend ein kurzes Video filmen.”

Reindorf fragt die Frau Pfarrerin:

“Darf ich hier rauchen?”

Die Pfarrerin weist auf einen Aschenbecher auf dem Kaffeetisch:

“Bitte sehr.”

Reindorf hat bereits eine Zigarette zwischen den Lippen, die er jetzt entzündet:

“Ich hatte vorgeschlagen, als Kulisse für dieses Video eine verschneite Wiese zu nehmen, nur etwa einen Kilometer von Peters Studentenbude entfernt. Peter wollte uns beim Vorbereiten der Kulisse, einem Feuer im Schnee, helfen. Aber er kam nicht. Ich dachte er kam nicht, weil er diese Musik hasste.”

Christian:

“Stimmt genau, der ist nicht gekommen, aber das hatte ich fast befürchtet, denn ich hatte ihn am Vormittag angerufen, weil ich mit ihm besprechen wollte, ob er Getränke im Auto mitbringen kann. Aber ich habe Peter nicht erreicht. Stattdessen meldete sich dessen Anrufbeantworter mit einem total blöden Spruch. In diesem Moment war mir eingefallen, dass er wahrscheinlich seine Prüfungsergebnisse bekommen hatte. Der Anrufbeantworter war das Signal für mich, dass er es nicht geschafft hatte. Ich glaube, deshalb wollte er an dem Tag von niemandem irgendetwas hören.”

Bettina:

“Der Spruch auf dem Anrufbeantworter war so dumm, dass ich richtig wütend geworden war. Ich wollte mit Peter über dessen Prüfungsergebnisse sprechen, aber er hat den ganzen Tag das Telefon nicht abgenommen, stattdessen hörte ich drei, vier Mal dessen wütendes: “leckt mich alle” vom Anrufbeantworter.”

Martin:

“Das hab ich mir auch ein paar mal angehört, denn ich wollte Peter erreichen, weil er mir das Auto geliehen hatte. Der Spruch hat sich hasserfüllt und aggressiv angehört.”

Reindorf:

“Ich habe Peter an dem Tag nicht angerufen. Nach der Filmerei mit der Fernsehtante auf der Schneewiese waren Christian und ich mit meinem Auto zu Peters Wohnung gefahren.”

Bettina fragt jetzt ein wenig aufgeregt:

“Echt? Davon wusste ich bis jetzt gar nichts. Was war da los? Habt ihr bei Peter geläutet?”

Reindorf steht jetzt auf. Er beginnt im Zimmer hin und her zu laufen, greift sich an den Kopf, kratzt sich, wirkt beunruhigt:

“Das ist es ja gerade, worüber ich mir schon seit Tagen Gedanken mache. Vielleicht war er ja zu Hause und wir hätten mit ihm noch einmal sprechen können. Aber das Licht in der Wohnung und in Peters Zimmer war aus, auch sein Auto stand nicht vor der Tür. Das Haus lag im Dunkeln.”

Christian:

“Wenn Peters Auto nicht vor der Tür stand, dann war das in der Regel ein untrügliches Zeichen dafür, dass er unterwegs war.”

Martin:

“Ihr zwei konntet nicht wissen, dass er mir den Wagen am Tag zuvor geliehen hatte.”

Reindorf, der sich jetzt wieder an seinen Platz sitzt und nervös die Zigarette in den Aschenbecher auf dem Tisch ausdrückt:

“Stimmt genau. Wenn wir das gewusst hätten, ich glaube wir wären mit Sicherheit aus meinem Wagen ausgestiegen und wir hätten bei Peter geläutet. Aber wir sind nicht einmal aus dem Wagen gestiegen, um zu läuten, denn wir waren vollkommen durchgefrohren, wegen der dämlichen Videofilmerei auf der verschneiten Wiese. Ich glaube es hatte um die minus zehn Grad an dem Abend und ich war froh, dass es im Auto endlich einigermaßen warm geworden war.”

Bettina:

“Diese scheiß Kälte. In anderen Wintern wäre der Suizid so gar nicht möglich gewesen. Nur in eiskalten Nächten, wie in diesem scheiß Winter, kann sich ein Mensch überhaupt erfrieren lassen.”

Eine kurze Pause.

Bettina:

“Vielleicht war es doch ein Unfall? Peter hat sehr viel Alkohol im Blut gehabt. Vielleicht war er auf dem Weg zu der verschneiten Wiese, wo ihr dieses Video gemacht habt? Vielleicht war er gestolpert oder dumm gestürzt und war nicht wieder hochgekommen? Vielleicht war er deshalb im Schnee erfroren?”

Reindorf steht vom Kaffeetisch auf. Er raucht. Diesmal aber nicht nervös. Er geht zum Fenster, das er öffnet.

“Das wäre vielleicht eine Erklärung. Die Befunde haben einen extrem hohen Blutalkoholwert bei Peter ergeben. Kurz vor dessen Tod hat er sehr viel Alkohol getrunken.”

Martin:

“Er starb erst in der Nacht nachdem ihr dieses Video auf der Schneewiese gemacht hattet. Ich glaube nicht, dass er den Tag verwechselt hatte, außerdem kannte er die Wiese, wo ihr euch treffen wolltet. Die Stelle, wo sein erfrorener Körper, am nächsten Morgen, von einem Spaziergänger, gefunden wurde, lag aber in eine völlig andere Richtung.”

Bettina:

“Wahrscheinlich habt ihr recht. Ich sollte nicht weiter versuchen nach Erklärungen zu suchen, wo es nichts zu erklären gibt. Peter hat diese Art zu sterben gewählt, keiner von uns hatte geahnt, dass er ein Mensch war, der so etwas tun würde.”

Reindorf, der jetzt wieder aufsteht und unruhig im Zimmer herumläuft:

“Vielleicht leben wir alle einfach falsch? Wie kann es sein, dass Peters Freunde nicht mitbekommen haben, was er tat? Vielleicht leben wir alle irgendwie aneinander vorbei?Wir alle haben zu viel Stress. Die Hektik ist zu viel. Da bleibt keine Zeit um zu spüren, was mit dem anderen los ist. Vielleicht ist das der Grund, warum keiner von uns mitbekommen hat, was Peter plante. Irgendwie muss er den Tod doch geplant haben? Oder war es eine Kurzschlusshandlung?”

Keiner der Besucher am Tisch antwortet auf die Frage. Reindorf schließt das Fenster.

Jetzt spricht Reindorf die Pfarrerin an:

“Aber Frau Pfarrerin, Sie wollten wissen, wie wir alle Peter gekannt haben, was wir von ihm zu sagen wissen. Vielleicht sollten wir zu dieser Frage zurückkehren?”

Die Pfarrerin:

“Bitte sprechen Sie ruhig weiter und bitte, bedienen Sie sich.” Die Pfarrerin weist erneut auf Tee und Kaffee auf dem Tisch.

Der Vorhang fällt.

6. Szene

Das Bühnenbild:

Am hinteren Bühnenrand: Ein großer Schreibtisch hinter dem Reindorf in einem großen Chefsessel sitzt. Auf dem Tisch ein Telefon, Zeitungen ein Laptop.

Die Schauspieler:

Reindorf ist solide gekleidet. Er trägt einen korrekt sitzenden Anzug und eine passende Krawatte. Eine stark geschminkte und heraus geputzte Sekretärin. Eine junge Sekretärin in einem Sommerkleid.

Der Vorhang öffnet sich

Reindorf sitzt hinter dem Schreibtisch, liest Zeitung, raucht eine dicke Zigarre. Er liegt im Chefsessel, die Füße auf dem Tisch.

Der Notator betritt die Bühne, geht zum Pult, setzt die Brille auf, blättert eine bestimmte Seite auf und liest vor:

“Sie haben es geschafft Herr Reindorf. Nach fünfzehn Jahren Arbeit als Verkaufsfahrer für die Firma Blattschneider sind Sie vor sechs Jahren in die Chefetage aufgestiegen. Ihr abgeschlossenes Pädagogikstudium haben Sie völlig vergessen. Sie hatten diesen Verkäuferjob angenommen. Das hatten Sie in Ihrer Biografie geändert, weil Sie mit Michaela und Ihrem gemeinsamen Kind zusammenleben wollten. Deshalb waren Sie damals der Meinung gewesen, dass Sie viel Geld verdienen sollten. Seit Jahren verdienen Sie sehr viel Geld. Sie lebten aber nur knapp ein halbes Jahr mit Michaela und Ihrem gemeinsamen Kind zusammen.“

Ein Telefon auf Reindorfs Schreibtisch läutet. Reindorf gibt die liegende Haltung im Chefsessel auf, nimmt die Füße vom Tisch, klappt die Zeitung zu und hebt den Hörer ab. Er spricht in freundlichem Ton:

“Selbstverständlich Herr Direktor Felbig, die Tischvorlagen für die elf Uhr Sitzung hat mir Fräulein Krähenbring schon rein gebracht, ich werde Sie beauftragen Ihnen eine Kopie nach oben zu bringen.”

Reindorf legt den Hörer auf. Auf seinem Telefon drückt er eine Taste. Aus dem Lautsprecher des Telefons hört man die Stimme einer Frau:

“Ja bitte Herr Reindorf, Sie wünschen?”

Reindorf in korrektem aber befehlendem Ton:

“Frau Krähenbring, bitte bringen Sie dem Direktor eine Kopie unserer Tischvorlage für die Elfer hoch!”

Aus dem Telefon:

“Jawohl Herr Reindorf, wird umgehend erledigt.”

Reindorf lehnt sich im Sessel zurück, studiert die Zeitung auf dem Tisch.

Wieder läutet Reindorfs Telefon. Diesmal lehnt er sich zeitungsknisternd nach vorne, schaut auf das Telefon, erkennt auf dem Display, wer dran ist und reißt den Hörer von der Gabel:

“Was ist den schon wieder Frau Krähenbring? Sie wissen doch, dass ich vor der Elfer nicht gestört werden will!”

Reindorf hört in den Hörer, der nicht mehr auf laut gestellt ist, liest dabei weiter Zeitung und pafft an der Zigarre.

“Diese gekündigte junge Chefsekretärin aus der Lohnbuchhaltung? Die hat noch was zu besprechen? Aber warum denn unbedingt mit mir? (Pause) Warum denn das? Mit der Kündigung ist doch alles klar! Um die Frau kann sich doch Huber kümmern!”

Reindorf will auflegen, aber:

“Ach so, nur noch ne Unterschrift? Huber ist krank? Na gut, bringen Sie die Unterlagen rein und schicken Sie die Sekretärin fünf Minuten später hinterher, ich kann auf keinen Fall zu spät zur Elfer mit dem Direktor kommen!”

Reindorf knallt den Hörer auf die Gabel, legt die Zeitung zusammen und verstaut sie in einer Schublade. Auf dem Schreibtisch öffnet er einen Aktendeckel und greift zu einem Federhalter. An der Tür klopft es.

Reindorf:

“Kommen Sie herein Frau Krähenbring!”

Sie bring Reindorf eine dünne Akte mit Unterlagen. Während sie an dessen Schreibtisch heran kommt meint Reindorf:

“Na, Sie sehen heute ja wieder besonders fesch aus Frau Krähenbring. Gehen Sie noch auf einen Ball ?”

“Das nicht gerade, aber in der Verkaufsabteilung gibt es um sechzehn Uhr einen kleinen Empfang. Sie wissen schon, wir haben doch mit dem Verkauf der neuen Serie die Zehnmillionen-Mauer durchbrochen.”

Reindorf:

“Ach klar, stimmt, der ehrgeizige Oberndorfer! Der Mann ist wirklich ein Verkaufsgenie! Der bringt es noch sehr weit, da bin ich mir sicher!”

Frau Krähenbring entfernt sich, während Reindorf die Zeitung aus der Schublade herauszieht. Diesmal legt er sie auf den Schreibtisch über die dünne Akte, welche die Sekretärin dort hin gelegt hatte. Reindorf sucht mit dem Zeigefinger eine bestimmte Stelle in der Zeitung. Er findet die Stelle, beugt sich dicht darüber, um besser lesen zu können, und sagt zu sich selbst:

“Unglaublich der Höhenflug dieser Aktie! Da hab ich jetzt schon wieder einige Tausender mitgenommen. Das kann eigentlich nicht mehr lange gut gehen.”

Jetzt nimmt er sich die dünne Akte vor. Er lehnt sich im Stuhl zurück, nimmt die Zigarre aus dem Aschenbecher, pafft daran und beginnt die Akte zu überfliegen. Plötzlich hält er inne. In der Akte hat er etwas entdeckt. Eilig drückt er seine qualmende Zigarre in den Aschenbecher. Reindorf erhebt sich mit geöffneter Akte vom Schreibtisch. Er überzeugt sich nochmal vom Inhalt der Seite, die er da aufgeschlagen hat. Jetzt läuft er zum Pult des Notators. Mit dem Zeigefinger deutet er auf eine Passage in der Akte und fragt:

“Aber was soll das hier? Das gibt es doch gar nicht!”

Der Notator ist überrascht, weil er so plötzlich von Reindorf in das Geschehen hineingezogen wird. Er tastet nach der Brille in der Jackettasche, setzt sie auf und wirft einen Blick in die Akte, die Reindorf ihm unter die Nase hält:

“Ich weiß nicht was Sie haben Herr Reindorf? Ich sehe hier nur den Lebenslauf einer jungen Dame. Es ist der Lebenslauf einer Sekretärin mit hervorragenden Abschlussleistungen, einer mehrsprachigen Qualifikation an einer internationalen Sekretärinnen-Schule und internationaler Sekretariatserfahrung. Eine hochqualifizierte Fachkraft.”

Der Notator deutet mit Händen, Schultern und Gesichtsausdruck, dass er die Aufregung Reindorfs nicht versteht. Reindorf tritt noch dichter an den Notator heran, der ihm die Akte bereits zurück gereicht hat. Reindorf hält dem Notator die Akte erneut unter die Brille:

“Aber sehen Sie denn nicht, der Geburtsname und der Vorname dieser Sekretärin, deren Geburtsdatum, der Geburtsort.”

Der Notator hält nun die Akte dicht unter die Brillengläser und liest. Jetzt gibt er Reindorf die Akte und blättert im Buch auf dem Pult sehr weit zurück. Dort überfliegt er einige Seiten. Reindorf, der immer noch am Pult steht, sieht den Notator erwartungsvoll an. Der Notator, dem die Nähe zu Reindorf, so dicht am Pult, offensichtlich zu eng wird, entfernt sich jetzt vom Pult. Er läuft einige Meter am Bühnenrand auf und ab. Weil Reindorf ihm aber hinterher läuft, kehrt er sofort wieder zum Pult zurück. Von dort spricht er Notator mit gewohntem, korrektem Ton:

“Auch das hatten Sie in Ihrer Biografie verändert Herr Reindorf. Sie haben mit Michaela eine Tochter gezeugt. Deshalb ist es heute, zwanzig Jahre später, nicht irgendeine Sekretärin, die Sie und Ihr Chef aus der Firma feuern.”

Der Notator schaut ins Buch und liest vor:

“Nach der Trennung, kurz nach der Geburt der gemeinsamen Tochter, war Michaela in eine weit entfernte Stadt gezogen. Sie wollte zurück in ihre Heimatstadt, denn dort lebte inzwischen deren Mutter. Die hatte einen Entzug gemacht und war geheilt. Michaelas Mutter fand in der Erziehung der Enkelin eine schöne Aufgabe, die ihr die Kraft gab, dem Alkohol nicht wieder zu verfallen. So konnte Michaela eine hochkarätige Ausbildung absolvieren, den deren Mutter unterstützte sie mit der Tochter. Später heiratete sie einen Kanadier, den sie in ihrer Heimatstadt kennenlernte. Die Familie lebte zwei Jahre in Kanada, bevor sie, inzwischen mit zwei Kindern, wegen des Berufs von deren Mann, zurück nach Deutschland und in die Stadt kam. “

Der Notator blättert in dem dicken Buch viele Seiten nach vorne. Er liest weiter:

“Sie Herr Reindorf, haben sich nie besonders für Ihre Tochter interessiert. Nie haben Sie sich um Kontakt bemüht. In deren Familie wuchs Ihre Tochter in besten Verhältnissen auf, um eine internationale Sprachenschule zu absolvieren und sich bestens als Chefsekretärin zu qualifizieren.”

Reindorf:

“Ja, ich weiß ich erinnere mich, ich musste mich in der Firma eine steile Treppe hinauf arbeiten. Ab und an kamen Kunstpostkarten, aber ich konnte mich nicht darum kümmern.”

Der Notator:

“Seit zwei Monaten arbeitet ihre Tochter in der Firma. Es ist deren erste Anstellung und immer noch haben Sie keinen Kontakt zu ihr. Herr Reindorf, vielleicht sollten Sie…”

Es klopft an der Tür des Büros.

Reindorf läuft mit der schmalen Akte zurück an den Schreibtisch. Er setzt sich in den Chefsessel und ruft:

“Ja bitte herein!”

Eine junge, zwanzigjährige Frau in einem Sommerkleid tritt ein. Die Ähnlichkeit dieser Frau mit der jungen Michaela aus Reindorfs Wohngemeinschaftszeit ist verblüffend. Reindorf springt sofort aus dem Sessel auf, kommt der jungen Frau entgegen und reicht ihr die Hand. Reindorf mit sicherer Stimme:

“Ich bitte Sie, setzen Sie sich.”

Reindorf bietet der Frau einen Stuhl vor seinem Schreibtisch an.

Reindorf fragt:

“Was bitte kann ich für Sie tun?”

Die Frau antwortet:

“Herr Reindorf, ich habe lange mit mir gerungen, das müssen Sie mir glauben, aber ich habe es mir wirklich nicht leicht gemacht, Sie heute aufzusuchen.”

Reindorf ist ein wenig verlegen:

“Aber bitte, kommen Sie doch zur Sache.”

Die junge Frau:

“Ich möchte Sie nicht um Rücknahme der Kündigung bitten, denn ich weiß, das alles ist entschieden.”

Reindorf lehnt sich im Stuhl zurück und nickt.

Die junge Frau:

“Ich weiß, dass ich in der Probezeit bin und Sie daher berechtigt waren, keine Gründe für Ihre Kündigung zu nennen. Trotzdem möchte ich Sie um eine Erklärung bitten, denn ich stehe in meinem Beruf noch am Anfang und ich möchte gerne aus der Erfahrung in Ihrer Firma lernen. Das kann ich aber nur, wenn ich etwas über die Gründe erfahre, denn ich möchte mich bemühen an meinem nächsten Arbeitsplatz nicht die gleichen Fehler wieder zu machen.”

Reindorf nimmt die dünne Akte vom Schreibtisch, blättert darin, sucht vergeblich nach irgendetwas, legt die Akte zurück und spricht zu der jungen Frau:

“Ihr Ansinnen verstehe ich sehr gut, doch es tut mir wirklich Leid. Wir haben eine Betriebsvereinbarung, an die ich mich unbedingt gebunden sehe. Sie verbietet mir, Ihnen nähere Auskünfte zu geben. Ich kann Ihnen nur so viel sagen: Es liegt keinesfalls in Ihrer Qualifikation. Daher bitte ich Sie, sich durch diese Erfahrung nicht entmutigen zu lassen. Ich möchte Sie sogar ermutigen, sich auf entsprechende Positionen Ihres Fachs intensiv zu bewerben und ich bin sicher, dass der Ausrutscher in unserem Betrieb…”

Reindorf unterbricht seine Rede, denn die junge Frau vor dessen Schreibtisch, hat sich von Reindorf abgewandt und weint leise. Reindorf steht auf und legt seine Hand auf die Schulter der jungen Frau. Die wehrt ihn sofort ab, springt vom Stuhl auf, ergreift ihre Jacke und eilt zur Tür. Mit weinerlicher Stimme ruft sie:

“Ach lassen Sie das doch! Nichts als Heuchelei ist das! Tun Sie doch nicht so, als hätten Sie nichts mit der Sache zu tun. Warum machen Sie das mit, was in ihrer Firma geschieht? Warum mischen Sie sich nicht ein? Wenn Sie schon ahnen oder gar wissen, dass meine Kündigung unberechtigt ist, dann tun Sie doch etwas!”

Die Frau verlässt Reindorfs Büro.

Reindorf tritt an das Pult heran:

„Können wir das rückgängig machen?“

„Was Herr Reindorf?“

„Alles.“

Der Notator blättert im Buch zurück. Er verweilt auf einer Seite:

„Sie haben Ihre Biografie verändert, Herr Reindorf. Damit sind neue Tatsachen entstanden, zum Beispiel Ihre gemeinsame Tochter mit Michaela. Michaela geht es mit dem Kanadier und ihren vier Kindern sehr gut. Sie möchte daran nichts ändern. Wenn Sie damals nicht das Wochenende mit ihr verbracht hätten, hätte sie den Kanadier nie kennen gelernt, denn sie war nur wegen der Erziehung der gemeinsamen Tochter zurück in ihre Heimatstadt gezogen, um dort die Hilfe ihrer Mutter in Anspruch zu nehmen. Michaela ist glücklich mit ihrem Mann und ihrer Familie, dazu gehört auch ihre Tochter. Das Glück von Michaela ist aber nicht Ihre Biografie, Herr Reindorf. Das können Sie nicht ändern.“

Reindorf fällt in seinen Stuhl. Sekundenlang sitzt er schweigend. Das Telefon läutet. Reindorf hebt ab:

“Ja, Frau Krähenbring, die elf Uhr Sitzung! Vielen Dank!” Reindorf legt den Hörer auf, erhebt sich, ergreift eine Akte und verlässt sein Büro.

Der Vorhang fällt für immer.

Zweifel

Zweifel – Erzählung von Bernd Thümmel

Bernado kehrt im Alter von 10 Jahren im Jahr 1974 seinem Kinderheim am Obersalzberg den Rücken. Doch sein neues Zuhause bei seinem Vater ist herausfordernd und verlangt schließlich eine Entscheidung.

I. Durch das Dorf

1. Früh morgens

Es ist feucht draußen. Der Gartenweg ist dunkel, die Steinplatten glänzen. Grüne Blätter von einem Rosenstrauch glitzern nass. Ein Tropfen geht zu Boden. Meine Hand liegt auf dem schmiedeeisernen Türgriff. Ich drücke ihn hinunter. Langsam, kein Geräusch dabei. Ich spüre die Kälte an meiner Handfläche. Die Gartentür ist nicht verschlossen. Mir genügt ein schmaler Spalt. Ich bin dünn und klein. Jetzt stehe ich auf dem schmalen Bürgersteig. Von hier ziehe ich das Gartentürchen langsam zu. Ein Topfen rollt von einem Rosenstrauchblatt. Meine Augen lösen sich von dem Blatt. Ich sehe nicht, wie der Tropfen zu Boden geht.

Der große Rosenstrauch am Gartenzaun, der kurze Steinplattenweg, das Unkraut rechts und links davon, die Tulpen im Garten meiner Stiefmutter, das alte Bauernhaus meines Vaters, die schiefen Fenster, die braunen Fensterläden, der bröckelnde Putz an der schrägen Hauswand, das alte Schindeldach auf dem Haus, die niedrige Haustür, die graue Blechmülltonne. Vielleicht sehe ich das alles nie wieder.

Es ist früher Morgen. Weil er heute so früh für mich beginnt, ist alles anders. Ich höre keine Geräusche von Autos, von Motorrädern, von Mofas, von Traktoren. Ich höre keine Kuhglocken, nicht die Glöckchen einer Schafherde, nicht den Schäferhund, nicht die gackernden Hühner oder den krähenden Hahn vom Bauernhof neben unserem Haus. Alle Geräusche, die ich vor unserem Haus kenne, fehlen heute Morgen. Ich stehe nur wenige Sekunden auf dem feuchten Bürgersteig vor dem Gartentürchen. Ich höre die feuchten Blätter am Rosenstrauch. Sie rascheln im schwachen Wind.

Das erste Ziel ist jetzt erreicht. Ich stehe auf dem Gehsteig vor unserem Haus. Die schwere Haustür und das Gartentürchen sind überwunden. Mein Herz pocht schnell, die Schnürsenkel in meinen Schuhen sind offen, meine dünne Strickjacke liegt auf meinem rechten Arm.

Vor wenigen Minuten habe ich unser Zimmer verlassen. Meine beiden Brüder Christian und Matthias schlafen auch jetzt noch fest. Leise war ich zur Zimmertür getapst. Die Dielen knarrten, die Zimmertür hatte laut gequietscht. Matthias stöhnte tief und drehte sich um. Christian rührte sich nicht. Im finsteren Korridor war es kalt. Vorsichtig tapste ich weiter über die knarrenden Dielen vorbei an Küche und Esszimmer.

Dieser Morgen hatte in meinen Gedanken schon sehr oft stattgefunden. Vor Monaten hatte ich, in meinem erst zehn Jahre alten Kopf, begonnen drei Bilder von diesem heutigen Morgen zu malen.

Viele schlaflose Abende in meinem Bett neben Matthias und Christian dachte ich, dass der Vater mich windelweich prügeln wird, wenn ich es am heutigen Tag nicht schaffe. In unserem dunklen, kalten Kinderzimmer war ich in den vergangenen Monaten oft bis weit über die Mitternacht hinaus wach gelegen. Unter meiner dicken Bettdecke hatte ich gedacht, dass mein Plan sehr genau durchdacht und der Zeitpunkt gut sein muss, damit er heute gelingen kann. Stundenlang hatte ich viele Nächte mit meiner Angst davor gekämpft, dass der Vater schlagen wird, wie noch nie, wenn mein Plan Fehler hat und heute nicht gelingt. Deshalb mussten meine Bilder in meinem Kopf von diesem Morgen sehr genau und vor allem fertig werden. Ich hatte entschieden, so lange an den Bildern in meinem Kopf zu malen, bis jeder Pinselstrich seinen Platz gefunden hat. In meinem Kopf durfte kein Pinselstrich sein, wo er nicht hingehört.

Nachts in meinem warmen Bett waren nach vielen Monaten schließlich diese drei Bilder vom heutigen Morgen entstanden. Das erste Bild zeigt mich heute früh morgens in unserem Haus. Auf dem zweiten Bild nehme ich in der morgendlichen Kälte den Weg durch unseren kleinen Garten. Das dritte Bild zeigt mich auf dem Bürgersteig vor unserem Garten. Genau so, wie ich das monatelang in meinem Kopf gemalt hatte, geschah alles vor wenigen Minuten.

Das erste Bild:

Der dunkle Korridor von unserem Kinderzimmer ins kalte Treppenhaus liegt schon hinter mir. Ich öffne die Toilettentür. Langsam ziehe ich sie auf, denn nur so quietscht sie nicht. Unter meinem rechten Arm klemmen meine Kleider. Unsere Toilette ist schmal, lang, dunkel und kalt. Die Tür ziehe ich hinter mir zu. Die Holzbretter unter dem grauen Linoleumboden knarren. Sieben Schritte sind es bis zur Plumskloschüssel. Meine Kleidung lege ich auf den geschlossenen Klodeckel. Vor der Schüssel ziehe ich meinen Schlafanzug aus. Ich lasse ihn auf den Boden fallen. Unterwäsche, Socken, T-Shirt und Hose ziehe ich an. Die Strickjacke nehme ich als letzte vom Deckel. Sie behalte ich im rechten Arm. Ich pinkle in die Schüssel. Aus der Sickergrube stinkt es fürchterlich. Ich spüle nicht. Ich bücke mich, schließe dabei den Klodeckel, nehme mit der linken Hand den Schlafanzug und lege ihn über meinen rechten Arm auf meine Strickjacke. So gehe ich von der Toilette zurück ins Treppenhaus.

Der Moment zwischen der Klotür und der Treppe hinunter, ist der gefährlichste. Meine Augen fixieren deshalb eine Tür. Es ist die Zimmertür von Vater und Stiefmutter. Sie darf jetzt nicht aufgehen. Keiner der beiden muss jetzt auf die Toilette. Beide schlafen noch, wie meine beiden Brüder. Alle Hausbewohner, auch Paul, der Sohn der Stiefmutter, oben im zweiten Stock, schlafen fest. Jede Treppenstufe knarrt. Den Knauf von Vaters Schlafzimmertür behalte ich so lange im Blick, wie es geht. Er bewegt sich nicht. Die Tür bleibt geschlossen. Ich erreiche den unteren Treppenabsatz. Vaters Zimmertür sehe ich von hier nicht mehr. Alles geht jetzt sehr schnell und geräuschlos. Ich bücke mich und schlüpfe hastig in meine Schuhe. Von oben höre ich nichts. Vaters Zimmertür bleibt geschlossen. Meine Schuhbänder lasse ich offen. Ich ziehe an dem dunklen Haustürgriff. Der Schlüssel klemmt, das macht nichts. Ich kenne das seit bald einem Jahr. Solange wohnen wir in dem alten Haus. Ich drehe am Schlüssel und ziehe die Haustür auf.

Das zweite fertige Bild in meinem Kopf:

Kalte Morgenluft strömt mir entgegen. Draußen ziehe ich einmal kräftig am Haustürgriff. Das Schloss schnappt ein. Rechts neben der Haustür steht die Mülltonne. Der graue Blechdeckel quietscht leise. Ich schiebe etwas Müll beiseite. Meinen Schlafanzug lege ich hinein. Den Müll schiebe ich darüber. Das ist mein Versteck für den Schlafanzug. Wenn ich heute vom Vater erwischt werde, muss ich versuchen den Schlafanzug unbemerkt aus der Tonne zurückzuholen.

Das dritte und letzte Bild vom heutigen Morgen in meinem Kopf:

Noch stehe ich in meinem dritten Bild. Den glitschigen Gartenweg tapste ich vor Minuten behutsam und sehr schnell entlang. Dabei war ich nicht ausgerutscht. Jetzt stehe ich endlich draußen vor unserem alten Haus, auf dem feuchten Gehsteig und werfe einen gehetzten, flüchtigen Blick durch den Vorgarten hinüber auf das alte Gemäuer, meinem zu Hause.

Hoffentlich wird niemand meinen Schlafanzug in der Mülltonne frühzeitig finden. Wenn alles klappt, wird er wahrscheinlich nie wieder auftauchen. Er wird am Mittwoch von den Müllmännern abgeholt werden. Die werden wie immer die Mülltonne in ihren Wagen kippen. Keiner der Müllmänner wird wissen was er da in den Müllwagen kippt und zusammen mit dem anderen Müll auf die Müllkippe fährt. Kein Mensch wird sich für meinen Schlafanzug in der Tonne interessieren. Der Schlafanzug wird irgendwo auf einer Müllkippe liegen, unter Plastiktüten mit Haushaltsabfall, zwischen leeren Blechdosen. Langsam wird er in Mitten des Müllberges vermodern. Vielleicht habe ich heute die letzte Nacht im Haus von Stiefmutter und Vater in diesem Schlafanzug gezittert. Vielleicht werde ich nie wieder in diesem Schlafanzug im Bett liegen und Angst haben, weil ich den heutigen Tag in meinem Kopf male und plane. Niemand wird sich für die Geschichte dieses Schlafanzuges auf einer Müllhalde interessieren. Niemand weiß, warum ich ihn heute im Morgengrauen in unserer Tonne vergrub. Hoffentlich hat der Schlafanzug, obwohl er noch nicht alt und ausgeleiert ist, heute für immer ausgedient. Vielleicht werde ich ihn nie wieder anziehen.

Auf den drei Bildern in meinem Kopf fehlt etwas. Es ist mein leichtes Zittern, mein Schwitzen, mein immer stärker werdendes Zittern und die Kälte die ich dabei spüre. Jetzt vor dem Gartentürchen ist es wieder da. Es ist das, was ich auch unter meiner Bettdecke immer gespürt hatte. Es ist meine Angst davor, das in meinem Kopf lange Gemalte, das sorgfältig Geplante, das monatelang Gedachte heute endlich zu tun.

Seitdem ich im Haus bei Stiefmutter und Vater wohne, besuche ich die Dorfschule. Sie liegt oben im Dorf, nicht weit vom kleinen Dorfplatz. Mein Lehrer hatte einmal einen Satz aus einem Buch vorgelesen, an den ich immer wieder denken muss. Auch jetzt in den Sekunden auf dem Bürgersteig vor unserem Gartenzaun am feuchten Rosenstrauch, fällt mir dieser Satz wieder ein: “Angst ist ein schlechter Ratgeber.”

In meinem Kopf auf meinen drei klaren Bildern von diesem Morgen fehlt meine Angst. Ich kann sie im Kopf nicht malen, denn sie ist unsichtbar. Sie ist so unsichtbar, dass ich sie auf den drei Bildern in meinem Kopf nicht erkennen kann. Aber sie ist stets da. Sie treibt mich heute schon vor Sonnenaufgang aus meinem warmen Bett, aus unserem Kinderzimmer, aus unserem Haus, durch unser sauberes schwäbisches Gärtchen. Sie treibt mich auf den besenreinen Gehsteig. Sie wird mich heute vielleicht noch den ganzen Tag lang weiter treiben.

Ich glaube nicht, dass meine Angst mein Ratgeber ist. Sie treibt mich an, aber sie berät mich nicht. Ich bin zehn Jahre alt und mich berät mein Kopf. Mein Kopf ist nicht nur voll mit Angst, er ist auch voll mit meinem Denken.

Sehr lange habe ich darüber nachgedacht, was geschehen ist. Mein langes Nachdenken bringt mich heute Morgen vor dieses Gartentürchen. Ich muss es heute tun, weil ich so lange darüber nachgedacht habe und zu dem Ergebnis gekommen bin, dass ich es nicht mehr aushalte. Meine Angst treibt mich dabei an, sie begleitet mich hier her, sie wird mich heute weiter begleiten, aber ich glaube, sie berät mich nicht mehr.

Mein Denken in meinem Kopf verhindert, dass meine Angst mich berät oder gar darüber entscheidet, was ich heute tue. Weil ich so lange über den heutigen Tag nachgedacht habe, hat mein Denken die Angst schließlich besiegt. Nur weil das so gewesen war, gibt es auch Bilder, die ich vor dem heutigen Morgen in meinem Kopf niemals gemalt hatte. Hätte ich sie gemalt, stünde ich jetzt nicht auf dem feuchten Gehsteig vor unserem alten Haus. Jetzt aber, wo ich die ersten Schritte bereits gewagt habe, baut sich in meinem Kopf plötzlich eines dieser Bilder auf. Dieses Bild sieht so aus:

Der Vater liegt neben der Stiefmutter im Bett. Draußen dämmert es. Es ist Samstag, die Familie kann heute ausschlafen. Der Vater muss nicht früh raus. Heute braucht er nicht in seinem weißen Käfer im Morgengrauen zur Arbeit in die Fabrik zu fahren. Trotzdem wacht er genau so früh auf, wie an jedem normalen Arbeitstag. Im seinem Bett dreht er sich um. Er öffnet die schläfrigen Augen und sieht, dass es noch nicht ganz hell geworden ist. Sekundenlang glaubt er, dass er heute zur Arbeit müsse. Deshalb schreckt er auf, denn der Wecker hat nicht geläutet. Jetzt fällt ihm die gestrige Fußballübertragung im Fernsehen wieder ein. Die deutsche Mannschaft ist Fußballweltmeister geworden, ein toller Sieg! Das denkt er jetzt, genauso wie er es gestern Abend schon gedacht hatte. Nun weiß er auch wieder, dass heute Samstag ist. Also kann er im Bett liegen bleiben. Er dreht sich noch mal um. Neben sich im Bett sieht er die Stiefmutter. Sie schläft noch tief. Der Vater schließt die Augen, denn er möchte weiter schlafen. Das Wiedereinschlafen klappt aber nicht. Jetzt spürt er, dass er dringend auf die Toilette muss. Wegen ihrem guten Fußballspiel von gestern Abend, war die deutsche Mannschaft Fußballweltmeister dieses Jahres 1974 geworden. Deshalb liegt ein langer Fernsehabend mit vielen Getränken hinter dem Vater. Das viele Getrunkene will jetzt wieder raus. Die Bettkante knarrt unter seinem großen Gewicht. Der Vater schlüpft in die braunen Pantoffeln. Die Dielen im Schlafzimmer knarren. Über den grauen Steinboden geht er durch das kalte Badezimmer. Schnell erreicht er die Badezimmertür. Sie führt ins Treppenhaus. Quietschend öffnet er sie. Da bleibt der Vater überrascht stehen, denn jetzt sieht er mich. Ich komme gerade aus der Toilette.

Eindeutig, dass ich mich auf der Flucht befinde! In voller Bekleidung sieht mich der Vater. Mein Schlafanzug liegt über der Strickjacke auf meinem rechten Arm. Eindeutig, dass ich das Haus noch vor Sonnenaufgang verlassen möchte. Auch ich sehe den Vater. Ängstlich erstarre ich auf der Treppe. Ich zittere zuerst wenig, dann wird mir sehr heiß, dann zittere ich kräftig, dann wird mir kalt. Schlafanzug und Strickjacke fallen auf die Treppenstufen. Der Vater ist sofort hellwach. Er schreit mich an: “Das gibt’s doch nicht! Was machst du denn hier? Wohin willst du, du freches Bürschchen?”

Ich bleibe, wie so oft in solchen Momenten, bewegungslos zitternd und schweigend stehen. Wie erstarrt stehe ich auf den ersten Treppenstufen vor dem Vater. Ich kann dem Vater keine Antwort geben. Ich glaube, der Vater erwartet gar keine Antwort auf seine laute Frage. Wütend und aufgebracht ist er. Sein Gesicht ist sehr faltig, und jetzt sehe ich, dass es ganz rot von seiner Wut auf mich geworden ist. So stürzt der Vater über die laut knarrenden, alten Dielen im kalten Treppenhaus auf mich zu. Dabei brüllt er zornig: “Die Faxen treibe ich dir jetzt endgültig aus Bürschchen!”

Ich spüre Vaters kalte, feste Hand an meiner Schulter. Sie wirft meinen Rücken gegen die schiefe Treppenhauswand. Ich falle auf die Stufen. Der Vater zieht mich, an meinen Schultern und meinem T-Shirt, über die Treppe zu sich hinauf. Verschwommen erkenne ich jetzt auch die Stiefmutter in der Badezimmertür. Ihr Blick ist hasserfüllt. Es ist der Blick, den ich seit einem Jahr täglich erlebe. Sie hilft dem Vater. Gemeinsam schleifen sie mich ins Wohnzimmer. Jetzt erkenne ich die niedrige, durchhängende Wohnzimmerdecke. Der Putz hat tausend Sprünge. Ich stolpere über die Türschwelle und falle zu Boden. An meinem T-Shirt und meiner Hose ziehen beide mich hoch. Die Stiefmutter schreit: “Du Bürschle brauchscht des einfach jeden Tag! Mir wern’s dir schon noch zoign!”

Der Vater verschwindet für kurze Sekunden. Ich liege auf dem Holzstuhl. Der Vater kommt zurück. Ich spüre seinen scharfen Gürtel. Jeder Schlag zwingt mich zu einem lauten Schrei. Meine Tränen tropfen auf den grauen Teppichboden.

Dieses Bild in meinem Kopf ist hier zu Ende. Ausgerechnet jetzt malt mein Gehirn so ein Bild! Gerade jetzt, in den Sekunden, die ich auf dem nassen Asphalt vor unserem Haus in der morgendlichen Kälte stehe. Dieses Bild kann ich nicht gebrauchen. Warum ist es trotzdem in meinem Kopf? Soll meine Angst jetzt schon zurückkehren? Will sie mich in letzter Sekunde abhalten, das lange Geplante heute endlich zu tun?

2. Der Vorabend

Gestern Abend durfte mein älterer Bruder Christian noch etwas länger fernsehen. Weil das Fußballweltmeisterschaftsspiel gezeigt wurde, waren Stiefmutter und Vater guter Dinge. Meinen jüngeren Bruder Matthias und mich schickten Stiefmutter und Vater wie immer zur täglich gleichen Uhrzeit ins Bett. Wir standen vom Sofa vor dem laufenden Fernsehgerät im Wohnzimmer auf und gingen gemeinsam in unser Schlafzimmer. Dort zog ich meine Kleider sehr langsam aus. Ich legte sie betont ordentlich auf den Stuhl neben meinem Bett. Matthias verließ zuerst das Schlafzimmer. So plante ich das. Ich war einen kurzen Augenblick allein. So konnte ich die Maßnahmen für den heutigen Morgen treffen.

Frisch gewaschene Kleider nahm ich aus unserem Kleiderschrank. Ich versteckte sie unter meinem großen Kopfkissen. Dann verließ auch ich das Zimmer und ging zu Christian in den kalten Waschraum. Christian und Matthias hatten nichts von meinen Vorbereitungen bemerkt.

In der Nacht war ich nur sehr kurz eingeschlafen. Immer wieder wachte ich auf. In einer Art Halbschlaf döste ich vor mich hin. Ich spürte immer wieder meine Angst vor dem kommenden Tag. Deshalb malte ich wieder und wieder die drei Bilder des heutigen Morgens in meinem Kopf. Ich zitterte, schwitzte und fror. Den Plan, das Haus zu verlassen ohne dass es jemand bemerkt, spielte ich immer wieder von neuem durch. Ich fragte nach Fehlern in meiner Vorbereitung und fand keine. Ich überlegte, ob mein Weglaufen durch irgendeine Unbedachtheit zu früh bemerkt werden könnte. Mir fiel nichts ein.

Spät nachts hörte ich Christian. Er öffnete die Zimmertüre und knipste das Licht an. Er setzte sich auf sein Bett, zog seine Schuhe und seine Kleidung aus. Die legte er auf seinen Stuhl neben dem Bett. Seinen Schlafanzug zog er unter dem Kopfkissen hervor. Er zog ihn an, ging zur Zimmertür, öffnete sie und ging zur Toilette.

Durch die kurz geöffnete Zimmertür hörte ich die Stimmen der Stiefmutter und des Vaters. Was sie miteinander besprachen verstand ich aber nicht. Minuten später kam Christian wieder zurück. Die Stimmen der Stiefmutter und des Vaters in der Küche hörte ich nicht mehr. Christian knipste das Licht aus und verkroch sich unter seiner Bettdecke.

Matthias hatte schon lange geschlafen, er atmete schon tief bevor Christian gekommen war. Ich tat so, als schliefe auch ich. Zwei Mal hatte ich lautes Jubelgeschrei aus dem Wohnzimmer gehört. Die Deutschen hatten zwei Tore geschossen. Das Fußballspiel bescherte der Familie einen ruhigen Abend. Deshalb hatte es gestern Abend keine Zwischenfälle gegeben. Der Vater und die Stiefmutter schlugen gestern Abend nicht zu.

Nachdem Christian sich in sein Bett gelegt hatte, wurde es im Haus leise. Die ganze Nacht lang hörte ich nichts, außer den lauten Glocken der Dorfkirche. Bei jedem Glockenschlag zählte ich mit. So wusste ich, wie spät es war. Langsam wurde es in meinem Bett wärmer. Mein Zittern wurde trotzdem nicht weniger.

Irgendwann in der Nacht, als ich noch mal alles genau durchgedacht hatte, war ich mir sehr sicher geworden. Ein wenig Angst spürte ich trotzdem noch. Alles stand deutlich vor meinen Augen. Ich war mir über mein heutiges Fortgehen sicher geworden. Das war nicht mehr nur in meinem Kopf gemalt und geplant. Sondern das Geplante stand klar als eine wichtige Tat vor mir. Es war die nächste Aufgabe für mich. Die Tat stand vor meinen Augen, wie eine Aufgabe, die für den heutigen Tag selbstverständlich zu meinem Leben gehört. Mein Plan war zu etwas geworden, das unbedingt sein muss. Den Fluchtplan heute endlich zu verwirklichen, fühlte ich mich gegen Ende der vergangenen Nacht gezwungen. Die heutige Flucht schien mir genauso notwendig, wie ich täglich trinken und essen muss.

Zitternd wegen meiner Angst sagte ich schließlich zu mir: Du bist derjenige, der hier fortgehen muss. Gehst du nicht, wird alles bleiben wie es ist, und wie es ist, ist es schlecht.

Ich glaube, wegen diesem Satz überwand ich endlich die letzten Bedenken die wegen meiner Angst noch da waren. Der Satz meines Lehrers fiel mir auch vergangene Nacht wieder ein. In meinem Kopf antwortete ich meinem Lehrer: “Vielleicht war meine Angst bisher mein Ratgeber. Sie darf es nicht weiter bleiben! Seit Monaten schon bleibe ich nur deshalb hier, weil ich Angst davor habe, wie schlimm es wäre, wenn der Vater und die Stiefmutter mich beim Weglaufen erwischen würden. Heute Nacht überwinde ich diese Angst! Von ihr will ich mich nicht weiter leiten lassen.”

Schon in den vergangenen Wochen war meine Angst immer weniger hervorgebrochen. In meinem Kopf entstand mehr und mehr Platz für meinen Plan. Die Angst nahm einen immer kleineren Platz ein. Mehr und mehr entstand das Gefühl den Plan zwingend ausführen zu müssen. Es gab keinen anderen Weg oder eine andere Aufgabe mehr, für den heutigen Tag. Über die Umsetzung meines Plans dachte ich nicht weiter nach, als in diesen drei Bildern für den heutigen Morgen. Sie zu Denken kostete mich meine ganze Kraft.

Letzte Nacht gab es keinen Gedanken an die mögliche Endgültigkeit dieses Schrittes. Was danach kommen wird, hatte keinen Platz mehr in meinen Kopf. Gelingen oder Scheitern spielte ich in der vergangenen Nacht nicht durch.

Auch jetzt in den kurzen Sekunden auf dem Bürgersteig können mir die vielfältigen Möglichkeiten, die so ein Denkspiel in meinem Kopf offengelegt hätte, nicht einfallen. Hier draußen in diesen Sekunden in der frischen kalten Morgenluft vor unserem Haus kann ich nicht wissen, dass der heutige Tag nicht nur irgendein Fluchttag ist. Heute ist der Tag an dem ich meine Zukunft entscheide. Zu diesem Gedanken bin ich heute noch nicht fähig, weil ich noch viel zu klein bin, so etwas zu denken.

Meine zehn Jahre alten Füße haben mich gerade aus unserem alten kleinen Haus getragen. Sie werden mich gleich durch unser Bauerndorf tragen. Mein Kopf, mein Denken, das in mir steckt, wollte lange schon nicht mehr hier bleiben. Meine Angst war der Ratgeber, der nur noch meinen Körper in diesem Haus, in dieser Familie hielt. Mein Denken war schon lange weit weg von diesem Ort, von diesen Menschen, von dieser Familie. Lange ließ meine Angst die Umsetzung meines Denkens nicht zu. Das Denken hat jetzt das Übergewicht gewonnen. Meine Angst soll ab jetzt unter meinem Denken bleiben.

Ich glaube, vergangene Nacht war ich irgendwann doch noch eingeschlafen. Denn die Nacht war überraschend schnell vorbei. Durch das Zimmerfenster hatte ich den Nachthimmel beobachtet. Es war hell draußen, eine klare Vollmondnacht. Bereits in der Dunkelheit aufzustehen, um das Haus zu verlassen, hatte ich mich aber nicht getraut. Es war völlig klar, dass ich zu warten hatte bis der Morgen kam.

Morgens hörte ich Geräusche aus dem Stall des Bauernhofes neben unserem Haus. Der Bauer hat viele Milchkühe. Wir holen regelmäßig unsere Milch bei ihm. Noch bevor der Bauer heute Morgen in seinen Stall gehen würde, wollte ich bereits die Dorfstraße hinauf gerannt sein.

Die Kirchturmuhr hatte fünf Mal hintereinander geschlagen. Leise kroch ich unter meiner Bettdecke hervor. Ich richtete sie ein wenig auf. Ich wollte, dass sie so aussieht, als läge ich noch darunter. Unter dem Kopfkissen zog ich die frische Hose hervor. Vom Stuhl nahm ich T-Shirt, Unterhose und Socken. Mein Bett sah ich mir genau an. Es sah aus, als läge ich noch unter der dicken Decke. Ich verließ das Kinderzimmer.

3. Die ersten Schritte

Jetzt laufe ich los. Die schmutzige, steile Dorfstraße marschiere ich eilig hinauf. Die dünne Strickjacke ziehe ich im Laufen über. Immer noch fehlen alle Geräusche, die ich in diesem Dorf auf dieser steilen Dorfstraße täglich auf meinem Weg zur Schule beinahe ein Jahr lang gehört hatte.

Es herrscht Ruhe. Ich kenne den Geruch in der kalten Luft. Er kann zu dieser frühen Stunde nicht fehlen, so wie die Geräusche. Es ist der Geruch des Bauerndorfes. Das sind die vielen Kuhfladen auf der Dorfstraße, es ist die nasse Erde, die Treckerspuren vor mir, es sind die Misthaufen hinter den Bauernhäusern an der Dorfstraße. Es ist der Schweinestall unseres Nachbarbauern aus dem in einer Stunde die Schweine grunzen werden. Diesen Gestank sauge ich jetzt auf. Ich atme tief. Die Straße ist sehr steil. Hinauf brauche ich viel Luft.

Der Gestank des Dorfes ist mir sehr vertraut. Wenigstens etwas, das mir in diesen Sekunden vertraut ist. Aber der Mief beruhigt mich nicht. Ich höre meine stapfenden Schritte auf der Dorfstraße. Sie sind groß. Ich mache sie so groß wie ich nur kann. Ich renne aber nicht. Wenn ich renne, merke ich nicht was um mich herum geschieht. Ich möchte nichts Wichtiges übersehen oder überhören und ich möchte meine Kräfte sparen. Wenn ich renne, brauche ich viel Kraft aber ich habe einen weiten Weg vor mir.

Ich glaube, wenn ich jetzt losrennen würde, könnte ich wegen meiner offenen Schuhbänder in den feuchten Schmutz auf die steile Dorfstraße stürzen. Vielleicht falle ich jemandem auf! Einem Menschen der an der Dorfstraße wohnt und jetzt gerade aus dem Toilettenfenster blickt? Es ist sehr früh am Morgen, es ist noch nicht einmal richtig Tag. Ich laufe allein, mitten auf der leeren Dorfstraße. Ich gehe hier ohne meinen Bruder entlang, denn ich gehe heute nicht zur Schule.

Dass ich so früh im Dorf unterwegs bin, heute am Samstag, wo keine Schule ist! Das ist auffällig. Ich muss nicht noch mehr auffallen, indem ich renne. Ich glaube, um diese Uhrzeit schnell zu rennen auf der Dorfstraße, sieht verdächtig nach Flucht aus dem Dorf aus.

Wenige Meter auf der Dorfstraße liegen jetzt hinter mir. Mir ist schon ganz heiß. Wegen der Jacke, die ich anhabe? Nein, ich glaube es ist mein Denken, dass mich schwitzen lässt.

Es ist wegen dem Mann am Toilettenfenster, der mir gerade einfällt. Ich sehe keinen Mann an irgendeinem Toilettenfenster, denn meine ganze Aufmerksamkeit liegt bei meinen offenen Schuhbändern. Die Möglichkeit, dass mich im Dorf jemand sieht, um diese Uhrzeit, darf es nicht geben. Der Gedanke daran lässt mich schwitzen. Es ist im Grunde gleich, ob ich nun schnell laufe oder renne, beides ist sehr auffällig.

Jetzt darf niemand am Toilettenfenster Richtung Dorfstraße stehen und auf die Straße blicken. Im Dorf darf jetzt, neben mir, kein anderer Mensch unterwegs sein. Das Dorf ist sehr klein, ich kenne nur diese eine Straße, deshalb laufe ich auf ihr. Würde sich ein Bauer jetzt aus seinem Haus machen, muss er mir begegnen. Alle Dorfbewohner kennen mich. Jeder hier weiß, wer ich bin, und jeder weiß, wo ich wohne. Wenn ich jetzt von einem Bauern gesehen werde, ist das mehr als verdächtig.

Ich spüre mein Blut in meinen Adern. Es pulsiert sehr schnell. Ich kenne das aus dem Turnunterricht. Nach dem Laufen sollen wir uns an den Puls fassen und die Schläge zählen. Die Hitze wird fast unerträglich.

“Verdächtig!”

Dieses Wort reicht gar nicht!

Ich spüre das, weil mein Puls rast, obwohl ich noch nicht einmal hundert Meter auf der Straße hinter mir habe. Ein Bauer, jetzt am Klofenster oder auf der Dorfstraße, ich glaube, das wäre das sichere Ende meiner Flucht.

Jeder Bauer der mich jetzt hier laufen sieht, muss sich überlegen, warum er mich so früh laufen sieht. Ich denke an so einen Bauern an der Dorfstraße. Vor dem Toilettenfenster steht er und pinkelt in die Kloschüssel. Das kleine Klofenster ist offen. Verschlafen blickt er kurz hinaus auf die Dorfstraße. Da sieht der Bauer mich, wie ich hier auf der Dorfstraße laufe. Genau in diesem Augenblick eile ich vor seinem Toilettenfenster vorbei.

Sofort denkt der Bauer, dass ich um diese Tageszeit auf der Dorfstraße überhaupt nichts zu suchen habe. Hastig beendet er sein Pinkeln, denn er hat nur eine Idee im Kopf:

Das Telefon!

Der Bauer verlässt schnell die Toilette. Er spült nicht. Er hat nur noch das Telefon im Kopf. Seine Schlafanzughose zieht der Bauer im Laufen hoch. Die Klotür vergisst er zu schließen, auch die Wohnzimmertür lässt er offen stehen. Dort eilt er an das Telefon. Die Telefonnummer findet er sofort, denn im Dorf kennt jeder jeden.

Das Telefon im Wohnzimmer des Vaters klingelt laut und schrill. Es weckt jeden Bewohner im Haus. Heute Morgen muss es sehr lange läuten, denn Vater und Stiefmutter sind noch sehr müde, wegen des langen Fußballabends gestern. Der Bauer wartet. Den Telefonhörer hält er an sein Ohr, das Gerät in der anderen Hand, versucht er soweit zu gehen, wie es die Telefonschnur zulässt. Das reicht gerade bis zur Küchentür. Von dort kann er durch das Küchenfenster jetzt die Dorfstraße sehen. Ich laufe dort aber nicht mehr.

Ich bin schon vorbei an seinem Haus. Jetzt lässt der Bauer das Läuten sein, er hängt wieder ein. Er stellt das Telefon zurück in sein Wohnzimmer. Vielleicht denkt er, dass er nur geträumt hat von mir, dem laufenden Knaben auf der dreckigen Dorfstraße.

Der Bauer ist müde, wie alle Menschen an diesem Morgen im Dorf. Alle haben gestern Abend lange den Sieg der deutschen Fußballer gefeiert. Der Bauer geht zurück ins Schlafzimmer, er legt sich wieder in sein Bett.

Ein klingelndes Telefon. Ein aufgeregter Bauer in der Leitung, der den Vater auf den eilig marschierenden Sohn auf der Dorfstraße hinweist. Das wäre ein schlimmes Ende. Es wäre sehr traurig. Es wäre eine Katastrophe für mich. Warum denke ich jetzt genau daran?

Es ist ganz schlecht, daran zu denken, und trotzdem tue ich es. Und ich denke noch weiter: Der Bauer liegt wieder in seinem Bett. Er kann aber nicht mehr einschlafen, obwohl er nicht aufs Klo muss, denn da war er ja gerade erst gewesen. Was er vor Sekunden gesehen hatte, war vielleicht doch kein Traum. Wenn der Bauer das denkt! Jetzt fällt mir Vaters scharfer Ledergürtel ein. Da spüre ich sie wieder: Meine Angst vor schmerzenden Schlägen, vor der Wut des Vaters. Sie scheucht mich eilig durch das kleine Dorf. Noch nie zuvor war ich so schnell im Dorf unterwegs.

Meine Schuhbänder öffnen sich immer weiter. Ihre Enden klackern gegen die Schuhe. Sie machen: Zack, zack, zack, zack. Sie wollen gebunden werden. Die Schuhe lockern sich mehr und mehr. Das Binden geht jetzt noch nicht. Die Schuhe müssen noch warten. Sie müssen mich noch weiter fort tragen, bevor ich sie binden kann. Das Binden könnte mich zu viel Zeit kosten. Mich jetzt zu bücken, wo ich erst etwa das halbe Dorf durchquert habe, und die Bänder zu binden, das könnte zu früh sein. Gerade in dieser Situation, in diesen Sekunden, könnte mich ein Bauernblick entdecken.

Ein kleines, zehnjähriges Bürschchen mitten auf der Dorfstraße und das am Samstag, morgens um fünf Uhr! Gebückt bindet sich das Bürschchen die Schuhe. Nervös fummelt es an den Bändern herum, bleibt nicht still gebückt stehen, sondern macht noch im Binden und Bücken weitere Schritte die Dorfstraße hinauf. Wie komisch das aussieht! Schuhbinden, Bücken und Laufen gleichzeitig. Jetzt stürzt das Bürschchen fast! Was soll das? Warum so eilig? Warum steht der nicht in Ruhe auf einen Stein gestützt und bindet seine Schuhbänder? Warum Rennen, Binden und fast zu Boden stürzen? Der hechelt und ringt ja nach Luft! Der kann ja kaum noch atmen, so aufgeregt ist der! Wer ist denn das überhaupt? Was macht das Bürschchen so früh draußen auf der Straße? “Hee, was machst Du da? Wo willst’n hin? Hee, kenn ich dich nicht, bist du nicht ein Sohn vom alten …!” Jetzt klopft mein Herz ganz schnell, ich platze fast vor Hitze, mein Gang wird von Schritt zu Schritt noch schneller.

4. Dorfladen, Dorfplatz und Schulhaus

Links sehe ich jetzt den kleinen Dorfladen. Die braunen Fensterläden sind verschlossen. Die alte Frau Maier liegt in ihrem Bett über dem Laden und schläft. Vielleicht träumt sie von kleinen Dieben vor ihrem Laden. Dort sehe ich den Kaugummiautomaten. Er hängt neben der Eingangstür und er ist immer noch kaputt. Die Schublade steht offen.

Mein Bruder Christian und ich hatten das vor einigen Tagen angerichtet. Mit nur einem fünfzig Pfennigstück hatten wir das geschafft. Statt nur einem Päckchen, angelten wir zwei Päckchen aus dem Automaten. Das erste Päckchen nahm Christian heraus, nachdem ich die fünfzig Pfennig eingeworfen hatte. Er hatte die leere Schublade ganz langsam zugeschoben und sie auf halber Stellung festgehalten. Ich hatte mit meinen dünnen, langen Fingern hineingepult und die nächste Packung langsam herausgezogen. Matthias hatte am Rand der Dorfstraße Schmiere gestanden. Die Schublade lässt sich nicht wieder verschließen. Sie steht immer noch offen.

Jetzt, wo ich an Frau Maiers Laden und dem kaputten Automaten vorbeilaufe, denke ich: Warum kein Bauernblick aus einem Klofenster, während wir uns im Dorf am einzigen Kaugummiautomaten vor Frau Maiers Laden zu schaffen gemacht hatten? Gibt es Bauern, hier im kleinen Dorf, die so etwas sehen und sich trotzdem nicht dafür interessieren? Eigentlich dürfte es in diesem winzigen Dorf kaum möglich sein, dass uns am Kaugummiautomaten niemand beobachtet hatte. Denn oft habe ich das Gefühl, dass im Dorf jeder Mensch genau weiß, was die Nachbarn tun, vor allem glaube ich, dass die Erwachsenen im Dorf genau wissen, was wir Kinder den Tag lang tun. Doch vielleicht täusche ich mich. Vielleicht kommt es doch häufiger vor, als ich es glaube, dass in diesem Dorf kein Bauer irgendetwas sieht und hört!

Unsere lauten Schreie durch die dünnen, zugigen Fenster im Kinderzimmer fallen mir da ein. Weil der Vater abends ungestört seinen Gürtel benutzt, könnte es sein, dass ich mich mit meiner Vorstellung von diesem Dorf täusche. Niemals hatte ein Nachbarbauer an unserer Haustüre geläutet und nachgefragt, woher das Knallen dieses scharfen Lederriemens stammt und warum dazu dieses kreischende Kindergeschrei ertönt.

Vielleicht war es genauso auch mit diesem Kaugummiautomaten gewesen. Ein Bauer dieses kleinen Dorfes, der mich und meinen Bruder nachmittags am Automaten hantieren sieht, interessiert sich vielleicht nicht dafür. Ein Bauer, der Kinder laut schreien und weinen hört, interessiert sich für diese Geräusche aus unserem Haus vielleicht so wenig, wie für das Blöken der Schafe auf der Weide. Interessiert meine schnelle Flucht durch das Dorf? Vielleicht denkt kein einziger Bauer in diesem Dorf über uns Kinder am Kaugummiautomaten, oder über unsere Schmerzensschreie aus dem alten Bauernhaus, oder über einen flüchtenden Zehnjährigen um fünf Uhr morgens auf der Dorfstraße nach.

Ich weiß nicht, ob das so ist. Wenn es so ist, dann könnte ich jetzt, wo ich schon vorbei bin am einzigen Laden im Dorf, langsamer werden. Könnte ich mir mehr Zeit lassen? Vielleicht könnte ich gemütlich pfeifend die Dorfstraße hinaufschlendern. Ich könnte so tun, als wäre es normal, dass ich jetzt hier laufe. Wenn ich langsamer ginge, müsste ich nicht so sehr auf die vielen Kuhfladen und die rutschigen Treckerspuren auf der Dorfstraße aufpassen. Ich könnte auch die Häuser am Wegrand noch einmal genau betrachten.

Eigentlich bin ich ja nur ein winziges zehnjähriges Bürschchen, das zu Hause nicht mehr bleiben mag! Dass ich nicht mehr mag, ist für alle Bauern in diesem Dorf doch völlig uninteressant. Dass ich jetzt auf der Flucht bin, ist deshalb vielleicht gar kein Grund für meine Eile, denn sie interessiert niemanden.

Warum also meine innere und äußere Unruhe? Warum dieses schnelle, beinahe panische Herumhüpfen zwischen den matschigen Kuhfladen die steile Dorfstraße hinauf? Warum dieses hektische Ausweichen vor dem feuchten, glitschigen Dreck, der braunen Erde, den vielen Pferdeäpfeln auf der Dorfstraße?

Der Weg hinauf zum Dorfplatz wäre viel einfacher zu laufen, er wäre nicht so anstrengend, wenn ich langsamer ginge, wenn ich mir mehr Zeit ließe. Das geht nicht, ich kann es nicht! So denke ich. Ich muss schnell weg hier. Ich kann mir jetzt nicht erklären, warum ich das nicht kann. Vielleicht fällt mir später eine Erklärung ein. Jetzt, in diesen aufregenden Sekunden durch dieses Dorf, denke ich zwar kurz daran, dass meine Flucht eigentlich normal sein könnte, aber ich denke gleichzeitig auch an das andere.

Ich denke, dass dies, was ich hier um fünf Uhr morgens gerade tue, vielleicht notwendig und deshalb vielleicht für mich normal sein könnte, doch eines ist es sicherlich nicht für die Menschen in diesem Dorf: Mein Laufen hier und jetzt ist nicht alltäglich. Alltäglich in diesem winzigen, nach Stallmist stinkenden Dorf ist vielleicht das Schmerzensgeschrei von uns Kindern, das die Dorfbewohner täglich aus unserm Haus hören. Ich glaube, das ist in diesem Dorf ein Stück Alltag und damit Normalität für alle Dorfbewohner, weil es ebenso regelmäßig zu hören ist, wie das Zwölfuhrschlagen der kleinen Dorfkirche neben unserem Haus. Ich kann jetzt nicht gelassen sein. Das, was ich gerade tue, gehört nicht zum Alltag in diesem Dorf. Deshalb muss ich mich sehr beeilen.

Jetzt erkenne ich schon das große braune Haus. Es ist die Dorfkneipe. Die einzige Gaststätte im Ort. An ihr laufe ich hastig vorbei. Hastig? Ich merke, dass ich jetzt richtig renne. Meine offenen Schuhe fühlen sich an wie große Schlappen. Ich könnte sie verlieren. Deshalb werde ich wieder langsamer.

Es ist der winzige Dorfplatz vor der Kneipe. Wegen ihm bin ich so schnell geworden. Meine Augen tränen wegen der Anstrengung auf der steilen Straße. Mir war gerade, als sitze dort ein Mann auf der Bank am Platz. Deshalb denke ich sofort: Oh nein, auf dem Dorfplatz sitzt ein Betrunkener! Vielleicht hatte der es gestern Abend nicht bis nach Hause geschafft. Nach dem Fußballspiel hatte er als letzter betrunkener Gast die Dorfkneipe verlassen. Die Treppenstufen vor der Kneipe war er hinunter gestürzt. Mit schweren Kopfschmerzen hatte er sich auf der Bank am Dorfplatz wieder hochgerafft. Vielleicht ist es der Bauer vom letzten Bauernhof am Ende des Dorfes. Weil er den weitesten Weg nach Hause hat, hatte er sich, schwer betrunken wie er war, auf die Bank gesetzt. Nur fünf Minuten, so hatte der Mann gedacht, sollten es werden. Wenn er seine Kräfte wieder gesammelt hätte, wollte er weitergehen. Sofort war er trotz der kalten und mondhellen Nacht eingeschlafen. Er war zur Seite weggekippt und blieb die Nacht über auf der Bank am Dorfplatz liegen.

Kein Mensch liegt da auf der Bank am Dorfplatz! Es ist ein voller Kartoffelsack, der dort liegt. Weil ich das zu erkennen glaube, schnaufe ich tief durch. Ich wische mit meinem Jackenärmel über meine verschwitzte Stirn und meine Augen. Jetzt sehe ich noch weniger, doch ich bin froh, als ich ein wenig verschwommen erkenne, dass tatsächlich niemand auf der Bank beim Dorfplatz sitzt.

Warum setze ich mich nicht einfach hin? Warum nicht einfach gemütlich dasitzen und auf die alte Dorfstraße schauen? Vielleicht wird das mein letzter Blick vom Dorfplatz aus die Dorfstraße hinunter. Warum nicht jetzt, um kurz nach fünf Uhr morgens auf der Flucht, so tun als sei ich nur Tourist in meinem kleinen Dorf?

Ich weiß, was ein Tourist ist. Es ist jemand, der in einen Ort kommt, dort nur kurz bleibt und wieder verschwindet. Ich kenne das. Ich habe Jahre lang in einem gebirgigen Touristenort in Oberbayern gelebt. War ich nur für kurze Zeit hier im Dorf? Seit fast einem Jahr bin ich hier. Viel zu lang für einen Touristen und sicherlich zu kurz um es “mein Dorf” zu nennen. Nein, ich bin kein Tourist in diesem Dorf. Ein Tourist kommt freiwillig, er bleibt freiwillig und er geht freiwillig wieder nach Hause.

Kam ich freiwillig in dieses Dorf? Ich erwartete Anderes hier, Schöneres. Ich erwartete meine Familie. Ich erwartete sie nicht im Originalzustand aber immerhin, was ich erwartete, war ein gehöriges Stück von ihr. Die Familie eben. Etwas das ich lange nicht gehabt hatte, etwas das ich in diesem Dorf bei meinem Vater und der Stiefmutter zu finden glaubte. Darauf hatte ich mich gefreut, als ich gekommen war. Somit ist es eindeutig: Ich war freiwillig gekommen, denn ich hatte geglaubt, hier etwas Schönes und Wichtiges für mich zu finden. Aber schon nach kurzer Zeit hatte ich gespürt, dass es mit der Freiwilligkeit, hier zu bleiben, immer schwieriger wurde. Mehr und mehr hatte ich mich zu bleiben gezwungen gefühlt. Mehr und mehr spürte ich auch meine Angst. Langsam hatte sie sich zum Grund entwickelt, der mich noch hier im Dorf bei der Familie gehalten hatte. Meine Angst hatte mich lange Zeit gezwungen, in diesem Dorf zu bleiben.

Heute gehe ich. Ich gehe freiwillig. Ich will heute gehen. Diese Freiwilligkeit ist anders, als meine Freiwilligkeit, mit der ich, vor etwa einem Jahr, zu Vater und Stiefmutter gekommen war. Ich meine, es ist eine sehr klare Freiwilligkeit. Denn im zurückliegenden Jahr habe ich Vater und Stiefmutter kennen gelernt. Nur deshalb entscheide ich mich heute für diese Flucht. Für mein Kommen, vor einem Jahr, hatte ich mich entschieden, ohne beide richtig zu kennen.

Tourist bin ich also sicherlich nicht. Vielleicht bin ich Sucher. Ich hatte hier nach einer Heimat und nach meiner Familie gesucht. Die Suche beende ich heute. War ich erfolglos? Ich fand meine Familie, aber sie wurde mir keine Heimat, sie war ganz anders, als ich es erwartet hatte. Sie war unerträglich.

Meine Schritte werden jetzt langsamer. Ich komme an der alten Dorfschule vorbei. Sehe ich sie heute das letzte Mal? Dann war gestern der letzte Tag, an dem ich sie besucht hatte. Vor der Mauer rings um die Schule bleibe ich stehen. Der steile Anstieg der Dorfstraße liegt jetzt hinter mir. Die Dorfstraße ist hier flach. Ich schaue über die Mauer. Dort sehe ich den gepflasterten Schulhof, in dessen Mitte das graue, hohe Schulhaus steht.

Warum stehe ich jetzt hier und schaue? Vor Minuten war ich noch beinahe panisch am Dorfplatz vorbei gerannt.

Meine Schule ist das größte Haus im Dorf. Es hat drei Stockwerke. Ganz oben, unter dem spitzen Dach ist ein Speicher. Allerlei Gerümpel liegt da herum. Mit meinem Lehrer war ich einmal dort gewesen. Verstaubte, riesige Landkarten hatten Matthias und ich vom Speicher hinunter getragen. Der Lehrer hatte sie im Klassenzimmer an die Wand gehängt. Er hatte uns genau erklärt, wo auf der Landkarte Deutschland liegt und wo wir in Deutschland unser winziges Dorf finden. Leider hatte mich das an dem Tag nicht besonders interessiert.

Erst heute vor dem alten Dorfschulhaus spüre ich, dass ich die Dorfschule gerne besucht hatte. Nicht nur deshalb, weil dort weder Vater noch Stiefmutter waren, sondern auch, weil der Lehrer damals erklärt hatte, wo wir hier in Deutschland leben. Wenn mich das an diesem Vormittag auch nicht interessiert hatte, so weiß ich deshalb doch, dass man auf der Landkarte auch den Ort finden kann, in dem ich lange Zeit gelebt hatte, bevor ich zu Vater und Stiefmutter hierher nach Baden Württemberg gekommen war. Ich glaube, diesen Ort, dieses Dorf hier werde ich mir noch lange merken. Wichtig ist der Ort, weil es der Platz ist, an dem ich dieses Jahr beim Vater gelebt hatte. Ich glaube einen Ort, in dem man lebte, wie ich hier bis heute beim Vater gelebt habe, so einen Ort vergisst man nie.

Weil hier im Dorf meine Familie war, weil ich bei meiner Familie gewesen war, zusammen mit meinen Geschwistern, weil wir hier alle zusammen gelebt hatten, wird der Ort wichtig bleiben für mich. Das spüre ich jetzt schon, wo ich nicht einmal eine Viertelstunde aus dem Haus des Vaters bin.

Schon jetzt ist in meinem Kopf das, was in diesem Ort gewesen war, zu etwas geworden, das vergangen ist. Schon jetzt beginnt die Erinnerung. Schon jetzt ist das Vergangenheit, worin ich noch vor einer halben Stunde mit Haut und Haaren gesteckt hatte. Warum spüre ich das jetzt schon? Habe ich hier etwas zu verlieren? Bin ich gerade dabei, hier in diesem Ort etwas Wichtiges zu früh aufzugeben? Ist es etwas, das ich nicht schon jetzt, heute, der Vergangenheit geben möchte? Was ist das, was mich jetzt so wehmütig macht?

Ich glaube es ist die Trauer um meine Familie, die ich in diesem Ort nicht finden konnte und die ich heute der Vergangenheit übergebe. Jetzt, in diesen Sekunden schon, spüre ich Trauer wegen der ich hier minutenlang am Dorfschulhaus stehen bleibe. Jetzt schon beginnt der schmerzliche Abschied, wo ich das Dorf meiner Suche noch nicht einmal ganz verlassen habe.

Ich spüre Schmerzen, obwohl der Vater nicht seinen Gürtel auf meinem Rücken und Hintern spielen lässt. Mein Schmerz kommt von innen. Er steigt langsam in mir auf. Es wird schmerzhafter, je länger ich hier stehe und denke, wie ich denke. Weil ich mein Denken nicht abschalten kann, spüre ich immer mehr Abschiedsschmerz. Es ist meine Trauer über das nicht Gefundene in diesem Ort. Jetzt werden meine Augen nass und ich erkenne mein Schulhaus nur noch schwer. Das alte Dorfschulhaus verschwimmt. An einem dünnen Baumstamm neben der Schulhofmauer, halte ich mich fest, denn ich glaube, ich könnte jetzt umkippen. Mein Herz rast, ich atme tief. Möchte ich doch noch länger hier bleiben?

Nein!

Ich kann jetzt nicht so weiter denken, ich muss aufhören mit dieser frühen Traurigkeit. Sie kommt zu früh, viel zu früh. Jetzt und heute ist der Vater noch sehr dicht hinter mir her. Ich bin noch lange nicht weit genug weg. Ich kann geschnappt und zurückgebracht werden. Mein Leben beim Vater in diesem Dorf ist heute noch nicht meine Vergangenheit. Was in diesem Dorf gestern für mich gewesen war, ist immer noch heute. So muss ich denken! Ich darf lange noch nicht wehmütig träumen. Ich darf lange noch nicht Schmerzen zulassen, wegen meiner Vergangenheit und Familie in diesem Dorf. Es ist noch nicht vergangen. Meine heutige Flucht muss erst noch gelingen.

Es ist gefährlich und sehr leichtsinnig von mir, so lange vor meinem Schulhaus zu stehen. Meine Gedanken und Gefühle vor der Dorfschule hätten mich vielleicht vor einer halben Stunde, in meinem warmen Bett liegen lassen. Vielleicht hätte ich so meinen Fluchtplan ins Wanken gebracht. Hätte ich schon vor eine halben Stunde im Haus des Vaters gespürt und gedacht, was ich jetzt hier vor dem Schulhof spüre und denke, vielleicht wäre dann der nicht umkehrbare Gedanke an meine heutige Flucht zusammengebrochen. Bestimmt wäre ich im warmen Bett im Haus des Vaters liegen geblieben.

Vielleicht hätte ich über diese Minuten, diese Schritte, vorbei am Laden von Frau Maier, dem Dorfplatz, der Dorfkneipe, der Dorfschule, viel genauer nachzudenken gehabt. Vielleicht habe ich noch nicht genug nachgedacht! Vielleicht bin ich doch noch zu klein, um so einen Schritt zu tun. Wie lange muss ein Kind nachdenken, um zu tun was ich heute tue? Wie viele Stunden, Tage, Wochen, Monate müssen es sein? Vielleicht wären Jahre nötig.

Ein ganzes Jahr bin ich beim Vater. Reicht das? Ich weiß es nicht. Vielleicht denke ich zu kurz, zu wenig, zu wenig genau. Warum glaube ich, schon nach einem Jahr, ich hätte genug darüber nachgedacht?

Wahrscheinlich ist alles völlig normal beim Vater und bei der Stiefmutter. Und überhaupt, wie ist das mit den Stiefmüttern? Warum werden sie immer schlecht gemacht, im Märchen wie in Wahrheit? Ich glaube, dass ich Stiefmütter nicht schlecht machen will. Ich glaube ich kann das gar nicht. Ich bin zu klein, um so etwas zu tun. Aber ich weiß, dass diese meine Stiefmutter wirklich schlecht ist. Ich habe das ein Jahr lang erlebt und täglich gespürt.

Obwohl ich nur diese eine, meine schlechte Stiefmutter kenne, denke ich, dass Stiefmütter in Wahrheit gute Mütter sind. Wahrscheinlich gibt es gar keine schlechten Mütter. Denn richtige Mütter und Stiefmütter wollen ihren Kindern Mütter oder Stiefmütter sein, schon deshalb tun sie sicherlich nicht absichtlich Böses.

Bei uns zu Hause ist das, glaube ich, etwas anderes. Ich glaube, dass die Stiefmutter uns gar keine Mutter sein will. Ich glaube sie will nicht mit uns zusammenleben. Deshalb ist sie so, wie sie ist. Sie ist unerträglich. Sie hasst uns. Im Haus des Vaters spüre ich den Hass der Stiefmutter täglich. Nur wer mich hasst, kann mich ansehen wie diese Stiefmutter. Es kann nur Hass sein, der diese Stiefmutter dazu brachte, auf mir herumzutrampeln, wie sie es täglich getan hatte.

Ich glaube das. Ich bin mir aber nicht sicher, ob es nicht vielleicht normal ist. Vielleicht ist es einfach das normale Leben, das ich noch zu wenig kenne. Vielleicht muss es so sein, wie es hier ist, wenn man ein Kind ist. Vielleicht ist es normal so, wie ich es im Haus des Vaters täglich erlebe. Das alles ist vielleicht nicht so schlimm, wie ich es finde. Die schmerzlichen Schläge, das Schreien, das Weinen, es gehört täglich dazu, zu meinem Kinderleben.

Ich will es aber anders! Aber was soll das? Was du willst, ist nicht das Leben! Warum willst du das anders? Warum läufst du heute davon? Das geht nicht Freundchen! Hiergeblieben Kleiner! Jetzt habe ich wieder im Ohr, wie die Stiefmutter schreit:

“Du warts’t jetzt in dei’m Zimmer bis Abends dei Vadder kummt! Der wird’s da scho zoing!”

Das ist mein Kinderleben. Es ist nicht schlimm! Es gibt viel Schlimmeres! Was willst du denn? Dir geht es doch nicht schlecht! Millionen Kindern geht es viel schlechter! Die Welt ist riesig, das hatte ich auf den Landkarten in der Dorfschule gesehen. Da muss es unzählige Kinder geben, denen es viel dreckiger geht als mir.

Was jammerst du also so? Warum morgens um Fünf auf die Dorfstraße? Warum Flucht, wo es noch viel, viel Grauenvolleres gibt als diese Stiefmutter und mein Leben beim Vater?

Nein!

Das alles mag stimmen, aber daran zu denken darf jetzt nicht sein! Es darf nicht länger so bleiben, dass ich jeden Tag, den ich bei Vater und Stiefmutter lebe, daran denke und arbeite, an einem Tag wie heute zu fliehen. Dieser Tag ist nach einem Jahr gekommen. Der Tag ist heute. Ich darf nicht denken, dass ich doch noch bleiben sollte. Das hätte keinen Sinn, denn ich würde, wenn ich bliebe nur wieder ständig an die Flucht denken. Der Tag ist wirklich heute! So muss ich denken! Der Tag heute ist gut, es ist der beste Tag für meine Flucht. So denke ich ab jetzt!

5. Unser Versteck

Von der Dorfschule laufe ich jetzt schnell weiter. Aber schon nach wenigen Schritten bleibe ich wieder stehen. Ich sehe hinüber zu unserem Versteck. Es liegt hinter dem alten Gemäuer. Es ist eine alte Scheune. Sie liegt zwischen dem stillgelegten Freibad und dem Schulhaus. Vielleicht werde ich mich nie mehr dort oben auf dem morschen Dachboden, zwischen einem Haufen alter Bretter und vergessenen Strohballen verstecken. Langsam gehe ich weiter, fast normal gehe ich, gemächlich. Doch ich kann nicht munter pfeifen. Ich mache hier keinen Spaziergang. Ich sehe über die Backsteinmauer zur verlassenen Scheune. Gerne würde ich mich da oben hineinlegen und noch etwas schlafen. Nach der kurzen Anstrengung die Dorfstraße hinauf, bin ich jetzt sehr müde.

Die Scheune ist ein Platz den ich vermissen werde. Um die Scheune hatten wir Geschwister viel gespielt. Vor der Scheune hatten wir uns nachmittags oft mit anderen Kindern aus dem Dorf getroffen. Oben in der Scheune hatten wir uns vor der lärmenden Stiefmutter versteckt, wenn wir es mussten. Das mussten wir oft. Unser Versteck in der Scheune hatten wir vor der Stiefmutter geheim gehalten. Weil sie das Versteck nicht gekannt hatte, fühlten wir uns dort vor ihr sicher. Da hatten wir unsere gestohlenen Kaugummis gelagert, weil sie Zuhause zu schnell entdeckt worden wären.

Zuhause gibt es keinen Platz, den die Stiefmutter oder der Vater nicht regelmäßig durchstöbern. Misstrauisch durchsucht die Stiefmutter alle Schränke im Kinderzimmer, sie sucht unter unseren Matratzen. Was sie dort sucht, weiß ich nicht. Ihr traut keines meiner Geschwister, auch ich misstraue ihr. Deshalb ist es viel zu gefährlich Kaugummis in den Hosentaschen zu lassen. Die Stiefmutter würde sie sicherlich finden. Sie würde uns nicht einmal fragen, ob sie gestohlen sind. Stattdessen schlägt sie sofort zu. Wir bekommen kein Taschengeld, deshalb können wir nichts kaufen und deshalb ist klar, dass Kaugummis in unseren Hosentaschen gestohlen sein müssen.

Oben in der hohen Scheune hatte ich mit Christian zusammen meine ersten Zigaretten geraucht. Auch die waren gestohlen. Wo Christian sie gestohlen hatte, weiß ich nicht. Wenn wir nachmittags geraucht hatten, durfte die Stiefmutter davon niemals erfahren. Für uns hätte das eine unvorstellbare Katastrophe bedeutet. Trotzdem waren wir oft in unserem Versteck gewesen um dort zu rauchen. Wegen des Geruchs in unseren Mündern hatten wir auch die gestohlenen Kaugummis gebraucht.

Von der Scheune aus hatten wir beinahe jeden Nachmittag unser Schulhaus genau beobachtet. Dabei rauchten wir die Zigaretten. Unser Blick war täglich von da oben hinüber gewandert, über die große Wiese und den Schulhof, bis hinein in die helle Turnhalle. Dort übte nachmittags eine Kindertheatergruppe. Ich hatte keine Lust mitzuspielen. Die Nachmittage verbrachte ich lieber in der Scheune. Ich brauchte die paar wenigen Stunden. Ich brauchte die kurze Zeit und die Ruhe um unbeobachtet von der Stiefmutter zu sein.

Von der Scheune aus hatten wir auch die Bibelgruppe oft beobachtet. Nachmittags um drei Uhr hatte sie sich immer getroffen. Singende Kinder im Stuhlkreis waren in einem großen, hellen Klassenzimmer mit hohen Fenstern versammelt. Zwei Gruppenleiter hatten mit ihnen gesungen und gespielt. Nur einmal hatten Matthias und ich dort mitgesungen, es war in den ersten Wochen nachdem wir in das Dorf gezogen waren.

Wir hatten die Stiefmutter erst zwei Monate zuvor kennen gelernt und wir hatten ihr noch ein wenig vertraut. Deshalb hatten wir abends einfach von der spielenden Kindergruppe erzählt. Wir waren begeistert gewesen von den Kindern, die wir im Stuhlkreis kennen gelernt hatten. Die Gruppenleiter, das Spielen und das Singen im Kreis hatte uns Spaß gemacht.

Ich glaube, die Stiefmutter und der Vater hatten das nicht recht verstanden. Warum sonst hätten wir nicht mehr hingehen dürfen, wo es uns so gut gefallen hatte, wo wir Spaß hatten, wo wir Kinder aus unserem neuen Dorf kennen gelernt hatten? Das kann nicht der Grund gewesen sein, warum uns die Stiefmutter diese Gruppe einfach verboten hatte. Die Stiefmutter hatte keinen Grund genannt, auch der Vater nicht. Warum wir nicht wieder dort hin gehen durften, verstehe ich heute immer noch nicht. Zuhause hatten wir nie mehr über diese Gruppe gesprochen.

Ich fand das nicht so schlimm, denn ich hatte ja unser Versteck in der Scheune gefunden. Ich gewöhnte mich schnell an diesen Platz. Oft hatte ich mich dort auch alleine aufgehalten, wenn Christian im Konfirmandenunterricht war. In der Scheune hatte ich Zeit zu beobachten, was rund um die Dorfschule geschah.

Das Wichtigere aber war, dass ich in ihr die Ruhe gefunden hatte, um nachzudenken. Im Versteck in der Scheune hatte ich zum ersten Mal gespürt, dass ich die Aufgabe hatte, über mein Kinderleben nachzudenken. Ich hatte da oben zwischen den alten Strohballen die Ruhe gefunden, Gedanken zuzulassen, die im Laufe der Monate von selbst gekommen waren. Die sagten mir, dass etwas geschehen müsse. Dort oben zwischen den Strohballen hatte ich begonnen, den Fluchtplan des heutigen Tages zu schmieden.

Der Gedanke an die heutige Flucht war nicht sofort da gewesen. Der Gedanke war sehr langsam entstanden, er entwickelte sich über viele Tage, Wochen, Monate.

Wie war der Nachmittag in der alten Scheune gewesen, woran hatte ich an diesem Nachmittag gedacht, damit der Fluchtplan im meinem Kopf langsam in Gang kommen konnte? Wie kam die Idee langsam in meinen Kopf hinein, dass ich heute das Haus von Vater und Stiefmutter verlassen würde?

An diesem Nachmittag sitze ich oben in der Scheune auf einem alten Holzbrett, das rechts und links auf zwei Strohballen lagert. Ich sitze angelehnt an einer Bretterwand. Es ist November. In der Scheune ist es eisig kalt. Ich friere noch nicht, denn ich sitze noch nicht lange dort. Unten sehe ich das alte Schwimmbecken. Obwohl es so eisig kalt ist, denke ich daran, wie schön es wäre, in dieser Scheune zu wohnen.

Das alte Freibad vor der Scheune ist zugefroren. Ich könnte, wenn ich hier wohnte, jeden Tag darauf Schlittschuhlaufen. Wenn ich Schlittschuhe hätte, wäre das die Gelegenheit, um das Eislaufen so gut zu lernen, wie es die Kinder in meiner alten Schule beherrscht hatten. Ich könnte jeden Tag so lange üben, wie ich dazu Lust hätte. Es würden keine Kinder am Rand stehen, die sich lustig machten, wenn ich mal stürzte. Es wäre eine tolle Sache, denn hier könnte ich das Schlittschuhlaufen so gut lernen, dass ich in dem Eisstadion, in dem oberbayerischen Gebirgsort, wo meine alte Schule liegt, wieder auftauchen könnte. Dann könnte ich sogar in der Eishockeymannschaft mitspielen. Die übliche Show, die wir in dem Gebirgsort auf dem Eisplatz wegen der Mädchen abgezogen hatten, könnte ich mir hier, vor meiner Scheune, sparen weil ja keine Mädchen da wären. Hier könnte ich in Ruhe so lange das Eislaufen üben, bis ich so gut Eislaufen kann, dass ich den Mädchen überhaupt nichts mehr vorzumachen brauchte. Die würden schon von selbst sehen, dass ich auch so ein toller Schlittschuhläufer geworden bin, wie die anderen Kinder in meiner alten Schulklasse.

Ich glaube, so hatte es begonnen, mit meinen Gedanken in der Scheune. Jeden Tag war etwas mehr dazugekommen. Mein Denken entfernte sich so mit jedem Tag ein Stück mehr von diesem Dorf.

Vater und Stiefmutter erlauben mir nicht, Schlittschuh zu laufen. Das gibt es bei denen nicht. Das Geld dafür fehlt. Schlittschuhe kosten zu viel. Jeden Tag arbeitet der Vater zwar lange in der Fabrik, aber ich glaube, trotz seiner schweren Fabrikarbeit, verdient er fast nichts. Es reicht gerade für Essen, Trinken, Kleidung und unser altes Haus. Ich glaube, wir vier Kinder sind zu teuer für das wenige Geld, das der Vater in der Fabrik verdient. Die Stiefmutter hat kein Geld. Sie verdient nichts. Sie ist jeden Tag zu Hause.

6. Aus dem Dorf

Ich löse meinen Blick von der alten Scheune. Ich tue es ungern, aber es muss sein. Ich muss weiter fort von hier. Meine Schritte höre ich. Sie werden schneller. Die Schuhe sind immer noch nicht gebunden. Ich höre die offenen Schuhbänder, sie klackern wieder.

Rechts kommt jetzt schon die Raiffeisensparkasse. Gegenüber liegt das Haus, in dem Peter wohnt. Peter ist ein Spielkamerad. Seine Eltern sind Bauern. Sie stellen eigenen Apfelsaft her, den sie uns anbieten, wenn wir Peter besuchen. Rund um die Scheune und im Garten von Peter hatten wir oft getobt, wir spielten Fangen und Verstecken. Viele Nachmittage hatten wir bei Peter verbracht. Zu seinem Geburtstag hatte er von seinen Eltern ein richtiges Indianerzelt geschenkt bekommen. Beim Cowboy-und-Indianerspiel hatten wir viel Spaß mit Peter.

Für uns ist Peter ein toller Spielkamerad. Er hat Spielsachen, von denen wir nur träumen. Seine Eltern freuen sich, wenn meine Geschwister und ich zu Besuch kommen. Die Stiefmutter und der Vater wissen davon nichts. Zu Hause erzählen wir fast nichts mehr. Sicherlich würden sie uns unseren Freund Peter verbieten, genauso wie die Bibelgruppe.

Ich glaube, Peter geht es gut. Sein Vater arbeitet auch sehr viel und sehr lange, jeden Tag. Aber er schreit nicht so viel und schlägt nicht so wie meiner. Ich glaube, er spricht viel mit Peter. Einmal hatte ich sie miteinander reden hören. Das Wetter war sehr schlecht und Peters Vater war deshalb schon früh von der Feldarbeit nach Hause gekommen. Peters Vater hatte gesagt: “Hallo Peter! War’s schön heute in der Schule?” Ich hatte meine Jacke übergezogen und war schon durch die Haustür hinaus, als ich Peters Vater noch fragen hörte: “Wie wär’s, wenn wir nachher eine Runde Karten spielen?” Peter hatte gelacht und etwas geantwortet, das ich nicht mehr verstand, weil die Haustür bereits zugefallen war.

Solche Worte spricht mein Vater abends nicht. Er spricht mit der Stiefmutter. Sie erzählt ihm alles. Sie erzählt dem Vater, was wir Geschwister tagsüber wieder alles schlecht gemacht hatten. Sie erzählt dem Vater abends immer so schlechte Sachen von uns, dass der Vater mit einem oder zweien von uns ins Kinderzimmer geht, dort seinen Gürtel aus der Hose löst und auf uns einschlägt.

Endlich verlasse ich jetzt unser Dorf. Die Glocke der Dorfkirche schlägt einmal. Es ist also Viertel nach fünf Uhr. Die Dorfstraße verläuft nun in einem weiten Bogen nach links. Sie führt leicht bergab und stößt in Sichtweite auf die breite Landstraße. Die führt auf einen kleinen Hügel und durch einen Wald. Da muss ich so schnell wie möglich hin, denn dort kann ich die Landstraße wieder verlassen. Es gibt einen schmalen Waldweg, der nach rechts abgeht. Auf ihm sind Autos verboten, der Vater darf dort mit seinem Käfer nicht fahren.

Auf der Landstraße kann jederzeit ein Auto vorbeikommen. Wenn mich da ein Autofahrer sieht um diese Uhrzeit, ich glaube, das könnte sehr gefährlich für mich werden. Ich glaube, ein Erwachsener hinter einem Lenkrad, um diese frühe Tageszeit auf der Landstraße, würde wegen mir anhalten. Es müsste nicht einmal der Vater sein. Ein Zehnjähriger hat um diese Zeit nichts auf der Landstraße zu suchen, zumindest nicht allein, wie ich es bin. Das könnte das Ende sein.

Weil ich weiß, dass ich etwas tue, das Erwachsene deshalb aufmerksam macht, weil es verboten ist, fange ich schon wieder an zu zittern. Deshalb renne ich jetzt. Jetzt ist es mir egal, denn die Häuser des Dorfes liegen hinter mir. Bauernhäuser durch deren Fenster ich vielleicht beobachtet werde, sehe ich jetzt nicht mehr. Links und rechts sehe ich Wiesen, Bäume und Felder. Meine Schuhbänder schlagen ganz wild gegen meine Hose und die Schuhe. Ich achte jetzt sehr darauf, denn ich will nicht stolpern.

Das Ortsendeschild liegt hinter mir. Es muss hinter mir liegen, ich muss es wegen meiner offenen Schuhbänder übersehen haben. Jetzt ist es vorbei mit meinem Dorf. Vielleicht komme ich nicht wieder zurück. Vielleicht sehe ich unser altes Bauernhaus mit den schiefen Wänden nie wieder. Das ist unvorstellbar.

II. Unterwegs zur Stadt

1. Am Waldrand

In meinem Kopf erscheint jetzt ein Bild. Ich erkenne mich in unserem alten Haus. In unserem Schlafzimmer ist es eiskalt. Es gibt dort keine Heizung. An den schiefen, grauen Wänden sehe ich die vielen Risse. Der Putz an der Decke ist brüchig. Ich werde den knarrenden Holzboden in dem Zimmer nie vergessen. Ich erkenne ihn ganz dicht vor meinen Augen. Ich sehe Tausende kleiner Risse in dem abgewetzten braunen Holz. Ich sehe kleine Staubfusseln, Haare und winzige Körnchen, die sich in den winzigen Ritzen des Holzbodens festkrallen. Mein Kopf hängt nur Zentimeter über diesem Boden. Bei jedem Schlag hebe ich ihn leicht an und sehe dann die gleichen Haare, die gleichen, feinen Körnchen, die gleichen Fussel auf dem rissigen Boden. Nach drei schnellen Schlägen sehe ich die Härchen, Staubkörnchen und Fussel kurz kleiner werden, dann werden sie sofort wieder größer. Jetzt, nach dem fünften heftigen Schlag, verschwimmen sie. Bei jedem Schlag hebe ich weiterhin den Kopf, aber ich erkenne jetzt kein einziges Haar oder Körnchen mehr. Ich sehe nur noch etwas Verschwommenes, etwas Braunes. Es ist der Zimmerfußboden.

Jetzt darf ich wieder aufstehen von dem Stuhl, auf dem ich liege. Tränen spüre ich in meinem Gesicht, sie laufen über meine Backen, erreichen meine Lippen. Sie schmecken salzig. Ich erkenne die Umrisse des Vaters vor mir. Er hat den Gürtel schon wieder in seiner Hose. Er zieht ihn und die Hose noch einmal zurecht. Sein Gesicht kann ich nicht erkennen, denn meinen Kopf lasse ich herunter hängen. Jetzt dreht sich der Vater um. Ich sehe seine dunkelbraune Cordhose, in der sein brauner Ledergürtel steckt. Er geht zur Tür, hinaus auf den Korridor.

Jetzt sehe das Zimmer, den braunen Boden, den grünen Stuhl, das weiße, dicke Bettzeug auf unseren drei Betten. Sie stehen nebeneinander aufgereiht. Ich glaube, es ist nicht möglich, das zu vergessen.

Ich muss ganz schnell da oben am Waldrand sein. Ich renne auf dieser gefährlichen Landstraße. Ich höre kein Motorengeräusch. Kein Auto nähert sich. Plötzlich höre ich ein lautes Geräusch! Es ist kein lauter Motor. Es kommt aus dem Wald. Es ist ein lautes Schreien. Regungslos stehe ich am Straßenrand. Ich denke nichts. Ich denke nicht daran, schnell weiter zu laufen. Ich denke nicht an den Vater und die Stiefmutter, vor denen ich fliehe. Sekundenlang kann ich gar nicht denken. Erschrocken stehe ich am Straßenrand. Ich kenne dieses laute Geräusch nicht. Es war laut und heftig, es kam aus dem nahen Wald. Da ist es schon wieder! Laut, es ist ein Schreien aus dem Wald. Ich höre sogar ein Echo. Ich darf hier nicht stehen! Jetzt gehe ich langsam wieder los. Mein Erschrecken löst sich auf. Jetzt kommt schnelles Herzklopfen, Zittern und Schwitzen. Ich kann wieder denken, deshalb kann ich jetzt wieder laufen. Schneller und schneller werde ich. Es muss mir egal sein, welches Geräusch da aus dem Wald kommt. Ich darf mich von meiner Angst, weil ich das nicht kenne, nicht aufhalten lassen. Ich muss weg von dieser gefährlichen Straße, weil jederzeit ein Wagen hier fahren kann. Mein Denken ist wieder da, das hilft mir dabei, noch etwas schneller zu werden. Wieder höre ich die Schreie aus dem Wald. Aber jetzt laufe ich weiter. Ich erschrecke nicht mehr. Ein Wildschwein muss es sein! Jawohl! Das ist es, das ist die Erklärung. Das Wildschwein hat mit mir nichts zu tun, es will nichts von mir, es will mir nichts Böses. Ich darf hier auf der Straße schnell weiterrennen. Das Wildschwein im Wald meint nicht mich mit seinen lauten Schreien. Es soll mich nicht von meinem Weg abbringen. Gut, dass mir einfällt, dass es ein Wildschwein ist, das da schreit.

Endlich erreiche ich den Waldweg. Aus dem Wald steigt Nebel auf. Das Wetter ist heute sehr klar. Noch ist es kühl, aber ich glaube, wenn ich hinter dem Wald wieder herauskomme, muss die Sonne schon zu sehen sein und dann wird es wärmer werden.

Meine Schuhe sind jetzt sehr weit geöffnet. Sie halten nicht mehr fest an meinen Füßen, sie hängen wie Schlappen an ihnen. Ich könnte schneller laufen, wenn sie gebunden wären. Aber ich will es noch nicht riskieren. Lieber noch nicht, lieber erst, wenn ich auf dem Waldweg ein Stück vorwärts gekommen bin. Die Landstraße ist immer noch sehr gefährlich, ein Autofahrer könnte mich von ihr aus noch sehen.

Mir ist sehr warm, obwohl die Luft kühl ist. Ich schwitze. Soll ich die Jacke wieder ausziehen? Nein, lieber nicht! Das mache ich auch erst, wenn ich von der Straße weit genug weg bin.

Das erste Ziel habe ich jetzt erreicht. Auf diesem Waldweg bin ich schon sicher. Kann ich mich hier schon sicher fühlen? Ist er wirklich bereits ein erstes Ziel? Was ist eigentlich mein Ziel? Was wünsche ich mir überhaupt? Ist es ein schönes Kinderleben? Ich glaube nein. Ich glaube, ich möchte nur einen erträglichen Platz für mein Leben finden. Ein erträgliches Kinderleben würde mir reichen. So wie ich es mir in der Scheune ausgemalt hatte. Das könnte mein Wunsch sein.

In der Scheune hatte ich mir einen Rahmen ausgemalt, in dem ich in Ruhe gelassen werde. Ein Rahmen ohne Angst davor, dass ein Erwachsener wie die Stiefmutter kommt. Ohne Angst vor dem Vater, der es uns wieder zeigen soll. Ohne meine ständige Angst und ohne das Schlagen, so wäre es erträglich, Kind zu sein. Das würde mir schon reichen, das wäre schön. Ein schönes Kinderleben. Mehr fällt mir dazu nicht ein.

Vielleicht suche ich das Gegenteil, von meiner jetzigen Welt. Nein. Nicht das Gegenteil, ich glaube ich suche einfach nur einen anderen Teil meiner jetzigen Welt.

Meine jetzige Welt ist eine Welt mit einem Kleinen, in einem kleinen Dorf, bei Stiefmutter und Vater. Die Stiefmutter und der Vater denken, dass ich, der Kleine nur diese winzige Welt, in der sie mich halten, brauche. Sie reicht mir, denken sie. Sie fragen sich: Was soll ein Kleiner schon brauchen? Es ist doch nur ein Kleiner, der nichts anderes kennt als die kleine Welt in seinem Dorf. Und jetzt, wo er noch so klein ist, braucht er auch nichts Anderes.

Aber die Stiefmutter und der Vater wissen nicht, dass er kleine Träume hat. Er träumt in seinem Versteck in der alten Scheune, er träumt morgens auf dem Schulweg, während des Unterrichts, beim Mittagessen, am Tisch der Stiefmutter, auf dem Weg zum Zigarettenkaufen für die Stiefmutter. Der Kleine träumt auf dem Bürgersteig vor dem alten Haus, den er jeden Samstagvormittag mit dem Reisigbesen sauber fegt. Er träumt beim Kehren auf dem braunen Holzfußboden im Kinderzimmer, und manchmal träumt er sogar, während der Vater mit seinem braunen Ledergürtel zu einem kräftigen Schlag ausholt.

Lange Zeit kann sich der Kleine den Inhalt seiner vielen Träume nicht erklären. Er weiß nach den Träumen immer nur, dass er von einem anderen Leben geträumt hatte. Wie dieses Leben ist, das er da träumt, weiß er aber nicht. Er weiß nicht, ob er das, wovon er da träumt, in sein Denken einbeziehen darf. Eines Tages, der Kleine sitz oben in seinem Versteck in der kalten Scheune, merkt er, dass er immer bevor er mit dem Träumen beginnt, an etwas denkt, das bei Stiefmutter und Vater ganz schrecklich ist. Seit diesem Tag geht sein denken immer weiter hinein in die Träume. Eines Tages wird ihm so, in seiner Scheune klar, dass es nichts nützt, nur zu träumen. Tage später träumt der Kleine tagsüber nicht mehr. Anstatt zu träumen, denkt er. Er denkt über sein Leben bei der Stiefmutter nach. Er träumt nur noch nachts in seinem Bett, aber auch dort wird sein Träumen immer weniger. Bald träumt er auch nachts nicht mehr. Bald kann er kaum mehr schlafen, weder tags noch nachts, weil er so viel denkt. Zu sehr beschäftigt ihn sein Denken über sein Leben bei Stiefmutter und Vater.

Der Kleine hat aber kein klares Ziel vor Augen. Er weiß nur, dass etwas anders werden muss. Der Grund ist, dass es bei Stiefmutter und Vater so ist, wie es ist.

Eines Tages geschieht mit dem Kleinen etwas. Es ist der heutige Tag. Der Kleine macht sich auf den Weg. Er tut das, obwohl er überhaupt nicht genau weiß wohin ihn sein Weg führen wird. Der Kleine betritt einen unbekannten Weg, der ihn vielleicht in eine andere Welt führen wird. Er möchte zu einem Platz kommen, an dem es für ihn anders ist, als bei der Stiefmutter und dem Vater. Der Kleine tut heute etwas, das sich Stiefmutter und Vater nicht vorstellen können.

In meinem Kopf sehe ich jetzt noch ein anderes Bild von mir: Ich bin nicht mehr der Kleine. Ich stehe auf dem Gehsteig gegenüber unserem alten Haus. Nein, das bin ja gar nicht ich. Ich sehe doch ganz anders aus! Doch, ich glaube, ich bin es. Aber ich bin nicht mehr der, der ich heute bin. Ich bin nicht mehr der Kleine. Ich bin jemand anderer. Ich bin groß und erwachsen. In diesem Bild bin ich unser erwachsener Nachbar auf der anderen Straßenseite. Ich blicke hinüber, über die kleine Dorfstraße mit den schmutzigen Treckerspuren. Es ist Samstag und meinen Gehsteig habe ich heute Vormittag sauber gekehrt. Auf der Dorfstraße sieht also alles normal aus. Trotzdem bleibe ich kurz stehen, auf dem gekehrten Bürgersteig, denn ich habe gerade laute Schreie von Kindern gehört. Sie kamen aus dem Haus gegenüber. Von dort habe ich schon oft diese lauten Kinderschreie gehört, täglich. Ich höre Weinen, Röcheln, dann Schluchzen, dann wieder lautes Schreien. Ich gehe weiter auf dem gefegten Bürgersteig. Nach links will ich, die Dorfstraße hinauf. Ich will in die Dorfkneipe. Ich will zu meinem Stammtisch, dort will ich ein Bier trinken. Die Kinderschreie höre ich jetzt nicht mehr, zu weit bin ich schon von dem Haus entfernt. Ich habe mir diese Schreie nicht eingebildet. Sie gehören zu meinem Alltag in meinem Dorf. Sie gehören dazu, wie das Schlagen der Kirchturmuhr. Trotzdem kommt es manchmal vor, dass ich wegen dieser Schreie auf dem Bürgersteig stehen bleibe. Dann frage ich mich kurz: warum wegen etwas Alltäglichem auf dem Bürgersteig stehen bleiben? Dann gehe ich weiter und denke: Es gibt einen Grund für diese Schreie, und weil es diesen Grund gibt, habe ich keinen Grund auf dem Bürgersteig wegen der Schreie stehen zu bleiben. Böse Kinder! Freche Kinder! Genau das ist es! Es sind freche Kinder, die ich da täglich schreien höre. Zucht und Ordnung braucht mein Land, braucht mein Dorf! Genauso denke ich. Deshalb ist alles in Ordnung in meinem Dorf. Deshalb höre ich jeden Tag diese Kinderschreie. Ich betrete meine Kneipe und setze mich an den Tresen. Das Fernsehen sendet heute die Fußballweltmeisterschaft. Ich bestelle beim Wirt ein Bier und blicke gebannt auf den Fernsehbildschirm über dem Tresen. Hoffentlich wird die deutsche Mannschaft Fußballweltmeister. Daran denke ich, darüber rede ich in meiner Kneipe, das ist Thema in meinem Dorf.

2. Auf dem Schotterweg

Lautes Knirschen. Es ist ein schmaler Schotterweg auf dem ich jetzt gehe. Meine Schuhe, immer noch nicht gebunden, schleifen wie Schlappen über diesen hellen Schotter. Jetzt ist es Zeit, die Schuhe zu binden. Ich bleibe stehen. Ich bücke mich. Ich höre auf meinen tiefen Atem. Ich atme schnell, fast hastig. Meine Luftzüge sind lang und tief. Sie sind unregelmäßig. Jetzt werden sie schnell und kurz.

Ich spüre den Schweiß auf meinen Armen. Er läuft an ihnen hinunter. Es ist viel Schweiß. Er läuft bis zu meinen Händen hinunter, mit denen ich die Schuhbänder zusammenbinde. Meine feuchten Hände fummeln hastig, nervös an den braunen Schuhbändern herum. Es will mir nicht gelingen, den rechten Schuh zu binden. Jetzt wird es ein Knoten. Ich drehe mich um, ich sehe nach hinten. Da sehe ich den menschenleeren Schotterweg. Es verfolgt mich niemand. Also setze ich mich auf den hellen Schotter. Der Knoten muss wieder weg. Es muss eine feste Schleife werden. Ich sitze, schaue noch mal auf den zurückliegenden Weg. Der bleibt menschenleer. Ich pule den Knoten auf. Alles ist feucht von meinem Schweiß. Endlich löst sich das feuchte Schuhband. Ich zittere und schwitze. Ich muss mich zusammennehmen. Ich versuche es, und konzentriere mich auf meine Hände. Jetzt werden die Hände etwas ruhiger. Sie zittern schwächer. Jetzt erinnere ich mich daran, wie ich vor Jahren, als ich noch ganz klein war, das Schuhbinden gelernt hatte. Genauso, wie ich es damals im oberbayerischen Gebirgsort, mit fünf Jahren, gelernt hatte, will ich es jetzt versuchen. Ganz langsam wickle ich das Schuhband um meine dünnen, nervösen Finger. Genauso wie damals schnüre ich das Schuhband jetzt ganz langsam zusammen. Ich erinnere mich daran, was mir eine Erzieherin damals gesagt hatte, nachdem sie mir das Schuhbinden beigebracht hatte: “Nur keine Eile beim Schuhbinden. Mach die Schlaufe ganz langsam. Du kommst schon rechtzeitig hinaus zum Spielen. Du kannst gleich losrennen, nach draußen auf den Hof. Aber jetzt musst du noch ruhig sitzen und eine ordentliche, feste Schleife machen, sonst löst sich die Schleife gleich wieder und du kannst draußen nicht lange herumspringen, weil du deinen Schuh verlierst. Dann musst du mit der Schlaufe wieder neu anfangen. Oder es wird ein Knoten!”

Die Erzieherin im oberbayerischen Gebirgsort hatte Recht. Schuhbinden funktioniert nicht, wenn man dabei zappelig von einem Bein aufs andere springt oder zittert, wie ich es jetzt tue. Es funktioniert auch nicht, wenn man mit verschwitzten Händen aufgeregt an den Bändern fummelt und sich ständig umblickt ob ein Mensch sich nähert. Deshalb schaue ich jetzt genau auf das Schuhband. Meine Hände zittern kaum. Endlich schaffe ich es. Die beiden Schleifen sind gebunden.

Ich marschiere weiter. Jetzt höre ich die Vögel zwitschern. Vielleicht stehen sie gerade auf. Die Steinchen unter den Schuhen knirschen laut. Meine Schuhe schleifen nicht mehr. Wieder werde ich schneller und schneller. Ich bin ja noch nicht sehr weit weg von zu Hause. Es sind höchstens zwanzig Minuten, seit ich das alte Haus verlassen habe.

Ich kenne den schmalen Schotterweg nicht. Hier bin ich noch nie gegangen. Nur den Anfang dieses Weges in der Kurve an der Landstraße im Wald kenne ich. Ich hatte ihn schon oft gesehen, vom Autofenster aus. Oft waren wir Geschwister Samstagvormittags auf der Landstraße mit dem Vater im weißen Käfer unterwegs gewesen in die Stadt. Wir hatten Einkäufe für die Familie zu erledigen. Dieser Schotterweg hatte lange schon zu meinem geplanten Fluchtweg gehört.

Ich schaue jetzt noch mal zurück. Kein Mensch folgt mir. Die bekannte Landstraße liegt schon weit zurück. Die bekannten Wege sind nun vorbei. Mein schon viele Monate alter Fluchtplan beginnt jetzt, hier auf diesem Schotterweg, mit dem unbekannten Teil. Bis hier kenne ich die Landschaft genau. Jetzt kommen unbekannte Wiesen, Felder, Bäume, Sträucher, Wege. Jetzt tauche ich ein in das Unbekannte. Der Weg ist mir fremd.

Ich muss hier gehen. Auf der bekannten Landstraße ist es zu gefährlich. Ich kenne die Richtung zur Stadt. Ich glaube, wenn ich immer in diese Richtung gehe, muss die Stadt irgendwann vor mir auftauchen.

Als ich das erste Mal von Zuhause weggelaufen war, lief ich nicht allein wie heute. Matthias war mitgekommen. Nach der Schule waren wir nicht nach Hause gegangen. Es hatte Zeugnisse gegeben und unsere Noten waren sehr schlecht gewesen. Deshalb hatten wir viel Angst vor der Stiefmutter, an die ich vormittags in der Schule die ganze Zeit gedacht hatte. Ich hatte sie in meinem Kopf, ich sah sie, wie sie zu Hause auf uns und unsere schlechten Schulzeugnisse wartete. Auch an den Vater hatte ich vormittags ängstlich gedacht. Ich hatte ihn in meinem Kopf, ich sah, wie ihm abends die Stiefmutter unsere schlechten Zeugnisse zeigte. Ich hatte Angst vor Stiefmutters festen Ohrfeigen und vor ihrem Schreien: “Jetzt wirds dir dei Vadder scho zoing!” In der Schulpause hatte ich mich mit Matthias auf der Toilette kurz abgesprochen. Wegen unserer Angst hatten wir entschieden, dass wir nach der Schule abhauen werden. Wir waren, genauso wie ich es gerade hinter mir habe, die Dorfstraße entlang bis zur breiten Landstraße gelaufen. Auf der waren wir geblieben, weil wir wussten, dass sie in die Stadt führt. Wir waren nicht in diesen Schotterweg abgebogen, denn wir hatten Angst davor, uns zu verlaufen. Damals hatten wir nicht gewagt zu tun, was ich heute tue. Einen unbekannten Weg zu betreten. So etwas zu tun hatten wir nicht in unseren Kinderköpfen.

Am Rand der Landstraße waren wir ungefähr zwei Stunden lang unterwegs gewesen. Immer wieder hatten sich vorbeifahrende Autofahrer nach uns umgesehen. Ich glaube wir fielen ihnen auf, weil wir unsere Schulranzen auf unseren Rücken getragen hatten. Zwei kleine Buben mit Schulranzen, nachmittags alleine auf der Landstraße, unterwegs Richtung Stadt! Ich hatte zwar die Blicke der unbekannten Käferfahrer hinter ihren Windschutzscheiben gesehen, trotzdem hatte ich nicht daran gedacht, dass auch der Vater dabei sein könnte. Ich hatte mich um die Männer in den Autos einfach nicht gekümmert. Ich hatte immer nach vorne geschaut, Richtung Stadt. Dabei hatte ich an die schlechten Schulnoten auf meinem Zeugnis in meinem hellbraunen Schulranzen auf meinem Rücken gedacht. Mein Bruder war seit zwei Stunden dicht hinter mir am Straßenrand gelaufen.

Plötzlich hatte auf der anderen Straßenseite ein weißer Käfer gehalten. Er war aus der Stadt gekommen. Ich erkannte sofort, wer da hinter dem Steuer saß.

Heute noch sehe ich den Vater vor mir, wie er am Straßenrand auf uns zukommt: Sein Gesicht ist verzerrt. Ich sehe viele Falten. Es ist Wut, die ich in seinem Gesicht erkenne. Der Vater knallt die Käfertüre kraftvoll zu. Er bleibt noch dicht am Käfer stehen, wegen dem Verkehr auf der Straße. Er dreht seinen schwarzhaarigen Kopf nach rechts und links um und sieht, dass noch ein Auto kommt. Er lässt das Auto vorbei und rennt, kaum dass es vorüber ist, über die Straße. Schnell kommt er auf mich zu. Seine gekämmten schwarzen Haare fliegen im Laufschritt auf und ab. Sein Schritt ist schnell und schwer. Er trägt wieder eine dunkelbraune Cordhose. Seine breiten Hosenbeine schlagen heftig gegeneinander. Seine großen, schwarzen Schuhe sehe ich jetzt. Seine Füße sind leicht nach außen gekehrt. So trampelt der Vater am Straßenrand schnell auf mich zu. Dicht vor mir bleibt er stehen. Der Vater ist riesengroß. Sein Faltiges Gesicht ist rot vor Wut.

Ich stehe erstarrt vor dem Vater. Keine Bewegung, kein Wort. Ich zittere und mir ist heiß. Mein Erschrecken vor dem Vater hört nicht auf. Ich kann nicht denken. Ich sehe den Vater am Straßenrand dicht vor mir. Jetzt reißt er seinen Mund weit auf. Er schreit mich an, aber ich höre nicht, was er sagt. In seinem Gesicht sehe ich seinen Zorn und seine Wut. Jetzt kommt er noch näher. Blitzschnell hebt er die große, rechte Hand. Ich bleibe immer noch wie erstarrt. Keine Bewegung. Ich bin versteinert. Vaters Hand trifft mein Ohr. Heftig kommt ein zweiter Schlag. Wieder trifft er mein Ohr. Jetzt kippe ich zur Seite. Ich gehe langsam zu Boden. Erst jetzt spüre ich den Schmerz. Mein Ohr ist ganz heiß. Jetzt höre ich ein Pfeifen. Ich falle nicht zu Boden. Ich stürze nicht in den Straßengraben. Vaters fester Griff hält mich am Handgelenk.

Meinen Bruder und mich zerrt der Vater über die Landstraße in seinen Wagen. Auf der Fahrt zurück ins Dorf zitterten wir auf der Rücksitzbank. Wir sprechen nichts. Der Vater spricht nicht mit uns. Die Situation ist eindeutig. Darüber wird nicht gesprochen.

Die Stiefmutter steht in der offenen Haustür. Sie trägt einen grünen Kittel. Der flattert ein wenig im leichten Wind. Der Vater zerrt uns, vorbei am Gartentürchen, über den kurzen Gartenweg zur Stiefmutter. Das Gesicht der Stiefmutter ist verzerrt. Ich sehe Wut und ihren Hass auf uns Kinder. Die Stiefmutter tritt einige Schritte zurück ins Haus. Auf dem dunklen Steinboden im Hauseingang sehe ich an ihren Füßen ihre braunen Pantoffeln. Ich sehe ihre dicken, nackten Beine die unter ihrem grünen Kittel hervorschauen. Sie tritt noch ein kleines Stück zurück damit der Vater die Haustür schließen kann. Sie bleibt vor unseren Kleiderhaken und Schuhen im dunklen Eingang stehen. Der Vater schiebt uns weiter durch die Haustür. Ich höre die Haustür. Sie fällt ins Schloss. Jetzt ist es ganz dunkel im Hauseingang. Die Stiefmutter tritt dicht an mich heran. Zwei Schläge ihrer kleinen, dicken Hand treffen mein Gesicht. Sie treffen meine Backen, meinen Mund, meine Nase, meine Augen. Im dunklen Hauseingang erkenne ich jetzt die Stiefmutter kaum mehr. Ich verstehe nicht, was sie so laut und wütend kreischt.

Die Stiefmutter ist an diesem Nachmittag sehr wütend. Sie zerrt uns die Holztreppe hinauf. Der Vater folgt ihr. Sie schleift uns vorbei an Esszimmer und Küche. Sie schiebt uns in unser kaltes Kinderzimmer. Jetzt sehe ich den Vater in der Kinderzimmertür. Stiefmutter und Vater schreien gleichzeitig ihre Wut auf uns Kinder heraus. Ich verstehe kein einziges Wort. Der Vater hält seinen Gürtel in der Hand.

An diesem Nachmittag war die Strafe doppelt hart gewesen. Es gab zwei Gründe. Wichtiger als unsere schlechten Schulzeugnisse war unser gemeinsamer Versuch, von zu Hause wegzulaufen. Die ersten Gürtelschläge gab es wegen dem Weglaufen, die letzten Schläge wegen unserer schlechten Zeugnisse.

Der Schotterweg geht jetzt über in einen schmalen Feldweg. Rechts und links vom Weg sind Felder. Ich glaube, es sind Maisfelder. Wie ich es mir dachte, ist nun die Sonne tatsächlich da. Ich trage meine Strickjacke auf meiner Schulter. Ich gehe langsam, beinahe gemächlich. Ich atme nicht mehr so hastig, eigentlich atme ich wie immer. Der Weg führt leicht bergab. Er führt in Richtung der Stadt.

Rechts und links sehe ich jetzt grüne Wiesen mit bunten Blumen. Auf der rechten Seite erkenne ich einen kleinen See. Da stehen einige Autos. Graue und schwarze Limousinen und einige graue und weiße Käfer stehen am See. Also fahren Autos auf diesem Feldweg! Sofort gehe ich schneller.

Ich sehe zwei Männer am See. Sie halten Angeln in der Hand. Sie sind weit weg, sie können mich keinesfalls Laufen hören. Sie sehen nicht, dass ich gerade vorbeilaufe, denn ich sehe ihre Rücken.

Ich komme an einem Schild am Wegrand vorbei. Auf dem Schild sehe ich einen durchgestrichenen Angler. Hier ist das Angeln also verboten. Ich sollte mir die Autonummern aufschreiben und das der Polizei in der Stadt melden.

Die Männer, die hier angeln, tun etwas Verbotenes! Unglaublich. Sie tun es, obwohl das Schild da steht und obwohl sie bestimmt Strafe bezahlen müssten, wenn die Polizei käme. Ist es nicht zu gefährlich, etwas zu tun, was die Polizei verbietet? Was ist gefährlicher: zu tun, was die Polizei verbietet, oder zu tun, was der Vater verbietet?

In der Stadt kann ich gar nicht zur Polizei gehen. Heute Morgen bin ich vom Vater weggelaufen. Die Polizei wird mich zurückbringen, wenn sie mich findet.

An den Anglern bin ich nun vorbei. Sie haben mich nicht gesehen. Sie könnten mich jetzt von hinten sehen. Vielleicht sehen sie mich. Ich drehe mich nicht um. Ich will nicht wissen, ob sie mich sehen. Auch sie könnten mich zurückbringen. Sie könnten mich fragen, warum ich hier so früh am Morgen laufe. Bestimmt wären sie gegenüber der Polizei und gegenüber dem Vater im Recht, wenn sie mich zurück brächten. Polizei und Vater würde es nicht interessieren, wenn ich sagte: “Die Angler haben doch auch etwas Verbotenes getan. Ich habe es gesehen! Sie haben geangelt, obwohl am See das Verbotsschild steht!” Ich glaube, das würde keinen interessieren. Ich wäre viel interessanter. Ich glaube, was ich heute tue, ist noch viel mehr verboten, als an diesem See zu angeln.

Mein Feldweg führt weiter bergab. Vor mir ist die Sonne gerade aufgegangen. Ich bin sehr müde. Wie spät ist es? Die Kirchturmuhr höre ich hier nicht mehr. Wie lange bin ich jetzt schon unterwegs? Ich hätte auf die Uhren in den Autos der Angler schauen können. Das fällt mir jetzt erst ein. Das ist gut so. Es wäre zu gefährlich gewesen. Ob es sechs Uhr ist? Ich glaube nicht, dass es schon später ist.

Ich werde noch etwas weiter gehen. Später will ich mich hinsetzen und mich ausruhen. Am besten gehe ich noch so lange, bis die Wiesen um mich herum trocken sind.

3. Mark verschwindet

Mein großer Bruder Mark war jeden Morgen sehr früh mit seinem Mofa in die Stadt gefahren. Es gibt nur einen öffentlichen Bus, der von der Stadt in unser Dorf und zurück fährt. Der Bus kommt aber nur dreimal am Tag. Er fährt nicht früh genug in die Stadt. Weil Mark sehr früh in seiner Arbeit sein musste, hatte dieser Bus für ihn keinen Nutzen. So war er täglich, auch bei eisiger Kälte im Winter, morgens um halb sechs, auf sein dunkelblaues Mofa gestiegen. Im Winter fuhr er immer besonders aufmerksam, wegen der glatten, eisigen, verschneiten Straßen. Einmal hatte ihn morgens, bei Finsternis und windiger Kälte, ein Lastwagen von einer schmalen Straße in den Graben gedrängt. Mark hatte Glück gehabt. Er blieb unverletzt. Sein verbogenes Mofa hatte er tagelang vor dem alten Haus, in der eisigen Kälte repariert.

Mark macht eine Lehre als Maurer. Da verdient er Geld. Ich glaube in der Lehre verdient man noch nicht viel. Mark musste an den Vater, weil er schon Geld verdiente, Miete für sein Zimmer im zweiten Stock bezahlen. Mark hatte von dem Wenigen, das er verdient, etwas Geld gespart. Er freute sich, weil es ihm gelungen war, etwas Geld zurückzulegen. In einem großen Möbelhaus hatte er von diesem Geld Möbel für sein beinahe leeres Zimmer gekauft. Die Möbel hatte er sich ausgesucht, weil sie ihm gefallen. Nachdem er sie in sein Zimmer hinaufgetragen hatte, lud er uns Geschwister gleich ein, damit wir seine neuen Möbel mit ihm ausprobierten und feierten. Er hatte zwei Sessel und ein Sofa gekauft.

Ich finde auch, dass es schöne Möbel sind. Sie sind durchsichtig, aus Plastik. Mark hatte sie bereits aufgeblasen und wir ließen uns, an diesem Samstagnachmittag, gemütlich in ihnen nieder. Marks aufgeblasene Möbel könnte man in einem Schwimmbad mit ins Wasser nehmen. Aber man darf keine spitzen Gegenstände auf sie legen. Das hatte Mark gleich erklärt, denn, wenn Löcher hineinkämen, würde die Luft entweichen und die Möbel würden zusammensacken wie eine kaputte Luftmatratze.

An diesem Samstagnachmittag waren wir vier Geschwister bequem auf Marks neuen Möbeln unterm Dach in seinem Zimmer gesessen. Aus Marks Gläsern hatten wir Saft getrunken, den Mark auch von seinem Geld gekauft hatte. So feierten wir seine neue Zimmereinrichtung. Ich war auf einem durchsichtigen Plastiksessel gesessen und wippte auf und ab. Mark und Matthias hatten zu zweit im Sofa Platz genommen, Christian saß in dem anderen Sessel. Wir lachten, redeten miteinander und freuten uns.

Kurz nachdem wir in dieses alte Haus gezogen waren, hatte sich Mark auch dieses Mofa gekauft. Ich glaube das Fahren macht ihm viel Spaß. Aber deshalb hatte er das Mofa nicht gekauft. Er brauchte es, um täglich zu seiner Lehrstelle zu fahren. Der Vater fährt jeden Morgen erst eine Stunde später mit dem Käfer zur Arbeit in die Fabrik am Rande der Stadt. Weil Mark nicht soviel Geld hatte, um das Mofa zu bezahlen, steuerten die Stiefmutter und der Vater die Hälfte der Kosten dazu bei. Seitdem er das Mofa hat, hatte Mark monatlich einen kleinen Betrag an die Stiefmutter und den Vater zurückbezahlt.

Nach diesem Nachmittag, an dem wir die neuen Möbel gefeiert hatten, stritten die Stiefmutter, der Vater und Mark heftig miteinander. Es ging um Geld. Sie wollten mehr Geld von ihm. Der Vater hatte ihn im Treppenhaus angeschrieen: “Die Faxen wer i dir scho no austreim! Wer neue Möbl kofen koon, der koon a sei Mofa schneller zahle!” Auch die Stiefmutter hatte ihn deshalb angeschrieen. Sie glaubten, Mark würde zuviel Geld ausgeben, anstatt ihnen mehr davon zu geben. Der Vater brüllte laut und tief, die Stiefmutter laut und hoch. An diesem Nachmittag waren sie sehr aufgebracht und wütend gewesen wegen Mark.

Ich glaube, weil die Stiefmutter und der Vater Mark nicht danach gefragt hatten, woher er das Geld für die Möbel genommen hatte, konnten sie nicht wissen, dass Mark sich das Geld monatelang von seinem wenigen Lehrlingsgeld abgespart hatte. Die Stiefmutter hatte die neuen Möbel in Marks Zimmer gesehen und wurde sofort wütend. Sie hatte mit Mark gar nicht darüber gesprochen, von welchem Geld er die Möbel gekauft hatte. Stattdessen sprach sie abends mit dem Vater darüber.

Ich glaube beide hatten kein Geld mehr. Der Vater verdient wenig. Vielleicht hatten sie geglaubt, Mark habe mehr Geld, das er nicht hergeben wollte. Es könnte sein, dass sie kein Geld mehr hatten, um Lebensmittel einzukaufen. Es könnte auch sein, dass der Vater das Benzin für den Käfer nicht mehr bezahlen konnte. Ich weiß es nicht. Ich verstehe davon nichts. Ich weiß nur, dass es wenig Geld gibt, denn wir bekommen kein Taschengeld zu Hause.

Aber Mark hatte auch kein Geld mehr, das er ihnen hätte geben können. Die neuen Möbel hatten sein Erspartes gekostet. Mehr hatte er nicht. Das hatte Mark dem Vater an diesem Nachmittag, als beide ihn so anbrüllten, gesagt. Mark hatte keine Chance. Anstatt ruhiger zu werden, war der Vater noch wütender geworden. Er tobte und schrie, er war sehr wütend. Dann hatte er zugeschlagen. Er schlug Mark ins Gesicht. Ich hatte nie miterlebt, dass der Vater auch Mark schlägt. Immer hatte ich geglaubt, der Vater traue sich nicht, auch meinen großen Bruder Mark zu schlagen.

Mark hatte nicht geheult, so wie wir jüngeren Geschwister es immer taten. Seine Schmerzen hatte er dem Vater und der Stiefmutter nicht gezeigt. Er war noch eine Sekunde vor dem Vater wie erstarrt stehen geblieben. Nichts weiter geschah. Alle hatten geschwiegen. Das wütende Geschrei war vorbei. Es waren keine Worte mehr gekommen, weder vom Vater noch von Mark. Auch die Stiefmutter, sie stand neben dem Vater, hatte nicht mehr geschrieen. Dann hatte sich Mark abgewandt. Er lief die Treppe hinauf und verschwand in seinem Zimmer. Dort hatte er seine kleine Tasche vom Schrank genommen, einige Kleidungsstücke hineingestopft, und eine halbe Stunde später war er leise durch das Treppenhaus geschlichen. Er verließ das alte Haus und war in der dunklen Nacht verschwunden. Seit diesem Abend, vor zwei Wochen, habe ich Mark nicht wieder gesehen.

Die Eltern hatten es erst am nächsten Morgen bemerkt. Der Vater saß, wie jeden Morgen, mit seiner Zeitung am Frühstückstisch. Ich glaube, er dachte, Mark sei schon mit dem Mofa zur Arbeit gefahren. Der Vater ging hinunter vor die Haustür und stieg in seinen Käfer. Er fuhr um die Hausecke. Dort sah er das blaue Mofa von Mark. Er stellte den Motor ab, stieg aus dem Wagen und rannte hinauf in den zweiten Stock. Mark lag nicht in seinem Bett. Sein Zimmer war verlassen. Jetzt war das Geschrei groß. Matthias und ich putzten gerade unsere Zähne. Ich hörte, wie der Vater nach der Stiefmutter rief. Beide wussten sofort, dass Mark abgehauen war. Mit Marks Verschwinden hatten sie nicht gerechnet. Ich hörte die Stiefmutter. Sie brüllte: “Na warte, dich kriegen wir schon Bürschchen!”

Wir beeilten uns mit dem Anziehen und Frühstücken, denn wir wollten schnell aus dem Haus, in die Schule. Bevor wir das Haus verließen, drohte uns die Stiefmutter. Sie befahl uns, niemandem in der Schule davon zu erzählen. Ich verstand nicht, was sie damit meinte. Wir erzählten nie etwas in der Schule von zu Hause.

Ich vermisse Mark sehr. Ich hatte mich immer gefreut, wenn er abends nach Hause kam. Seit Marks Verschwinden hatte ich noch viel mehr Angst vor Stiefmutter und Vater. Mark ist unser großer Bruder. Matthias, Christian und mich hatte er immer beschützt. Oben in Marks Zimmer hatten wir uns gut aufgehoben und sicher gefühlt. Wir hatten da oben keine Angst, vom Vater oder der Stiefmutter geprügelt zu werden. Es gab nie Prügel, wenn Mark am Wochenende oder abends zu Hause war. Deshalb war ich immer froh wenn er abends von der Arbeit kam.

Leider war der Vater oft früher gekommen als Mark. Er sah sich die vielen Fehler in unseren Schulheften an. Dann scheuchte er uns ins Kinderzimmer. Dann nahm er seinen Gürtel und verprügelte uns. Wenn Mark zu Hause war, verprügelte er uns nie. Deshalb hatte ich gedacht, dass der Vater uns nicht schlagen kann, wenn Mark da ist, weil er genau weiß, dass Mark dazwischen gehen würde. Dass der Vater sich traute, auch auf Mark einzuschlagen, hatte mich sehr überrascht.

Mark hatte nichts davon gemerkt, dass der Vater und die Stiefmutter uns soviel schlugen. Wir hatten ihm niemals davon erzählt, denn Stiefmutter und Vater hatten es strengstens verboten. Weil wir soviel Angst vor beiden hatten, sprachen wir Geschwister untereinander niemals darüber, wie es uns in diesem Haus ging. Ich hatte immer genau gespürt, was ich mit Mark, mit Matthias und mit Christian besprechen durfte und was nicht. Weil Mark soviel arbeiten musste und so früh das Haus verließ, weil er abends später kam als der Vater, konnte er nie sehen, was in diesem Haus geschah. Mark hatte uns am Wochenende oft gefragt, wie es uns geht. Nie erzählten wir, dass es schlecht geht. Unsere Angst, zu sagen, was Stiefmutter und Vater verboten hatten, saß zu tief.

Mark musste von Zuhause abhauen. Auch er hatte unter Stiefmutter und Vater zu leiden. Sie zwangen ihn, diese Lehre zu machen. Diese Lehre wollte er nicht. Er könnte anderes lernen. Er könnte in einem Büro arbeiten. Aber sie hatten ihn gezwungen, sie sagten, dass man mehr Geld verdiene als Maurer. Vor allem in der Lehre verdiene man schon mehr als in anderen Berufen. Das hatte Mark verstanden. Aber trotzdem wollte er das nicht lernen, er wollte etwas, für das er sich wirklich interessiert. Mark hat viele Interessen, deshalb hatte er viele andere Ideen gehabt. Aber die Stiefmutter und der Vater interessierten sich nicht dafür. Sie zwangen ihn zu dieser Lehre.

Ich verstehe Mark, ich wäre auch weggelaufen. Was ist gegen den großen Vater sonst möglich? Die letzte Chance ist das Weglaufen. Ich weiß es, deshalb laufe ich heute weg. Ich glaube fast, ein ruhiges Gespräch, mit Stiefmutter und Vater, ist nicht möglich. Es gibt keine Worte zwischen uns Kindern und ihnen, ohne dass sie anfangen uns anzuschreien.

4. Ausruhen am Wegrand

Jetzt komme ich auf eine schmale Teerstraße. Ein kleiner geteerter Feldweg. Auf den Wiesen neben dem Weg liegen große Strohballen. Wie weit ist es noch bis zur Stadt? Ich bin schon weit gelaufen. Ich laufe und pfeife ein wenig dabei. Obwohl ich vor dem Vater flüchte, kann ich jetzt sogar munter pfeifen! Vorher im Dorf konnte ich das noch nicht. Jetzt kann ich es, weil der Vater schon etwas weiter entfernt ist. Trotzdem fühle ich mich nicht wie ein “Wandergeselle”. Von solchen Menschen hatte der Dorfschullehrer manchmal aus Büchern vorgelesen. Die wanderten munter pfeifend von einem Dorf zum anderen, dort blieben sie einige Wochen, um zu arbeiten, dann wanderten sie weiter. Ich bin kein munterer Wandergeselle. Ich bin auf der Flucht.

Ich habe Hunger. Ich kann es eine Weile ohne Essen aushalten. Vor mir sehe ich jetzt Wald. Der Weg macht eine Biegung, dort sehe ich eine Bank. Auf die setze ich mich, um etwas auszuruhen. Bald werde ich die große Stadt erreichen. In der Stadt muss ich sehr vorsichtig sein. Ich glaube, sie werden mich suchen. Der Vater wird jetzt auch schon unterwegs sein in die Stadt. Dort muss ich besonders wachsam sein, denn an jeder Ecke kann er stehen und auf mich warten.

Das Wetter ist heute sehr klar. Der Himmel ist tiefblau, ich sehe keine einzige Wolke. Die Sonne scheint mir ins Gesicht. Ich liege auf der Bank am Wegrand. Ich spüre meine Müdigkeit, sie drückt mich auf die Holzbretter. Ich muss kurz hier ausruhen. Ich spüre meine Füße schon ein bisschen. Vergangene Nacht war ich lange wach gelegen, das zehrt jetzt an meinen Kräften. Ich fühle mich schwach. Ich werde immer schwächer, ich glaube, gleich schlafe ich ein. Ich döse auf der harten Holzbank, wie nachmittags, oben zwischen den Strohballen, im Versteck in der alten Scheune. Ich glaube, der Vater kann die Bank hier nicht finden, ich bin schon viel zu weit gelaufen. Wenn jemand vorbeikommt und mich anspricht, mich fragt warum ich hier liege, sage ich, dass ich hier auf einen Freund warte und dabei eingeschlafen bin. Oder soll ich lieber sagen, dass ich unterwegs nach Hause bin, nicht weit von hier wohne und nur kurz ein wenig hier ausruhe? Nein, wenn jemand kommt und mich anspricht, dann tue ich so, als spreche ich eine andere Sprache. Ich tue so, als spreche ich nicht Deutsch, sondern vielleicht Englisch, davon haben wir schon wenige Worte vom Dorfschullehrer gelernt. Ich tue so, als verstehe ich nicht. Dann kann ich ja schnell den Weg hier hinunter laufen und dabei so tun, als wohne ich da unten.

Oder sollte ich mich vielleicht besser auf die Wiese hinter die Holzbank legen? Wie falle ich einem Spaziergänger auf diesem Feldweg weniger auf? Ach nein, ich bleibe einfach auf der Bank, ich glaube da falle ich nicht besonders auf. Auf einer Bank kann man sitzen oder liegen. Ich lege mich einfach drauf, wenn jemand kommt, fällt mir schon irgendetwas ein, das ich erklären kann. Die Bank ist sehr hart. Ich liege auf ihr, obwohl ein Brett durchgebrochen ist, das macht nichts. Ich brauche kein Kopfkissen. Ich nehme meine Hände als Kopfkissen, das geht schon. Es ist jetzt sehr warm von der Sonne. Vielleicht ist es jetzt schon neun Uhr. Dann sind alle zu Hause schon aufgestanden.

Gestern hatten wir einen sehr ruhigen Tag zu Hause. Es war eigentlich kein schlimmer Tag. Der Vater und die Stiefmutter hatten nicht herumgeschrieen und sie schlugen uns nicht. Deshalb war es eigentlich ein richtig schöner Tag. Solche Tage sind selten. Für mich war es der richtige Tag, um unauffällig den heutigen Tag vorzubereiten. Niemand hatte meine Vorbereitungen im Kinderzimmer bemerkt. Ich glaube, das lag nicht nur an meiner Sorgfalt, es hatte auch mit der Stimmung dieses Tages zu tun.

Der Tag war sehr ruhig. Am Abend gab es keinen Streit. Der Vater kam früh von der Arbeit nach Hause weil gestern Freitag war. Unsere Schulhefte waren in Ordnung. Es standen keine Noten drin. Wir hatten keine Hausaufgabe auf, deshalb waren keine Fehler drin, deshalb gab es keine Prügel. Die Stiefmutter hatte nichts, um es dem Vater zu erzählen. Es gab nichts, was Grund gewesen wäre, uns anzuschreien und zu prügeln. Es war alles ruhig in der Familie.

Zum Abendessen gab es Spiegelei und Kartoffeln. Christian, Matthias und ich waren vor dem Abendessen in der Küche gesessen, dort wuschen wir die Kartoffeln. Die Stiefmutter stand am Spülbecken und trocknete Geschirr. Sie redete nicht mit uns. Zu Hause wird sehr wenig gesprochen. Wir Kinder haben mit den Erwachsenen nichts zu reden. Wir haben auf Fragen zu antworten. Wenn die Stiefmutter oder der Vater etwas wissen wollen, sind wir sogar gezwungen zu antworten. Wenn sie nichts von uns wissen wollen, müssen wir schweigen. So hatten wir das bei ihnen gelernt.

Beim Kartoffelschälen machten wir drei Geschwister kleine Späßchen miteinander. Wir spielten ein Spielchen. Wir ließen die geschälten Kartoffeln so in den Topf mit Wasser platschen, dass immer einer von uns nassgespritzt wurde. Jeder versuchte, die jeweils winzigste Kartoffel aus dem Wassertopf zu fischen. Zum Schluss blieben natürlich die fetten übrig. Auch von ihnen versuchte jeder, die kleinste zu nehmen. Weil man manchmal glaubte, eine kleinere Kartoffel im Topf zu sehen, ließ man seine Kartoffel wieder in den Topf platschen. Das spritzte dem anderen ins Gesicht. Es war ein Wettkampf. Sieger war, wer die kleinsten Kartoffeln rausgefischt hatte und am wenigsten schälen musste. Die Stiefmutter beachtete unser Spiel nicht. Immer wieder schaute sie durchs Küchenfenster auf den Hof hinter das Haus. Sie erwartete den Vater.

Schließlich war es soweit. Laut und deutlich hörte ich den Käfermotor. Jetzt überlegte ich, wie schlimm es gleich werden würde, wenn der Vater die Küche betritt. Ich fing aber nur leicht an zu zittern, denn mir fiel nichts ein, was die Stiefmutter zu berichten hätte. Wie an jedem Abend parkte der Vater den Käfer hinter dem Haus. Weil wir wussten, dass er gleich die kurze Treppe hinter dem Haus heraufsteigen und durch den Hintereingang in die Küche kommen wird, beendeten wir sofort unser Kartoffelspiel und wurden ganz still. Noch mal dachte ich nach, was die Stiefmutter ihm erzählen könnte. Mir fiel nichts ein, womit sie ihn dazu bringen könnte, uns zu verprügeln. Ich hörte die stapfenden, lauten Schritte des Vaters auf der Holztreppe. Die Küchentür knarrte, wie jeden Abend, wenn der Vater durch sie das Haus betritt. Der Vater brachte eine Pappkiste mit. Er hatte Getränke eingekauft für den Fußballabend. Tatsächlich hatte ich mich nicht getäuscht. Die Stiefmutter schwieg. Sie erzählte ihm nichts von uns. Sie drängte ihn nicht, dass er unsere Schulhefte ansieht, weil es nichts in ihnen zu sehen gab.

Manchmal hatte sie ihn abends auch aufgefordert, in unsere Hefte zu sehen, wenn keine Noten drin standen und wir keine Hausaufgaben auf hatten. An unseren Heften gab es immer etwas auszusetzen. Es gab immer Fehler, es gab immer meine krakelige Kinderschrift, die noch mal geschrieben werden musste und auch nach zehnmaligem Wiederholen nicht schön genug war. Nicht so gestern Abend. Die Stiefmutter sagte zum Vater nichts. Wir hatten großes Glück. Der Abend war sehr ruhig. Niemand ahnte, dass ich die Ruhe nutzte und damit mein Plan zur Flucht begann.

Warum lief ich heute Morgen weg, wo es doch gestern Abend so ruhig zu Hause war? Ich glaube, das war meine Taktik. In einem Abenteuerheft hatte ich einmal davon gelesen. Der Gegner soll den Feind angreifen, wenn alles ruhig ist. Am besten ist es dann, wenn der Feind sogar noch von irgendetwas anderem abgelenkt ist. Dann rechnet der Feind am wenigsten damit, dass etwas passiert. Ähnliches hatte ich gestern Abend im Wohnzimmer, während im Fernseher das Fußballspiel lief, gedacht. Einen so ruhigen Tag wie gestern könnte es Monate lang nicht mehr geben. Ich nutzte die Ruhe.

Ich kann nicht schlafen obwohl ich sehr müde bin. Von der harten Holzbank stehe ich wieder auf. Kein Mensch kommt auf dem Feldweg. Langsam gehe ich weiter. Ich lege mich später noch mal irgendwo hin. Auf dem Weg sehe ich einen Käfer. “Maikäfer flieg! Flieg schon du Maikäfer!” Er klettert an meinem Zeigefinger nach oben und schon fliegt er tatsächlich davon. Der Feldweg führt bergab. Gleich gehe ich in einen Nadelwald hinein.

Zur Stadt kann es nicht mehr weit sein. Die Richtung stimmt. Die Straße, die wir mit dem Vater zum Einkaufen in die Stadt gefahren waren, führt kurz vor der Stadt einen steilen Berg hinunter. Der Weg, den ich hier laufe, führt schon lange leicht bergab.

Ich beiße auf meinen Fingernägeln herum. Wenn der Vater meine abgebissenen Fingernägel sieht, geht es mir schlecht. Ich darf nicht auf den Nägeln herumkauen und sie abreißen. Deshalb höre ich jetzt mit dem Kauen auf.

Vorne kommt eine Straße. Ich höre die Autos. Auf der Straße ist viel Verkehr. Weil heute Samstag ist, fahren heute viele Leute in die Stadt zum Einkaufen. Einkaufen ist sehr teuer. Der Vater hatte deshalb immer gesagt, dass wir sparen müssen. Wir kaufen in einem Großmarkt in der Stadt ein, weil das billiger ist.

Im Laden, im Dorf, bei Frau Maier kaufen wir keine Lebensmittel. Wir Kinder waren aber trotzdem oft im Laden. Wir hatten kein Geld für uns, sondern wir kauften Zigaretten für die Stiefmutter. Dabei stahlen wir Stifte und Radiergummis für die Schule. Manchmal war ein Stift in der Schule einfach verloren gegangen. Plötzlich war er verschwunden. Ich wusste nie, wo meine Stifte blieben. Hätte ich das zu Hause erzählt, hätte die Stiefmutter sofort zugeschlagen. Um neue Stifte und Radiergummis zu besorgen, mussten wir warten, bis wir wieder Zigaretten im Dorfladen holen sollten. Matthias und ich gingen in den Laden. Einer kaufte Zigaretten, und der andere nahm die Stifte aus dem Regal. Das Regal steht weit hinten in Frau Maiers Laden. Das Stehlen bei Frau Maier ist sehr einfach. Frau Maier hatte nie etwas bemerkt. Das glaube ich zumindest, bis heute. Jetzt allerdings, wo ich darüber nachdenke, frage ich mich, ob sie das vielleicht gar nicht bemerken wollte? Hatte sie gewusst, dass wir zu Hause kein Geld dafür bekamen? Vielleicht wusste sie das. Ihr Laden ist sehr klein. Frau Meier ist größer als wir. Von oben könnte sie unser Stehlen gesehen haben. Vielleicht wollte sie uns so helfen. Gab es Hilfe für uns Kinder in unserem Dorf? Davon hatte ich nie etwas bemerkt. Vielleicht hatte Frau Maier uns so geholfen. Vielleicht hatte sie uns nie wegen unserem Stehlen in ihrem Laden angesprochen, weil sie schon lange gewusst hatte, dass es uns zu Hause so schlecht geht, dass wir nicht einmal Geld für Stifte und Papier für die Schule bekamen. Ich glaube Frau Maier muss das gesehen haben.

Was Frau Maier nicht gewusst hatte: Wir hätten das Geld von der Stiefmutter vielleicht bekommen, aber wir hatten zuviel Angst davor, sie nach Geld für Stifte und Papier für die Schule zu fragen.

5. Wiesen, Felder und Hitze

Schnell laufe ich jetzt über die befahrene Straße. Der Feldweg geht auf der anderen Seite weiter. Ich renne ein Stück bis ich die Straße nicht mehr sehe und sie nur noch leise höre. Es ist die Landstraße in die Stadt. Meine Jacke trage ich unterm Arm, mir ist heiß. Ein Schwimmbad wäre jetzt schön. Seitdem wir bei der Stiefmutter und dem Vater wohnen, waren wir nie zum Baden gegangen. Auch das ist zu teuer.

Früher waren wir oft im Schwimmbad gewesen. Jeden Samstagvormittag waren wir ins Hallenbad, und im Sommer fast jedes Wochenende, ins Freibad gegangen. Das war toll. Obwohl es immer ein weiter Fußmarsch bis zum Freibad gewesen war. Das hatte mir nicht besonders gefallen. Aber dafür gab es als Belohnung dann ja das Freibad. Meist hatten wir den ganzen Tag dort verbracht. Wir vier Geschwister und alle anderen Kinder aus dem Kinderheim waren immer mit viel Spaß dabei gewesen. Das Freibad lag im Tal, in dem Oberbayerischen Gebirgsort, wo ich gewohnt hatte, bevor ich zur Stiefmutter und dem Vater gekommen war. Im Freibad tobten, schwammen und spielten wir. Es gab einen Kinderspielplatz und Tischtennisplatten.

Ich kann sehr gut schwimmen ich habe schon den “Freischwimmer” und den “Fahrtenschwimmer” gemacht. In einigen Jahren könnte ich sogar den “Rettungsschwimmer” machen. Im Kinderheim wäre das sicher möglich. Hier beim Vater aber, geht das nicht. Wir sind ja nie im Schwimmbad. Im Kinderheim wohnen Kinder, die Mitglied im Schwimmverein sind. Da könnte auch ich mitmachen.

Mir ist nun endgültig zu heiß. Vielleicht weil ich gerade ans Schwimmbad denke. Ich bleibe stehen. Ich wische mit der Strickjacke über meine verschwitzte Stirn. Vor mir flimmert die Hitze über dem Feldweg. Es bläst kein Lüftchen. Weit und breit sehe ich keinen Baum am Wegrand, in dessen Schatten ich ein wenig ausruhen könnte.

Wieder mal ins Freibad gehen, das wär’s! Vor Jahren hatten wir in den Schulferien die Oma besucht. An einem heißen Tag gingen wir hier in der nahen Stadt in das Freibad. Wir vier Geschwister waren alleine unterwegs. Ohne Eltern, ohne Betreuer, ohne Erzieher. Vom Haus der Oma hatten wir sehr weit zu laufen, bis zum Freibad in der Stadt. Trotzdem war es ein toller Nachmittag. An dem Tag war es sicherlich genauso heiß gewesen, wie heute. Im Freibad schwammen wir und wir spielten Tischtennis. Es war fast genauso, wie im Freibad im Kinderheim. Nur das Wasser war nicht so schön. Es gab nur ein einziges Schwimmbecken. In dem war Chlorwasser. Nach dem Schwimmen brannten die Augen.

Im bayerischen Gebirgsort bei meinem Kinderheim, gibt es ein besonderes Freibad. Es gibt ein Becken mit Naturwasser. Das Wasser ist zwar sehr kalt, aber nach dem Schwimmen brennen deshalb die Augen nicht. Dort in dem Naturwasserbecken hatte es sogar Fische gegeben. Leider hatte ich vor denen oft Angst. Einmal berührte mich beim Schwimmen ein winziger Fisch. Ganz schnell schwamm ich zum Beckenrand und kletterte aus dem Wasser. Die winzigen Fische kannte ich, denn ich hatte sie schon oft durch meine Taucherbrille beobachtet. Trotzdem hatte ich Angst, mit ihnen in Berührung zu kommen. Das hatte ich den anderen Kindern im Kinderheim natürlich niemals erzählt. Stattdessen hatte ich damit angegeben, ein mutiger Fischjäger zu sein. Im Freibad hatten wir im Sommer jedes Wochenende Fischjagd gespielt. Wir taten so, als wären wir mit Harpunen und Messern bewaffnet. So sprangen wir ins Naturschwimmbecken. Wir jagten Haie. Auf unserem Rückweg, hinauf in unser Kinderheim, prahlten wir gegenseitig damit, wie viele hundert Haie jeder von uns im Freibad gefangen hatte.

Die Stadt kommt jetzt näher. Ich kann sie schon hören, es ist ein Rauschen aus der Ferne. Jetzt führt der Feldweg leicht bergan. Ich erreiche eine kleine Anhöhe. Um mich herum sehe ich abgemähte Wiesen. In einiger Entfernung erkenne ich einen Bauern auf seinem Traktor. Er fährt mit einer Heuwendemaschine über die gemähte Wiese.

Ich glaube, das ist ein guter Job. So einen Traktor zu fahren macht sicherlich viel Spaß. Das Heu braucht der Bauer bestimmt als Futter für seine Pferde im Winter. So kenne ich das aus dem Kinderheim im Gebirgsort. Vielleicht hat dieser Bauer hier, den ich gerade vor mir auf seinem tuckernden Traktor sehe, auch so ein Pony, wie es der Heimleiter in dem Schuppen neben unserem Kinderheim gehalten hatte.

Im Kinderheim war ich nur ein einziges Mal auf dem Pony gesessen. Auf dem Rücken des Ponys hielt ich mich nicht einmal eine Minute. Es war der Pfingstsonntag im vergangenen Jahr gewesen. Der Sonntag war warm und trocken, ein erster richtiger Frühlingstag. Wegen des schönen Wetters hatte das ganze Kinderheim einen Pfingstausflug hinunter ins Tal gemacht. Das Pony war dabei. Wir waren auf schmalen Feldwegen hinunter in den Ort gewandert. Auf der anderen Seite des Tals stiegen wir auf einen kleinen Berg hinauf. Unterwegs durfte immer ein Kind auf dem Pony sitzen. Ich war nicht der einzige gewesen, der sofort herunterfiel. Das Pony hatte keinen Sattel um sich daran festzuhalten. Es lag nur eine dicke Decke auf dem Rücken des Tieres. Ich versuchte mich an seiner Mähne und dem Halfter festzuhalten. Dabei versuchte ich, dem Pferd nicht weh zu tun. Mit einem kräftigen Sprung hatte ich mich auf den runden Rücken des Ponys hinaufgeschwungen. Auf dem Rücken des Pferdes versuchte ich, nach der Mähne zu greifen und Halt zu finden. Doch mein Schwung war zu heftig gewesen, so dass ich sofort auf der anderen Seite hinunter stürzte.

Auch in der Nähe unseres Dorfes gibt es einen Bauern, der ein Pony hat. Dessen Hof hatte ich manchmal zusammen mit Matthias besucht. Das Tier hatten wir auf der Koppel beobachtet. Es war mir viel kleiner vorgekommen, als das Pony vom Pfingstsonntag im Kinderheim. Vielleicht bin ich im vergangenen Jahr so viel gewachsen. Den Bauern in der Nähe unseres Dorfes hatten wir nie gefragt, ob wir auf seinem Pony einmal reiten dürften. Seit ich am Pfingstsonntag von dem Pony gestürzt war, hatte ich keine Lust mehr, auf Pferden zu reiten.

Jetzt fährt der Bauer mit seiner Heuwendemaschine ganz dicht an mir vorbei. Ich rieche das frische Heu. Es ist der Geruch, der mich an mein Kinderheim im Gebirgsort erinnert. Im Sommer hatten wir regelmäßig das trocknende Gras auf der steilen Wiese hinter dem Haus gewendet. Wenn das Heu oft genug gewendet war, wenn es grau und trocken geworden war, hatten wir es mit riesigen hölzernen Rechen zu großen Haufen zusammengeschoben. Weil das Kinderheim mitten im Gebirge liegt, ist die große Wiese hinter dem Haus sehr steil. Ein Traktor, wie ich ihn hier neben dem Feldweg gerade sehe, könnte dort gar nicht fahren. Er würde die Wiese hinunterstürzen. Deshalb hatten wir Kinder das Heu per Hand zu wenden und hinunter in den Ponyschuppen zu schaffen. Mit Hilfe von großen grauen Decken zogen wir das Heu vom steilen Hügel. Es war jeden Sommer sehr viel Heu. Genug für das kleine Pony, den Winter über zu fressen zu haben. Mit einer Heuwendemaschine, wie sie der Bauer hier über die Wiese zieht, hätten wir uns viele Tage an Arbeit gespart.

Manchmal mussten wir am Wochenende auf das Freibad verzichten. Wenn Regen gemeldet war und das Heu auf der Wiese schon schön trocken war, dann durfte kein Tag verloren gehen, um es in den Schuppen zu schaffen. Tagelanger Regen, den es in dem Gebirgsort oft gegeben hatte, hätte die Heuernte auf der Wiese vermodern lassen.

Das Heumachen auf der Wiese hinter dem Kinderheim, war ein Geschufte, auf das bald kein Kind mehr rechte Lust hatte. Ich erinnere mich, dass wir oft herumgemeckert hatten, wenn das Freibad wieder mal wegen des Heumachens ausfiel. Aber weil es zur Belohnung nach einem heißen Tag auf der Heuwiese immer eine kühle Flasche Limonade vom Heimleiter gegeben hatte, waren stets alle Kinder fleißig beim Heuwenden dabei.

6. Sicht auf die Stadt

Jetzt sehe ich die Stadt vor mir. Ich stehe auf einem Hügel. In welche Richtung geht es von dieser Stadt in den kleinen Ort zur Oma? In der Stadt muss ich eine bestimmte Straßenkreuzung suchen, von der es zur Oma geht. Auf dieser Kreuzung steht ein Schild mit dem Namen des Ortes, in dem die Oma wohnt.

Die Oma ist gar nicht meine richtige Oma. Aber das macht mir nichts aus. Sie hatte sich jahrelang, damals als wir noch im Kinderheim lebten, um meine Geschwister und mich gekümmert. In den Schulferien hatten wir sie oft besucht, und häufig hatte sie davon gesprochen, dass wir das Kinderheim vielleicht eines Tages wieder verlassen dürfen. Die Oma glaubte, dass wir ein viel schöneres Leben hätten, wenn wir hier beim Vater wohnten. Sie hatte auch daran gedacht, dass wir sie vom Vater aus viel öfter besuchen könnten, als von dem weit entfernten Kinderheim.

Weil sie glaubte, dass wir es beim Vater besser hätten und auch der Vater uns schon lange aus dem Kinderheim holen wollte, hatte sie ihn jahrelang dabei unterstützt. Ich glaube, die Oma hätte das nicht getan, wenn sie damals geahnt hätte, dass der Vater zu uns Kindern so ist, wie er ist. Die Oma konnte das unmöglich ahnen, denn wir hatten ja im Kinderheim und nicht beim Vater gelebt. Wenn wir zu Besuch gekommen waren, wohnten wir bei ihr und nicht beim Vater, weil dessen Wohnung zu klein gewesen war.

Im Haus von Oma ist viel Platz für Kinder und es ist wirklich schön. Bei ihr wohnen viele Kinder. Sie hat einen großen Garten, in dem ein alter Wohnwagen steht. Im Garten spielen die Kinder Versteckspiele und Fangen. Bei ihr ist immer was los. Auch Opa ist sehr nett. Beide mögen mich und meine Geschwister sehr gern. Oma und Opa hatten sich sehr gefreut, als wir endlich zu unserem Vater ziehen durften und nicht mehr im Kinderheim leben mussten.

Letztes Jahr, am Tag als uns der Vater aus dem Kinderheim abgeholt hatte, fuhren wir im weißen Käfer mit dem Vater zuerst zur Oma. Danach waren wir in das Haus der Stiefmutter und des Vaters gefahren. Seit diesem Tag hatte ich die Oma nie wieder gesehen.

Im Ort unterhalb des Hauses, in dem die Oma wohnt, hatten wir Anfang letzten Jahres einige Wochen mit der Stiefmutter und dem Vater in einer kleinen Wohnung gewohnt. Es war die Wohnung des Vaters. Er hatte sie jahrelang allein bewohnt, als wir Kinder noch im Kinderheim lebten. Diese Wohnung war zu klein für die Familie, deshalb hatte der Vater das alte Haus im Dorf gemietet.

Obwohl wir im Ort nur kurz gewohnt hatten, erinnere ich mich noch gut an die kleine Wohnung und an die Umgebung. Unweit der kleinen Wohnung liegt der Fußballplatz. Da hatten wir Geschwister täglich gespielt. Da hatten wir schnell andere Kinder kennen gelernt. Und es gibt da, gleich um die Ecke, eine kleine Eisdiele.

Jetzt, wo ich daran denke fällt mir ein, dass wir im vergangenen Jahr, als wir kurz in dem Ort beim Vater und der Stiefmutter lebten, noch Taschengeld bekommen hatten. Von diesem Geld hatte ich manchmal Eis in der Eisdiele gekauft. Aus den roten Automaten, von denen es in dem Ort beinahe an jeder Ecke einen gibt, kaufte ich von meinem Taschengeld Kaugummis. Ich glaube, damals hatten die Stiefmutter und der Vater noch nicht solch große Geldsorgen, wie später im Dorf.

Auch meine alte Schule liegt ganz in der Nähe der kleinen Wohnung. Zu Fuß hatte ich sie in wenigen Minuten erreicht. In diesem Ort gibt es auch ein Hallenbad, es liegt gleich neben der Schule. Im Sportunterricht hatten wir es oft besucht. Klassenkameraden und Lehrer hatten es ganz toll gefunden, dass ich so gut schwimmen kann. Das hatte ich gar nicht gekannt. Für mich ist es normal, gut schwimmen zu können. Im Kinderheim hatten alle Kinder gut schwimmen gelernt, denn wir waren sehr oft im Schwimmbad gewesen. Mein gutes Schwimmen war im Kinderheim nichts Besonderes.

Um zur Oma zu gelangen, muss ich diesen Ort finden. Er liegt einige Kilometer von der Stadt entfernt. Ich muss diesen Ort durchqueren. Zur Oma geht es einen steilen Berg hinter dem Ort hinauf.

7. Hinunter zur Stadt

Der Feldweg endet in einem schmalen Trampelpfad. Ihn steige ich jetzt hinunter. Er führt auf die Stadt zu. Da unten sehe ich einen großen, langgezogenen Hügel. Es ist hoch aufgeschütteter Schotter. Dahinter erkenne ich eine Baustelle für eine neue Eisenbahnanlage. Ich sehe nagelneue Gleise. Es fahren noch keine Züge auf diesen Gleisen. Heute ist Samstag, deshalb ist auf der Baustelle alles ruhig.

Ich muss diese Gleise überqueren. Hinter ihnen beginnt die Stadt. Ich glaube, dass es schwer wird, die Straße zur Oma zu finden. Die Stadt sieht unübersichtlich aus. Vom Trampelpfad aus sehe ich viele Straßen.

Jetzt erreiche ich das Ende des Trampelpfades. Ich stehe vor dem langen Schotterhügel. Ich steige langsam hinauf. Oben setze ich mich auf die Steine. Ich suche ein Plätzchen, von dem aus ich nicht gesehen werde. Ich muss noch eine Zeitlang warten, bis ich in die Stadt hineinlaufe. Bestimmt ist der Vater dort unterwegs und sucht mich.

Von dem Schotterhügel aus kann ich alles sehr gut sehen. Ich glaube hier wird mich so schnell niemand entdecken. Auf der ruhigen Baustelle stehen Kräne und Maschinen. Auf der gegenüberliegenden Seite der Gleise sehe ich eine Neubausiedlung. Die Straße ist noch nicht geteert. Ich sehe Staubwolken von fahrenden Autos.

Da drüben wohnen Familien. Ich sehe sie in ihren Gärten. Ich höre einen Rasenmäher. Heute arbeiten die meisten Familien in ihren Gärten. Heute werden die Gehsteige sauber gekehrt.

So ist es samstags bei der Stiefmutter und dem Vater. In unserem Garten im Dorf gibt es immer viel Arbeit. Kurz nachdem wir eingezogen waren, war der Garten noch verwildert. Gebüsch und Wiese wucherten über den Zaun. Das Gras stand meterhoch. Das Haus muss längere Zeit unbewohnt gewesen sein, deshalb blieb auch der Garten lange unbearbeitet.

Ich hatte nichts dagegen, dass es im Garten so wild aussah. Darüber regten wir Geschwister uns niemals auf. Die Stiefmutter hatte sich sehr darüber aufgeregt. Anfangs hatte ihr der Garten überhaupt nicht gefallen. Er war ihr viel zu verwildert und unordentlich. Deshalb hatte sie uns täglich hinunter geschickt, um Unkraut zu jäten. Später, nachdem wir das Gröbste beseitigt hatten, schickte sie uns nur noch am Wochenende in den Garten.

Das Unkraut hatte sie damals sehr geärgert. Es wucherte überall hervor. Es ärgerte sie, dass es auch zwischen ihren Tulpen und Geranien wucherte. Aber besonders hatte sie sich immer darüber aufgeregt, dass es auch zwischen den Steinplatten des Gartenweges wucherte. Schlimm für die Stiefmutter war auch das Unkraut, das unter der Treppenstufe vor der Haustür hervorsprießte.

Das alles musste säuberlich weggerissen werden. Die Stiefmutter hatte dieses Unkraut immer ganz schlecht gefunden. Es gehört nicht in ihr Bild, ihres Gartens, vor dessen Gartentürchen ein sauber gefegter Gehsteig liegt. Die Stiefmutter hatte dieses unordentliche Unkraut, diesen Schmutz im Bild unseres friedlichen Hauses mit seinem gefegten Gehsteig und dem sauberen Gartenweg nicht ertragen. Sie hatte uns gesagt, alles Unkraut müsse vernichtet werden, alles im Garten müsse sauber und ordentlich aussehen. Unkraut sehe unordentlich aus.

Unkraut im Garten und Schmutz auf dem Gehsteig hatten für die Stiefmutter etwas Anrüchiges. Ich glaube der Stiefmutter war es vor allem wichtig gewesen, dass unsere Nachbarn und die Dorfbewohner einen sauberen Garten vor unserem Haus sahen. Vielleicht musste der Garten wegen der Nachbarn sauber sein.

Manchmal hatte sie uns Kindern vorgeworfen, dass wir “nicht ganz sauber” wären. Was sie damit meinte, hatte ich nie verstanden. Doch jetzt fällt mir ein, dass es vielleicht auch mit dem Garten zu tun hatte. Der saubere Garten sollte die Nachbarn und Dorfbewohner beruhigen. Niemand sollte denken, in unserer Familie sei etwas “nicht ganz sauber” oder nicht in Ordnung. Ich glaube, die Stiefmutter hatte wirklich gedacht, das Unkraut wäre anrüchig. Vielleicht machte es ihr sogar Angst, weil es in ihren Augen so unordentlich ausgesehen hatte. Vielleicht wollte die Stiefmutter alles Unkraut weggerissen haben, weil sie Angst davor hatte, die Nachbarn könnten wegen eines ungepflegten Gartens auf uns aufmerksam werden. Vielleicht hatte sie Angst, dass dann die Nachbarn auf Vorgänge in unserem Haus aufmerksam werden. Die Nachbarn hätten vielleicht Rückschlüsse vom Garten vor unserem Haus auf mögliche Zustände in unserem Haus gezogen. Vielleicht hatte die Stiefmutter das mit dem penibel ordentlichen Garten, zu vermeiden gesucht.

Ob nun mit diesem sauberen Garten oder nicht, es fallen mir keine Anhaltspunkte dafür ein, dass bei uns zu Hause nicht alles so ist, wie es den normalen bürgerlichen Bedingungen irgendeiner anderen Familie dieses Dorfes entspricht. Tatsächlich glaube ich, dass es von den Nachbarn völlig falsch wäre, einem Irrglauben wegen unseres nicht ganz unkrautfreien Gartens zu verfallen. Nichts ist bei der Stiefmutter und dem Vater in unserem Haus “nicht sauber”. In unserem Haus ist alles sauber, weil alles von uns Geschwistern so gepflegt und gemacht wird, wie es die Stiefmutter befiehlt.

Jedem Befehl von ihr leisten wir Gehorsam. Zu Hause sind wir nicht aufmüpfig, wir sind nicht frech, wir sind nicht schmutzig und wir tun nichts, wenn es nicht befohlen wird. Wir unterbrechen Erwachsene nicht, wenn sie sprechen. Wir Kinder sprechen nur dann, wenn wir gefragt werden. Wir leben so, wie es die Erziehung von Stiefmutter und Vater fordert. Wir versuchen, uns genau so zu verhalten, wie sie es verlangen. Ich glaube, wir geben unser Bestes. Wir strengen uns an, den Forderungen von Stiefmutter und Vater gerecht zu werden. Wir sind absolut unterwürfig und folgsam.

Manchmal schaffen wir nicht alles, was verlangt wird. Zum Beispiel lernen wir das Schreiben in der Schule nicht so schnell und so gut, wie das in Deutschland vielleicht sein muss. Ein Grund für den Vater und die Stiefmutter, uns zu schlagen. Zu Hause tun wir alles, was Erwachsene verlangen. Zumindest versuchen wir es immer. Ich glaube, deshalb sind wir eine richtig gute normale Familie.

Es wäre wirklich ein Irrweg der Nachbarn, anderes zu denken. Was bei uns zu Hause los ist, ist alles völlig normal. Nichts widerspricht der Tradition der Nachbarsfamilien, des Dorfes oder dieses Landes.

Ich glaube, wir werden erzogen, wie die Stiefmutter und der Vater selbst erzogen wurden. Für uns gibt es keinerlei “Extrawürste”. Die Zügel werden aber auch nicht extrem fest angezogen. Die Zügel werden von der Stiefmutter und dem Vater in normaler, vielleicht “dorfüblicher” Manier von Zucht und Ordnung gehalten. Ich glaube, es gibt keine außergewöhnlichen Abweichungen in unserem alten Haus im Dorf. Was zu Hause gilt, gilt ja auch in der Schule. Auch der Lehrer in der Dorfschule schlägt manchmal zu. Es ist nichts Besonderes. Wahrscheinlich ist das Schlagen des Vaters und der Stiefmutter völlig normal.

Das Unkraut im Garten und der Schmutz auf der Straße vor unserem Haus werden regelmäßig von uns restlos beseitigt. Die Nachbarn und das Dorf werden niemals auf unsere Familie aufmerksam werden. Meine Familie ist normal und unauffällig, wie jede andere Familie im Dorf. So gesehen, ist überhaupt kein Grund dafür erkennbar, warum ich jetzt hier auf diesem Schotterhügel sitze. Vielleicht gibt es keine vernünftige Begründung dafür, dass ich jetzt vor der Bahnbaustelle stehe und hinüber auf die große Stadt blicke. Ich glaube, das kann mit Vernunft nicht begründet werden. Vielleicht sehe ich das so, weil ich finde, dass, was täglich zu Hause geschieht, auch nicht vernünftig zu begründen ist.

Kein Nachbar im Dorf, vielleicht kein Mensch in diesem Land, der durch das kleine Dorf spaziert, könnte einen vernünftigen Grund für meinen heutigen Marsch zur Oma erkennen.

Trotzdem bin ich heute auf der Flucht.

8. Pfeifenrauch

Als wir im vergangenen Jahr eingezogen waren, standen im Haus noch mehrere alte Möbel. Der Vormieter hatte sie zurückgelassen. Einige von ihnen ließ der Vater stehen, andere transportierte er ab und warf sie auf den Müll. Ins Wohnzimmer stellte er die Möbel aus seiner alten, kleinen Wohnung und einige neu gekaufte Möbel.

Das Haus ist schon sehr alt. Die Wände sind schief, die Decken hängen durch, sie sind rissig, hier und da bröckelt der Putz. Es ist ein altes Bauernhaus. Ich glaube, früher hatte es eine Bauernfamilie bewohnt. Das Haus ist viel geräumiger als die kleine Wohnung des Vaters. Es hat sechs Zimmer und eine große Küche. Die Räume werden mit Holzöfen beheizt. In manchen Zimmern gibt es keinen Ofen. So in unserem Kinderzimmer. Im Winter ist es dort eiskalt. Deshalb haben wir sehr dicke Bettdecken. Wenn wir uns abends schlafen legen, kriecht jeder von uns Geschwistern so schnell wie möglich unter seine Bettdecke, um warm zu werden.

Es wäre möglich mehr Öfen im Haus aufzustellen, damit es im Winter nicht so kalt ist. Aber auch das kostet viel Geld. Und dafür fehlt dem Vater das Geld. So sitzen wir im Winter gerne in der Küche und schälen Kartoffeln oder wir spülen Geschirr, denn es ist der wärmste Raum im Haus.

Als wir hergezogen waren, hatten wir im Dorf kein einziges Kind gekannt. Kinder, die wir im Ort, wo Vaters kleine Wohnung liegt, kennen gelernt hatten, konnten uns im Dorf nicht besuchen. Das Dorf ist zu weit entfernt. Es fahren zu wenig öffentliche Busse. So hatten wir anfangs keine Freunde. Die Dorfkinder lernten wir in der Dorfschulklasse kennen.

In der Dorfschule gibt es nur zwei Klassen. Mein Lehrer, Herr Götz, ist ein sehr strenger Lehrer. Ich glaube, er ist schon sehr alt. Er schickt mich manchmal aus dem Klassenzimmer. Er bestraft mich oft. Manche Unterrichtsstunde muss ich still in der Ecke neben dem Waschbecken stehen. Es gibt immer unterschiedliche Gründe für die Strafen. Ein Mal fehlen die Stifte in meinem Federmäppchen. Ein anderes Mal ist es mein Zuspätkommen am Morgen. Oft habe ich meine Hausaufgabe wieder nicht vollständig erledigt. Meistens ist es meine unvollständige Hausaufgabe. An ihr fehlt immer etwas. Nachmittags sitze ich zu Hause am Küchentisch. Die Stiefmutter will wissen, was ich für Hausaufgaben habe. Weil ich Angst habe, erzähle ich ihr nicht, dass Herr Götz noch viel mehr zu Schreiben aufgegeben hat.

Nachdem die Schulglocke läutet, gehe ich kurz auf die Schultoilette. Dort ziehe ich mein Hausaufgabenheft aus dem Schulranzen. Die richtigen Seitennummern, die ich vormittags im Unterricht eingetragen hatte, radiere ich wieder aus und ersetze sie. Ich bin sehr schlecht im Schreiben. Meine Hände zittern zu stark. Weil ich für das Abschreiben von nur einer Seite aus dem Schulbuch, schon mindestens zwei Stunden nachmittags neben der schreienden Stiefmutter am Küchentisch sitzen muss, kann ich unmöglich die fünf oder sechs Seiten erledigen, die mein Lehrer Götz als Hausaufgabe aufgibt.

In der alten Dorfschule bekomme ich Ohrfeigen, wie von der Stiefmutter, wenn ich etwas tue, das den Lehrer Götz besonders aufregt. Meistens reicht schon die fehlende Hausaufgabe. Jeden Morgen betrete ich das große Klassenzimmer. In der Türschwelle weiß ich schon, dass es wieder eine Strafe von Herrn Götz für mich gibt. Als Hausaufgabe habe ich zu wenige Seiten aus dem Lesebuch abgeschrieben.

Einmal hatte ich etwas besonders Schlimmes getan. Morgens kam ich wie jeden Tag in mein Klassenzimmer. Ich stank fürchterlich. Herr Götz war schon hinter seinem Pult gestanden. Im dicken Lesebuch blätterte er. Er suchte die Seite, auf der er tags zuvor mit dem Lesen aufgehört hatte. Ich trat über die Türschwelle und lief schnell an ihm vorbei. Ich wollte nach hinten laufen zu meinem Platz. Im Vorbeigehen am Lehrerpult schnappte Herr Götz mich an meiner Jacke. Er zog mich dicht an sich heran. Er schnüffelte an mir herum. Ich hörte seine dumpfe, tiefe Stimme: “Kerle, das glaubscht doch selber nedde! Du Bürschle haschd doch ned ebbas graucht heut morge, scho vor da Schul? Oder nach was schtinkscht ‘n du sonscht?”

Regungslos, wie sonst vor dem Vater, stand ich vor dem Lehrer. Das war der Moment, in dem der Lehrer heftig zuschlug. Den Vormittag lang hatte ich in der Ecke beim Waschbecken zu stehen.

Tatsächlich hatte ich mir an diesem Morgen etwas Unglaubliches geleistet. Als ich das Dorfschulhaus betrat, war mir schlecht. Ich ging zur Toilette, wo ich mich übergab. An diesem Morgen war die Stiefmutter mit dem Vater zusammen im weißen Käfer in die Stadt gefahren. Bevor ich mit Matthias das alte Haus Richtung Dorfschule verließ, nahm ich eine von Vaters Pfeifen vom Schrank. Ich stopfte die Pfeife, so wie ich es beim Vater oft beobachtet hatte. Bis zum Rand füllte ich sie mit Tabak und drücke den Tabak mit seinem silbernen Pfeifenstopfer fest. Ich rauchte sie auf unserer Toilette zu Hause.

Wir haben zwei Toiletten, eine ist im Haus und die zweite ist auf der Rückseite des Hauses, hinter der Küche. Dort kann man ein großes Fenster nach draußen öffnen. Nur Matthias und ich waren noch im Haus. Bei geöffnetem Fenster saß ich auf der Toilette und paffte vor mich hin. Heute, wo ich mich an diesen Morgen erinnere, wundere ich mich: Warum traute ich mich so etwas? Hatte ich an diesem Morgen keine Angst? Vaters Pfeife rauchen! Unglaublich! Trotzdem war es ein Spaß! Jetzt muss ich ein bisschen schmunzeln, über mich an diesem Morgen. Wie unglaublich dumm ich da war!

Schon nach den ersten Schritten auf der Dorfstraße Richtung Schule wurde mir sehr schlecht. Auch nachdem ich mich auf der Schultoilette übergeben hatte, wurde es nicht besser.

Zu Hause am Mittag war mir immer noch schlecht. Die Stiefmutter wusste schon, was los war. Der Lehrer hatte bereits angerufen. So ist es im Dorf. Es gibt keine Geheimnisse. Deshalb hatten wir in der Schule nie etwas von zu Hause erzählt. Es war niemals sicher, wen der Lehrer anruft. Es war niemals sicher, wann er anruft. Stets bestand die Gefahr, dass er die Stiefmutter bereits angerufen hatte. Auch an diesem Tag hatte sich diese Gefahr bestätigt.

Natürlich hatte der Lehrer auch bemerkt, dass ich in meinem Hausaufgabenheft oft herumradierte. Hin und wieder rief er deshalb die Stiefmutter an. Sie kontrollierte dann mein Hausaufgabenheft und prügelte die ausradierte Hausaufgabe aus mir heraus. So hatte ich nachmittags immer weniger Zeit. Die freie Zeit im Versteck, in der alten Scheune wurde immer weniger. Die Hausaufgabenzeit mit der plärrenden Stiefmutter wurde immer länger.

Zum Glück konnte sie an diesem Tag nicht wissen, dass ich Vaters Pfeife geraucht hatte. Ich hatte das in der Schule nicht dem Lehrer gesagt, so konnte der es ihr am Telefon auch nicht sagen.

Mittags empfing mich die Stiefmutter unten an der Haustür. Sie schlug so zu, wie ich es kannte. Sie schrie so, wie sie es beinahe täglich tat. Wegen ihrem hohen Geschrei verstand ich sie kaum. Es war klar, was sie wissen wollte. Ich hörte sie kreischen: “Wo hascht du die Zigaredden geklaud? Des Klaun und Lügn wer i dir no austreim!”

Auf dem Weg von der Schule hatte ich mit Matthias ausgemacht, dass er mich nicht verrät. Es war klar, dass die Stiefmutter versuchen würde, auch aus ihm etwas herauszuprügeln. Tatsächlich schlug sie bereits unten an der Haustür auch auf ihn heftig ein. Mit Matthias hatte ich ausgemacht, dass ich morgens auf dem Schulweg ein paar Zigaretten gefunden hatte, sie wären einfach vor mir auf der Straße gelegen.

Die Stiefmutter hatte uns die Treppe hinaufgezerrt. Im Korridor zum Esszimmer schlug sie weiter auf mich ein. Jetzt behauptete ich, dass ich die Zigaretten auf der Straße gefunden hätte. Das glaubte sie nicht. Es war der Anlass mich ins Kinderzimmer zu zerren und noch heftiger auf mich einzuschlagen. Sie plärrte: “Lügen und au no frech sein! Des werma dir scho no austreim! Dei Vadder wirds da heut abend scho zoign!” Ich stand vor ihr, heulte und ich sagte, es sei nicht gelogen. Ich wiederholte, ich hätte eine Schachtel gefunden, in der noch zwei Zigaretten gewesen seien. Wo ich das Feuer her gehabt hätte, wollte sie wissen. Daran hatte ich nicht gedacht! Weil ich darauf nichts sagte, schlug sie noch heftiger auf mich ein. Sie wiederholte, dass sie sich nicht belügen lasse und dass der Vater es abends schon zeigen werde. Wieder schrie sie mich wegen des Feuers an. Jetzt antwortete ich. Ich sei schnell zurück nach Hause gelaufen. Ich hätte mir die erste Zigarette mit Vaters Feuerzeug angezündet. Das war eine Unverschämtheit! Vaters Feuerzeug zu benutzen! Sie schlug weiter zu. Ich konnte nicht mehr reden. Obwohl ich nichts mehr tun konnte, kreischte und schlug sie weiter.

Bei solchen Auseinandersetzungen hatte es zu Hause keinen frühzeitigen Abbruch gegeben, bevor nicht das Ziel erreicht war. Die Stiefmutter kreischte weiter, obwohl ich nicht mehr konnte. Sie schlug weiter auf mich ein, sie schrie weiter. Ich soll sie nicht anlügen, ich soll endlich sagen, woher ich die Zigaretten und das Feuer hätte. Ich konnte mich nur wiederholen, denn es wäre eine Katastrophe geworden, wenn ich zugegeben hätte, dass ich Vaters Pfeife geraucht hatte. Es sei die Wahrheit, die Zigaretten hätte ich gefunden, das Feuer sei von Vaters Schrank gewesen.

Obwohl Matthias unschuldig war, wurden wir beide bestraft. Das hatte die Stiefmutter, seitdem ich sie kenne, immer so gemacht. Ihr ist es wichtig, dass wir Geschwister alle Angst vor ihr haben. So will sie erreichen, dass wir uns gegenseitig verraten. An diesem Nachmittag hatte sie das nicht erreicht. Matthias verriet mich nicht. Er hielt sich an unsere Absprache, obwohl die Stiefmutter auch ihn heftig verprügelte. Das Haus durften wir an diesem Nachmittag nicht verlassen. Wir schrieben den ganzen Nachmittag über in unsere Hefte. Wir saßen neben der keifenden Stiefmutter am Küchentisch. So warteten wir, bis abends der Vater kam. Wir hatten genau gewusst, was dann auf uns zukam.

Zu Hause gibt es kein Entrinnen. Vater und Stiefmutter entkommt keiner von uns. Wir finden keine Ruhe vor den beiden. Im Laufe der Zeit wird es immer schlimmer. Denn mit der Zeit sammelt sich immer mehr an, was das Leben zu Hause unerträglich macht.

Ich war sehr froh, dass Matthias nichts von der Pfeife auf der Toilette erzählt hatte. Ich glaube, es wäre wirklich eine unbeschreibliche Katastrophe geworden, wenn das herausgekommen wäre, denn der Vater war abends sehr wütend gewesen. Ich hatte die Pfeife sauber geputzt in das Regal zurückgelegt. Als der Vater abends nach Hause gekommen war, erzählte ihm die Stiefmutter sofort alles. Der Vater fragte nicht lange weiter nach. Er verstand sofort, dass ich etwas sehr Schlimmes getan hatte und vor allem, dass ich die Stiefmutter belogen hatte.

Für den Vater ist Ehrlichkeit das Allerwichtigste in diesem Leben. Ich glaube, es ist für ihn unerträglich, zu wissen, dass seine Kinder lügen. Ich glaube, der Vater denkt, dass deshalb, weil wir manchmal lügen, aus uns Kindern, wenn wir erwachsen sind, schlimme Verbrecher werden. Mit seinem Prügeln will er erreichen, dass wir aufhören zu lügen. Mit seinen Schlägen erreicht er das niemals. Der Vater versteht nicht, dass ich lüge, weil ich Angst habe. Ich lüge nicht, weil ich andere bestehlen will oder gar Verbrecher werden will. Sondern ich lüge, weil mir nichts anderes einfällt, um mich vor dem Vater und der Stiefmutter zu schützen. Er versteht nicht, dass ich manchmal sogar lüge, weil ich fürchte, von ihm totgeschlagen zu werden. Wenn ich nicht die Wahrheit sage, wenn ich nicht verrate, dass ich morgens seine Pfeife geraucht habe, dann schlägt er nicht so fest zu. Nur dann wird er mich nicht totschlagen. Ich werde kein Verbrecher werden, weil ich lüge. Der Vater versteht das nicht.

Der Vater hatte abends zuerst mit der Hand auf uns eingeschlagen, dann zog er uns in unser Schlafzimmer. Der Gürtel aus der Hose lag schon in seiner Hand. Ich war als erster dran, denn ich hatte die Sache ja ausgefressen. Wie immer musste ich mich über den Stuhl legen. Der Vater schlug zu.

Der Vater schrie, er werde so lange schlagen, bis wir uns das Lügen abgewöhnten. Das Lügen hätten wir im Kinderheim gelernt. Bei ihm gäbe es so etwas aber nicht. Er werde uns zu ehrlichen Kindern erziehen.

Wir hatten ohrenbetäubend laut geschrieen an diesem Abend, denn die Schläge waren besonders kräftig. Mein großer Bruder Mark war noch nicht zu Hause gewesen. Den ganzen Nachmittag hatte ich gehofft, dass er vor dem Vater kommt. Er konnte nicht vor dem Vater zu Hause sein. Seine Arbeit hatte immer länger gedauert als die des Vaters, und mit dem Mofa konnte er nicht so schnell nach Hause fahren, wie der Vater mit dem Käfer.

9. Christians Geburtstag

Immer noch sitze ich oben auf dem Schotterhügel vor der Bahnbaustelle. Die Stadt sehe und höre ich vor mir. Eine Kirchturmuhr schlägt elf Mal. Ich bleibe hier, bis es Mittag wird. Dann werden die Geschäfte schließen und dann wird auch der Vater seine Suche nach mir in der Stadt aufgeben. Der Vater könnte auch bei geschlossenen Geschäften in der Stadt nach mir suchen. Also bleibe ich nicht wegen der Geschäfte bis zum Mittag hier sitzen. Ich bleibe hier, weil ich noch eine Zeit ausruhen muss.

Der heutige Tag ist mein dritter Fluchtversuch. Ich hoffe, dass das Sprichwort: “Alle guten Dinge sind drei”, heute für mich wahr wird und mein heutiger dritter Versuch klappen wird. Als ich das zweite Mal von zu Hause fortgelaufen war, war Matthias wieder mit dabei. Wieder waren wir nach der Schule nicht nach Hause gegangen. Aber wir hatten aus dem ersten missglückten Fluchtversuch gelernt und blieben nicht auf der Landstraße. Direkt unterhalb unseres Dorfes gibt es einen breiten Forstweg, den Matthias kannte. In einem kilometerweiten Bogen führt der Weg an der Stadt vorbei. Stundenlang waren wir auf diesem Weg unterwegs gewesen. Meine Zweifel wurden immer größer. Ich fragte Matthias immer öfter, ob er noch glaube, dass der Forstweg zu dem Ort führt, oberhalb dem die Oma wohnt. Ich hatte Angst, dass wir uns verlaufen. Matthias blieb zuversichtlich. Er hatte mich immer wieder beschwichtigt. Tatsächlich behielt er Recht. Nach vielen Stunden, als die Abenddämmerung schon eingesetzt hatte, endete der Forstweg an einer schmalen geteerten Straße.

Die schmale Straße führte einen steilen Abhang hinunter in ein kleines Tal. Von oben erkannten wir, dass unten tatsächlich der richtige Ort lag. Es war der Ort, in dem wir vergangenes Jahr die ersten Wochen beim Vater in seiner engen Wohnung gewohnt hatten. Auf der anderen Seite des Tals erkannten wir den Berg, auf dem das Haus von Oma liegt.

Unsere Freude war riesig. Die vielen Stunden auf dem Forstweg durch den Wald hatten sich gelohnt! Wir hatten uns nicht verlaufen. Schnell liefen wir die Teerstraße hinunter in den Ort. Als wir unten ankamen, war es bereits finster.

Ein kalter, aber sonniger Januartag lag hinter uns. Nach dem Sonnenuntergang wurde es eisig kalt. Es war der Geburtstag von meinem Bruder Christian. Doch das war mir erst am Ende dieses langen Tages eingefallen.

Unten im Ort wurden wir von einem Erwachsenen angesprochen. Er fragte, ob wir uns verlaufen hätten. Ich glaube, er sprach uns an, weil wir unsere Schulranzen mit uns trugen und es doch schon Abend geworden war. Wir antworteten brav. Wir erklärten, dass wir länger Schule gehabt hätten und wir behaupteten, dass wir gleich um die nächste Ecke wohnten. Der Erwachsene war mit unserer Antwort zufrieden und ging weiter. Auch wir gingen weiter.

Erst einige Minuten später bemerkten wir, dass es mit unserer Ankunft im Ort stockdunkel geworden war. Ich wusste, dass die schmale Straße hinauf zur Oma nachts unbeleuchtet ist. Das fiel mir wieder ein, als ich die Dunkelheit in dem Ort sah. Ich glaube, weil mir das eingefallen war, verlor ich plötzlich den Mut. Ich hatte Angst, weiterzugehen wegen der finsteren Straße hinauf zur Oma. Wir waren sehr abgekämpft und müde von dem langen Fußmarsch. Wir hatten Hunger, und es war eisig kalt und dunkel. Der ganze Mut, den wir oben am Hang noch gespürt hatten, weil wir richtig gelaufen waren, war plötzlich verschwunden.

In der Nähe kannten wir einen Kaugummiautomaten. Wegen unseres Hungers dachten wir darüber nach, ob wir hingehen sollten, um ihn aufzubrechen. Weil das sehr dumm und auffällig gewesen wäre, ließen wir es. Mit den Kaugummis hätten wir unseren Hunger nicht vernünftig stillen können. Der Automat hängt an einer Hausecke, direkt an der Hauptstraße. Hätten wir ihn geknackt, wären sicher alle Kaugummis auf die Straße gerollt.

Unser Mut war gewichen. Wegen unseres Hungers und der Kälte kamen uns solch dumme Dinge in den Sinn. Aber wir waren noch gescheit genug, so etwas Blödes nicht zu tun. Weil wir nicht wussten, was wir tun sollten, drückten wir uns auf dem Hof hinter irgendeinem Haus herum.

Dort dachten wir beide laut darüber nach, unsere Flucht aufzugeben. Aber keiner von uns traute sich, vorne an der Haustür des fremden Hauses zu läuten. So liefen wir eine Zeitlang verzweifelt in der Kälte hinter dem Haus auf und ab. Bereits nach wenigen Minuten entdeckte uns jemand. Eine Frau öffnete ein Fenster im ersten Stock. Von oben rief sie hinunter: “Was macht ihr denn da unten?” Ich rief hinauf: “Nichts. Wir schauen hier nur ein bisschen herum.” Es war eine sehr dumme Antwort, doch mir war nichts anderes eingefallen. Außerdem wollte ich, dass die Frau zu uns herunterkommt. Ich wollte, dass sie uns in ihre warme Wohnung holt. Ich glaube, Matthias wollte das auch. Er sagte nichts, sondern er nickte der Frau da oben nur freundlich zu. Die Frau rief hinunter: “Was gibt’s hier denn zu Schauen? Habt ihr da eure Schulranzen auf den Rücken?” Wir beide nickten freundlich hinauf zu der Frau. Die Frau fragte: “Wo kommt ihr denn her, um diese Zeit, wo wohnt ihr denn?” Ich rief laut hinauf: “Wir haben uns verlaufen, nach der Schule!” Jetzt lehnte sich die Frau etwas weiter aus ihrem Fenster. Ungläubig rief sie zu uns hinunter in den dunklen Hof: “So lange habt ihr euch verlaufen? Das gibt’s ja gar nicht! Wo wohnt ihr denn?” Jetzt war mir endgültig klar geworden, dass die Flucht an diesem kalten Tag mit Matthias gescheitert war. Wir scheiterten an der Kälte, an der Dunkelheit und an unserem Hunger. Ich dachte daran, dass wir von der Frau sicherlich etwas zu essen bekommen, wenn sie uns in ihre warme Wohnung hinauf holte, vielleicht würde sie uns sogar zur Oma bringen. Aus dem Hof rief ich zu ihr hinauf: “Wir wohnen in Zweiflingen! Wir sind in den Wald gelaufen und haben nicht wieder nach Hause gefunden!” Die Frau hatte immer noch nicht verstanden, dass sie etwas für uns tun muss. Sie rief: “Ja in Zweiflingen! Das ist ja ein schönes Stück weit weg! Das gibt’s doch gar nicht!” Die Frau lehnte sich noch weiter hinaus. Weil sie immer noch nicht sagte, dass wir zu ihr hinauf kommen sollten, rief ich: “Doch! In Zweiflingen wohnen wir! Und jetzt ist uns saukalt!” Jetzt wusste die Frau über uns bescheid. Sie rief hinunter in den Hof: “Wartet da unten, ich komme runter!” Sie Schloss ihr Fenster. Das Licht hinter dem Fenster ging aus. Nur Sekunden später erschien sie im Hof. Sie trug einen dicken Mantel. Sie sagte: “So, ich bringe euch jetzt zu einer Polizeistation!”

Mich hatte eine Polizeistation sehr interessiert, weil ich noch nie auf einer gewesen war, trotzdem antwortete ich der fremden Frau: “Wir wollen aber lieber zur Oma! Die wohnt nicht weit, da oben am Berg!” Das interessierte die Frau nicht. Sie nahm uns beide an der Hand. Sie brachte uns über die Hauptstraße zur Polizei. Dort bekamen wir zu essen und zu trinken. Bei einem Polizisten warteten Matthias und ich in einem beheizten Zimmer. Die Polizeistation war uninteressant. Ich sah nur diesen einen Polizisten und dieses eine, langweilige Zimmer.

Nach einiger Zeit kamen zwei Leute, eine Frau und ein Mann. Wir kannten sie nicht. Sie fragten uns, warum wir von zu Hause abgehauen waren. Wir erzählten ihnen, dass wir zu Hause immer Angst hätten.

Schließlich brachten uns die Frau und der Mann in einem gelben VW-Passat zurück ins Dorf. Sie parkten ihren Wagen neben Vaters weißem Käfer. Sie gingen mit uns ins Haus. Sie verschwanden mit der Stiefmutter und dem Vater im Wohnzimmer. Dort sprachen sie eine Zeitlang miteinander. Mark war noch nicht zu Hause gewesen, aber Christian saß in der Küche.

Christian saß am Küchentisch. Er begrüßte Matthias und mich nicht. Stattdessen zog er ein Gesicht, wie ich es an ihm kenne, wenn er sehr wütend und sauer auf mich ist. Er war sehr beleidigt und er hatte einen guten Grund. Der Tag war sein Geburtstag.

Heute darf ich auf keinen Fall auf eine Polizeistation gebracht werden. Auch heute würde ich sicherlich ins Dorf zurückgebracht werden. Ich muss es diesmal unbedingt schaffen. Die Oma wird mir bestimmt helfen. Sie hatte uns früher schon so viel geholfen. Vielleicht kann ich bei ihr wohnen. Bei ihr wohnen ja noch mehr Kinder. Ich muss heute die Oma unbedingt erreichen, anders geht es heute auf keinen Fall.

Der Geburtstag war überhaupt nicht schön für Christian. Wegen des Ärgers, den Matthias und ich angerichtet hatten, tobte die Stiefmutter den ganzen Nachmittag durch das Haus. Der Vater hatte uns den ganzen Tag mit dem Auto gesucht. Christian bekam kein Geburtstagsgeschenk. Matthias und ich hatten seinen Geburtstag versaut.

Hätten die Stiefmutter und der Vater meinem Bruder Christian an diesem Geburtstag etwas geschenkt, wenn Matthias und ich nicht fortgelaufen wären? Christian muss es gehofft haben. Ich glaube, er hoffte auf ein winziges Geschenk. Vielleicht hatte er auf etwas Geld gehofft. Vielleicht hatte er an zwei Mark gedacht. Nein, das ist sehr unwahrscheinlich. Christian weiß, dass die Stiefmutter und der Vater kaum Geld haben. Vielleicht hatte er auf eine Tafel Schokolade gehofft, wie wir sie zu Weihnachten bekommen hatten.

Jeder von uns bekam zu Weihnachten eine große Tafel. Mich hatte das sehr überrascht, denn ich hatte nichts erwartet. An Geburtstagen gibt es zu Hause nie etwas Besonderes. Es gibt keinen Kuchen, keine Kerze und keine Geschenke. Deshalb hatte ich auch für den Weihnachtsabend nichts erwartet. Das einzige: Ich hatte auf einen ruhigen Abend gehofft, sonst nichts. Dass es eine Tafel Schokolade für jeden gab, freute mich deshalb sehr. Wir legten die Schokolade in unsere Kleiderschränke, ins kühle Kinderzimmer. Wir teilten sie uns gut ein, sie reichte wochenlang.

Jetzt fällt mir ein warum Christian am Abend seines Geburtstages so sauer gewesen war und Matthias und mich in der Küche mit so einem grimmigen Blick empfangen hatte. Ich stelle mir das so vor: Christian hatte an diesem Tag kein Geburtstagsgeschenk erwartet. Nein, ich glaube es ging ihm genauso, wie es mir an Weihnachten gegangen war. Er hatte nur auf etwas Ruhe an diesem Tag gehofft. Er hatte gehofft, dass die Stiefmutter und der Vater ihn an diesem Tag in Ruhe ließen, sonst nichts. Christian besucht schon die Hauptschule in der Stadt. Morgens fährt er mit dem Bus um kurz nach sieben Uhr dort hin. Nachmittags kommt er spät nach Hause. Immer hat er lange Unterricht. Er versucht, so spät wie nur möglich nach Hause zu kommen. Ich glaube, an seinem Geburtstag war er nachmittags schon früher unterwegs nach Hause gewesen. Weil er Geburtstag hatte, brauchte er sicherlich nicht in den Konfirmandenunterricht zu gehen. Auf dem Heimweg von der Bushaltestelle dachte er über den vor ihm liegenden Nachmittag nach. Vielleicht dachte er: Heute wird es ein ruhiger Nachmittag für mich werden. Denn heute habe ich ja Geburtstag. Die Stiefmutter wird heute nicht um sich schlagen, denn sie weiß: Ich habe Geburtstag. Das ist schön, darauf freue ich mich. Ich werde mich mit diesem kleinen Comicheftchen, das mir ein Klassenkamerad geliehen hat, ins Wohnzimmer neben den warmen Holzofen setzen. Ich werde den Nachmittag im Sessel sitzen und in Ruhe dieses Comicheftchen lesen können. Die Stiefmutter wird mich in Ruhe lassen, denn sie weiß, dass ich heute Geburtstag habe. Sie wird mich nicht ankeifen, sie wird mir nicht meine Schulhefte um die Ohren schlagen, sie wird mir nicht ins Gesicht schlagen. Es wird ein anderer Nachmittag sein als sonst. Deshalb komme ich schon so früh nach Hause. Die Stiefmutter wird mich in Ruhe sitzen und lesen lassen. Ich freue mich auf meinen ruhigen Geburtstagsnachmittag.

Jetzt stelle ich mir Christian vor, wie er an diesem Tag vor unserer Haustür steht. Seine Hand liegt schon am Griff, er möchte sie gerade aufdrücken. Plötzlich wird sie von innen aufgerissen. Da steht die Stiefmutter vor ihm. Sie trägt ihre dunkelbraunen Filzpantoffeln und den grünen Haushaltskittel. Sie begrüßt ihn nicht. Ihr Gesicht sieht nicht freundlich aus. Sie lächelt das Geburtstagskind nicht an. Ihr Gesicht sieht gehässig aus. Ihr Gesicht trägt tausend Falten. Doch es sind keine Sorgenfalten. Es sind Falten, in denen Christian den Hass dieser Frau sieht. Sie macht sich keine Sorgen um uns Kinder, sondern sie hasst uns. In der Haustür keift die Stiefmutter Christian an: “Hascht du deine zwee Brider gsähä? Die sin net hoim kumme, von da Schul!”

Eine Antwort von Christian erwartet sie nicht. Die Stiefmutter zerrt Christian, wie einen der etwas sehr Schlimmes angestellt hatte, am Jackenkragen ins Haus. Sie plärrt das Geburtstagskind auf der Treppe an: “Du hascht denen beschtimmt an Tip gäbä! Von aloi kumme die doch nede uf die Idee nochamal abzuhaua!”

Ich glaube, so könnte es gewesen sein an Christians Geburtstag. Christian hatte nichts erwartet. An seinem Geburtstag hatte er nur auf Ruhe gehofft.

10. Die Zeit ist abgelaufen

Mein Bruder Mark ist jetzt in einem strengen Erziehungsheim. Das hatten der Vater und die Stiefmutter in den letzten Wochen beinahe täglich erzählt. Auch wir kommen in ein Erziehungsheim, wenn wir noch mal abhauen, so hatten sie gedroht. Wir sollten uns nicht einbilden, dass wir wieder zurück in das normale Heim in den Gebirgsort kommen. Das sei für uns für immer gestorben. Wenn wir noch mal zu Hause abhauen, dann ginge es uns genauso dreckig wie unserem großen Bruder. Der hätte jetzt nichts mehr zu lachen. Der wäre jetzt für sein ganzes Leben „erledigt“. Der komme aus dem Erziehungsheim nie wieder heraus. Da werde ihm beigebracht, dass er gegenüber Erwachsenen nicht so frech zu sein habe, wie er es zu Hause gewesen sei.

Ich finde nicht, dass Mark zu Hause frech zu Stiefmutter und Vater gewesen war. Er war viel zu wenig zu Hause, um frech zu sein. Vielleicht hatte er zu wenig Geld hergegeben, vielleicht hatte er in seiner Maurerlehre nicht ordentlich gearbeitet, vielleicht war er manchmal zu spät zur Arbeit gekommen, aber frech? Das hatte ich nie beobachtet.

Ich hatte ihn meist am Wochenende gesehen. Da war er zu Hause und er war immer freundlich zu Stiefmutter und Vater gewesen. Er arbeitete wie wir im Haus, in der Küche, im Garten und er kehrte auf dem Gehsteig. Mit uns spielte er. Er hatte immer Ideen für interessante Spiele im Freien oder im Haus. Wenn Mark zu Hause war, blieb alles ruhig. Die Stiefmutter schrie nicht, der Vater schlug nicht. Mark war nicht frech zu Erwachsenen. Er war für uns, seine jüngeren Geschwister, der große Bruder. Wenn er im Haus war, hatten wir kaum Angst. Vielleicht war es das gewesen, was die Stiefmutter und der Vater meinten. Vielleicht meinten sie, dass Mark frech gewesen sei, weil er uns oft geholfen hatte, indem er einfach da gewesen war. Wegen ihm hatten sich die Stiefmutter und der Vater nicht getraut, hemmungslos auf uns einzuschlagen. Vielleicht war das der Grund, weshalb sie ihn in dieses Erziehungsheim geschickt hatten.

Seit Mark weg gegangen war, war es zu Hause noch schlimmer geworden. Seit diesem Zeitpunkt hatten der Vater und die Stiefmutter uns jederzeit geschlagen, auch am Wochenende. Die Stiefmutter schlug mich auch am Samstag, wenn ich im Haus geputzt hatte, oder sie schlug auf mich ein, nachdem ich auf der Straße vor der Türe gekehrt hatte. Hatte ich das nicht ordentlich genug gemacht, und wie es ordentlich war, das bestimmte stets die Stiefmutter, dann gab es ihre Ohrfeigen, es gab Schläge und Tritte von ihr. Seit Mark weg gegangen war, hatte uns die Stiefmutter permanent beobachtet. Ich hatte das Gefühl, dass sie alles sah, was ich tat. Vor allem am Wochenende war sie stets dicht in meiner Nähe.

Oben im zweiten Stock, gegenüber dem leeren Zimmer von Mark, wohnt ihr Sohn Paul. Paul ist oft unterwegs. Ich weiß nicht wohin. Er fährt abends mit seinem Wagen, einem gelben Opel weg und kommt erst am nächsten Tag gegen Mittag wieder. Auch das Zimmer von Paul kehren wir am Samstagvormittag.

Es war am vergangenen Wochenende gewesen. Ich hatte oben im Zimmer von Paul gefegt. Die Stiefmutter hatte mich vom Treppenabsatz an Pauls Zimmertüre genau beobachtet. Unter dem Tisch hatte ich schlecht gekehrt. Die Stiefmutter sah dort Haare und Staub. Nachdem ich alles auf die Schaufel gekehrt hatte, sprang die Stiefmutter plötzlich ins Zimmer, sie griff unter den Tisch, hob dort etwas auf und hielt es mir vors Gesicht. Sie schrie: “Was isch das? Du hascht doch grad erscht da unde gekehrd, oder?” Ich stand vor ihr mit meinem Besen. Ich sagte nichts. Sie schlug mir ins Gesicht. Ich nahm den Besen, schob ihn unter den Tisch und kehrte noch mal alles hervor. Den Dreck schob ich auf die Kehrschaufel und kippte ihn in Pauls Abfalleimer. Sie beobachtete mich genau.

Wäre Mark nicht weg gewesen, hätte sie nie am Samstagvormittag zugeschlagen. Am liebsten hätte ich ihr den Besenstil ins Gesicht geschlagen. Das ging nicht, dann hätte sie oder der Vater mich totgeschlagen. Also bemühte ich mich, alles so gut und richtig zu tun, wie ich es konnte. Es hatte ihr auch nicht gepasst, wie ich den Dreck in Pauls Mülleimer kippte. Ich zitterte, und es fiel etwas Sand daneben auf den gekehrten Fußboden. Sofort schlug sie mir von hinten auf den Kopf.

Ich hatte keine Chance mehr. Das wurde vergangenes Wochenende klar. Seit Mark gegangen war, gab es keinerlei Schutz mehr vor dieser Frau. Es gab keine Ruhepause mehr. Ich konnte machen, was ich wollte, alles war falsch gewesen. Alles was ich tat, war so schlecht gewesen, dass die Stiefmutter zuschlagen konnte, wann und wie sie wollte.

Meine Zeit im Haus von Stiefmutter und Vater war abgelaufen, nachdem Mark gegangen war. Es hätte nur eine Möglichkeit gegeben: zurückschlagen. Das allerdings wäre mein Ende gewesen.

11. Es geht uns gut

Jetzt sehe ich einen Mopedfahrer. Langsam kommt er näher. Er sieht mich nicht. Vielleicht sollte ich weiter gehen. Vielleicht sollte ich nicht bis Mittag auf dem Schotterhügel warten. Vielleicht sieht mich ja doch irgendjemand. Vielleicht taucht plötzlich der Vater im weißen Käfer auf. Ich stehe auf und gehe langsam weiter. Vielleicht steht drüben in der Neubausiedlung jemand hinter einem Vorhang und beobachtet mich schon die ganze Zeit. Das kann ich nicht wissen. Vielleicht ist die Polizei schon unterwegs wegen mir. Vielleicht fragt sich drüben, hinter der Bahnbaustelle, in irgendeinem Neubau ein Mensch hinter einem Storevorhang: “Was macht der kleine Bursche da oben auf dem Schotterhügel so lange? Warum sitzt der da? Warum glotzt der so lange runter auf die Baustelle, wo dort doch nichts los ist?”

Ich klettere den Abhang hinunter. Ich gehe am Schotterhügel entlang. Den Mopedfahrer höre ich. Jetzt sehe ich ihn. Er kommt mir entgegen. Falle ich ihm auf? Hoffentlich nicht. Ich grüße ihn, wenn er vorbeifährt. Der Mopedfahrer soll glauben, dass ich hinter den Gleisen in einem der Neubauten wohne. Ich latsche hier nur ein bisschen herum. Jetzt ist er schon ganz nah. Ob er stehen bleibt und fragt was ich hier mache? Was soll ich antworten? Ich sage, ich gehe hier spazieren. Nein, das ist zu einfach. Warum sollte ich hier spazieren gehen? Jetzt wird der Mopedfahrer langsamer. Sein Motor knattert. Jetzt sieht er mich an. Ich nicke und schaue freundlich. Auch er nickt. Ich sehe sein Gesicht nicht. Er trägt einen schwarzen Sturzhelm. Er fährt dicht an mir vorbei, ohne etwas zu fragen.

Ich klettere wieder den Hügel hinauf. Drüben steige ich hinunter. Schnell springe ich über die Gleise. Es kommt kein Zug. Die Gleise sind noch nicht in Betrieb. Bahngleise darf man nicht überqueren. Aber ich bin ja auf der Flucht. Hier kann kein Zug kommen. Ich erreiche einen schmalen Weg in der Wiese. Langsam schlendere ich auf dem Weg. Ich tue so, als wohne ich in diesen Neubauten. Ich habe keine Eile. Ich komme von der Bahnbaustelle. Die finde ich interessant, denn ich bin ein zehnjähriger Bub. Zehnjährige Buben interessieren sich für riesige Baumaschinen, wie sie dort stehen. Ich erreiche die ersten neuen Häuser. Auf dem gefegten Bürgersteig sehe ich niemanden. Ein Besen lehnt an einem Gartentor. Der Samstagvormittag ist jetzt vorbei. Der Bürgersteig ist gekehrt. Die Straße flimmert in der Sonne. Ich höre das Klappern von Geschirr. Familien sitzen beim Mittagessen. Kein Kind spielt auf der Straße.

Ich spüre meinen Magen. Er ist leer. Gerne würde ich jetzt etwas essen, aber ich habe nichts. Ich halte es leicht einen Tag ohne Essen aus. Ich hatte heute Morgen nicht daran gedacht, dass ich Hunger bekommen würde. Jetzt rieche ich gekochtes Mittagessen. Es riecht aus den geöffneten Fenstern. Ich habe Hunger.

Viel zu gefährlich wäre es gewesen, heute Morgen in die Küche zu gehen. In der Küche gibt es den Brotkasten. Es steht links auf dem Küchenbuffet. Aus der Küche hätte ich etwas zu Essen holen können. Mein Plan hatte die Küche aber nicht vorgesehen. In der Küche schläft Rati unser Dackel. Sicherlich wäre er aufgewacht. Er hätte Lärm gemacht. Das konnte ich nicht riskieren. Ich komme leicht einen Tag ohne Essen aus.

Vom Lehrer in der Schule hatte ich einmal von Kindern gehört, die in Afrika hungern müssen. Dort müssen die Kinder immer ohne Essen auskommen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie das geht. Weil ich zu Hause zu essen und zu trinken habe, geht es mir gut. Der Vater hatte das oft gesagt. Er hatte gesagt, dass es uns sogar viel zu gut geht.

Als der Vater so alt war, wie ich es heute bin, hatte er bestimmt schon schwer arbeiten müssen. Damals muss Krieg gewesen sein. Mark hatte es einmal erzählt. Im Krieg gibt es für Kinder nichts zu essen, hatte er gesagt. Es ist so wie für die Kinder in Afrika. Kinder müssen im Krieg arbeiten. Sie müssen den Erwachsenen beim Schießen helfen.

Ich glaube der Vater hatte damals sehr hart arbeiten müssen, um zu Essen zu bekommen. Heute müssen wir unser Essen nicht mit harter Arbeit verdienen. Wir bekommen es vom Vater. Uns geht’s wirklich viel besser, als es unserem Vater ging, als er ein Kind gewesen war. Mark hatte einmal erzählt, dass er froh ist, dass wir unser Essen nicht selber verdienen müssen. Mark trägt seinen Teil schon bei, mit seinem wenigen Lehrlingsgeld. Aber wir Geschwister sind wirklich noch zu klein. Vieles ist seit dem Krieg viel besser geworden, hatte Mark gesagt.

Ich kann mir nicht vorstellen wie grauenvoll der Krieg für die Menschen vor allem für die Kinder und den Vater gewesen war. Oft hatte es gar nichts zu essen gegeben. Es war kalt, alles war zerstört. Mark hatte das in der Schule gehört. An einem Samstagnachmittag hatte er davon erzählt: “Unser Vater war damals so klein wie wir heute. Er hat um sein Leben gekämpft. Nach dem Krieg waren alle glücklich, dass sie das Grauen überlebt haben. In den sechziger Jahren haben viele ihre Familien gegründet. Die vom Krieg zerschossenen Häuser und Straßen waren fast alle repariert. Das Leben wurde wieder viel besser, als es vorher im Krieg gewesen war. Uns geht es heute viel besser als den Kindern und dem Vater im Krieg!”

Das hatte Mark auf einem Samstagsspaziergang erzählt. Trotzdem hatte er es beim Vater nicht mehr ausgehalten. Trotzdem ließ er sich vom Vater ins Erziehungsheim stecken. Obwohl Mark weiß, dass es Kindern im Krieg viel dreckiger geht als uns hier in Deutschland, sitzt er jetzt im Erziehungsheim. Aus der Schule weiß Mark auch, dass es überall auf der Welt Krieg gibt, auch heute. Mark hatte an dem Nachmittag erzählt, dass es Millionen Kinder gibt, denen es sehr schlecht geht. Ich glaube, das stimmt. Mark hatte es in der Schule gehört. Man sagt so etwas nicht zum Spaß. Mark war, obwohl es anderen in dieser Welt viel schlechter geht als ihm, trotzdem von zu Hause weggelaufen. Mark hat entschieden, dass er beim Vater genug ausgehalten hatte.

Habe ich genügend ausgehalten? Wie schlecht geht es mir beim Vater? Bin ich zu empfindlich? Halte ich vielleicht zu wenig aus? Wahrscheinlich bin ich verweichlicht! Vielleicht bin ich verweichlicht, weil ich nie Krieg erlebt habe, wie es der Vater während seiner Kindheit erlebt hatte! Vielleicht brauche ich auch so schreckliche Kindheitserlebnisse im Krieg, wie sie der Vater damals erlebt hatte, damit ich mein Leben beim Vater gut finde. Ich weiß nicht, wie schlimm der Hunger, die zerstörten Häuser, Dörfer, Städte, die vielen ermordeten Menschen im Krieg sind. Das alles muss für den Vater und alle Menschen im Krieg sehr schlimm gewesen sein. Es muss so fürchterlich schlimm gewesen sein, dass ich mir das heute gar nicht vorstellen kann. Vielleicht kann ich den Wert meines Lebens beim Vater nicht schätzen, weil ich noch nie so etwas Grausames erlebt habe. Der Vater hatte das alles erlebt. Sehr schlecht war es dem Vater im Krieg gegangen. Beinahe wäre er gestorben, wie Millionen andere. Ich glaube, mein großer Bruder Mark hat Recht. Weil es dem Vater so schlecht ergangen war, will er, dass es uns viel besser geht. Der Vater hat das erreicht. Uns geht es viel besser. Unser Kinderleben heute ist viel besser, als das Kinderleben das der Vater während des Krieges erlebt hatte. Da bin ich mir ganz sicher. Weil ich mir ein wenig vorstellen kann, wie schrecklich das Kinderleben des Vaters während des grauenvollen Krieges gewesen sein muss, brauche ich keinen Krieg. Mir reicht die schreckliche Vorstellung. Ich glaube, kein Mensch braucht Krieg. Ich glaube, auch der Vater hätte die schrecklichen Erlebnisse des Krieges nicht gebraucht, um für sich zu entscheiden, dass es seinen Kindern gut, besser als ihm während seiner Kindheit gehen soll.

Ich bin froh, dass es uns so gut geht. Ich bin sehr froh, dass ich das Essen vom Vater geschenkt bekomme. Ich wüsste nicht, wo ich das sonst herbekommen könnte. Ich habe kein Geld, um es zu kaufen. Trotzdem habe ich Angst vor dem Vater.

12. Ursprünglich war es anders

Damals als der Vater uns im Gebirgsort im Kinderheim besuchte, hatte ich noch keine Angst vor ihm. Da hatte ich ihn sogar lieb. Ich hatte mich immer gefreut, wenn er uns besuchte. Wir hatten sehr selten Besuch. Er war der Einzige, der regelmäßig kam. Die Tage mit dem Vater waren damals sehr schön gewesen.

Der Vater konnte immer nur kurz zu Besuch bei uns bleiben. Häufig hatte er mit uns Ausflüge in die nahen Berge unternommen. Wir wanderten mit dem Vater durch die Natur und meist hatte er uns zum Mittagessen eingeladen. Damals hatte er immer davon erzählt, dass er uns zu sich nach Hause holen werde. Das freute mich sehr, denn ich war gern mit ihm zusammen. Der Vater sagte, sobald er eine Frau gefunden habe, würde er uns holen.

Im Kinderheim hatte ich oft davon geträumt, wie schön es werden würde, wenn der Vater uns nach Hause holte. Ich hatte mir ein friedliches Zusammenleben erhofft. Ich hatte geglaubt, es würde so schön werden, wie an den Tagen als der Vater uns besuchte. Ich hatte keinen Zweifel daran, dass es gut werden würde.

Schließlich hatte der Vater diese Frau gefunden. Ich weiß nicht wie er sie kennen gelernt hatte. Der Vater erzählte nichts darüber. In unser Kinderheim hatte er die Frau nie mitgebracht. Vielleicht hatte er schon geahnt, dass sie mit uns, und wir mit ihr, nicht zurechtkommen würden. Vielleicht hatte der Vater befürchtet, wir Kinder könnten uns weigern, mit zu ihm nach Hause zu kommen, wenn wir diese Frau schon vorher kennen gelernt hätten. Ich weiß es nicht.

Ich hatte die Stiefmutter noch nicht gekannt, als der Vater uns zu sich holte. Der Vater hatte sie geheiratet. Ich glaube, weil die Stiefmutter nicht arbeitet, durften wir zu ihr und zum Vater ziehen. Sie hat Zeit, den Haushalt zu führen, sie hat Zeit, sich um uns zu kümmern. Vielleicht ist genau dieses unser Verhängnis?

Vielleicht wäre es besser, wenn sie arbeiten würde und der Vater zu Hause bliebe. Vielleicht hätte es der Vater nachmittags zu Hause anders mit uns versucht, als diese Stiefmutter. Weil ich, als wir letztes Jahr zum Vater zogen, noch keine Angst gehabt hatte, wäre das vielleicht gut gegangen. Der Vater hätte sich um uns gekümmert, während die Stiefmutter in ihrer Arbeitsstelle gewesen wäre. So hätte der Vater mehr Zeit gehabt zu sehen, was mit uns los ist. Er hätte sich nicht jeden Abend alles von der Stiefmutter sagen lassen müssen.

Weil die Stiefmutter abends eh schon immer sauer auf uns war, wurde der Vater auch jeden Abend gleich wütend. Das wäre anders gewesen, wenn der Vater tagsüber genau gesehen hätte, welche Schwierigkeiten wir aus der Schule mitbrachten. Der Vater hätte den Nachmittag zu Hause gestaltet. Der Vater hätte gesehen, dass wir uns anstrengten. Er hätte gemerkt, dass wir uns bemühten, soweit wir es konnten. Vielleicht hätte er geahnt, dass wir in der Schule und zu Hause nicht absichtlich alles falsch gemacht hatten. Vielleicht hätte er sogar irgendwann verstanden, dass wir die Stiefmutter und ihn nicht ständig ärgern wollten.

Der Vater hätte gesehen, dass wir vieles lernen wollten. Er hätte gemerkt, dass auch wir uns das Leben bei ihm anders gedacht hatten, als es schließlich geworden war. Vielleicht wäre dem Vater schnell klar geworden, dass wir uns dieses Leben alle schöner vorgestellt hatten. Wenn der Vater nachmittags zu Hause gewesen wäre, hätten wir es vielleicht mit ihm zusammen verändert.

Den Vater hatten wir alle schon lange Zeit gekannt. Wir wussten also, wie er es haben wollte mit uns. Bei seinen Besuchen im Kinderheim hatte er das oft genug erzählt. Auch er wusste, dass wir uns bei ihm ein schönes Leben vorgestellt hatten.

Ich glaube der Vater hat zu wenig Zeit, und Ruhe um zu sehen und um zu verstehen, wie es zu Hause ist. Er hat keine Ruhe, um zu erkennen, warum es zu Hause ist, wie es ist. Er hat zuwenig Zeit, um nachzudenken wie wir es zu Hause anders machen könnten. Vielleicht hat der Vater schon aufgegeben. Vielleicht glaubt er gar nicht mehr daran, dass es zu Hause so sein könnte, wie er es ursprünglich gewünscht hatte. Oder hat er vielleicht schon vergessen, wie er es sich ursprünglich wünschte?

Da ist die Stiefmutter. Warum kreischt sie so oft herum? Warum schlägt sie uns? Warum sagt sie das, was sie mit uns spricht, immer so gehässig? Warum schreit sie jeden Tag das gleiche: “Na ward Bürschle! Dei Vadder wirds da heut Abend scho zoing!” Warum will sie, dass der Vater abends seinen Gürtel benutzt? Ich kann ihr nicht mehr zuhören. Zwischen ihr und mir ist es aus. Wenn sie spricht, spüre ich, dass sie mich am liebsten zum Fenster hinaus werfen würde.

Warum lebt sie mit uns zusammen? Was hatte sie sich ursprünglich gewünscht? Vielleicht hatte sie sich ursprünglich auf uns gefreut, obwohl sie uns noch nicht gekannt hatte. Sicherlich hatte sie sich alles auch ganz anders vorgestellt. Oder hatte sie von vornherein geplant, uns jeden Tag zu beschimpfen, anzuschreien und zu schlagen? Ich glaube nicht, dass sie das ganz freiwillig tut. Sie will es nicht. Das glaube ich. Vielleicht kann sie einfach nicht anders. Ich glaube jetzt, seitdem Mark fort ist von zu Hause, weiß auch sie, dass es vorbei ist, dass es nicht so weiter geht.

Den Hass zwischen ihr und mir hatte ich von Beginn an gespürt. Als ich sie zum ersten Mal gesehen hatte, merkte ich sofort, dass etwas nicht in Ordnung ist. Obwohl sie nicht sofort gemein und gehässig zu mir gewesen war. Ich traf sie das erste Mal im Haus bei der Oma. Es war der Tag gewesen, als der Vater uns vom Kinderheim abgeholt hatte. Ich glaube, an dem Tag hatte sie nur so getan, als wäre sie nett. Heute glaube ich, dass sie uns im Haus der Oma an diesem Nachmittag etwas vorgespielt hatte. Sie hatte uns angelacht, sie hatte getan, als freute sie sich auf uns. Auch mit der Oma und dem Opa sprach sie ganz freundlich. Aber ich hatte gespürt, dass an ihrem Lachen und an ihrem freundlichen Grüßen und Reden irgendwas nicht stimmte. Ihr Lachen und Reden war sehr seltsam, sehr eigenartig. Es hatte etwas nicht zusammengepasst, doch ich kann heute noch nicht sagen, was das genau gewesen war, ich spürte das einfach. Schon von diesem ersten Tag an war mir die Stiefmutter unangenehm. Ich glaube schon von dieser ersten Begegnung an hatte der Hass zwischen uns begonnen, der sich im vergangenen Jahr ins Unermessliche steigerte.

Vielleicht war das mein Fehler gewesen, vielleicht hätte ich mich an diesem ersten Nachmittag gegenüber der Stiefmutter anders verhalten müssen, vielleicht hätte ich damals irgendwie verhindern können, dass dieser Hass zwischen uns entsteht. Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich hatte die Stiefmutter von diesem ersten Tag an schon gemerkt, dass ich sie nicht mag. Vielleicht war es schon dieser eine kurze Kennenslerntag bei der Oma gewesen, an dem die Stiefmutter sich entschieden hatte, mich zu hassen und mich zu schlagen.

13. Ordnung und Sauberkeit

Der Vater hatte sich schnell verändert. Er sprach nicht mehr genauso mit uns wie zuvor, als wir noch im Kinderheim gelebt hatten. Ich hatte das Gefühl, dass er sich nicht mehr so stark für uns interessierte. Und: Er war nicht mehr so nett zu uns.

Er sprach die ganze Zeit mit der Stiefmutter. Mit uns unterhielt er sich nur selten. Wenn er uns ansprach, hörte ich plötzlich einen neuen Ton in seiner Stimme. In seiner Stimme hörte ich nicht mehr, dass er von mir etwas hören-, etwas wissen wollte. Wenn ich den Vater reden hörte hatte ich das Gefühl, dass es ihn nicht mehr interessierte, wie es mir geht. Er sprach so, als erwarte er überhaupt keine Antwort von mir. Es war als wisse er eh genau, was mit mir los ist. Der Vater fragte seine Kinder nicht, sondern er befahl. Er sagte nur noch, was wir tun dürfen und was nicht. Das meiste durften wir nicht. Den gleichen Ton hörte ich von der Stiefmutter. Allerdings hörte ich diesen Ton von ihr viel öfter, denn der Vater war ja jeden Tag bei der Arbeit gewesen.

Wir Geschwister waren einiges gewohnt gewesen aus dem Kinderheim, in dem wir zuvor gelebt hatten. Die Nähe allerdings zu zwei Menschen, wie dem Vater und dieser Stiefmutter, denen wir zu Hause nicht entkamen, war uns neu. Wir hatten keine Chance, der Stiefmutter aus dem Weg zu gehen. Abends konnten wir auch dem Vater nicht aus dem Weg gehen.

Ich hatte das mit den Befehlen schon aus dem Kinderheim gekannt. Dort gab es viele Befehle und eine klare Ordnung. Das hatte mir nie etwas ausgemacht, oft fand ich das sogar gut, denn ich wusste genau, was verboten war.

Bei Stiefmutter und Vater war es anders. Sie befahlen und trotzdem war nicht zu verstehen, was genau verboten war und warum es verboten war. Trotz ihrer vielen Befehle verstand ich nicht, was sie eigentlich meinten. Eines hatte ich irgendwann gemerkt: Alles, was ich tat, war schlecht und falsch. In den vergangenen zwei Wochen, seit Mark fort ist, hatte ich gespürt: Es ist egal, was ich tue, denn alles, was ich tue, ist falsch.

Die Stiefmutter befiehlt. Ich tue, was sie befiehlt. Egal wie es mir gelingt, es ist immer etwas falsch, an dem was ich tue. Deshalb schlägt die Stiefmutter. Vor ihrem Schlagen gibt es kein Entrinnen. Abends erzählt sie dem Vater irgendetwas. Dann gibt es kein Entrinnen vor dem Schlagen des Vaters.

Braucht die Stiefmutter uns, damit sie schlagen kann? Braucht sie uns, damit sie sich ärgern kann? Braucht sie uns, weil wir vieles falsch machen, weil wir vieles nicht gut können, weil wir alles nicht so gut können, wie wir es sollten? Vielleicht braucht sie uns, damit sie tagsüber beschäftigt ist. Braucht sie uns als etwas, worüber sie sich aufregen kann? Ich weiß es nicht.

Die Stiefmutter spricht nie etwas Vernünftiges mit uns. Glaubt sie, dass wir dumm sind? Seit wir bei ihr und dem Vater wohnen, hat sie sich noch nicht mit uns unterhalten. Das einzige, was sie getan hatte, war, uns zu schimpfen und herumzuschreien. Für die Stiefmutter gehen wir Zigaretten kaufen. Für sie jäten wir das Unkraut aus dem Garten. Für sie fegen wir den Bürgersteig. Die Stiefmutter will Ordnung und Sauberkeit. Die Stiefmutter kontrolliert alles. Ist sie unzufrieden, kreischt sie und schlägt. Sie ist immer unzufrieden.

Einen Menschen wie die Stiefmutter hatte ich vorher nicht gekannt. Sie sagt nie, dass sie etwas gut findet. Ich glaube, etwas das sie gut findet, gibt es bei ihr nicht. Die hohe Stimme der Stiefmutter klingt schrecklich. Ich zucke sofort zusammen, wenn sie ertönt. Schlägt ihre Hand auf mein Ohr, höre ich ein Pfeifen. Manchmal höre ich das Pfeifen schon, bevor die Stiefmutter zuschlägt.

Ich weiß nicht, warum die Stiefmutter noch nie mit uns gesprochen hat. Ich weiß auch nicht, warum der Vater nicht mehr mit uns spricht.

III. Durch die Stadt

1. Suche nach dem gelben Schild

Ich bin mitten in der Stadt. Es ist meine Geburtsstadt. Trotzdem kenne ich mich nicht aus. Es ist laut und es stinkt. Viele Autos fahren auf einer breiten Straße an mir vorbei. Ich bin an einer Kreuzung angelangt. Ich weiß nicht, welche Richtung ich einschlagen soll. Ich gehe nach rechts. Ich suche eine Straße hinaus aus der Stadt in den Ort zur Oma.

Ich laufe auf dem Gehsteig an Wohnhäusern mit kleinen Vorgärten vorbei. Aus offenen Fenstern höre ich das Klappern von Geschirr. Ich rieche Abgase von Autos und Geruch von Mittagessen. Schon wieder kommt eine große Kreuzung. Diesmal gehe ich geradeaus. Jetzt rieche ich das Mittagessen nicht mehr. Rechts und links am Straßenrand sind keine Wohnhäuser mehr. Dort sind jetzt Geschäfte, die bereits geschlossen haben. Ich glaube, in den Stockwerken darüber sind Büros, denn alle Fenster sind geschlossen.

Ich biege nach rechts ab in eine gepflasterte Straße. Kein Auto fährt hier. Jetzt kommen einige Fußgänger entgegen. Den heutigen langen Vormittag war ich ganz allein gewesen. Kein Mensch ging nahe an mir vorbei oder kam mir entgegen. Deshalb frage ich mich nun, ob ich einem der Fußgänger auffalle. Wird mich einer fragen, wer ich bin, wo ich hin will? Ich werde schneller. Ich gehe an vielen Fußgängern vorbei. Sie alle kennen mich nicht, sie grüßen mich deshalb nicht, sie wollen auch nicht wissen, wer ich bin, sie wollen nicht wissen, woher ich komme und wohin ich heute gehe.

Ich verlasse die Fußgängerzone. An der nächsten Kreuzung gehe ich wieder gerade aus. Ich erreiche eine Bushaltestelle. Dort warten einige Menschen. Ob ich mit dem Bus zur Oma fahren könnte? Ich habe kein Geld. Deshalb kann ich mit dem Bus nicht fahren, auch wenn er zur Oma fährt. Ich gehe weiter.

Metzgereien, Schuhgeschäfte, ein Fernsehgeschäft, eine Bäckerei, alle haben schon geschlossen. Es ist kein langer Samstag heute. Die Straße wird nun breiter. Lärm und Gestank nehmen wieder zu. In jedem weißen Käfer, der an mir vorbeifährt, könnte der Vater sitzen. Deshalb drehe ich mich nicht nach den Autos um. Ich glaube, der Vater erkennt mich sofort. Ich gehe ganz nah bei den Häusern und Geschäften. Ich blicke in die Schaufenster. Wenn der weiße Käfer mit dem Vater auf der Straße vorbeifährt, sieht der Vater nur meinen Rücken. Vielleicht fährt er zu schnell an mir vorbei. Er bemerkt nicht, dass ich vor dem Kaufhausschaufenster stehe und mir die Auslagen ansehe.

An jeder Kreuzung gehe ich geradeaus. Ich gehe langsam. Ich renne nicht so verrückt schnell durch diese Stadt, wie heute Morgen durch das Dorf. Es hätte keinen Sinn, schnell zu laufen. Ich fiele nur unnötig auf. Ich tue so, als bummle ich ein wenig durch die Straßen. Ich bin auf meinem Weg nach Hause zum Mittagessen.

Die Fußgänger beachten mich nicht. Das kenne ich nicht. Hier kennt mich keiner, das ist in der Stadt anders als zu Hause. Im Dorf kennt mich jeder. Da weiß jeder, wo ich herkomme und wo ich hin gehe. Im Dorf fragt mich jeder, was ich will, wenn er es noch nicht weiß. Ich war noch nie allein unterwegs in einer Stadt.

Ich sehe mir die großen Straßenschilder an. Auf einem Schild muss der Name des Ortes stehen in dem die Oma wohnt. Durch das Fenster in Vaters Käfer hatte ich es schon Mal gesehen. Wir waren zum Einkaufen in die Stadt gefahren. Ich hatte schon lange geplant wegzulaufen und ich dachte daran, durch die Stadt zu gehen. Ich hatte mir überlegt, dass der Vater sicherlich nicht vermuten werde, dass ich diesen Weg wähle. Mein dritter Fluchtversuch soll mich heute auf keinen Weg führen, den ich schon einmal versucht hatte. Heute Vormittag sollte es nicht der breite Forstweg sein und auch nicht die Landstraße. Ich hatte schon lange entschieden, dass mein Weg mich heute durch diese Stadt führen wird. Deshalb hatte ich damals aufmerksam verfolgt, welche Strecke der Vater zum Einkaufen mit dem Käfer durch die Stadt gefahren war. Die Geschäfte und Schaufenster in der Nähe der Kreuzung mit dem richtigen Schild, das ich jetzt suche, hatte ich versucht, mir genau einzuprägen. Die Häuser und Mauern an der Straße hatte ich mir genau angesehen. Ich war mir damals sicher gewesen, dass ich den Weg zu dem Schild an der Kreuzung heute suchen werde. Heute bin ich hier und suche. Bis jetzt erkenne ich kein Geschäft und kein Haus wieder.

Vielleicht weiß die Oma schon, dass ich heute weggelaufen bin. Vielleicht hat sie der Vater schon angerufen. Vielleicht hat er schon gefragt, ob ich bei ihr angekommen bin. Christian hatte erzählt, dass der Vater immer die Oma anrief, wenn wir weggelaufen waren. Der Vater brüllte die Oma am Telefon an. Er drohte mit der Polizei, die er bei ihr vorbei schicken wollte, wenn wir bei ihr wären und sie ihn zu belügen versuche. Ich glaube nicht, dass die Polizei bei der Oma vorbei gekommen wäre und uns dort abgeholt hätte. Ich glaube, die Oma hätte im Jugendamt angerufen. Sie hätte erklärt, warum die Polizei uns nicht zum Vater bringen soll.

Vielleicht könnte die Oma dafür sorgen, dass ich bei ihr wohnen kann. Bei ihr wohnen schon viele Kinder. Vielleicht zu viele. Sie hat keinen Platz mehr im Haus. In allen Zimmern wohnen schon Kinder. Die Oma hilft mir trotzdem. Der Polizei würde sie mich bestimmt nicht freiwillig übergeben.

Weit entfernt erkenne ich jetzt wieder ein großes, gelbes Schild. Vielleicht steht da endlich der richtige Name. Ich komme schnell näher. Es stehen viele Namen auf dem gelben Schild. Aber der richtige ist wieder nicht dabei. Ich gehe geradeaus weiter.

Viele Männer fahren heutzutage einen weißen Käfer, genauso wie der Vater. In Vaters Käfer sitze ich gerne direkt hinter dem Vater. Von da sehe ich gut zum Fenster hinaus, und ich kann mich an der Lehne aufstützen. In der Mitte sitze ich nicht so gerne. Ich erinnere mich an eine Fahrt mit dem Vater. Es ist sehr lange her. Es war ein Ausflug. So etwas haben wir lange nicht mehr gemacht. Am Wochenende waren wir unterwegs zu Bekannten vom Vater. Nach langer Fahrt steuerte der Vater den Käfer auf einen Parkplatz. Meine Geschwister, die Stiefmutter, der Vater und ich, wir alle gingen auf die Toilette. Dann fuhren wir weiter.

Der Vater hatte die Fahrertür des Käfers nicht richtig zugeschlagen. Das erkannte ich sofort, denn wie immer saß ich hinter ihm. Die Tür war nur einen kleinen Spalt weit offen. Sie bewegte sich in den Kurven hin und her. Unten, durch den Türspalt sah ich in den Kurven die graue Straße. Die ganze Fahrt über beschäftigte mich die offene Tür. Ich dachte darüber nach, ob ich dem Vater sagen sollte, dass seine Türe offen ist. Ich hatte darüber nachgedacht, was geschehen würde, wenn die Tür plötzlich in einer scharfen Kurve aufspringt. Ich fragte mich: Stürzt der Vater dann hinaus auf die Straße, wird er gegen einen Baum geschleudert? Ich wäre schuld daran, weil ich die ganze Zeit lang gesehen hatte, dass die Türe nicht richtig geschlossen war. Ich hätte Schuld weil, ich nichts gesagt hatte. Die anderen würden mich fragen, ob ich nichts gesehen hätte. Sie würden sagen: “Du musst doch von deinem Sitzplatz etwas gesehen haben! Warum hast du nichts gesagt? Der Vater wäre noch am Leben, wenn du etwas gesagt hättest! Er hätte während der Fahrt nur kurz die Türe geöffnet und sie fest zugeschlagen. Dann wäre gar nichts passiert! Es wäre alles in Ordnung. Aber du hast einfach nichts gesagt. Du hast ihn weiterfahren lassen. Du hast so getan, als wäre nichts, als sei alles völlig normal. Nur du hättest ihm helfen können. Kein anderer wusste, dass die Türe aufgehen könnte. Du warst der einzige, der es schnell sagen hätte können und der Vater wäre noch am Leben, du bist Schuld daran!”

Dem Vater hatte ich während der Fahrt nicht gesagt, dass seine Türe nicht richtig verschlossen war. In den Kurven hätte sie aufspringen können. Es kamen sehr viele Kurven. Wir waren noch lange unterwegs. Die Türe war nicht aufgesprungen. Niemand hatte bemerkt, dass die Türe nicht richtig geschlossen war. Am Fahrtziel stiegen wir alle aus dem Auto aus, auch der Vater.

2. Vor einer Gärtnerei

Ich stehe vor einer kleinen Gärtnerei. Im Gewächshaus wird gearbeitet, obwohl heute Samstag ist. Frauen und Männer gießen und graben. Mit einem Gartenschlauch spritzen sie herum. Ich stehe auf dem Bürgersteig und schaue durch das Glas.

Die Gartenarbeiterinnen erinnern mich an unseren Garten im Dorf. Kurz nach unserem Einzug in das alte Haus hatte der Vater das meterhohe Gras mit einer Sense weggeschnitten. Im Garten waren neben dem hohen Gras bunte Blumen gewachsen. Der Garten war eine einzige bunte Blumenwiese gewesen. Das vom Vater abgeschnittene Gras warfen wir auf einen Haufen hinter dem Haus. Im Laufe der Zeit hatte die Stiefmutter im Garten neue Blumen eingepflanzt. Sie pflanzte Tulpen, Rosen und Geranien. Mir wäre ein Beet mit Schnittlauch, Tomaten und Petersilie recht gewesen. Auch die hohe, bunte Blumenwiese hätte mir gut gefallen. Alles Unkraut hätte ruhig weiter wachsen können. Anfangs hatte unser Garten ausgesehen, wie ich mir Gärten in Märchen vorstelle.

In unserem Garten hatten wir nie gespielt. Es kam überhaupt nicht in Frage, dort zu spielen. Der Garten war kein guter Platz für meine Geschwister und mich. Wir hatten in ihm gearbeitet, aber wir spielten dort nicht. Ich glaube, wir hätten dort auch dann nicht gespielt, wenn die Wiese schön hoch gewachsen wäre. Der Garten lag zu nah bei der Stiefmutter. Wir hatten stets darauf geachtet, beim Spielen im Freien möglichst weit weg von der Stiefmutter zu sein. Wir gingen in den Wald oder zur alten Scheune hinter der Schule. Wenn wir weit weg waren vom Haus, vom Garten, von der Stiefmutter, dann waren wir sehr froh, denn dann hatte ich das Gefühl, mich ein wenig frei bewegen zu können.

Ist das nun alles vorbei? Oder werde ich wieder, nachmittags im Dorf einen Platz zum Spielen suchen? Vielleicht werde ich nie wieder ins Dorf zurückkommen, so wie mein großer Bruder Mark. Ich bin ganz sicher, dass Mark nie mehr beim Vater wohnen wird. Mark lebt im Erziehungsheim und dort wird er für immer bleiben, das hatten der Vater und die Stiefmutter in den vergangenen Wochen oft genug gesagt.

Ins Erziehungsheim will ich nicht. Der Vater hatte oft gedroht, dass wir, wenn wir auch von zu Hause abhauen, so wie Mark, genauso wie es mit ihm geschehen ist, ins Erziehungsheim gesteckt werden. Heute ist es so weit. Ich bin abgehauen. Ich will aber nicht ins Erziehungsheim gesteckt werden. Ich will bei der Oma wohnen! Doch was mache ich, wenn das nicht geht? Was will ich, wenn bei der Oma kein Platz mehr für mich ist? Will ich zurück zur Stiefmutter und dem Vater? Oder gehe ich dann ins Erziehungsheim?

Vom Erziehungsheim hatte ich früher im Kinderheim schon gehört. Genauso wie es in den letzten Wochen der Vater getan hatte, hatte auch der Heimleiter damit gedroht. Manche Kinder aus seinem Kinderheim schickte der Heimleiter ins Erziehungsheim. Diese Kinder waren von heute auf morgen plötzlich verschwunden. In einem Erziehungsheim muss es sehr schlimm sein. Die Regeln die es dort gibt, müssen noch viel genauer und strenger sein, als in einem normalen Kinderheim. Ich hatte den Heimleiter so verstanden, dass dort die Kinder besonders viel geschlagen werden, wenn sie gegen die Regeln verstoßen. Sie dürfen das Heim nicht verlassen. Die Kinder dürfen nachmittags nicht mit anderen Kindern aus dem Ort spielen. Ich glaube, es gibt dort auch keinen Wald, in dem man Hütten bauen darf. Sicherlich gibt es auch keine Scheunen in denen man unbeobachtet Zigaretten rauchen kann. Man wird im Erziehungsheim streng überwacht und Tag und Nacht genau kontrolliert.

Ich glaube, wenn das so ist, will ich nicht ins Erziehungsheim. Zurück zur Stiefmutter gehe ich auch nicht. Also muss ich bei der Oma bleiben. Etwas andres fällt mir jetzt nicht ein. Was soll es sonst noch für mich geben? Es gibt nur die Oma, bei der ich leben kann.

Der Vater hatte gedroht, dass Mark im Erziehungsheim schon lernen werde, nicht mehr frech zu Erwachsenen zu sein. Dort werde er sich schon abgewöhnen, Erwachsene zu belügen. Wenn Mark das nicht lerne, dann komme er später ins Gefängnis. Das Gleiche werde auch mir blühen, wenn ich noch einmal davonliefe.

Wird Mark später in ein Gefängnis gesteckt? Vielleicht. Weil er sich nichts gefallen lässt und keine Angst vor den Erwachsenen hat? Der Vater und die Stiefmutter hatten gesagt, dass er sich im Erziehungsheim abgewöhnen werde, Erwachsene zu ärgern und sein Geld zum Fenster hinaus zu werfen.

Ich hatte das nicht verstanden. Ich habe nie beobachtet, dass Mark zu Stiefmutter und Vater frech gewesen war. Mir war auch nicht aufgefallen, dass Mark sein Geld zum Fenster hinausgeworfen hatte. Mark verdient sehr wenig Geld. Für seine Möbel hatte er deshalb sehr lange gespart. Er hatte die Hälfte für das Mofa auf einen Schlag an den Händler bezahlt, er zahlte monatlich seinen Anteil für die Miete und er zahlte seine Schulden bei Stiefmutter und Vater für die andere Hälfte des Mofas zurück. Was sollte er da noch zum Fenster hinauswerfen?

Das Mofa haben der Vater und die Stiefmutter bereits an den Händler zurückverkauft. Nur zwei Tage, nachdem Mark verschwunden war, schickten sie Christian, nachmittags nach der Schule, mit dem Mofa in die Stadt. Der Vater hatte sich von der Arbeit frei genommen und war mit dem Käfer hinter Christian her gefahren. Christian war niemals zuvor mit einem Mofa gefahren. Deshalb war er an diesem Tag begeistert, er strahlte, weil er endlich einmal Mofafahren durfte. Das Mofa hatte der Händler gerne zurück genommen. Jetzt steht es in seinem Schaufenster irgendwo hier in dieser Stadt. Christian hatte abends in unserem Schlafzimmer erzählt, dass der Vater einige Geldscheine dafür bekommen hatte. Die Hälfte von diesen Geldscheinen müsste Mark zurückbekommen. Ich weiß nicht, ob der Vater und die Stiefmutter ihm das in sein Erziehungsheim schicken werden.

Abends in unserem Schlafzimmer hatte Christian erzählt, dass das Mofa sehr gut gefahren war. Der Händler habe gesagt, dass er ein so gut repariertes und gewartetes Mofa sehr gerne zurückkaufe. Mark repariert alles gut. Schon früher im Kinderheim hatte Mark elektrische Geräte repariert. Alle Heimbewohner hatten ihm regelmäßig kaputte Radios und Kassettenrekorder zur Reparatur gebracht. In seinem Zimmer hatte Mark die Geräte zerlegt und oft stundenlang geduldig nach Fehlern gesucht. Meist war es ihm gelungen, die Defekte zu finden und die Geräte wieder in Gang zu bringen. Die Heimkinder hatten sich darüber immer gefreut. Mark war im Kinderheim ein zuverlässiger Ansprechpartner für alle technischen und mechanischen Probleme gewesen. Manchmal hatte er sogar Geräte von Erziehern repariert.

In seinem Zimmer im Kinderheim hatte Mark eine alte Musiktruhe. Der Vater hatte sie bei einem seiner Besuche für Mark mitgebracht. Von seinem Taschengeld hatte Mark Schallplatten gekauft. Marks Musik hatte mir gut gefallen. Auch dem Heimleiter hatte sie gefallen. Sie hatte ihm so gut gefallen, dass er sich einmal alle Schallplatten von Mark geliehen hatte, um sie auf Kassetten aufzunehmen.

Ich stehe immer noch auf dem Gehsteig vor der Gärtnerei. Die Arbeiterinnen tragen grüne Kittel. Sie räumen Pflanzentröge vom Gehsteig hinter den Zaun, sie tragen Gartenwerkzeug ins Gewächshaus, sie rollen Gartenschläuche zusammen. Sie räumen auf, damit morgen der Sonntag kommen kann. Ich denke jetzt nicht mehr an unseren Garten im Dorf.

Ich denke wieder an Marks Zimmer im Kinderheim, das nie aufgeräumt gewesen war. Im Zimmer stand alles voll mit zerlegten elektrischen Geräten. Sie hatten unter dem Bett gelegen, sie stapelten sich auf dem Schrank bis zur Decke, sie überwucherten den Tisch, und die vielen Kabel und Platinen versperrten den Blick aus Marks Zimmerfenster, weil die Stapel auch auf der Fensterbank höher und höher wuchsen. Alle im Heim hatten Mark gern, denn meist schaffte er es, auch das älteste Gerät wieder in Gang zu bringen.

Einer im Heim hatte Mark nicht besonders gern gehabt. Es war der Heimleiter. Von ihm hatte Mark nie etwas zur Reparatur angenommen. Nur einmal hatte Mark diesem Mann seine Schallplatten geliehen. Vielleicht hatte sich Mark dazu gezwungen gefühlt. Zwischen ihm und Mark war oft Streit gewesen. Ich glaube, das hatte darin seinen Grund, dass der Heimleiter oft diejenigen Mädchen im Arm hatte, mit denen Mark befreundet gewesen war oder es gern sein wollte. Ich glaube, deshalb hatte Mark dem Heimleiter nur einmal den Gefallen getan, seine Schallplatten herzuleihen. Mit den Mädchen, die Mark gern hatte, war der Heimleiter häufig nachmittags im Auto davongefahren und erst abends wieder zurückgekommen. Mark konnte nichts dagegen tun, denn die Mädchen hatten sich stets darüber gefreut, mit diesen Ausflügen im Wagen des Heimleiters etwas Besonderes zu haben. Oft durften diese Mädchen im Nebenhaus, in der Wohnung beim Heimleiter, in dessen Wohnzimmer vor dem Fernseher sitzen. Manchmal waren sie mit dem Heimleiter in eine Kneipe unterwegs oder sie wurden von ihm zum Eisessen im Ort eingeladen. Für den Heimleiter waren die Mädchen etwas Besonderes gewesen. Ich glaube, nachdem Mark das festgestellt hatte, war er immer wütender auf den Heimleiter geworden.

Auch in diesem Kinderheim in Oberbayern wurden wir Kinder oft geschlagen. Dieser Heimleiter und sein Buchhalter, der war sein Stellvertreter, hatten oft auf uns Kinder eingeschlagen. Aber mit denen konnte man reden. Mark konnte das. Oft hatte Mark die beiden einfach darauf angesprochen, wenn sie auf Kinder einschlugen. Einmal hatte ich sogar beobachtet, wie er sich dazwischen warf. Der Heimleiter schlug im Speisesaal auf einen kleinen Buben ein. Mark kam gerade zur Tür herein. Er sah den prügelnden Mann und stürzte sich dazwischen. Ich glaube Mark hatte sich damals deshalb oft so verhalten, weil er wissen wollte, warum der Heimleiter zugeschlagen hatte. Oft hatte Mark lange mit diesem Mann gesprochen. Manchmal hatte ich solche Gespräche beobachtet. Dabei war mir mehrmals aufgefallen, dass der Heimleiter im Gesicht rot wurde. Ich glaube, Mark hatte diesem Mann oft etwas gesagt, dass ihn ärgerlich machte. Eines Tages war es zwischen beiden so ärgerlich geworden, dass der Heimleiter sich nicht mehr beherrschen konnte. Während Mark den Mann wieder zur Rede gestellt hatte, hatte dieser Mark mit der Faust aufs Auge geschlagen. Ich glaube, deshalb und weil der Heimleiter so oft mit den Mädchen verschwunden war, konnte Mark den Heimleiter nicht mehr leiden.

Der Heimleiter hatte damals versucht, Mark in ein Erziehungsheim zu schieben. Aber es gelang ihm nicht, weil eines Tages der Vater gekommen war und sagte, dass wir bald zu ihm nach Hause gehen würden.

Mark wollte gerne Elektriker werden. Weil er alles reparieren kann, wäre das ein guter Beruf für ihn. Er wäre sicher ein guter Elektriker. Er kann sogar einen Fernseher wieder in Gang bringen. Der Vater hatte nicht gewollt, dass Mark Elektriker wird. Als Elektriker bekomme man zu wenig Geld, das hatte der Vater immer gesagt. Er hatte gesagt, dass man in der Lehre als Elektriker fast nichts verdient. Deshalb hatte der Vater für Mark eine Lehrstelle als Maurer besorgt. Mark solle unbedingt Maurer lernen, weil er als Maurer viel Geld verdienen könne und gut davon leben könne. Auf dem Bau verdiene Mark schon in der Lehre viel. Der Vater hatte behauptet, so verdiene er viel mehr, als wenn er Elektriker lerne. Wenn der Vater zu Hause so etwas gesagt hatte, dann hatte es stets gestimmt. Gegen die Worte des Vaters hatte es keinen Widerspruch gegeben, denn der Vater und die Stiefmutter dulden keinen Widerspruch. Mark hatte nicht widersprochen, denn er hatte schnell verstanden, dass Widerspruch zu Hause zu Streit führt. Mark wollte keinen Streit mit dem Vater, ich glaube, er hatte den Worten des Vaters getraut. Mark hatte den Worten des Vaters vertraut, der gesagt hatte, dass der Verdienst bei einer Lehre sehr wichtig ist. Also lernt Mark jetzt Maurer. Es ist sehr gut, dass Mark das Reparieren von Radios und Kassettenrekordern trotzdem nicht verlernt hat. Ich finde es schade, dass er nicht Elektriker wird.

3. Der richtige Weg

Ich höre Schlüssel klimpern. Die Gärtnerei wird jetzt zugesperrt. Ich gehe langsam weiter. Ich spüre meine Füße. Sie schmerzen nicht, aber sie kommen mir schwer vor. Wieder kommt eine Kreuzung mit großen Schildern. Wieder finde ich den richtigen Namen nicht.

Auf der Kreuzung blicke ich jetzt genau um mich. Sie kommt mir bekannt vor! Ich glaube, ich war schon einmal hier. Vielleicht habe ich diese Kreuzung schon mal durch das Käferfenster gesehen.

Ich gehe nach rechts. Kenne ich die Häuser in der Straße? Kenne ich die Geschäfte, die Gärten? Habe ich die Straße schon gesehen? Ich erinnere mich nicht. Ich spüre meinen Magen, er meldet sich, er hat Hunger. Ein Brötchen wäre jetzt gut. Aber ich halte es auch ohne aus. Eine lange Kurve. Eine Bushaltestelle. Meine Füße werden schwerer. Die Sitzbank ist leer. Die Fahrer in ihren Käfern, hinter ihren Windschutzscheiben, können mich jetzt gut sehen. Warum sitze ich hier? Der Vater könnte vorbei fahren.

Ich sitze und denke nichts mehr … Nichts denken ist schwer. Nicht an die Stiefmutter denken, nicht an den Vater, nicht an Mark im Erziehungsheim. Einfach sitzen und nicht denken, obwohl der Vater vorbei fahren könnte. Ich sitze hier, das Gewicht meiner Füße spüre ich jetzt nicht mehr. Ich könnte also weiter laufen. Trotzdem sitze ich immer noch hier. Weiße Käfer fahren ständig vorbei. Nichts zu denken ist schwer. Ich glaube, ich kann nicht nicht denken. An irgendetwas muss ich denken. Ich denke daran, was ich gerade tue. Heute laufe ich davon, obwohl ich weiß, dass es verboten ist. Ich laufe davon, obwohl es sein kann, dass zu Hause alles normal ist. Vielleicht ist es zu Hause genauso, wie in vielen anderen Familien. Heute laufe ich davon, obwohl es ungewiss ist, ob ich bei der Oma bleiben darf. Heute laufe ich davon, obwohl ich nicht ins Erziehungsheim gehen will. Alles was ich heute tue, ist schlimm, denn es ist verboten. Die Stiefmutter und der Vater haben verboten wegzulaufen. Ich muss das tun, was die Erwachsenen sagen. Erwachsene wissen, was gut ist und was schlecht ist. Ich bin noch zu klein, um das zu wissen.

Wer ruft denn da? Wem gehört die laute Stimme? Ich kenne sie nicht. Es ist die Stimme eines Erwachsenen. Durch die offene Bustür schreit der Fahrer: “Einsteige! Ned träume!” Sofort winke ich mit der Hand. Ich zeige in die andere Richtung. Ich stehe auf und laufe schnell los. Ich höre das Zischen der Bustür. Jetzt gibt der Fahrer Gas. Es qualmt grau aus dem Auspuff.

Ich drehe mich wieder in die richtige Richtung um. Den Bus sehe ich nicht mehr. Schnell laufe ich an der Bushaltestelle vorbei. Ich glaube, ich bin wahnsinnig. Was ich hier tue, ist Irrsinn. Ich tue nur Dinge, die schlimm sind. Ich laufe von zu Hause weg. Ich will zur Oma, obwohl ich genau weiß, dass sie keinen Platz mehr in ihrem Haus hat. Ich sitze hier, mitten in der großen Stadt, am Straßenrand an einer Bushaltestelle. Der Vater kann hier jederzeit anhalten. Ich glaube, ich bin verrückt geworden! Nichts von all dem ist erlaubt, alles ist verboten. Der Vater wird mich deshalb bestrafen.

Trotzdem laufe ich schnell diese langgezogene Kurve entlang. Jetzt erhebt sich neben dem Bürgersteig aus dem Boden in dieser langen Kurve eine dunkle, graue Mauer. Was treibt mich voran? Warum laufe ich so schnell, obwohl es mir ganz klar vom Vater verboten worden war, von zu Hause abzuhauen? Jetzt renne ich! Weil es verboten ist, weil es bestraft werden kann, deshalb renne ich. Im Grunde ist es vollkommen klar, dass ich renne. Ein Mensch, der denkt wie ich, ein Mensch der sich entscheidet, zu tun, was ich heute tue, ein Mensch, der heute tatsächlich tut, was ich lange überlegt und schließlich entschieden habe, dieser Mensch muss rennen!

Was ist das für eine hohe, graue Mauer neben dem Bürgersteig? Ja, sie kommt mir bekannt vor! Ich muss sie früher schon gesehen haben. Waren wir an ihr mit dem Vater im Käfer vorbeigerauscht? Ich glaube das könnte auf einer Einkaufsfahrt mit dem Vater in dieser Stadt gewesen sein. Ja, ich bin sicher, diese Mauer habe ich schon gesehen. Auf den Einkaufsfahrten in den Großmarkt hatte ich sie durch das Wagenfenster schon mehrmals gesehen. Ich renne, so schnell ich kann. Die Straße ist sehr breit. Viele Autos rasen vorbei. Endlich ist die Kurve zu Ende. Eine verkehrsreiche Kreuzung führt in vier Richtungen. Ich schwitze beinahe so stark wie heute Morgen im Dorf. Auch meinen schnellen Puls spüre ich wieder. Mit meiner Strickjacke wische ich wieder über meine verschwitzte Stirn. Auch meine Augen wische ich trocken. Aber nun kann ich gar nichts mehr erkennen. Weil ich zu fest auf meinen Augen herumgewischt habe, sehe ich die vielbefahrene Kreuzung und das große gelbe Schild kaum mehr. Alles sieht verschwommen aus. Ich bleibe stehen. Ich atme tief und schnell. Das gelbe Schild wird langsam klarer. Die Worte sind weiterhin unscharf, aber nun kann ich sie entziffern. Den ersten, zweiten und dritten Ort kenne ich nicht. Den vierten Ort kenne ich. Es ist unser Dorf. Wieso steht da der Name unseres kleinen Dorfes? Den fünften Ort kenne ich auch nicht. Der sechste Ort? Er ist richtig! Da ist der richtige Name, und der Pfeil zeigt nach links. Ich habe alles richtig gemacht! Endlich bin ich wieder auf dem richtigen Weg. Ich biege also nach links ab. Ich erkenne die Straße sofort. Es stimmt alles. Das ist der Weg in den Ort zur Oma. Ich habe mich nicht verlaufen, ich muss keinen Fußgänger nach dem Weg fragen.

Schweiß läuft durch mein Gesicht. Tropfen fallen herunter. Ich wische sie mit der Jacke weg. Ich sehe nur noch vereinzelte Häuser am Straßenrand. Jetzt kommen die ersten Bäume. Die Autos rasen schnell vorbei. Es sind viele Käfer dabei. Das Ortsendeschild kann ich vor mir erkennen. Die Stadt liegt also gleich hinter mir. Ich blicke jetzt auf die breite Straße mit den vielen rasenden Autos. Ich sehe mehrere Gesichter hinter den Windschutzscheiben in weißen Käfern. Zum Glück kenne ich keines. Ich sehe nach vorne und nach hinten. Die Straße ist jetzt kurz frei, deshalb renne ich sofort los. Ich überquere die Straße, sie hat vier Spuren. Der schwarze Teer sieht neu aus, genauso wie heute Morgen der Teer auf unserer Landstraße beim Dorf. Ich will keine Gesichter mehr hinter den Windschutzscheiben in weißen Käfern sehen, deshalb schaue ich jetzt nicht mehr auf die Straße.

Ein Schuhband öffnet sich. Schon wieder diese blöden Schuhbänder! Ich binde das Band nicht sofort. Oder kann ich es wagen? Mit dem Rücken zur Straße. Warum nicht? Ich kann schneller gehen wenn das Band wieder verschlossen ist. Wenn ich es gleich tue, geht das Binden schneller, weil das Schuhband noch nicht ganz aus der Öse herausgerutscht ist. Ich bücke mich. Schweiß tropft schon wieder herunter. Das Binden klappt dieses Mal besser. Ich renne weiter. Mit der Jacke wische ich über mein Gesicht.

Endlich passiere ich das Ortsendeschild mit dem Balken. Da kommt auch schon der erste Busch zwischen der Landstraße und dem Gehweg! Ich setzte mich in den Schatten hinter den Busch. Ich mache mich sehr klein. Kein Autofahrer kann mich sehen.

Eine Wolke schiebt sich vor die Sonne. Endlich ist überall Schatten. Deshalb ist keine weitere Zeit hinter dem kleinen Busch zu verlieren. Jetzt kann ich weiterlaufen. Schweiß läuft an meinen verschwitzten Armen hinunter. Die Hitze ist unerträglich, deshalb freue ich mich über die Wolken. Das Land ist flach, nur kleine Büsche stehen zwischen Straße und Gehweg. Schattenspendende Bäume fehlen völlig. Deshalb bin ich froh, dass die Sonne jetzt hinter einer riesigen Wolke ist. Mein Blick reicht über das flache Land nach vorne bis hinüber zum Anfang des nächsten Ortes. Dieser Ort ist mein nächstes Ziel. Ich schätze, es sind höchstens zwei Kilometer. Es geht geradeaus über diese flache Ebene. Vielleicht geht es sogar leicht bergab, denn mein Schritt kommt mir jetzt sehr schnell und locker vor. Der Ort vor mir ist mein nächstes Ziel, denn hinter diesem Ort liegt der Berg, auf dem die Oma wohnt. Wie viele Kilometer bin ich heute schon gelaufen? Zehn? Oder zwölf? Ich glaube, in meinem Leben bin ich noch nie so weit an nur einem Tag gelaufen. Ich muss die Oma fragen, wie weit es von unserem Dorf bis zu ihr ist.

IV. Durch den Ort hinauf

1. Paul

Ich spüre leichten, kühlenden Gegenwind. Die dicke Wolke zieht schnell vorbei. Schon kommt die Sonne wieder hervor. Ich habe das Gefühl, mein Kopf glüht von der Hitze. Ich laufe rhythmisch, meine Schuhe sind gut gebunden. Der Fußweg verläuft in unmittelbarer Nähe neben der Landstraße, die Stadt und Ort verbindet. Ich komme schnell vorwärts, der Ort rückt näher.

Von der lauten Landstraße hinter den kleinen Büschen höre ich dieses typische Motorengeräusch. Aber nicht jedes Auto ist ein Käfer. Hin und wieder höre ich auch die Motoren von Mercedes oder Opel vorbeidonnern. Die Mehrheit der Wagen jedoch hat ein sehr schrilles Motorengeräusch, es sind Käfer.

Auch Opa fährt einen schönen, grauen Käfer. An ihn denke ich jetzt. Vielleicht ist er heute unterwegs? Wenn der Vater die Oma angerufen hat, ist er bestimmt unterwegs. Vielleicht hat die Oma ihn losgeschickt, um nach mir zu suchen. Vielleicht ist ein Gesicht hinter der Windschutzscheibe eines grauen Käfers, das Gesicht von Opa. Aber auf der Landstraße fahren auch viele weiße Käfer.

Ich atme schnell und tief. Der Ort ist gleich erreicht. Meine Schuhe an den Füßen fühle ich. Es kommt mir vor, als wären meine Schuhe mit meinen Füßen verschweißt. Sie sind schwer. Bei jedem schwungvollen Schritt werfe ich den schweren Fuß in seinem angeschweißten Schuh vor mich. So entsteht mein Laufrhythmus. Ich habe das Gefühl, als ziehe mich das unendlich schwere Gewicht meiner Füße hin zu dem nahen Ort.

Von der Landstraße dicht neben meinem Fußweg höre ich jetzt wieder besonders laut diese schrillen Käfermotoren. Die Geschwindigkeit der Fahrzeuge auf der Landstraße ist sehr hoch. Sie zischen an mir vorbei und von ihrem Fahrtwind wackeln die Zweige der Büsche. Jeder der herannahenden und an mir vorbei donnernden Käfermotoren klingt laut, monoton und schrill. Keiner dieser Käfermotoren hört in dem Augenblick auf mit diesem hohen, schrillen Drehgeräusch des Motors, in dem der Fahrer mich auf dem Gehsteig neben der Landstraße erkennt. Kein Käferfahrer auf der Landstraße nimmt den Fuß vom Gaspedal. Zum Glück! Denn wenn das hohe, schrille Motorengeräusch nachlassen würde und überginge in ein etwas tieferes, beinahe dumpfes Geräusch, dann könnte es der Vater sein, der neben mir auf der Landstraße seinen Fuß vom Gaspedal nimmt. Aber kein Käfermotor wird dumpfer und leiser. Kein Käfer hält auf der Landstraße neben mir. Der Ort rückt näher. Ich erkenne das gelbe Ortsschild.

Paul ist der Sohn der Stiefmutter. Warum fällt mir der jetzt ein? Ich kann nichts dagegen tun. Jetzt falle ich aus meinem Laufrhythmus. Mein Schritt wird schneller. Ich bin beunruhigt. Ich laufe unrhythmisch, auch mein Atem ist ungleichmäßig. Warum? Der Sohn der Stiefmutter hat auch ein Auto. Es ist kein Käfer. Er hat einen gelben Opel Kadett. Ihn hatte ich völlig vergessen. Nicht nur der Vater, auch Paul könnte heute hinter mir her sein. Ich mag ihn nicht. Als wir ins Dorf gezogen waren, war Paul plötzlich da. Es war, als hatte er dieses Zimmer im zweiten Stock schon immer bewohnt. Paul war immer irgendwie da, aber trotzdem gehört er nicht zur Familie. Vielleicht weil er schon älter ist als meine Geschwister und ich. Paul ist erwachsen.

Manchmal war Paul mit uns Geschwistern spazieren gegangen. Er hatte das nicht gern getan. Am Sonntagnachmittag, bei Regenwetter, hatte er uns oft mitgenommen, damit wir aus dem Haus waren. Die Stiefmutter hatte das von Paul verlangt. Pauls Spaziergang hatte immer in seine Stammkneipe, in einem Nachbardorf geführt. Sonntags trifft Paul dort seine Freunde aus einem Fußballklub. In der Kneipe trinkt er Bier. Wir Geschwister waren stets am Nebentisch gesessen. Wir hatten nie etwas getrunken, denn wir hatten kein Taschengeld. Wir hatten uns immer leise miteinander unterhalten und wir hatten uns die Männer in der Kneipe angesehen, wie sie an der Theke lehnten und um die verrauchten Tische saßen, Bier tranken und Zigaretten rauchten.

Paul raucht sehr viel. In seiner Jacke, die er sonntags neben sich auf die Holzbank, seinem Stammplatz in der Kneipe legt, hat er mehrere offene Zigarettenpackungen. Jedes Mal, wenn Paul uns mitgenommen hatte, haben wir uns mehrere Zigaretten von ihm stibitzt. Am Montagnachmittag hatten wir sie in unserer Scheune geraucht. Paul hatte nie etwas davon bemerkt. Paul hatte zu viele Schachteln in seiner Jacke. Paul trinkt sonntags in seiner Stammkneipe drei Bier. Danach steht er auf, zieht die Jacke an, winkt seinen Freunden am Stammtisch kurz zu und verlässt die Kneipe. Wir waren viele verregnete Sonntage hinter Paul hergewatschelt, damit wir aus dem Haus und irgendwie beschäftigt waren. Die Spaziergänge mit dem Sohn der Stiefmutter waren immer sehr langweilig gewesen. Dabei hatte Paul sich nie unfreundlich verhalten. Trotzdem mag ich ihn nicht.

Paul hilft uns nie, wenn es Prügel gibt. Er tut, als wüsste er davon nichts. Aber er weiß davon. Von seiner Arbeit ist er täglich schon viel früher zu Hause, als mein großer Bruder Mark. Paul kommt schon vor dem Vater nach Hause. Er geht hinauf in sein Zimmer. Man sieht ihn den ganzen Abend lang nicht. Wenn wir ins Bett gehen, gegen halb acht Uhr, verlässt er das Haus. Er fährt irgendwo hin. Paul interessiert es nicht, wie es uns geht. Wahrscheinlich mag ich ihn deshalb nicht. Paul tut, was die Stiefmutter sagt. Wenn sie ihn Sonntagnachmittags mit uns zum Spazieren gehen schickt, tut er es. Wenn sie ihn heute Morgen losgeschickt hat, mich zu suchen, tut er es sicherlich auch.

Gestern Abend war Paul im Nachbardorf im Sportheim gewesen. Dort hatte er sich zusammen mit seinen Fußballfreunden das Fußballspiel angesehen. In der vergangenen Nacht habe ich Pauls Auto nicht gehört. Heute Morgen, als ich vor unser Haus getreten war, habe ich seinen gelben Opel nicht auf der Straße gesehen. Das fällt mir jetzt erst ein! Paul muss die Nacht bei seinen Fußballfreunden verbracht haben. Er hätte also heute Morgen, zu sehr früher Stunde, übernächtigt die Dorfstraße herunterfahren können. Er hätte auch auf der Landstraße fahren können, auf der ich das Dorf verlassen hatte. An Paul habe ich bis jetzt nicht gedacht.

Endlich das gelbe Ortsschild! Vielleicht ist Paul noch gar nicht zu Hause. Vielleicht hat er bei einem Fußballfreund geschlafen. Vielleicht sitzt er jetzt schon wieder im Nachbardorf in der Kneipe bei seinen Fußballfreunden und feiert den Sieg der Deutschen Fußballmannschaft. Dann weiß er noch gar nicht, dass ich weggelaufen bin. Wenn Paul heute mehr als drei Bier trinkt, weil es was zu feiern gibt, dann kommt er sicherlich erst nachmittags heim. Vielleicht lohnt es sich nicht mehr, dass er losfährt, vielleicht bin ich dann schon bei der Oma.

2. Wohin gehören?

Ich habe mein nächstes Ziel erreicht. Im Ort komme ich jetzt an der Sporthalle und dem Fußballplatz vorbei. Dort hatten wir Geschwister damals, als wir in der kleinen Wohnung vom Vater wohnten, beinahe jeden Nachmittag gespielt. Wir hatten nicht nur Fußball gespielt, sondern wir spielten dort alles, was uns gerade einfiel. Im Herbst ließen wir auf der Wiese neben dem Platz unsere Drachen steigen.

Auf dem Fußballplatz hatte ich das Fahrradfahren gelernt. Michael, der ganz in der Nähe wohnt, hatte jeden Nachmittag mit uns gespielt. Er hat ein schönes, rotes Fahrrad. Er zeigte mir, wie man fährt. Ich war ein paar Mal gestürzt. Das hatte Michael gefallen. Aber bald hatte ich es gelernt. Bei schönem Wetter war ich jeden Nachmittag mit Michaels Fahrrad auf der schwarzen Bahn um den Fußballplatz unterwegs gewesen.

Mit einem Fahrrad ist man viel schneller als zu Fuß. Das Fahren geht sehr einfach. Den weiten Weg, den ich heute gelaufen bin, hätte ich mit dem Fahrrad viel schneller geschafft. Zu Hause haben wir auch ein Fahrrad. Aber es ist sehr alt und sehr groß. Ein Riesenfahrrad, schwarz mit Rücktrittbremse, ohne Gangschaltung. Vorne hat es eine Bremse mit dickem Bremsklotz, der während des Bremsens von oben auf den Reifen drückt. Unser altes Fahrrad ist für mich viel zu groß. Wenn ich drauf sitze, erreichen meine Füße die Straße nicht mehr. Aber trotzdem kann ich schon damit fahren. Beim Stehenbleiben muss ich das Fahrrad langsam zur Seite fallen lassen.

Einmal war ich mit dem Fahrrad im Dorf unterwegs. Das Radfahren habe ich nicht verlernt. Auf der Dorfstraße war ich gestürzt und hatte mich am Knie aufgeschürft. Das lag aber an dem zu großen Fahrrad. Ich war bereits stehen geblieben. Beim Abspringen war ich gefallen. Für ein kleineres Fahrrad, auf das wir besser draufpassen, reicht zu Hause das Geld nicht.

Jetzt habe ich einige Minuten gar nicht mehr an den Vater gedacht. Der Fußweg und die Straße im Ort machen eine langgezogene Kurve. In dieser Kurve liegt die alte, kleine Wohnung des Vaters. Jetzt werde ich wieder schneller. Es ist möglich, dass mich hier im Ort noch jemand von früher kennt. Gleich komme ich am Haus mit Vaters früherer Wohnung vorbei. Davor erkenne ich schon die Eisdiele. Sie ist geöffnet. Klar, bei der Hitze! Sie ist voll. Menschen sitzen auf den Stühlen an runden Tischen draußen auf dem Gehsteig. Ich laufe ganz schnell, aber ich renne nicht. Ich höre die Menschen, sie unterhalten sich und sie lachen. Ich rieche das Eis. Erdbeere, Schokolade und Zitrone. Mein Lieblingseis ist Schokolade. Ich schaue niemanden an. Ich laufe schnell vorbei.

Vaters alte Wohnung liegt nun hinter mir. Der weiße Käfer vom Vater steht nicht vor der Tür. Früher stand er immer neben dem Gehsteig vor dem Haus. Der neue Mieter ist nicht Zuhause oder er hat kein Auto. Jetzt werde ich noch schneller.

Die erste Querstraße biege ich gleich rechts ein. Ich muss runter von dieser Hauptstraße. Hier im Ort kenne ich mich aus. Die Hauptstraße wäre die kürzeste Strecke zur Oma, doch weil zu viele Autos und Menschen auf ihr unterwegs sind, ist sie zu gefährlich. Ich gehe einen Umweg über die Nebenstraßen.

Jetzt habe ich schon eine schmale Nebenstraße Richtung Schwimmbad erreicht. Das Schwimmbad liegt auf einer kleinen Anhöhe. Am Wegrand setze ich mich unter einen Baum in den Schatten. In der Sonne, auf dieser Nebenstraße ist die Hitze beinahe unerträglich. Endlich kann ich mich etwas ausruhen. Niemand weiß, wo ich jetzt bin. Ich denke wieder an das Verbotene, das ich gerade tue. Ein ruhiger Tag heute. Ich glaube, es ist noch nie so ruhig gewesen. Niemand will etwas von mir. Heute hat mich nur der Busfahrer in der Stadt etwas gefragt. Er wollte wissen ob ich mitkomme. Niemand sonst wollte etwas von mir. Niemand fragt heute, ob ich das Zimmer schon gefegt habe, ob ich im Wohnzimmer schon Staub gewischt habe, ob meine Schuhe schon geputzt sind, ob ich die Hausaufgaben fertig habe, ob ich schon im Garten Unkraut gejätet habe. Niemand befiehlt heute: Geh Zigaretten holen, putz das Klo, schäle Kartoffeln, fege den Bürgersteig, fege in Pauls Zimmer, aber ordentlich! Niemand droht heute: Sonst kracht’s! Dein Vater wird’s dir heute Abend zeigen! Das machst du jetzt noch mal, sonst setzt’s was!

Heute bin ich hingegangen, wohin ich gehen wollte. Heute habe ich es endlich gemacht! Aber ich habe Angst. Es ist verboten. So einen Tag habe ich noch nicht erlebt. Um mich herum ist alles ruhig. Diese Ruhe habe ich, weil ich heute das Verbotene tue. Die Stiefmutter und den Vater sehe ich heute nicht. Meine Geschwister sehe ich nicht. Ich bin hier und muss gleich weiter gehen. Ich muss in Bewegung bleiben. Ich muss weiterkommen, obwohl ich gar nicht genau weiß, wo ich hin soll. Hoffentlich ist das nicht das Leben. Hoffentlich weiß ich bald wieder, wohin ich gehen soll, wo ich bleiben soll. Ein bisschen bleibe ich noch sitzen, unter dem schattigen Baum. Ein paar Grashalme nehme ich noch in die Hand, bevor ich aufstehe. Es war noch nie so ruhig.

Gleich in der Nähe ist meine alte Schule. Kurz vor Unterrichtsschluss mussten wir damals jeden Tag fünf Minuten lang “stillsitzen”. Das hatte zum Schulunterricht gehört. “Ihr seid alle so zappelig und nervös”, hatte die Lehrerin gesagt. Deshalb sollten wir jeden Tag das Stillsitzen üben. Jetzt sitze ich hier, unter dem Baum. Ich sitze ganz still, ich zapple nicht. Die Lehrerin würde sich freuen, wenn sie das sehen könnte. Ich freue mich, dass ich jetzt so still sitzen kann. Aber die Fingernägel! Die sind alle abgebissen. Schon den ganzen Tag kaue ich auf den Nägeln herum. Das wollte ich nicht. Jetzt sind sie alle weg. Abgerissen. Wenn der Vater das sieht! Nein, nein der sieht das nicht mehr! Dem zeige ich die Hände nie mehr! Alles, was ich heute getan habe, ist verboten.

Ich stehe auf. Es geht eine Steigung hinauf Richtung Hallenbad. Jetzt denke ich an die alte Wohnung. Der Vater hatte mich dort, gleich am ersten Tag, das erste Mal geschimpft. Es war wegen der abgebissenen Fingernägel. Die lange Autofahrt, vom Kinderheim bis zur Oma, hatte ich auf den Nägeln herumgekaut. Genauso wie heute hatte ich das gar nicht bemerkt. Erst als der Vater mich deswegen angebrüllt hatte, sah ich, dass die Nägel alle weg waren.

3. Schreiben

Die alte Wohnung war sehr klein gewesen. Es ging eine schmale, steile Treppe hinauf zur Wohnungstüre. Links das kleine Bad und rechts die Küche. Sie hatte keine Türe. In der Küche stand ein Küchentisch mit einer Eckbank.

Matthias und ich hatten nachmittags täglich viel Zeit am Küchentisch verbracht. Christian war nachmittags nie zu Hause. Er hatte immer gesagt, er hätte Unterricht. Nur an einem Nachmittag pro Woche ging er nicht zur Schule, da hatte er Konfirmandenunterricht. Mark war jeden Tag bei der Arbeit gewesen.

Am Küchentisch hatten wir nachmittags die Hausaufgaben gemacht. Während wir in unsere Hefte schrieben, lief die Stiefmutter in der Wohnung herum. Sie kam am Esstisch vorbei. Sie nahm unsere Hefte. Sie sah, was falsch war. Sie sagte uns, was falsch war. Falsch war das, was ihr an unserer Kinderschrift nicht gefiel. Meist war alles falsch. Ich kann nicht schön schreiben. Meine Hand zittert beim Schreiben, neben der Stiefmutter. Ich schaffe keinen geraden Strich.

Damals hatte die Lehrerin alles, was ich aus dem Buch abschreiben musste, mit einem Rotstift markiert. Jeden Tag hatten Matthias und ich viel zu schreiben. Die Stiefmutter nahm unsere Hefte und radierte alles wieder aus. Unsere Linien und Stiche waren krumm und schief. Was ich schrieb, sah ganz anders aus, als das, was im Buch stand. Manchmal riss die Stiefmutter eine ganze Seite aus meinem Schreibheft. Ich musste alles noch einmal schreiben.

Weil meine Linien und Buchstaben jeden Nachmittag zittrig gewesen waren, war die Stiefmutter sehr böse geworden. Sie brüllte mich an. Sie behauptete, ich würde mir keine Mühe geben. Sie sagte, sie werde mir das schon austreiben. Sie hatte täglich alles noch mal ausradiert. Sie knallte das Heft auf den Tisch. Dann hob sie es wieder auf und schlug es Matthias und mir ins Gesicht. Dann kreischte sie laut. So begann die Stiefmutter zuzuschlagen.

Matthias war jeden Tag noch viel länger am Esstisch bei den Hausaufgaben gesessen als ich. Obwohl er viel besser und schneller lesen kann, braucht er beim Schreiben bei der Stiefmutter viel mehr Zeit als ich. Er kann nicht mit der rechten Hand schreiben. Er schreibt schon immer mit der linken Hand. Ich glaube, das hatte er in der Schule damals im Kinderheim so gelernt. Im Kinderheim hatte das nachmittags bei den Hausaufgaben nie jemanden gestört. Matthias schreibt alles genauso, wie die anderen Kinder. Nur nicht mit der rechten, sondern mit der linken Hand. In der Schule stört das nicht. Für die Lehrerin hier im Ort war das kein Problem, auch den Lehrer in der Dorfschule stört es nicht. Die Stiefmutter und den Vater stört es. Sie glauben das wäre nicht normal. Sie glauben, Matthias müsse lernen, mit der rechten Hand zu schreiben. Ich weiß nicht, warum sie das glauben. Vielleicht glauben sie, dass die Ordnung gestört ist, wenn man mit der Linken schreibt. Welche Ordnung das ist, das weiß ich nicht. Es ist ungewöhnlich, mit der linken Hand zu schreiben! Jeder Mensch muss mit der rechten Hand schreiben! Ich glaube so denken sie. Ganz einfach.

Das klappt nie. Matthias kann das nicht lernen. Er hatte die vielen Jahre im Kinderheim immer mit der linken Hand geschrieben. Deshalb hatte er in der alten Wohnung, hier im Ort, jeden Nachmittag noch viel länger gebraucht als ich. Wenn die Stiefmutter mich spät nachmittags aus dem Haus gehen ließ, durfte Matthias lange noch nicht gehen. Oft musste er, bis abends der Vater von der Arbeit Heim kam, am Esstisch sitzen und alles immer wieder neu mit der rechten Hand schreiben.

Der Vater hatte sich jeden Abend zuerst das Heft von Matthias angesehen. Jeden Tag war das, was Matthias geschrieben hatte, schlecht. Der Vater verprügelte ihn deshalb im Badezimmer. Manchmal verprügelte er auch mich. Abends musste Matthias wieder am Küchentisch sitzen und alles noch mal schreiben.

Oft war ich wegen der vielen Fehler von Matthias verschont geblieben. Ich glaube, weil der Vater ihn jeden Abend im Badezimmer verprügelt hatte, vergaß mich der Vater manchmal. Und weil ich mit der rechten Hand schreibe, hatten die Stiefmutter und der Vater nicht so viel Grund, sich über meine Schreibhefte zu ärgern.

4. Verrat

Wir Geschwister sind zu Hause ständig auf der Flucht. Wir verstecken uns vor Stiefmutter und Vater. Wir weichen ihnen aus, wo immer es möglich ist. Wir fliehen vor dem Kreischen und Schlagen der Stiefmutter und vor dem Gürtel des Vaters.

Obwohl wir zu Hause eng aufeinander sitzen, ist jeder von uns vier Brüdern einsam für sich selbst. Auch wir Geschwister müssen voreinander fliehen. Es gibt kein Vertrauen mehr unter uns. Es ist nicht mehr wie früher im Kinderheim. Jeder hat Angst davor, dass der Bruder dem Vater und der Stiefmutter etwas erzählt, das zu Schlägen führt. Weil der Vater und die Stiefmutter versuchen, diese Dinge aus uns herauszuprügeln, ist es besser mit den Geschwistern nicht mehr zu reden. Unter uns Geschwistern gibt es permanente Angst vor Verrat.

Damals im Dorf, als ich morgens die Pfeife vom Vater geraucht hatte, wurde ich nicht von Matthias verraten. Er hatte den brutalen Schlägen von Stiefmutter und Vater damals Stand gehalten. Ich glaube, heute wäre das unmöglich. Schon zu lange drangsalieren uns die beiden.

Seit einem Jahr arbeiten beide daran, uns unter Kontrolle zu bringen. Die Stiefmutter befiehlt unsere tägliche Zeit, unseren Tagesablauf. Sie weiß, dass wir wegen der ständigen Angst vor ihr, wegen ihrer Worte abends, wenn der Vater nach Hause kommt, kaum mehr miteinander reden. Sie will, dass wir Schweigen lernen. Sie will, dass unsere Angst vor Verrat so groß wird, dass wir uns durch Schweigen voreinander schützen. Was der Bruder nicht weiß, kann er unter den Schlägen der Stiefmutter nicht verraten. Aber wenn wir nicht miteinander reden, können wir uns auch nicht gegenseitig unterstützen und schützen. Das will die Stiefmutter. Zu Hause sind wir nicht mehr lustig. Wir sind ängstlich. Wir zittern vor Angst. Unsere Blicke sind ernst. Wir lachen nicht mehr. Wir haben keinen Grund zur Freude. Wir haben nichts zu lachen. Vielleicht sind wir gar keine Kinder mehr.

Hier in diesem Ort hatte damals vor einem Jahr alles angefangen. Wir hatten noch nicht verstanden, wie Vater und Stiefmutter sich das neue Zusammenleben mit uns vorstellten. Wir hatten noch nicht geahnt, dass die Stiefmutter es sich mit Schreien, Schlagen und Hass vorstellte, und dass der Vater es mit seinem scharfen Gürtel plante.

Die ersten Schläge hatten mich deshalb schockiert. Ich hatte das noch nicht gekannt. Im Kinderheim gab es auch Schläge, aber andere und aus anderen Gründen. Dort hatte ich fast immer gewusst, wann und warum geschlagen wurde. Die Gründe für das Schlagen waren bei Stiefmutter und Vater völlig neu. Bis heute weiß ich nie genau, welche Gründe für das Schlagen am Abend da sind. Den ganzen Tag lang denke ich darüber nach, welche Gründe die Stiefmutter dem Vater abends liefern kann, damit er wieder prügelt.

Hier im Ort hatte ich das noch nicht verstanden. Ich glaube, es war weil ich so schockiert gewesen war. Jeden Tag hatte ich Angst. Ich hatte mich noch nicht an die Angst gewöhnt, deshalb konnte ich nicht vernünftig darüber nachdenken. Erst später, nachdem wir in das Dorf gezogen waren, begann ich darüber nachzudenken. Hier in diesem Ort war ich jeden Tag froh gewesen, dass ich besser in mein Schulheft schreiben konnte als Matthias und dass ich deshalb manchmal verschont blieb. Matthias wurde von Stiefmutter und Vater nicht verschont.

Heute, auf meiner Flucht durch diesen Ort, verstehe ich ganz genau, was damals geschehen war. Es ist die Ruhe, wegen der ich heute so klar denken kann. Die Stiefmutter hatte dafür gesorgt, dass wir Geschwister voreinander sehr viel Angst entwickelten. Weil sie begonnen hatte, nachmittags Informationen über den Bruder aus uns herauszuprügeln, zerstörte sie den Zusammenhalt unter uns Geschwistern. Im Kinderheim hatten wir Geschwister viel miteinander geredet, wir hielten zusammen und wir hatten uns dort deshalb sicher gefühlt. Als wir hier im Ort angekommen waren, in den ersten Wochen, war das noch so gewesen.

Niemandem von den Geschwistern habe ich von meiner heutigen Flucht erzählt. Ich bin sicher, die Stiefmutter hätte es nachmittags aus Matthias herausgeprügelt. Die Stiefmutter hätte gemerkt, dass er etwas weiß. Sie hätte ihn so lange geschlagen, bis er mich verraten hätte.

Jetzt erst fällt mir ein, dass die Geschwister sicherlich heute Morgen von Stiefmutter und Vater geschlagen wurden. Weil die Geschwister von meinem Fluchtplan nichts gewusst hatten, ließen sie mich gehen.

Ich hatte den Brüdern also absichtlich nichts erzählt. Sie hätten es melden müssen. Hätten sie es nicht gemeldet, hätten es Stiefmutter und Vater herausgeprügelt. So ist es zu Hause. Das haben uns Vater und Stiefmutter innerhalb eines Jahres beigebracht.

Heute denken Vater und Stiefmutter, die Brüder hätten mich nicht gemeldet, obwohl sie von meinem Fluchtplan wussten. Sie hätten mich heute Morgen gehen lassen, um Vater und Stiefmutter zu schaden. Die Folgen sind klar. Gestern Abend schon hätte ich wissen können, dass die Geschwister heute deshalb geschlagen werden. Hätte ich meinen Plan den Brüdern mitgeteilt, hätten sie mich an der Flucht gehindert. Das hätten sie getan, weil klar ist, dass sie heute dafür verprügelt werden. Deshalb ist mir das nicht schon gestern Abend eingefallen. Ich wäre niemals von zu Hause weggekommen.

5. Vaterrolle

Wegzulaufen ist vielleicht feige. Ich kann nicht geschlagen werden. Die Stiefmutter und der Vater sind nicht hier. Sie wissen nicht, wo ich bin. Ich habe die Geschwister alleine mit der Stiefmutter und dem Vater zurückgelassen. Ich konnte nichts anderes tun, ich musste alleine gehen. Seit Mark geflohen war, wurde es noch schlimmer zu Hause. Täglich wurde es schlechter. Es gab immer mehr Schläge. Ich konnte das nicht länger ertragen.

Was ist das für ein Fluchtplan, der mich heute zur Oma treibt? Konnte ich es bis hier her nur schaffen, weil ich eiskalt plante? Bis jetzt habe ich nur an mich selbst gedacht. Ich dachte nur daran, dass ich weg will. Ich dachte nicht an meine Geschwister. Ich sitze hier in Ruhe. Sie wurden heute Morgen schon geschlagen, wegen meiner Flucht.

Ich bin froh, dass ich jetzt nicht von der Stiefmutter oder dem Vater geschlagen werden kann. Es ist beinahe so, wie bei den Hausaufgaben am Esstisch. Es sind andere da, die geschlagen werden. Ich werde verschont.

Ist das feige? Ich liefere meine Brüder der Stiefmutter und dem Vater aus. Sie werden jetzt nur deshalb geschlagen, weil ich gegangen bin. Wäre ich heute Morgen nicht abgehauen, hätten sie heute vielleicht einen ruhigen Samstag. Wegen mir haben sie jetzt sicherlich keine Ruhe. Ich sitze hier in der Sonne und habe Ruhe. Ich freue mich, weil ich so einen schönen, ruhigen Tag erlebe.

Ich sitze hier in Ruhe, obwohl ich genau weiß, dass andere dafür leiden müssen. Ist das eiskalt? Matthias und Christian sind schließlich meine Brüder! Gut, wir streiten uns manchmal, das ist normal. Aber schlimm ist, dass wir nicht mehr zusammenhalten, wenn es Prügel gibt. Die Stiefmutter und der Vater haben das geschafft. Ich weiß, warum ich beide so hasse. Es geht nicht anders.

Was ist in dem Jahr mit dem Vater passiert? Ich hatte ihn, damals im Kinderheim, doch anders gekannt. Plötzlich schlägt er uns. Damals hatte er gesagt, dass er uns aus dem Kinderheim herausholen möchte, weil er in einer richtigen, schönen Familie mit uns leben möchte. Warum hatte er das gesagt, und warum tut er das heute nicht?

Ich weiß nicht, ob der Vater plötzlich von selbst so schlecht zu uns sein wollte. Einmal, es war damals im Kinderheim, hatte ich einen kleinen Jungen verprügelt, der viel jünger war als ich. Eigentlich wollte ich ihn gar nicht verprügeln! Im Gegenteil ich hatte ihn sogar sehr gern. Er hatte von meinem Radio die Antenne abgebrochen. Sicherlich tat er es versehentlich. Ich war sehr wütend auf ihn. Die anderen Kinder im Zimmer rieten mir: “Lass dir das von dem frechen Kerl bloß nicht gefallen!” Ich wusste, dass der Junge sonst immer ganz nett gewesen war. Ich hatte mich prima mit ihm verstanden. Er hatte noch nie etwas von meinen Sachen kaputt gemacht. Trotzdem schlug ich ihm ins Gesicht. Ich schlug zweimal zu, so fest ich konnte, weil ich ziemlich schwach bin. Der Kleine fiel um. Er blutete aus der Nase. Ich sah, dass ich ihn umgehauen hatte. Er fing zu heulen an. Das hatte mir gleich sehr Leid getan. In diesem Moment wusste ich genau, dass ich das so nicht wollte. Trotzdem hatte ich es getan. Heute glaube ich, ich hatte es getan, weil die anderen Kinder gesagt hatten, ich sollte mir das von dem frechen Kerl nicht gefallen lassen. Nach meinen Schlägen stand ich da. Ich hätte den Jungen gerne vom Fußboden aufgehoben. Ich hätte ihm gerne gesagt, dass es mir Leid tut und dass ich das nicht wollte. Ich hätte mir auch von ihm ins Gesicht schlagen lassen, damit das, was ich getan hatte, wieder gut wird. Das ging nicht. Ich stand da und konnte nichts tun. Am liebsten hätte ich mich wieder mit dem Jungen vertragen. Er hätte von mir etwas geschenkt haben können. Er hätte sich etwas aussuchen dürfen. Ich hätte ihm sogar mein Radio geschenkt, damit wir wieder Freunde sind. Aber es ging nicht. Ich musste die Rolle weiterspielen. Ich musste das tun, wovon ich wusste, dass es schlecht war. Ich hatte etwas getan, das ich überhaupt nicht tun wollte.

Vielleicht geht es dem Vater heute, mit uns Kindern genauso. Warum sonst tut ein Mensch etwas, das er gar nicht will? Der Vater hatte es früher immer sehr gut mit uns gemeint. Seit wir zusammen leben, ist plötzlich alles anders geworden.

Der Vater kann mit uns nicht mehr reden wie früher, bevor er uns so geschlagen hatte. Es geht ihm wie mir, als ich den Jungen geschlagen hatte. Er muss das tun, wegen seiner Rolle.

Vielleicht hatte das alles begonnen, wegen des wenigen Geldes, das er verdient. Vielleicht wegen seiner anstrengenden Arbeit in der Fabrik. Den ganzen Tag lang schwer arbeiten, wenig Geld verdienen und dann abends die schreiende Stiefmutter und unsere schlechten Schulhefte! Nachdem der Vater deshalb das erstemal zugeschlagen hatte, kam er hinein in diese Rolle. Weil er begonnen hatte zu schlagen, konnte er nicht mehr versprechen, was er früher versprochen hatte. Er konnte überhaupt nicht mehr so mit uns reden, wie er es früher getan hatte. Wegen dieser Rolle konnte er nur noch herumschreien, wie die Stiefmutter. Vielleicht hatte der Vater wirklich geplant, anders mit uns zu reden, aber es geht nicht mehr.

Was soll ich jetzt machen? Soll ich wieder aufstehen und weitergehen, zur Oma? Oder soll ich jemanden auf der Straße nach Geld fragen, damit ich zu Hause anrufen kann und dem Vater das alles erklären kann, wie ich es sehe?

Es wäre schön, wenn ich dem Vater das alles einfach erklären könnte. Ich könnte ihm sagen, wie ich darüber denke. Er sagt mir dann, was er darüber denkt. Und er sagt auch, was an meinem Denken nicht stimmt. Es wäre toll, wenn das gehen würde, ohne dass der Vater wieder schlägt. Vielleicht stimmt das, was ich denke ja gar nicht. Vielleicht habe ich gar nicht Recht. Das macht aber gar nichts aus. Wir könnten ja darüber sprechen. Wir könnten so lange darüber reden, bis wir uns auf etwas einigen. Wir können auch in der Nacht noch weiter reden, ich werde nicht so schnell müde. Ich kann die Nacht lang aufbleiben und reden. Wenn der Vater mir alles genau erklärt, dann glaube ich es ihm sicher auch. Es muss ja nicht so sein, wie ich es mir denke. Der Vater denkt ja auch. Ich könnte mit dem Vater reden, wenn er Lust hätte.

Soll ich den Vater einfach anrufen? Was würde er am Telefon zu mir sagen? Will er mit mir darüber sprechen? Würde er die Stiefmutter zu Hause lassen und mit mir reden, ohne zu schlagen?

Ich traue mich nicht, den Vater anzurufen. Ich bin viel zu feige. Bestimmt würde die Stiefmutter mitkommen. Der Vater würde mich verprügeln, weil ich heute fortgelaufen bin. Auch wenn er am Telefon antwortet, dass er ohne die Stiefmutter kommt, ich könnte ihm das nicht glauben. Ich kann dem Vater nicht vertrauen. Er hat zuviel geschlagen. Ich würde ihm gerne glauben, aber es ist vorbei. Ich schaffe es nicht. Wegen meiner Angst vor dem Vater geht das nicht.

6. Am Kaugummiautomat

Ich stehe auf. Der Himmel ist nicht mehr blau, er ist bewölkt. Ich laufe die Nebenstraße weiter hinauf. Das Hallenschwimmbad ist geöffnet. Durch die Glasscheibe sehe ich viele Schwimmer im Becken. Den Bademeister erkenne ich wieder. Langsam läuft er am Beckenrand auf und ab.

Ich gehe einige Schritte weiter zu meiner alten Schule. Mein altes Klassenzimmer liegt im Erdgeschoss. Weil heute Samstag ist, ist kein Unterricht. Das Schuljahr ist bald vorbei. Ob meine alte Klasse dann eine andere Lehrerin bekommt?

Meine Lehrerin war sehr nett. Sie war freundlicher als der Lehrer in der Dorfschule. Obwohl sie immer viel zu Schreiben aufgegeben hatte. In der Ecke stehen oder Ohrfeigen gab es bei ihr nicht. Wenn wir ihr zu laut gewesen waren, schickte sie trotzdem keinen vor die Türe hinaus. Manchmal spielte die Lehrerin auf der Gitarre. Sie sang Lieder mit uns. Sie kannte viele Lieder. Einige von den Liedern kannte ich sehr gut. Die hatten wir früher im Kinderheim oft gesungen.

Das “Stillsitzen” jeden Tag nach der letzten Stunde war nicht schlimm. Manchmal war es gar kein richtiges “Stillsitzen”, weil einige aus der Klasse trotzdem laut waren. Wir durften deshalb trotzdem nach Hause gehen. Niemand musste länger bleiben und in der Ecke stehen.

Jetzt laufe ich um mein altes Schulhaus herum. Ich gehe dicht an ein Fenster heran. Ich werfe einen Blick in mein altes Klassenzimmer. Die Bänke stehen noch genauso da, wie früher. Alle Stühle stehen auf den Tischen. Sicherlich besetzt meinen Platz jetzt ein anderes Kind. Ich war in der vorletzten Reihe gesessen. Das Klassenzimmer sieht unverändert aus. Auf der grünen Tafel steht etwas geschrieben. Ich stehe zu weit weg, ich kann’s nicht lesen. An der Wand hängen Bilder aus dem Malunterricht. Meine Bilder hatte ich damals in der Schule vergessen. Aber an der Wand kann ich sie jetzt nicht mehr finden. Wahrscheinlich wurden sie inzwischen weggeworfen.

Ich gehe weiter. Das Tor am Schulhof ist verschlossen. Der Schulhof wäre eine Abkürzung. Die Nebenstraße führt leicht bergab. Sie führt durch eine kleine Unterführung. Im Moment habe ich keine Angst. Ich fürchte nicht, dass der Vater um die nächste Straßenecke kommen könnte. Ich fühle mich sicher. Ich kenne die Straßen.

Bevor die Stiefmutter den Vater geheiratet hatte, war sie mit einem anderen Mann verheiratet gewesen. Der Mann war verstorben. Ich weiß das deshalb, weil die Stiefmutter, wegen des Todes ihres Mannes Geld geerbt hatte. Eines Tages waren beide, Stiefmutter und Vater, mit einem Stapel Geldscheinen nach Hause in die kleine Wohnung gekommen. Ich glaube, es war viel Geld gewesen. Kurz vor unserem Umzug in das Dorf, kauften sie davon neue Möbel. Nachdem wir in das Dorf gezogen waren, war das Geld bereits ausgegeben. Stiefmutter und Vater mussten sparen.

Im Dorf hatte es kein Taschengeld mehr für uns gegeben. Mein letztes Eis und mein letztes Comicheftchen hatte ich mir damals hier im Ort gekauft. Seit dem Umzug hatte ich nur noch einmal Geld. Es waren die fünfzig Pfennige gewesen, die wir in den Kaugummiautomaten vor Frau Maiers Laden gesteckt hatten. Das Fünfzigpfennigstück hatte ich auf der Dorfstraße gefunden.

Geld ist sehr wichtig. Heute habe ich kein Geld dabei. Obwohl es gut wäre, wenn ich etwas hätte. Jetzt würde ich mir etwas zu Essen kaufen. Wer kein Geld hat, kann auch nichts essen.

Früher, im Kinderheim, hatte es jeden Samstag zwei Mark fünfzig Taschengeld gegeben. Davon durfte ich kaufen, was ich wollte. Wir liefen Samstagvormittags im Gebirgsort herum und kauften von unserem Taschengeld ein. Vor der Taschengeldausgabe waren wir immer im Hallenbad gewesen. Weil ich nach dem Schwimmen großen Hunger hatte, kaufte ich mir oft nicht nur Süßigkeiten sondern auch Brot, Wurst oder Käse. Im Kinderheim gab es jeden Samstag nur eine Suppe zum Mittagessen.

Wenn ich jetzt zwei Mark fünfzig hätte, würde ich mir auch ein Brot kaufen. Jetzt laufe ich wieder schneller, bei der Oma gibt es bestimmt etwas Gutes zu Essen. Sicherlich weiß der Vater, dass ich versuche zur Oma zu laufen. Wo sollte ich sonst hin gehen? Ich kenne niemand anderen, zu dem ich flüchten könnte. Die Oma hat uns Kinder sehr gern, das hatte ich damals gemerkt, als wir sie besucht hatten. Ich glaube, sie mag alle Kinder gerne, sonst würden nicht so viele bei ihr wohnen. Sie sorgt gut für die Kinder, die bei ihr leben. Vor der Oma und dem Opa habe ich keine Angst. Sie werden mich nicht schlagen. Deshalb möchte ich ja auch zu ihnen gehen.

Der Oma werde ich erzählen, was zu Hause passiert. Sie wird mich nicht wieder zurückschicken. Sie soll beim Jugendamt anrufen und fragen, ob ich bei ihr wohnen kann. Sie soll den Leuten im Jugendamt sagen, dass ich nicht wieder zur Stiefmutter und dem Vater zurück möchte. Sie soll sagen, dass ich sonst wieder weglaufen werde, weil die Stiefmutter und der Vater mich sicherlich wieder verprügeln werden. Sie soll erzählen, dass ich dort nicht mehr leben kann.

Die Oma wird das verstehen, sie wird mit dem Jugendamt telefonieren. Sie hätte Matthias und mir sicher auch beim letzten Mal geholfen, wenn wir es bis zu ihr geschafft hätten. Die Oma ist die einzige, die helfen kann. Die Oma weiß, dass ich unterwegs zu ihr bin. Wahrscheinlich hofft sie, dass ich bald komme. Vielleicht macht sie sich Sorgen, dass mir unterwegs etwas passiert. Deshalb beeile ich mich jetzt, dann braucht sie sich nicht so lange Sorgen zu machen.

Ich bin jetzt am Ortsrand, in einer Neubausiedlung. Die Häuser sind noch nicht verputzt, sie sind erst seit kurzer Zeit bewohnt, einige stehen noch leer. Damals hatte es in dieser Straße nur ein einziges, altes Haus gegeben. An dem Haus hing ein kleiner Kaugummiautomat. An einem sonnigen Tag waren wir Geschwister hier vorbeigekommen. Wir waren auf dem Weg zum Abenteuerspielplatz. Wir blieben an dem Kaugummiautomaten stehen. Wir hatten kein Geld dabei. Christian tat so, als hätte er ein zehn Pfennigstück. Das zehn Pfennigstück, das er nicht hatte, warf er in den Schlitz. Er drehte am Hebel. Plötzlich öffnete sich der silberne Deckel, unten am Automaten. Ein roter Kaugummi rollte heraus. Er plumpste auf die Straße und verschwand sofort im Gully am Straßenrand. Christian hatte seine Hand nicht unter den Automaten gehalten. Weder er, noch wir, rechneten damit, dass ein Kaugummi herausrollt. Er versuchte das Spielchen ein zweites Mal. Diesmal hielt er seine Hand unter den Auswurf. Er tat nicht mehr so, als werfe er Geld ein, sondern, er drehte sofort. Wieder kam ein Kaugummi heraus, ein blauer. Da war unsere Freude groß! Christian drehte weiter. Viele bunte Kaugummis rollten aus dem Silberschlitz.

Rund um das alte Haus befanden sich damals viele Baustellen. Die Bauarbeiter hatten uns nicht beachtet. Die Kneipe in dem alten Haus hatte geschlossen. Kein Wagen parkte vor der Tür. Auch die Straße war menschenleer gewesen. Also drehte Christian weiter am Hebel. Abwechselnd hielten wir unsere Jackentaschen auf. Die Kaugummis rollten direkt hinein. Auch die Hosentaschen stopften wir voll. Nachdem wir den Automaten zur Hälfte geleert hatten, gingen wir weiter Richtung Spielplatz.

So viele Kaugummis an einem Tag, hatte ich noch nie gegessen. Am Abend tat mir der Mund weh. Auf dem Rückweg vom Spielplatz, drehten wir nicht mehr am Hebel. Die Kneipenbesitzer waren eingetroffen. Ein Mann stand am Automaten und montierte mit einem Schraubenzieher daran herum. Mit argwöhnischem Blick verfolgte er uns vier Geschwister. Wir waren auf der anderen Straßenseite vorbeigelaufen.

Weil wir die vielen Kaugummis natürlich nicht mit nach Hause bringen konnten, hatten wir uns frühzeitig auf den Heimweg gemacht. Wir waren genau den Weg zurückgelaufen, den ich gerade hinter mir habe. Wir liefen vorbei an der Schule, dem Hallenbad bis hinunter zum Sportplatz. Dort gruben wir, neben einem Baum, ein kleines Loch. Jeder legte seine Kaugummis hinein. Am Wasserhahn, beim Sportplatz, spülten wir unsere Münder. Die Stiefmutter durfte nicht riechen, dass wir etwas gegessen hatten. Tatsächlich hatte sie abends nichts bemerkt.

Nachts regnete es. Erst Tage später gingen wir zum Kaugummiversteck. Das Loch gruben wir wieder auf. Der Regen hatte sie alle kaputt gemacht. Über unsere Dummheit hatten wir uns geärgert. Trotzdem war der Tag als wir hier in der Straße den Kaugummiautomaten halb geleert hatten ein großer Glückstag gewesen, vor allem weil die Stiefmutter das am Abend nicht gemerkt hatte. Bei unserem nächsten Spaziergang zum Spielplatz war der Automat abmontiert. Heute ist das ganze Haus verschwunden.

7. Regen im Wald

Auf einem Trampelpfad laufe ich eine steile Wiese hinauf. Den Pfad kenne ich nicht. Er führt hinauf, auf den Berg zur Oma. Die Richtung stimmt. Die Bergstraße ist in der Nähe. Ich sehe sie nicht, aber ich höre sie. Auf der Wiese stehen viele Apfelbäume. Ich reiße mir einen Apfel herunter, er ist winzig und grün. Ich beiße hinein. Schmeckt sauer, der Apfel ist nicht reif. Nein, er ist zu sauer. Ich werfe ihn weg. Pech gehabt, doch nichts zu Essen. Hoffentlich bekomme ich bald etwas zu essen. Es ist nicht mehr weit bis zur Oma. Ich freue mich schon darauf, bei ihr anzukommen.

Der Trampelpfad führt von der Straße weg. Er führt in einen Wald hinein. Ich bleibe auf dem Pfad, auch wenn es ein Umweg bis zur Oma ist. Oben halte ich mich nach links, dann finde ich sicherlich wieder aus dem Wald heraus.

Im Wald höre ich viele Geräusche. Es knackt und raschelt. Gezwitscher von Vögeln, die ich nicht kenne, ein Piepsen. Viele Tiere sind unterwegs und machen Lärm. Meine Schritte im Laub, am Boden sind sehr laut. Von oben aus den Laubbäumen höre ich Geräusche. Die Blätter rauschen, und es hört sich an als fielen ständig Tropfen auf das Walddach. Der Pfad hört jetzt auf. Er verliert sich zwischen den Laubbäumen. Trotzdem gehe ich weiter. Ich brauche keinen Weg. Ich halte mich nach links. Ich werde schon wieder aus dem Wald herausfinden. Ich bleibe stehen und sehe mich um. Niemand folgt mir. Ich höre auf die vielen Geräusche. In der Nacht wäre das hier im Wald nichts für mich. Ich hätte Angst und würde mich wahrscheinlich verlaufen.

Jetzt höre ich genau hin. Ich höre mehr als den Wald. Das Rauschen aus der Ferne ist der Lärm des Ortes. Noch vor Minuten war ich da unten gewesen und hatte nicht gemerkt, welchen Lärm der Ort macht. So laut können nur die Autos sein die im Ort herum fahren. Jetzt höre ich es genau. Es sind Automotoren, aus denen sich dieses Rauschen bildet.

Ich erinnere mich an den Wald beim Kinderheim. Das Kinderheim liegt oben auf einem hohen Berg. Rund um das Haus gibt es steile Wiesen und Wälder. Unten im Tal liegt der Gebirgsort. Bei schönem Wetter war ich jeden Nachmittag die steile Wiese hinter dem Haus hinaufgelaufen. Von dort oben am Waldrand hatte ich einen sehr guten Blick auf das Tal und den Ort. Ich hatte den Ort aber nur dann gehört, wenn ich allein da oben am Waldrand stand. Meist war ich da oben nicht allein gewesen. Es waren immer viele Kinder mit dabei. Nachmittags, nachdem wir die Hausaufgaben erledigt hatten, spielten wir zusammen im Wald. Nur zwei oder drei Mal stand ich ganz allein da oben. Der Wald ist auch dort sehr leise. Von der Ferne hatte ich immer das Geschrei der anderen Kinder gehört. Sie spielten Cowboy und Indianer.

Ich gehe weiter. Jetzt trifft mich ein Tropfen. Es regnet. Die ersten Tropfen fallen durch das Walddach.

Ich bin sicher, dass die Menschen in den Freibädern jetzt eilig ihre Klamotten zusammenpacken. Sie suchen nach einem Plätzchen um sich unterzustellen. Die Menschen springen von den Liegewiesen auf. Ihre Handtücher rollen sie eilig zusammen und verstauen sie in ihren Badetaschen. Ein Ansturm auf den überdachten Kiosk findet statt, weil man dort vor dem Regen geschützt ist. Der Verkäufer erlebt das große Geschäft des Tages. Im Eingang des Freibades drängen sich Kinder und Erwachsene unter dem großen Vordach. Auch unter den Bäumen auf den Liegewiesen drängen sich die Menschen zusammen. Jeder Badegast möchte den Tropfen von oben entkommen. Mit den ersten Regentropfen entsteht jetzt dieses hektische Treiben. Schon seit Stunden hatten sich die Wolken am Himmel zusammengebraut. Mit Regen war also rechnen. Kaum ein Badegast hatte sich darum gekümmert. Viele ahnten zwar, dass es losgehen könnte, aber trotzdem hofften die meisten darauf, dass der Regen ausbleiben werde. Viele der Menschen im Freibad versuchten nicht daran zu denken. Man sprach nicht über den herannahenden Sturm. Man hoffte darauf, dass die Sonne wieder durchkommt. Man hoffte, dass sie es schafft, die Wolken zu vertreiben. Obwohl sich immer dickere Regenwolken am Himmel versammelt hatten, obwohl es dunkler und dunkler geworden war, obwohl sich eindeutig ein Gewitter zusammengebraut hatte, blieben viele Menschen im Schwimmbad. Am Himmel hatte es nicht den geringsten Anhaltspunkt gegeben, der ihre Hoffnung auf erneuten Sonnenschein begründet hätte. Trotzdem blieben die meisten Badegäste. Sie wollten sehen und spüren, dass wirklich Tropfen fallen. Sie hofften bis zum Schluss. Der Himmel war pechschwarz geworden. Die Menschen blieben auf ihren Badetüchern sitzen. Manch einer sprang noch einmal munter ins Wasser und schwamm im Becken seine Bahnen. Die Schwimmer im Wasser hätten die ersten zwei, drei Tropfen, die die Wasseroberfläche erreichten, sofort als Regentropfen erkennen können. Das taten sie nicht. Stattdessen redeten sie sich ein, es seien Spritzer, die sie selbst und andere Schwimmer verursachten. Weil die Gewittertropfen jetzt richtig dick sind und heftig auf dem Wasser aufschlagen, geben die Schwimmer schließlich auf. Überall auf der Wasseroberfläche sieht man diese runden Kräusel. Unzählbar viele Tropfen schlagen auf. Heftiger Wind peitscht über das Schwimmbecken. Endlich verlassen die Schwimmer das Becken. Es gießt in Strömen. Der Wind reißt Sonnenschirme um. Grüne Blätter fetzt er von den Bäumen. Schnell wird es kühl. Man zieht sich eine trockene Jacke über.

Nur einige wenige Badegäste hatten mit dem Regen gerechnet. Sie hatten nicht darauf gehofft, dass das Wetter hält. Im Radio hatten sie den Wetterbericht gehört. Deshalb wussten sie, dass das Wetter nachmittags umschlägt. Deshalb hatten sie schon vor Stunden das Bad verlassen.

Jetzt ist es nicht mehr wichtig, ob man sich einen schönen Nachmittag mit Spaß im Schwimmbad erhofft hatte. Die Wetterlage ist eindeutig schlecht. Im Schwimmbecken kann man jetzt vom Blitz getroffen werden. Wichtig ist, so schnell wie möglich ins Trockene zu gelangen. Die ursprüngliche Vorstellung von einem schönen Tag im Wasser sollte man jetzt schnell vergessen, denn es wäre Unsinn, weiter von einem sonnigen Tag zu träumen. Es ist höchste Zeit, diesen Traum aufzugeben, denn niemand hat jetzt noch Zeit zu verlieren, um sich selbst und die Kleidung ins Trockene zu retten.

Es ist sehr schade, dass es für meine Geschwister und mich keine Vorhersage, ähnlich einem Wetterbericht für dieses vergangene Jahr beim Vater gegeben hatte. Ich hätte gewusst, wie schlecht dieses Jahr werden wird und ich hätte mir nichts erhofft.

8. Auf dem Berg

Das Dach der Laubbäume im Wald schützt mich vor den Regentropfen. Der Regen nimmt zu. Das Walddach lärmt. Ich halte mich seit einiger Zeit nach links. Ich laufe sehr schnell, so schnell es geht. Ich höre meine Schritte auf dem Laub nicht, der Regen übertönt jetzt alles. Jetzt bin ich nicht mehr der Lauteste im Wald.

Es wird heller. Ich erreiche das Ende des Waldes. Es geht nicht mehr bergauf. Ich bin oben. Es ist der Berg der Oma, den ich nun endlich erreiche! Jetzt treffen mich die ersten, dicken Regentropfen. Die Strickjacke wird mir nicht lange Schutz vor dem Wasser bieten. Der Weg zur Oma ist aber nicht mehr lang. Vielleicht erreiche ich sie, bevor der Regen meine Jacke durchdringt.

Die Oma spricht sehr viel. Sie unterhält sich mit den vielen Kindern und Erwachsenen, die in ihrem Haus leben. Sie redet viel mit dem Opa. Sie fragt, ob es gut geht. Die Menschen im Haus sprechen über ihre Arbeit, über die Schule, über den Garten, über das Wetter und über vieles Andere. Sie sitzen in der Küche am Küchentisch und reden.

Sie überlegen, was der Opa von seiner Einkaufsfahrt in den Ort mitbringen soll. Sie besprechen, was die Oma zum Mittagessen kochen wird. Die Oma kocht immer gutes Essen. Ich freue mich schon darauf, weil ich jetzt richtig Hunger habe. Früher, als wir die Oma mit dem Vater besucht hatten, sprach die Oma auch mit dem Vater sehr viel. Sie hatte dem Vater geholfen uns Kinder aus dem Kinderheim herauszuholen. Sie wollte, dass wir nicht im Kinderheim leben, sondern wir sollten in der Familie leben. Das hatte sie einmal gesagt, aber damals hatte sie noch nicht gewusst, wie der Vater mit uns zusammenleben wird. Der Vater und die Oma hatten sich früher gut miteinander verstanden. Das ist vorbei. Heute verstehen sie sich nicht mehr gut. Ich glaube, das liegt daran, dass die Oma weiß, wie die Stiefmutter und der Vater zu Hause mit uns umgehen. Ich glaube, deshalb haben wir die Oma so lange nicht besucht. Der Vater weiß, dass die Oma immer fragt, wie es geht. Der Vater will nicht, dass wir der Oma von zu Hause erzählen.

Gleich komme ich bei der Oma an. Ich werde alles erzählen. Mir ist es jetzt egal, ob der Vater das will oder nicht. Ich kann sowieso nicht mehr zu ihm zurück.

Große Regentropfen klatschen auf die schwarze Straße und auf die parkenden Autos am Waldrand. Meine Strickjacke tropft. Meine Haare sind nass. Wassertropfen laufen durch mein Gesicht. Das Wasser läuft wie ein kleiner Bach die Bergstraße hinunter. Kein Mensch läuft auf der Straße. Kein Auto fährt vorbei. Ich gehe über die Straße. Ich sehe kein Vordach, unter das ich mich stellen kann. Es gibt keine überdachte Bushaltestelle, keinen Hauseingang. Im Wald kann ich nicht bleiben. Der Regen ist zu stark für das dünne Blätterdach. Also laufe ich schnell die Straße hinunter. Ich erreiche die Kreuzung, an der die Bergstraße und die Straße, in der die Oma wohnt, zusammentreffen. Von beiden Straßen läuft viel Regenwasser zusammen. Es fließt die steile Bergstraße hinunter. Dem Treiben des Wassers auf der Straße würde ich gerne weiter zusehen. Aber ich habe keine Zeit.

Ich überquere die nasse Straße. Auf dem Gehsteig laufe ich schnell zum Haus der Oma. Der Vater sitzt immer noch im Käfer. Er sucht mich nicht hier oben auf dem Berg. Er fährt noch unten im Ort herum.

Wie wird mich die Oma begrüßen? Was sagen die anderen Kinder und Erwachsenen im Haus, wenn ich gleich zur Tür hereinkomme? Kann ich bei der Oma bleiben? Wird sie dem Jugendamt alles erklären und sagen, dass ich nicht wieder beim Vater wohnen kann? Kann ich heute Nacht gleich bei der Oma bleiben? Das alles weiß ich nicht. Nur eines ist ganz sicher: bestimmt werde ich gleich etwas zu essen bekommen, denn ich habe großen Hunger.

Ich erreiche die Straße, in der die Oma wohnt. Ich bin gut bei der Oma gelandet, endlich hat es geklappt. Der dritte Versuch die Oma zu erreichen, ist nicht gescheitert. Darüber bin ich sehr froh. Es hätte unterwegs etwas schief gehen können. Der Vater hätte mich finden können. Andere Leute auf der Straße hätten mich zur Polizei bringen können. Aber es ist nichts passiert, ich habe es heute geschafft. Jetzt bin ich sehr erleichtert. Der Vater braucht nicht mehr nach mir zu suchen. Ich bin bei der Oma. Er kann mich jetzt nicht mehr finden. Ich werde sehen, wie es bei der Oma mit mir weiter geht.

V. Ins Gebirge

1. Es ist zu spät

Der Tacho zeigt Einhundertzwanzig. Die Tachonadel zittert. Manchmal bewegt sie sich über, manchmal fällt sie etwas unter die Einhundertzwanzig. Am Lenkrad sitzt ein Mann. Er trägt eine hellbraune Lederjacke. Auf dem Kopf hat er kaum mehr Haare. Er hat noch keine richtige Glatze, hinten wachsen noch Haare. Oben und vorne sind sie alle schon weg. Es ist Herr Neumann. Neben ihm sitzt Frau Michaels. Ihre Haare sind blond und gelockt. Sie fallen bis zur Schulter herab. Sie trägt eine große, braune Brille. Sie ist mit einer roten Jacke bekleidet und trägt eine weiße Bluse. Schon ein paar Mal hat sie in den kleinen Spiegel gesehen, der unter der Sonnenblende angebracht ist.

Ich sitze hinter Frau Michaels. Von hier kann ich Herrn Neumann besser sehen als sie. In Vaters Käfer war ich immer hinter dem Fahrersitz gesessen. Hier im Wagen, sitzt dort jetzt mein Bruder Matthias. Heute Morgen, um halb neun Uhr sind wir in der Stadt abgefahren. Die Uhr neben dem Tacho zeigt jetzt Viertel vor Elf.

Mit Opa war ich heute Morgen in seinem grauen Käfer zum Jugendamt in die Stadt gefahren. Im Jugendamt, es ist ein altes Haus, warteten oben im ersten Stock alle auf uns: Matthias, Herr Neumann und Frau Michaels. Ich hatte Matthias seit zwei Wochen nicht gesehen. Trotzdem haben wir uns heute Morgen nicht besonders begrüßt. Er sagte: “Hallo”. Ich sagte auch “Hallo”. Das war’s. Matthias hatte keine gute Laune heute Morgen, das merkte ich sofort. Ich glaube, es war ihm in den vergangenen zwei Wochen nicht gut gegangen. Vielleicht hatte er deswegen so schlechte Laune. Vielleicht hatte er keine Lust, auf die lange Autofahrt.

Herr Neumann und Frau Michaels begrüßten den Opa und mich freundlich. Im Büro standen zwei kleine Koffer. Es sind unsere Koffer, sie liegen jetzt hier im Kofferraum. Herr Neumann nahm beide Koffer und wir alle gingen hinunter zum Auto. Er lud die Koffer in den Wagen, einen gelben VW-Passat. Ich verabschiedete mich von Opa, dabei hatte ich einige Tränen in den Augen. Ich weiß nicht, wann ich ihn wieder sehen kann. Auch Herr Neumann, Frau Michaels und Matthias verabschiedeten sich. Wir stiegen in den Wagen, die Fahrt ging los. Opa stand auf dem Parkplatz und winkte uns hinterher.

Das Wetter ist nicht schön heute, es ist bewölkt draußen. Heute Morgen, als wir oben vor dem Haus der Oma losgefahren waren, sah ich aus dem Ort kleine Nebelbänke aufsteigen. Ich erkannte noch nicht, wie das Wetter heute wird. Es hätte auch die Sonne herauskommen können. Jetzt auf der Autobahn sieht draußen alles grau aus, aber es regnet nicht.

Heute Morgen war ich sehr früh aufgestanden. Bevor die Kinder in die Schule fuhren, verabschiedete ich mich von ihnen. Heute ist Montag, ein ganz normaler Schultag. Nachdem alle Kinder mit ihren Schultaschen das Haus verlassen hatten, saßen die Oma, der Opa und ich noch in der Küche. Es blieb noch ein bisschen Zeit, bevor wir ins Auto steigen und fahren mussten. Die Oma sagte, ich könne sie bald besuchen, das hätte sie bereits mit den Leuten vom Jugendamt besprochen. Matthias und ich könnten in den Schulferien zu Besuch kommen. Das Jugendamt würde die Zugfahrkarten bezahlen. Trotzdem war meine Stimmung schlecht geblieben. Heute Morgen hatte ich ständig daran gedacht, dass es wahrscheinlich für lange Zeit, das letzte Frühstück in Omas Küche ist.

Vor der Haustür hatten wir uns voneinander verabschiedet. Ich wäre gerne geblieben. Ich wollte bei der Oma leben, wie die anderen Kinder in ihrem Haus. Aber das geht nicht. Die Oma schrieb mir noch ihre Telefonnummer mit Vorwahl auf, damit ich einmal anrufen kann. Opa und ich stiegen in den grauen Käfer. Opa fuhr los, Oma stand vor der Türe und winkte, ich winkte zurück.

Während der Fahrt dachte ich, dass es für lange Zeit die letzte Fahrt mit Opa in seinem grauen Käfer hinunter in den Ort ist. Deshalb sah ich mir im Ort alles noch mal genau an. Den Laden, in dem Opa täglich einkauft, den Kaugummiautomaten an der Hauptstraße, den Matthias und ich auf einer Flucht einmal aufbrechen wollten, die Eisdiele, wo wir unser letztes Taschengeld umgesetzt hatten, und das Haus mit Vaters alter Wohnung, wo wir vor einem Jahr gewohnt hatten. Ich möchte nicht so schnell vergessen, wie es im Ort aussieht. Wenn ich zurückkomme, in einigen Jahren, oder wenn ich zu Besuch komme, möchte ich den Ort noch gut kennen.

In den vergangenen zwei Wochen war ich mit Opa fast jeden Tag in den Ort gefahren. Ich war immer mit dabei, wenn er zum Einkaufen, in den kleinen Lebensmittelladen am Ortseingang, fuhr. Alle Angestellten dort kennen Opa. Sie sind sehr nett. Jeden Vormittag begrüßten sie mich und Opa freundlich. Die meisten Dinge, die Opa kaufen wollte, hatten sie bereits für ihn hergerichtet. Als ich das erste Mal mitgekommen war, fragte die Verkäuferin gleich, wer ich sei.

Bei jedem Einkauf unterhielt sich Opa mit den Leuten im Laden. Ich hörte interessiert zu. Jeden Tag gab es Neuigkeiten aus dem Ort. Opa betrat das Geschäft, und sofort begann die Verkäuferin zu erzählen. Mal ging es um den Fußballverein, dann um den Bürgermeister, den Angelverein oder den Kegelklub. Opa interessiert alles. Die Leute im Laden wissen das, ich glaube deshalb erzählen sie ihm jeden Tag so viel.

Wieder Zuhause bei der Oma hatte Opa jeden Tag ausführlich von dem berichtet, was die Leute im Laden erzählt hatten. Oma interessierte sich sehr dafür. Opa brachte aus dem Laden täglich eine Zeitung mit. In der lasen alle Hausbewohner im Laufe des Tages.

In den zwei Wochen bei Oma und Opa war ich nicht in die Schule gegangen. Oma sagte es hätte keinen Sinn, für so kurze Zeit, wieder hier im Ort, in meine alte Schule zu gehen. Ich hatte also in den letzten zwei Wochen Ferien, obwohl keine Schulferien gewesen waren. Deshalb war ich jeden Vormittag mit Opa unterwegs. Alle anderen Kinder aus dem Haus saßen in der Schule.

Zunächst hatte niemand gewusst, wie lange ich bei Oma und Opa bleiben kann. Zwei Mal war ich mit Opa im Jugendamt. Dort wurde ich nach dem Vater gefragt und, warum ich abgehauen war. Ich erzählte alles, genauso wie ich es der Oma erzählt hatte. Im Jugendamt hatten sie gesagt, dass sie mich nicht zum Vater zurückschicken werden. Darüber war ich sehr froh. Sie sagten aber auch, dass ich nicht bei Oma bleiben kann, wie ich das wollte. Es sei zu gefährlich, wenn ich dort bliebe. Der Vater wohnt zu nah. Wir könnten uns auf der Straße im Ort treffen oder er könnte mich von der Schule abholen.

Sie hatten mich gefragt, ob ich in das Kinderheim zurückgehen will, aus dem uns der Vater herausgeholt hatte. Weil ich alle Kinder aus dem Kinderheim kenne und weil ich genau weiß, wo es ist und wie es dort aussieht, bejahte ich die Frage. Dann hatten sie gesagt, dass Matthias auch mitkommen würde, dass aber Christian und Mark nicht dabei sein werden, weil die schon zu alt sind. Ich hatte gehofft, dass wir im Kinderheim endlich wieder alle zusammen sein könnten. Aber das geht nicht mehr. Es ist zu spät. Mark und Christian sind zu alt. Also sitzen jetzt nur wir beide, Matthias und ich, im Auto.

2. Rückweg

Im Auto ist es sehr leise, wir sprechen nichts. Ich denke darüber nach, wie es im Kinderheim werden wird, ohne Mark und Christian. Ich denke an die Kinder, die ich dort alle noch kenne. Ich denke an den Wald und den großen Berg, hinter dem Haus, auf dem wir im Sommer Heu wendeten und im Winter Schlitten fuhren.

Mit den Schlitten spielten wir wilde Verfolgungsjagden. Es gab zwei Gruppen, die Cowboys und die Indianer. Beide verfolgten sich gegenseitig. Die Schlitten waren unsere Pferde, auf ihnen jagten wir den steilen Berg hinunter. Unten stand eine kleine Bretterbude, sie war die Ranch der Cowboys. Immer wieder hatten die Indianer die Ranch überfallen. Einer in den beiden Gruppen spielte den Anführer. Er war der Sheriff bei den Cowboys und der Häuptling bei den Indianern. Gemeinsam saßen die Gruppen um ihren Anführer, sie dachten sich einen Schlachtplan aus. Die Cowboys überlegten, wie sie das Indianerlager, oben im Wald bei dem großen Felsen, überfallen könnten. Die Indianer saßen auf ihrem großen Felsen und überlegten, wie sie die Cowboys unten in ihrer Ranch überfallen könnten.

Einmal hatten wir auf dem riesigen Dachboden im Kinderheim ein Paar uralte, braune, hölzerne Skibretter gefunden. Der Anführer der Cowboys durfte mit ihnen den Berg hinunter fahren. Unten hatten wir eine Sprungschanze gebaut. Mark war der Anführer gewesen. Er stürzte schwer. Er verstauchte sich beim Sprung ein Fußgelenk. Zum Glück war sein Bein nicht gebrochen.

Mark oder Christian waren damals oft die Anführer der beiden Mannschaften gewesen. Sie hatten sich immer neue Pläne ausgedacht, wie die Gegner überlistet werden könnten. Manchmal hörten die Kämpfe und Streitereien des Spieles nach dem Spiel nicht auf. Eine gespielte Schlägerei, nach einer Verfolgungsjagd durch den Wald und über die Wiese den Berg hinunter wurde plötzlich, weil ein Anführer nicht verlieren wollte, zu einem ernsthaften Streit. Niemand wollte gerne der Verlierer sein. Mehrmals hatten sich Christian und Mark heftig gestritten. Sie hatten gemeinsam ein Zimmer bewohnt, dort flogen dann die Fetzen.

Nach einiger Zeit, wenn sie sich wieder vertragen hatten, saßen sie weit oben im Wald, abseits der Wege der vielen Heimkinder. In einer Erdmulde zwischen hohen Laubbäumen und kleinen Tannen hatten sie ihr Versteck. Näherte ich mich der Mulde, sah ich dort leichte Rauchwolken vom Boden aufsteigen. Sie saßen in der Mulde und rauchten Zigaretten. Sie hörten jedes Geräusch, der sich nähernden Kinder. Mark machte drei Mal schnell hintereinander das Geräusch des Uhus. Wenn ich darauf nicht sofort drei Mal wie eine Amsel pfiff, war klar, dass sich ein fremdes Kind oder ein fremder Erwachsener näherte.

Oft hatte es im Kinderheim Streitereien gegeben. Mark und Christian waren immer da. Sie halfen uns aus den Schwierigkeiten heraus. Sie mischten sich ein, wenn sie glaubten, dass wir ungerecht behandelt wurden. Wie wird das jetzt werden, wo sie nicht mehr mit dabei sind? Ich bin sicher, dass es viel besser wäre, wenn sie mit dabei wären. Es geht aber nicht, weil Mark seine Lehre weitermachen muss, und weil Christian bald mit der Schule fertig ist und dann auch arbeiten wird.

3. Keine Zeit zu verlieren

Oma hatte erzählt, dass es nicht stimmt, dass Mark in einem Erziehungsheim wohnt. Die Wahrheit ist, dass er in einem offenen Heim für Jugendliche lebt. Dort bewohnt er sein eigenes Zimmer, für das er einem Schlüssel hat. Am vergangenen Wochenende hatten wir ihn besucht. Er erzählte, dass es ihm sehr gut geht. In seinem Heim ist es viel besser, als es vorher beim Vater gewesen war. Er geht immer noch in die Lehre. In dem Heim kann er seine Zeit frei einteilen. Er ist alt genug, um selbst zu entscheiden, wann er kommt und wann er geht. Er kann jetzt machen, was er will. Er ist für sich selbst verantwortlich. Für sein Zimmer bezahlt er auch dort eine Miete. Die ist klar festgelegt. Er gibt sie an einem vereinbarten Tag im Büro ab. So kann er sich sein Geld einteilen und dafür sorgen, dass es bis zum Monatsende reicht. Niemand taucht überraschend auf und verlangt mehr Geld von ihm. Niemand brüllt ihn an, wenn er das nicht geben kann. Niemand gibt ihm dann eine Ohrfeige.

Mark hatte gesagt, das Mofa könne der Vater behalten. Es hätte ihn vom Vater abhängig gemacht. Der Vater hätte das geliehene Geld zurückverlangt, wann es ihm passte. Es hätte keine feste Regel gegeben, wann er zahlen sollte. Deshalb sei es besser ohne Mofa. Er gehe lieber zu Fuß.

Ich hatte öfter daran gedacht, dass es sein könnte, dass uns die Stiefmutter und der Vater belogen hatten, dass das Erziehungsheim eine Erfindung von ihnen war. Oma erklärte, dass sie das sicher getan hätten, um uns Angst zu machen. So wollten sie verhindern, dass auch wir von zu Hause abhauen.

Weil ich schon genügend Angst hatte, machte mir ihre Geschichte über Mark im Erziehungsheim nicht mehr viel aus. Ich war weggelaufen, nachdem Mark gegangen war. Meinen Fluchtplan, über den ich so lange nachgedacht hatte, verwirklichte ich an diesem Tag, auch deshalb, weil mir Mark fehlte. Wegen ihm hatte ich stets Hoffnung gehabt, dass der Vater irgendwann aufhört zu schlagen. Wenn Mark zu Hause gewesen war, hatte ich keine Angst. Ich hatte gedacht: Solange Mark da ist, gibt es die Chance, dass wir Geschwister eines Tages wieder zusammenhalten werden. Eines Tages werden wir vielleicht sogar mit dem Vater reden können. Vielleicht werden wir die Stiefmutter rauswerfen, wenn sie nicht anders mit uns leben will. Mit uns kann man nicht so leben, wie sie es tut. Wir brauchen ihr Kreischen nicht jeden Tag und Vaters Schlagen brauchen wir auch nicht. Wir wollen normal mit ihr und Vater reden. Eines Tages wird das gelingen. Mark wird dabei helfen. Solange er da ist, besteht Hoffnung.

Ich hatte das gedacht, weil der Vater Mark nie geschlagen hatte. Ich hatte geglaubt, der Vater hätte gegenüber Mark ein schlechtes Gewissen, wegen seines Schlagens. Irgendetwas hatte den Vater vom Schlagen abgehalten, wenn Mark da war. Vielleicht hatte er gespürt, dass das Schlagen nicht gut ist. Vielleicht hatte er das gespürt, weil Mark früher bei den Besuchen des Vaters im Kinderheim mit dem Vater viel gesprochen hatte. Der Vater musste schon damals gemerkt haben, dass er mit Mark vernünftig sprechen kann. Also hatte der Vater schon lange gewusst, dass Mark vernünftig denken kann. Vielleicht hatte der Vater nicht zugeschlagen, wenn Mark zu Hause war, weil er spürte, dass Mark schon viel erwachsener ist, als wir es sind. Ohne dass Mark darüber sprach, hatte er dem Vater vielleicht gesagt, dass Erwachsene, wie der Vater und die Stiefmutter, eigentlich nicht schlagen sollten, weil das nicht nur weh tut, sondern für immer kaputt macht.

Ich glaube, das hatte dem Vater ein schlechtes Gewissen gemacht. Wegen Mark hatte er zu Hause gespürt, dass Erwachsene eigentlich reden sollten, anstatt zu schlagen. Weil das der Vater nach einem Jahr noch nicht verstanden hatte, hielt Mark es zu Hause nicht mehr aus. Er hatte die Hoffnung so lange nicht aufgegeben, bis der Vater an dem Nachmittag wegen des Geldes auch auf ihn eingeschlagen hatte. Da gab er es auf und ging fort.

Marks Weggehen war für mich das Zeichen gewesen, dass der Vater sich nicht ändern will oder kann. Das Schlagen hätte nicht aufgehört. Es war das Zeichen, dass auch die Stiefmutter nichts verstanden hatte und wahrscheinlich nie verstehen wird. Es war das Zeichen, dass alles bleiben wird, wie es sich eingespielt hatte. Es war das Zeichen, dass sich zu Hause nichts verbessern wird. Zu Hause war deshalb keine weitere Zeit mehr zu verlieren.

4. Mark und Christian

Die Tachonadel steht jetzt bei Achtzig. Draußen sehe ich eine Baustelle, der Verkehr läuft nur auf einer Spur. Wir fahren an dampfenden Teermaschinen vorbei. Ich sehe Bauarbeiter in gelben Jacken mit Schaufeln in der Hand.

Auch Mark ist gerade beim Arbeiten. Er steht auf einer Baustelle, irgendwo in einer Stadt oder in einem Dorf. Ich stelle ihn mir oben auf einem neuen Hochhaus vor. Ich sehe ihn auf einem hohen Baugerüst. In seiner Hand hält er eine Maurerkelle. Mit ihr fährt er in den dreckigen, schwarzen Eimer. Er klatscht den nassen, grauen Putz an die Wand. Mit der Spachtel streicht er darüber. Die Wand muss glatt werden. Er klettert das Gerüst hinunter. Seine blaue Arbeitshose ist verspritzt mit grauem Mörtel. Unten hebt er einen schweren Betonsack von einem Stapel auf einer Palette. Er schleppt ihn auf dem Rücken zur Betonmischmaschine. Dort wirft er ihn zu Boden. Er reißt ihn auf. Das graue Pulver schaufelt er in die Maschine. Diese Arbeit macht Mark heute schon seit sieben Uhr.

Leider arbeitet er nicht in einer Reparaturwerkstatt für elektrische Geräte. Er studiert keinen Schaltplan für Fernsehgeräte oder Radios, so wie er es früher in seinem Zimmer im Kinderheim stundenlang getan hatte. Er hat keinen Lötkolben in der Hand, um defekte Bauteile von einer Platine zu lösen und durch neue zu ersetzen. Er hantiert nicht mit einem Messgerät und fahndet nach einem Fehler, den er in einem Kassettenrecorder vermutet. Ich glaube, ihm fehlt die Kraft und der Mut, nach allem, was beim Vater gewesen war, sich einfach eine Ausbildungsstelle in diesem Bereich zu suchen.

Der Vater hatte gelogen. Mark war nicht ins Erziehungsheim gekommen. Vielleicht hatte der Vater auch vorher schon oft gelogen. Vielleicht hätte Mark auch bei einer Lehrstelle im Elektronikbereich genügend Geld verdient, um seine Miete und das Mofa bezahlen zu können.

Hoffentlich hat Mark gleich eine Mittagspause. Nein, das ist noch zu früh, es ist erst halb zwölf Uhr.

Die Tachonadel zeigt jetzt wieder Einhundertzwanzig. Die Autobahnbaustelle ist vorüber. Draußen fällt Nieselregen. Herr Neumann schaltet den Scheibenwischer ein. In den Gischtwolken, draußen vor der Windschutzscheibe, sehe ich ein Meer aus roten Rückleuchten von den Autos, die uns überholen. Die Autobahn ist voll. Auch auf der Gegenfahrbahn ist viel Verkehr. Tausende Lampen fliegen zurück in die Richtung, aus der wir kommen. Die Lichter spiegeln sich im Regen. Sie spielen in den dichten Gischtwolken, welche die Autos aufwerfen. Sie tanzen und reflektieren auf der glänzenden Fahrbahn.

Jetzt stelle ich mir Christian vor. Er sitzt gerade in der Schule. Vielleicht sitzt er auf seinem Stuhl, hinten in der letzten Reihe und hört dem Lehrer zu. Vielleicht passt er heute genau auf, weil er wissen möchte, was in der nächsten Probe abgefragt wird. Oder er ist heute Vormittag noch sehr müde, weil er gestern sehr spät ins Bett gegangen ist. Dann sitzt er jetzt in der Schulbank und versucht, nicht einzuschlafen. Um ein Uhr mittags hat er Unterrichtsschluss. Er kann nach Hause fahren in sein Heim. Er bewohnt ein Zimmer, in demselben Heim wie Mark.

Er war einige Tage nachdem ich zur Oma geflohen war, auch vor dem Vater aus dem Dorf geflüchtet. Christian lief zum Jugendamt in der Stadt, dort hatte er sich nach Mark und mir erkundigt. Weil Christian nur noch ein Schuljahr vor sich hat, hatte das Jugendamt ihn in dasselbe Heim geschickt wie Mark.

Ob er sich selbst sein Mittagessen kocht? Oder gibt es für alle Jugendlichen ein Mittagessen in seinem Heim? Ich weiß es nicht. Vielleicht sitzt Christian jetzt gar nicht in der Schule. Vielleicht war er heute Morgen noch zu müde gewesen und blieb einfach in seinem Bett liegen. In der Schule wird er dem Lehrer Morgen sagen, dass er heute krank gewesen sei. Ob er so etwas machen kann, in seinem neuen Heim?

5. Schule im Gebirgsort

Kennen mich die Kinder in meiner alten Schulklasse, im Bayerischen Gebirgsort, noch? Sicherlich kennen sie mich noch, denn ich bin ja erst seit einem Jahr weg, vom Kinderheim auf dem Berg. An einige Kinder in meiner Schulklasse erinnere ich mich gut.

Manfred, neben dem ich saß, hatte aus seinen Filzstiften Spuckröhrchen gebaut. Damit ärgerte er die Lehrerin und die Mitschüler. Richard hatte jeden Tag viele Pausenbrote dabei. Die nahm er morgens aus seinem Schulranzen und steckte sie unter seine Schulbank. Schon nach wenigen Minuten, in der ersten Unterrichtsstunde, raschelte er an seinen Brottüten unter der Bank herum. Wenn die Lehrerin nicht zu ihm hinsah, hatte er sich immer ein Stückchen vom Pausenbrot in den Mund gestopft. Markus hatte jeden Tag Geld dabei. In der Pause stand er in der langen Schlange, unten in der Pausenhalle am Kiosk. Dort kaufte er sich jeden Tag so viele Lakritzeschnecken, wie er für sein Geld nur bekommen konnte. Alle Kinder aus der Schulklasse, die gerne Lakritze aßen, auch ich, waren dann um Markus herumgestanden und bettelten ihn nach einer Lakritzeschnecke an.

Ich glaube, die erkennen mich sicher gleich wieder. Hoffentlich haben sie eine nette Lehrerin. Oder haben sie inzwischen einen Lehrer? Vielleicht haben sie einen strengen Lehrer, so wie Herrn Götz in unserer Dorfschule?

Im vergangenen Schuljahr hatten wir im Gebirgsort eine alte Lehrerin. Sie hatte schon seit vielen Jahren an der Schule unterrichtet. Ich glaube, unsere Klasse war eine sehr freche Klasse gewesen. Manchmal hatte die Lehrerin Kinder aus der Klasse zum Direktor geschickt. Das ist ein sehr strenger Mann. Einmal kam es vor, dass die Lehrerin das Klassenzimmer verlassen hatte und nicht wieder zurückkam. Sie war einige Tage krank und wir bekamen einen strengen Lehrer als Vertretung. Montags nach einer Woche war die Lehrerin wieder da.

Manfred verteilte wieder seine Spuckröhrchen an andere Kinder in der Klasse. Das hatte er sich nicht getraut, als der strenge Lehrer als Vertretung da gewesen war. Bei dem hatte sich niemand getraut, mit dem Röhrchen ein Stück Papier an die Tafel zu spucken. Bei der Lehrerin sollte nun alles von neuem losgehen. Aber plötzlich brüllte sie Manfred an. Sie verbot ihm, weiter seine Spuckröhrchen zu bauen. Wir Kinder waren überrascht, dass sie genau wusste, dass Manfred es gewesen war, der die Röhrchen gebastelt hatte. Lange Zeit hatte ich geglaubt, sie ahne nicht, wer der Hauptübeltäter war. Die Lehrerin war strenger geworden. Manchmal warf sie Manfred aus dem Klassenzimmer. Trotzdem war sie lange nicht so schlimm gewesen, wie mein strenger Lehrer an der Dorfschule es war.

In den Pausen hatte ich mich jeden Tag im Schulhof mit den Geschwistern Christian, Mark und Matthias getroffen. Jetzt werden Christian und Mark fehlen. In der Schule wird es deshalb nicht mehr so wie früher sein.

6. Ruhe

Wir fahren auf eine Autobahnraststätte. Wir gehen in die Raststätte, um etwas zu Mittag zu essen. Herr Neumann hat einen großen schwarzen Geldbeutel. Er bezahlt alles. Das Essen ist sehr gut. Matthias und ich essen Schnitzel. Es ist unser Lieblingsessen. Wir verlassen das Rasthaus. Draußen regnet es stark. Schnell laufen wir zum Wagen. Herr Neumann sagt, dass wir noch ungefähr drei Stunden fahren werden, bis wir im Kinderheim ankommen. Herr Neumann fährt los. Er steuert den Wagen wieder auf die regennasse Autobahn. Schnell zeigt der Tacho wieder Einhundertzwanzig an. Matthias hat jetzt bessere Laune. Sein Blick ist nicht mehr so grimmig, wie er es morgens im Jugendamt und den Vormittag lang im Auto war.

Jetzt stelle ich mir den Vater vor. Im Moment arbeitet er in der Maschinenfabrik. Die Mittagspause ist gerade vorüber. Der Vater steht wieder an der großen, lärmenden Maschine. Von einem Stapel auf einer Palette, neben der Maschine, nimmt er eine dünne Blechplatte. Er schiebt sie unter die Presse. Dann drückt er auf den grünen Knopf. Von oben senkt sich der schwere Arm der Presse herab. Es entsteht ein lautes Zischgeräusch. Durch Pressluftkraft verformt sich das Blech zu einem Teil für eine neue Maschine. Die schwere Presse fährt wieder hinauf. Der Vater drückt den roten Knopf, um die Presse zu sichern. Jetzt zieht er das geformte Blech aus der Maschine. Er hebt es hoch und lässt es auf einen Stapel, bereits fertiger Bleche, fallen. Er nimmt das nächste Blech vom Stapel und schiebt es erneut unter die Presse. Diese Arbeit macht der Vater jeden Tag, ab Viertel nach sieben Uhr morgens. Schon seit über zehn Jahren ist der Vater in der Maschinenfabrik beschäftigt.

Heute Abend wird der Vater wie jeden Tag um halb sechs Uhr, die Fabrik verlassen. Im weißen Käfer fährt er von der Stadt zurück ins Dorf. Den Käfer parkt er hinter dem alten Haus, wie jeden Abend. Außer der Stiefmutter und ihrem Sohn Paul, ist niemand zu Hause. Die Kinder sind alle nicht mehr da. Der Vater wird die Tür hinter dem Haus laut quietschend öffnen, er wird langsam die Holztreppe heraufsteigen.

Das werde ich nicht hören. Ich werde heute nicht am Küchentisch sitzen und bei jedem schweren Schritt des Vaters mehr und mehr Angst davor spüren, dass er gleich vor mir steht.

Am Ende der Holztreppe angelangt, wird der Vater die Küchentür öffnen. Rati unser Dackel wird ihm schwanzwedelnd entgegenspringen. Nur die Stiefmutter sitzt am Küchentisch. Vielleicht sitzt heute Abend auch Paul neben ihr in der Küche. Jetzt, wo wir Kinder weg sind, kommt Paul vielleicht zum Abendessen aus seinem Zimmer herunter.

Seine schwarze Arbeitstasche mit der Brotzeitdose stellt der Vater auf die Anrichte in der Küche. Die Stiefmutter wartet schon mit dem Abendessen. Sie wird dem Vater heute nichts von uns Kindern erzählen. Sie muss über etwas anderes reden. Sie kann nichts von den Kindern sagen, denn sie sind nicht mehr zu Hause.

Heute Abend muss der Vater nicht mehr in unsere schlechten Schulhefte sehen. Heute Abend wird er froh sein, dass er sich nicht darüber ärgern muss. Der Vater wird keine schlechten Noten mehr in unseren Heften sehen müssen. Er wird kein schlechtes Schulzeugnis mehr ansehen müssen. Weil das alles nicht mehr geschieht, braucht sich der Vater über seine Kinder nie mehr zu ärgern. Er kann sich jetzt ein ruhiges Leben machen. Er kann sich heute Abend, nach seiner schweren Arbeit, an den Tisch setzen und in Ruhe essen. Dabei kann er in aller Ruhe in seiner Zeitung lesen, oder er kann das Radio einschalten und zuhören. Heute Abend muss er nicht hören, welche schlimmen Dinge die Stiefmutter von seinen Kindern berichtet. Er kann sich in seinem Stuhl zurücklehnen und eine Bierflasche trinken. Er braucht nicht mehr seinen Gürtel aus der Hose zu lösen und seine Kinder ins Schlafzimmer zu treiben.

Die Stiefmutter wird uns nicht mehr in den Dorfladen zum Zigarettenkaufen schicken. Frau Maier im Dorfladen braucht uns nicht mehr zu helfen. Sie muss nicht mehr so tun, als bemerkte sie nicht, dass wir ihre Stifte und Radiergummis stehlen. Der strenge Dorfschullehrer braucht nicht mehr zu schimpfen. Ich werde nicht mehr ohne Stifte oder Radiergummi in sein Klassenzimmer kommen. Nie mehr werde ich morgens in die Dorfschule kommen und nach der Tabakspfeife vom Vater stinken. Die Dorfschule werde ich nie mehr betreten.

Jetzt, am Nachmittag, muss die Stiefmutter nicht mehr neben dem Küchentisch stehen und zusehen, wie wir Kinder in unsere Schulhefte schmieren. Sie sieht nicht mehr wie wir, statt einer geraden, sauberen Linie, eine zittrige Kurve ins Schulheft malen. Meine Schulhefte liegen nicht in dem kleinen Koffer im Kofferraum. Sie liegen noch zu Hause bei der Stiefmutter. Aber sie braucht sie nicht mehr anzusehen. Das ist jetzt nicht mehr wichtig. Die Hefte sind voll mit meiner krakeligen Kinderschrift. Die kann sie jetzt in den Küchenofen stecken.

Die Stiefmutter kann jetzt etwas anderes machen. Sie braucht sich nicht mehr über unser Geschmiere in unseren Schulheften zu ärgern. Heute Abend muss sie dem Vater nicht mehr die schlimmen Dinge berichten, über die sie sich tagsüber ärgern musste. Wir sind weg. Die Stiefmutter hat jetzt keinen Grund mehr, sich zu ärgern. Sie hat jetzt Ruhe. Vielleicht ist es jetzt so geworden, wie sie es sich gewünscht hatte. Vielleicht kann sie jetzt die Ruhe in dem alten Haus genießen.

Sie muss uns nicht mehr schimpfen, wenn die Treppe nicht sauber geputzt oder das Zimmer nicht ordentlich gefegt ist. Sie muss sich nicht darüber aufregen, dass die Kinder wieder alles falsch und schlecht gemacht haben. Im Haus ist es jetzt ruhig und friedlich. Es herrscht nicht mehr dieses schlimme Durcheinander, welches wir in das Haus der Stiefmutter und des Vaters gebracht hatten. Ich glaube, ab jetzt wird dort alles schön ordentlich und sauber sein.

Auch im Dorf ist es jetzt ruhiger. Auf der Straße, vor unserem Haus hört man kein lautes Kindergeschrei. Unser Versteck in der Scheune bleibt nun leer. Wir sitzen nicht mehr mit gestohlenen Kaugummis und Zigaretten da oben.

Wird das Unkraut in unserem Garten wieder wuchern? Wird der Gehsteig verschmutzen? Dann werden die Nachbarn auf der anderen Straßenseite denken, dass in unserem Haus etwas “nicht ganz sauber” ist. Ich glaube, deshalb wird das nicht geschehen. Die Stiefmutter und der Vater werden ihr Unkraut jäten. Sie werden ihren Bürgersteig fegen.

7. Für immer

Der Tacho zeigt genau einhundert an. Herr Neumann fährt nicht mehr so schnell, weil es sehr stark regnet. Die Sicht ist sehr schlecht. Der Scheibenwischer jagt über die Windschutzscheibe, trotzdem sehe ich nur wenig. Die Wischblätter hauen ständig hin und her. Der Wagen fährt jetzt noch langsamer, nur noch achtzig. Die Autobahn ist weiß vom aufklatschenden Regen. Hinter jedem Wagen entsteht eine dichte, weiße Gischtwolke. Manchmal sehe ich draußen, vor der Windschutzscheibe, gar nichts mehr. Herr Neumann überholt jetzt nicht mehr, er fährt lieber vorsichtig. Er sagt es ist besser, wenn wir etwas langsamer fahren und gut ankommen, als schnell zu sein und deshalb vielleicht einen Unfall zu bauen. Ich finde es gut, wenn er nicht so schnell fährt. Ich sitze gerne im Auto und sehe zum Fenster hinaus. Ich finde es gut, wenn wir nicht so schnell ankommen.

Die letzte weite Reise mit dem Vater war die Fahrt in seinem Käfer vor fast einem Jahr gewesen. Er hatte uns aus dem Kinderheim abgeholt. Im Käfer war es sehr eng. Wir saßen zu dritt hinten auf der Bank. Mark saß vorne, neben dem Vater. Der Vater fuhr sehr schnell. Manchmal hatte er große Autos wie Mercedes oder Opel überholt. Wir zählten jeden Wagen, an dem er vorbeifuhr.

Der Vater war schon am Vorabend gekommen. Er übernachtete in der Pension, gegenüber der Bushaltestelle Station Erika. An diesem letzten Abend in unserem Kinderheim, hatte uns der Vater zum Abendessen in eine Gaststätte eingeladen. Der Vater sagte, er müsse mit uns feiern, dass er es endlich geschafft hatte, uns aus dem Heim herauszuholen.

An diesem Abend hatte ich zum ersten Mal von der Stiefmutter gehört. Der Vater erzählte, dass sie sehr nett wäre. Ich hatte nicht verstanden, was der Vater damit meinte. Ich verstand nicht, dass wir mit einer Stiefmutter zusammen wohnen würden. Mark und Christian hatten das verstanden. Sie fragten den Vater über die Frau aus. Sie wollten wissen, wo sie herkommt, wie sie heißt und wo er sie kennen gelernt hatte. Ich weiß nicht, was der Vater auf diese Fragen geantwortet hatte.

Am nächsten Tag holte uns der Vater morgens ab. Wir freuten uns, endlich wegzukommen. Ich hatte gedacht, dass ich das Kinderheim nie wieder sehe. Wir verabschiedeten uns von den anderen Kindern. Die beneideten uns, weil wir raus kamen. In der Schule verabschiedete ich mich von niemandem. Obwohl ich wusste, dass wir wegkommen. Aber mir war das nicht so wichtig. Mit den Kindern in der Schule hatte ich nur in der Schule zu tun und nicht in der Freizeit. Ich ging nicht so gerne in die Schule. Dort hatte es genügend Kinder gegeben, die mich geärgert hatten.

Unsere Abfahrt vom Kinderheim war etwas Besonderes. Es kam selten vor, dass Kinder von den Eltern “für immer” abgeholt worden waren. Viele Kinder standen deshalb draußen um den weißen Käfer herum und verabschiedeten sich von uns. Der Vater fuhr langsam los, wir sahen zurück und winkten.

8. Platz es auszuhalten

Heute kommen wir wieder zurück. Damals hatten wir uns gefreut, endlich weg zu kommen. Heute freue ich mich, dass wir wieder hingebracht werden. Im Kinderheim gibt es vieles, das mir nicht besonders gefällt, aber ich weiß, dass es dort viel schöner ist, als bei der Stiefmutter und dem Vater.

Ich kenne das Kinderheim gut. Ich hatte schon viele Jahre dort verbracht. Es gibt sehr strenge Regeln. Der Heimleiter ist sehr streng, das ist nicht schlimm. Schlimm ist, dass er manchmal sehr unberechenbar ist. Er hat einen Stellvertreter, der ist Buchhalter. Das ist nicht schlimm. Schlimm an ihm ist, dass er der Stellvertreter des Heimleiters ist, weil er brutal ist, und noch unberechenbarer als der Heimleiter. Ich kenne das, weil ich es jahrelang erlebt habe. Weil ich weiß, was mit diesen beiden Männern, in dem Kinderheim auf mich zukommt, will ich dort wieder hin. Weil ich das kenne, kann ich damit klarkommen. Trotzdem muss ich vorsichtig sein. Auch im Kinderheim wird man von diesen Männern verprügelt. Aber dort kann ich mich auch gut verstecken. Ich kann ihnen besser aus dem Weg gehen als der Stiefmutter und dem Vater. Und manchmal helfen ältere Kinder.

Es gibt den nahen Wald, in dem wir nachmittags spielen. Es gibt immer die Möglichkeit zu flüchten, wenn die Gefahr besteht, geschlagen zu werden. Im Kinderheim gibt es Kinder, die abhauen. Manche versuchen mit der Bahn zu den Eltern zu flüchten. Sie werden unterwegs im Zug, ohne Fahrkarte, geschnappt. Ich würde nie aus diesem Kinderheim abhauen. Ich weiß gar nicht, wohin ich abhauen sollte. Wo sollte es noch besser sein, als in diesem Kinderheim? Ich kenne dieses Kinderheim, ich kenne die Stiefmutter und den Vater und ich kenne die Oma. Wo ich wohnen will, bei der Oma, kann ich nicht wohnen, weil der Vater zu nah ist. Also bleibt nur dieses Kinderheim.

Weil ich mich im Kinderheim auskenne, weil ich dem unberechenbaren Leiter und dem Buchhalter aus dem Weg gehen kann, weil ich meistens weiß, wann und wohin ich verschwinden muss, ist es der Platz, an dem ich es schon einmal ausgehalten hatte. Ich glaube, ich werde es wieder dort aushalten. Das Kinderheim ist der Platz, der mir am Morgen meiner Flucht aus dem Dorf nicht eingefallen war. Jetzt hier im Auto auf dem Weg zurück dorthin, weiß ich, dass es der Platz sein muss, den ich am Morgen meiner Flucht in meinen Gedanken meinte. Es ist der Ort an dem es erträglich ist.

Im Kinderheim geht es gut, solange ich mich mit den Erwachsenen nicht anlege. Wenn ich ihnen zustimme und ihnen aus dem Weg gehe, was im Dorf bei Vater und Stiefmutter beinahe unmöglich gewesen war, dann geht es gut. Im Kinderheim gibt es keine Prügel wegen Fehlern im Schulheft und schlechten Noten im Zeugnis. Deshalb wird man geschimpft, aber man wird nicht verprügelt.

Es ist wichtig in der Schule nicht sitzen zu bleiben. So lange man nicht sitzen bleibt, fällt man dem Heimleiter nicht auf. Damals waren einige Heimkinder in der Schule öfter sitzen geblieben. Manche von ihnen kamen deshalb auf eine Sonderschule. Diesen Kindern war es im Kinderheim besonders schlecht ergangen. Ihre Schulhefte hatte sich der Heimleiter jeden Nachmittag genau angesehen. In der Hausaufgabenstunde mussten sie lange sitzen und in ihre Hefte schreiben. Zu diesen Kindern hatte der Heimleiter immer gesagt: “Ihr seid hier die dümmsten Idioten!” Alle anderen Kinder machten das dem Heimleiter nach. In diesem Kinderheim ist es deshalb so, dass ich in der Schule nicht sitzen bleiben darf, weil ich sonst auf die Sonderschule komme und vom Heimleiter, dem Buchhalter und allen anderen Kindern immer “der Idiot” genannt werde.

Nur wenige Kinder waren wirklich gut in der Schule gewesen. Weil sie nicht die Volksschule, sondern die Realschule oder das Gymnasium besuchten, nannte sie der Heimleiter die “schlauen Knöpfe”. Auch ihre Schulhefte sah sich der Heimleiter nachmittags genau an. Ist man in der Schule, so wie ich es bin, nicht zu schlecht und nicht sehr gut, dann bleibt man im Kinderheim unauffällig und wird in Ruhe gelassen. Besonders wichtig ist es, dass man im Kinderheim nicht herummeckert, dass man sich nicht ärgert, über Heimleiter und Buchhalter. Sonst werden beide sehr böse und schlagen um sich.

Der Heimleiter spielt gerne Theater vor den Kindern. Er will uns zeigen, dass er der große Leiter ist. Wenn der Heimleiter nicht da ist, macht das der Stellvertreter. Freitagabends nach dem Abendessen, stehen sie im Speisesaal vor den Heimkindern und verteilen die Hausarbeit für die nächste Woche. Daraus machen beide eine lange Show. Zu jeder Aufgabe die ein Kind bekommt, sprechen Heimleiter oder Buchhalter kleine Kommentare. Einzelne Kinder nennen sie in ihren Kommentaren “Idioten”, “Pisser”, oder “unseren Dorftrottel”.

Viele Kinder werden von den beiden Männern nicht mit ihren Vornamen angesprochen, sondern mit dem Wort das ihnen gerade zu dem jeweiligen Kind einfällt. So versuchen sie uns zu ärgern. Wenn man sich darauf einlässt und sich darüber wirklich ärgert, hat man schon verloren. Das können die beiden am wenigsten ertragen: Kinder die ihnen vorhalten, wie sie sind. Kinder, die sich offen über die beiden ärgern oder beschweren.

Am schlimmsten sind Kinder, die sich einmischen und kleine Kinder beschützen wollen. Solche Kinder schlagen sie. Deshalb hatten sie Mark damals öfter geschlagen. Ich hatte mich nicht mehr geärgert oder aufgeregt, über diese beiden Männer. Ich hatte versucht, einfach nicht mehr hin zu hören, wenn sie auch mich mit schlimmen Worten beschimpften. Das werde ich jetzt wieder genauso versuchen, denn ich bin gut damit klargekommen.

Besonders schlecht geht es den Kindern, die nachts ins Bett machten. Sie werden vom Heimleiter und dem Buchhalter “die Pisser” genannt. Alle Kinder machen auch das nach. Bald nennt jedes Kind einen Bettnässer nicht mehr bei seinem Namen, son­dern “Pisser”. Der Heimleiter hatte damals besondere Betteinlagen besorgt. Sobald diese Einlagen nass geworden waren, ging ein lauter Heulton los. Der Heimleiter hatte zu den Kindern, die mit Bettnässern in einem Zimmer schliefen, gesagt: “Die verdammten Pisser erziehen wir trocken zu werden! Wenn nachts die Sirene heult, dann jagt sie aufs Klo!” Kein Kind im Zimmer eines Bettnässers konnte nachts durchschlafen. Mitten in der Nacht gingen die Heulsirenen los. Deshalb hatten die Kinder den Bettnässern jeden Abend angedroht, sie heftig zu verprügeln, wenn nachts das Sirenengeheule wieder losginge. Manche Bettnässer schalteten deshalb abends die Sirene ab. Schnell hatte der Heimleiter das gemerkt. Persönlich erschien er deshalb abends, um zu überprüfen, ob die Sirenen eingeschaltet waren.

Ich glaube, diesem Heimleiter und dem Buchhalter macht es Spaß, Kinder zu ärgern. Meistens hatten beide gelacht, wenn sie die Bettnässer “Pisser” schimpften. Solche Kinder hatten keine Ruhe vor den beiden Männern. Unter den anderen Heimkindern hatten sie keine Freunde. Wenn irgendetwas Schlimmes geschehen war, wenn etwas gestohlen wurde, waren “die Pisser” und “die Idioten” die ersten, bei denen gesucht wurde.

Mir geht es in diesem Kinderheim nur dann gut, wenn ich unauffällig bleibe. Damals hatte der Heimleiter für mich noch keinen Spitznamen gefunden. An mir gab es nichts Auffälliges, womit er mich ärgern konnte. So soll es auch jetzt wieder sein. Es ist deshalb gut, dass ich wieder in das gleiche Heim zurückkomme. Auch wenn ich den Heimleiter und seinen brutalen Stellvertreter nicht mag. Aber ich weiß, wie sie sind und ich weiß, wie ich mich zu verhalten habe, damit ich von ihnen in Ruhe gelassen werde. Etwas Besseres kann ich mir nicht vorstellen.

Wenn ein Schlag des Heimleiters mich doch einmal erwischt, muss ich sofort die Arme auf die Ohren reißen, sonst schmerzt und pfeift es im Ohr. Es ist das gleiche Pfeifen wie nach den Schlägen der Stiefmutter. Im Heim werde ich mich nicht ärgern lassen. Ich werde mich nicht aufregen. Ich werde nicht aufmüpfig sein. Mir wird es wurscht sein, wie mich der Heimleiter und sein Stellvertreter nennen und behandeln werden. Ich werde tun, was sie verlangen. Ich werde vor allem still sein. Wenn ich mich doch mal ärgern muss, werde ich den Ärger nicht zeigen. Wenn ich schreien will, gehe ich hinauf in den Wald. Im Heim kann ich den Schlägen aus dem Weg gehen. Ich kenne die Regeln, und es gibt viele Plätze, wo ich mich im Notfall verstecken kann.

9. Ein kleines Stück Freiheit

Herr Neumann sagt, dass wir in ungefähr zwei Stunden ankommen werden. Die ganze Zeit über unterhielten sich Frau Michaels und Herr Neumann leise miteinander. Wir stoppen noch mal auf einem Parkplatz und gehen auf die Toilette. Frau Michaels fährt jetzt weiter. Der Regen ist schwächer geworden, es nieselt nur noch. Das Wetter passt zu dieser Reise. Die Stimmung im Auto ist gedämpft. Mit Matthias habe ich noch nicht gesprochen, auch er scheint nachzudenken.

Die Mittagspause von Mark ist jetzt vorbei, es ist schon zwei Uhr. Er steht wieder auf dem Gerüst und klatscht mit der Maurerkelle Mörtel an die Wand. Bis zum Feierabend dauert es noch drei Stunden. Dann werden wir schon im Kinderheim angekommen sein. Dann werde ich die Kinder wiedersehen, die auch Mark von früher noch kennen. Ich könnte in das Zimmer gehen, in dem Christian und Mark früher geschlafen hatten. Die Heimkinder werden mich fragen, warum Mark und Christian nicht mit dabei sind. Sie wollen wissen, warum wir ohne sie zurückkommen. Ich werde sagen, dass sie schon zu alt sind, um noch im Kinderheim zu wohnen. Ich werde ihnen einen schönen Gruß von Mark und Christian bestellen.

Wann werde ich meine beiden Brüder, Mark und Christian wieder sehen? Werden wir mal wieder zusammen ein Spiel spielen, so wie wir es am Anfang getan hatten, in der alten Wohnung beim Vater? Wir hatten einige Spiele. Wir spielten sie auf dem Tisch im Schlafzimmer. Der Samstagnachmittag war ein guter Tag zum Spielen gewesen. Es gab keine Hausaufgaben. Wenn das Wetter gut war, gingen wir hinaus auf den Sportplatz. Bei Regenwetter spielten wir in unserem Zimmer. Wir spielten Bingo, Malefiz, Mensch ärgere Dich nicht, Monopoly oder ein Kartenspiel. Oft hatten wir uns nach solchen Spielen gestritten, weil keiner von uns verlieren wollte. Manchmal flog das ganze Spiel durch unser Zimmer. Wer verloren hatte, ärgerte sich sehr. Wer gewonnen hatte, triumphierte. Auch darüber ärgerten sich die Verlierer.

Die Stiefmutter und der Vater wollten Samstagnachmittags immer Ruhe in der kleinen Wohnung haben. Das fiel uns natürlich dann besonders schwer, wenn sich der Verlierer eines Spieles so sehr ärgerte, dass er das ganze Spiel durch das Zimmer warf. Wahrscheinlich werde ich die Brüder Mark und Christian nicht so schnell wiedersehen. Das ist sehr schade, obwohl wir uns beim Spielen oft gestritten hatten.

Im Kinderheim wird es anders sein als früher. Wir werden nur noch zu zweit sein. Im Zimmer von Mark und Christian wohnen andere Kinder, vielleicht neue Kinder, die ich nicht kenne und die mich nicht kennen. Wir werden uns nicht mehr im Zimmer von Mark und Christian treffen, um uns miteinander zu unterhalten. Wir beide werden nun allein im Heim sein. Wir müssen sehen, dass wir neue Freunde finden, mit denen wir sprechen können.

Am schönsten hatte ich damals den Wald beim Kinderheim gefunden. Vielleicht wird es jetzt auch wieder so. Im Wald hatten wir uns versteckt. Wir bauten Baumhütten und kleine Lager. Bei schönem Wetter spielten wir jeden Nachmittag dort. Mit Werkzeugen bewaffnet, marschierten wir den Hügel hinauf in den Wald. Wir suchten uns geeignete Plätze für die Baumhütten. Meist spielten wir immer an denselben Stellen im Wald. Am Waldrand gibt es eine Mulde, in der sich ein großer Felsbrocken befindet. Damals war das unser Treffpunkt gewesen. Von diesem Punkt schwärmten wir aus und machten Verfolgungsjagden durch das Gelände. Mit Messern ritzten wir unsere Namen in den großen Baum neben dem Felsbrocken. Die Bäume in unserem Wald hatten viel auszuhalten. Wir schlugen große Nägel in sie, um die Bretter für die Baumhütten zu befestigen.

Eines Tages hatten wir nicht weit von unserem Treffpunkt beim Felsen drei Baumhütten ganz eng aneinander gebaut. Dort hatten regelmäßig Zusammenkünfte stattgefunden. Mark und Christian schafften Lebensmittel aus der Speisekammer dort hin. In diesen Baumhütten hatten wir unser zweites zu Hause.

Heimleiter und Buchhalter kümmerte sich nicht um das, was wir im Wald gemacht hatten. Deshalb war der Wald das Schönste gewesen. Für die Erzieher war die große Buche auf der ersten Anhöhe hinter dem Haus, die letzte Station, bis zu der sie uns Kindern in den Wald folgten. Ab dieser Buche hatten wir uns stets frei bewegt.

Am Wochenende hatten die Erzieher manchmal unterhalb der Buche mit uns Kindern ein Lagerfeuer gemacht. Das hatte mir immer gut gefallen. Die älteren Kinder durften beim Feuer übernachten. Ich durfte das damals leider noch nicht. Vielleicht kann ich ja jetzt, wo ich etwas älter und größer geworden bin, auch am Lagerfeuer im Freien übernachten.

10. Christian

Christians Schule ist jetzt vorbei. Darüber ist er bestimmt froh, denn er geht nicht gerne in die Schule. Was macht Christian heute Nachmittag? Vielleicht besucht er die Oma. Vielleicht fährt Christian hinauf zur Oma, vielleicht ist er zum Mittagessen bei ihr eingeladen. Er könnte von der Stadt aus mit dem Bus fahren. Er muss den weiten Weg nicht zu Fuß gehen. Im seinem Heim bekommt er Taschengeld, davon kann er den Bus bezahlen.

Christian hatte bei der Stiefmutter und dem Vater nie etwas geschenkt bekommen. Wir alle bekamen nichts von ihnen, aber mit Christian hatten sie es besonders schlecht gemeint. Am Anfang, in der kleinen Wohnung, gab es noch manchmal Taschengeld. Aber für Christian hatten sie nie etwas übrig. Ich weiß nicht, warum sie ihn so behandelten.

An Weihnachten hatten die Stiefmutter und der Vater uns alle überrascht. Sie schenkten Christian einen großen Karton. Der war in buntem Geschenkpapier eingewickelt. Wir alle saßen gespannt auf dem Sofa und sahen Christian dabei zu, wie er freudig sein riesiges Geschenk auspackte. In dem Karton war noch mal ein Karton, der auch in Geschenkpapier eingewickelt gewesen war. Darin kam wieder ein Karton. Ich glaube, es waren insgesamt fünf Kartons, die Christian auspackte. Übrig blieb eine kleine Schuhkiste. Wir hatten alle gespannt auf diese Schuhkiste geschaut. Christian öffnete sie langsam.

In ihr lag ein altes, verkohltes Holzbrett. Die Stiefmutter hatte es im Holzkohlenkeller aufgegabelt. Sie und der Vater hatten Christian damit geärgert. Besonders lustig konnten wir das alle nicht finden. Ich hatte nicht gewusst, was das sein sollte, was sie damit bezweckten.

Geburtstage und Weihnachten waren bei Stiefmutter und Vater die leidigsten Tage. Wir hatten gewusst, dass es besondere Tage waren, dass aber nichts Gutes von ihnen zu erwarten war.

11. Guter Alltag

Herr Neumann sagt, dass es jetzt noch hundert Kilometer sind, bis zum Kinderheim. Draußen regnet es nicht mehr. Frau Michaels sagt, dass es schade ist, dass wir heute wegen der Wolken die Berge nicht sehen können. Bei schönem Wetter könnte man sie jetzt von hier aus schon sehen.

Das Kinderheim liegt auf einem Berg. Eine sehr steile Straße führt hinauf. Ich kenne jede Kurve dieser Straße. Früher war ich auf dem Hof im Kinderheim mit einem Kettcar herumgekurvt. Jede Kurve dieser steilen Straße stellte ich mir dabei genau vor.

Der Heimleiter hatte einen kleinen, roten Fiatbus. In diesem Bus waren wir oft die steile Straße zum Kinderheim hinaufgefahren. Auf einer dieser Fahrten öffnete sich in einer scharfen Kurve plötzlich die Türe. Ein Kind, das sich dort angelehnt hatte, fiel heraus. Der Heimleiter blieb stehen. Das Kind war auf die Wiese am Waldrand neben die Straße gestürzt. Es war zum Glück nichts passiert, nur einige Schrammen hatte es abbekommen. Die Straße hat viele scharfe Kurven. Fährt man sie schnell hinauf, muss man sich im Wagen festhalten, damit man nicht hin und her geworfen wird.

Mit dem Kopf schlage ich leicht gegen die Scheibe des Autos. Ich öffne meine Augen. Matthias sitzt noch neben mir. Frau Michaels und Herr Neumann sitzen auch noch vorne. Aber wir fahren nicht mehr auf der Autobahn. Draußen regnet es stark. Es ist eine kurvenreiche Straße. Wir fahren steil bergauf. Es geht in eine scharfe Linkskurve, dann geht es geradeaus. Die Straße ist sehr steil. Schnell kommt eine scharfe Rechtskurve. Jetzt weiß ich, wo wir sind. Ich kenne die Strecke. Ich war hier früher sehr oft zu Fuß unterwegs gewesen. Manchmal war ich sie im gelben Schulbus oder im roten Fiatbus des Heimleiters mitgefahren. Wir fahren auf der steilen Bergstraße, hinauf zum Kinderheim. Mir bleibt nur noch eine kurze Minute, um über das vergangene Jahr- und darüber nachzudenken, wie es jetzt weitergehen wird. Auf der Autobahn war ich eingeschlafen. Ich hatte nicht gesehen wie wir von ihr herunter fuhren.

Gleich sind wir umringt von Kindern, die ich noch von früher kenne. Sie begrüßen uns, wenn wir auf dem Hof aus dem Wagen steigen. An einem Tisch mit anderen Heimkindern sitzen wir beim Abendbrot. Viele Kinder sitzen, verteilt an vielen Tischen im Speisesaal. In der Mitte des Speisesaals steht ein Tisch, an dem sitzen der Heimleiter, der Buchhalter und unbekannte Erziehe. Der Raum ist hell und kahl. Die Wände sind weiß. An der Decke hängen grelle, helle, viereckige Neonlampen. Im Speisesaal ist es laut. Viele Kinder unterhalten sich. Meinen Bruder und mich fragen die Kinder wie es uns geht.

Der Heimleiter begrüßt uns freundlich. Zum Abendessen stellt er uns einen extra Begrüßungsnachtisch hin. Wir dürfen zwei Quarkspeisen essen. Der Heimleiter ist heute sehr freundlich zu uns. Ab Morgen werde ich wieder versuchen ihm und dem Buchhalter aus dem Weg zu gehen. Ab Morgen wende ich mein Wissen über die Heimregeln wieder an. Ich versuche mich möglichst unauffällig zu verhalten. Vielleicht wird es beinahe so sein, als wäre ich nicht weg gewesen.

Morgen beginnt der Alltag in unserem Kinderheim. Wir schlafen in einem Zimmer mit fünf, sechs anderen Kindern. Nachts weckt uns die Heulsirene eines Bettnässers. Ich kann nicht mehr einschlafen. Ich muss an die Stiefmutter und den Vater in unserem Dorf denken. Ich denke an die Geschwister, die nicht mehr hier sein können. Ich denke an die Oma und den Opa. Nachts nehme ich mir vor, mit meinem ersten Taschengeld bei Oma und Opa anzurufen.

Um sechs Uhr morgens reißt der Buchhalter die Zimmertür auf. Er brüllt: “Aufstehen, ihr Penner!” Dem Bettnässer reißt er die Bettdecke aus dem Stockbett. Er sieht, dass es nass ist. Er brüllt: “Aufstehen, du alter Pisser!”

Mit verschlafenen Augen stehe ich barfuss im Waschraum. Neben mir und hinter mir stehen viele andere Kinder. Wir putzten uns die Zähne. Danach gehen wir über den Hof. Dort liegt sauber gerechter Kies unter der riesigen Eiche. Wir gehen in das andere Haus. Es ist das Haupthaus des Kinderheims. Hinter der weißen Milchglastür neben der steilen schwarzen Kellertreppe, ist der helle Speisesaal. Wir sitzen auf unseren Plätzen am Frühstückstisch. Ich weiß nicht, ob es die gleichen Plätze sein werden wie vor einem Jahr, als wir Geschwister noch alle zusammen hier waren.

Nach dem Frühstück fegen wir unser Zimmer. Wir machen unsere Betten und dann putzen wir irgendwo herum. Ich weiß noch nicht wo, denn ich weiß noch nicht, welchen Haushaltsdienst der Heimleiter mir in dieser Woche gibt. Vielleicht putze ich das Klo, vielleicht die Waschbecken, vielleicht fege ich den Flur oder das Treppenhaus.

Um sieben Uhr morgens gehe ich hinunter in den Keller, unterhalb des großen Speisesaals. In dem niedrigen, neonbeleuchteten Kellerraum hängen an vielen Haken unsere Jacken und Schultaschen. Vielleicht hängt meine Jacke am gleichen Platz, wie vor einem Jahr. Ich ziehe sie und auch meine geputzten Schuhe an. Meine Schuhe sind ordentlich mit brauner Schuhcreme geputzt, weil ich sie, genauso wie ich es früher jeden Nachmittag um fünf Uhr getan hatte, zusammen mit allen Heimkindern in diesem Keller täglich putzen werde. Der Heimleiter achtet genau darauf, dass alle Kinder täglich pünktlich beim Schuhputzen im Keller sind.

Mit meinen sauberen Schuhen und meiner gelben Regenjacke bekleidet und mit meiner Schultasche auf dem Rücken, laufe ich um Viertel nach Sieben Uhr, zusammen mit den vielen anderen Kindern zur Station Erika, unserer Bushaltestelle. Auf dem Weg dorthin höre ich genau zu, was die großen Kinder miteinander sprechen. Ich will hören, ob sie wieder vom Krieg sprechen, von dem sie im Fernsehen gehört und gesehen haben. Ich will ihnen genau zuhören, weil ich wieder wissen will, wie gut es uns Kindern im Kinderheim geht. Um das richtig spüren zu können, will ich genau wissen, wie schlecht es den vielen Kinder im Krieg auf der ganzen Welt geht.

An der Station Erika warte ich mit den vielen Heimkindern auf unseren gelben Schulbus. Der Bus rollt die schwarze Straße hinunter. Die großen Kinder steigen zuerst ein. Ich und andere, kleinere warten geduldig. Wir sind froh, dass noch nicht Winter ist, weil wir deshalb nicht, kurz bevor der Bus kommt, von den größeren Buben in den eisigen Schnee geworfen und eingerieben werden.

In der Schule kenne ich mich noch gut aus. Morgen früh holt uns der Direktor am Schulbus vor dem Schulhaus ab. Er begrüßt meinen Bruder und mich freundlich. Er bringt uns in unterschiedliche Klassenzimmer. Ich komme wieder in meine alte Schulklasse. Der Direktor steht mit mir vor der Klasse. Dem neuen Lehrer und den Kindern sagt er, dass ich nun wieder da bin. Der neue Lehrer schüttelt mir die Hand. Der Platz neben Manfred ist frei. Ich setze mich wie vor einem Jahr wieder neben ihn. Manfred fragt mich, wo ich so lange gewesen bin. Er bastelt keine Spuckröhrchen mehr. In der Pause erzählt er, dass der neue Lehrer sehr gescheit und sehr streng ist. Weil der Lehrer unbedingt will, dass wir viel von ihm lernen, so erklärt Manfred, hat er mit den Spuckröhrchen endgültig aufgehört. In der Pause treffe ich mich mit Matthias. Ich rede mit ihm darüber, wie es ihm geht.

Mittags fahre ich zusammen mit vielen Kindern in dem gelben Schulbus wieder hinauf in unser Heim. Dort essen wir aus den weißen, zerkratzten Plastiktellern unser Mittagessen.

Jeden Samstag gibt es Cornflakes in Milch zum Frühstück. Weil das etwas Besonderes ist, freuen wir uns schon die ganze Woche darauf. Jeden Samstagvormittag gehen wir hinunter ins Tal. Wir besuchen das Hallenbad. Nach dem Schwimmen bekommen wir das Taschengeld vom Buchhalter ausbezahlt. Im Gebirgsort kaufe ich mir etwas zu essen, weil es Samstagmittag nur Suppe gibt. Vielleicht kaufe ich ein Comicheftchen.

Jetzt, solange noch Sommer ist, gehen wir am Wochenende wieder ins Freibad. Im Naturwasserbecken spielen wir Fischjagd. Ich habe immer noch Angst, dass mich unter Wasser ein winziger Fisch streift. Jeden Nachmittag zwischen der Hausaufgabenzeit und dem Schuhputzen rennen und toben wir oberhalb des Hauses im Wald herum. Wir bauen Baumhütten und spielen Cowboy und Indianer. Auf dem steilen Hügel ist das Gras schon zum zweiten Mal in diesem Sommer abgemäht. Am Samstagnachmittag wenden wir das Heu. Vom Heimleiter bekommt jeder als Belohnung für das Heuwenden eine Limoflasche. Ich streichle das Pony im Stall. Ich setze mich nicht mehr drauf.

Nach dem Mittagessen schreibe ich meine Hausaufgaben in meine Schulhefte. Niemand gibt meinem Bruder oder mir eine Ohrfeige. Beim Schreiben zittern wir noch eine Zeit lang. Die Linien bleiben noch krakelig, wie sie das beim Vater gewesen waren. Irgendwann hört das Zittern auf. Die Linien sind dann fast gerade. Dann schreibe ich lange Aufsätze in der Schule. Dafür bekomme ich manchmal sogar gute Noten. Vor allem beim Hausaufgabenmachen denke ich immer wieder an das Gekreische der Stiefmutter und an den abends schlagenden Vater.

Draußen erkenne ich jetzt alles. An der Station Erika, wo wir täglich auf den Schulbus warten, steuert Herr Neumann den Wagen von der Bergstraße nach rechts ab. Auf der Nebenstraße überqueren wir über eine Brücke die Rodelbahn. Auf dieser Rodelbahn waren wir vier Brüder vor mehr als einem Jahr das letzte Mal gemeinsam hinunter in den Ort gelaufen. Jetzt steuert Herr Neumann den Wagen an der kleinen Pension vorbei, in der Vater übernachtet hatte, als er uns vor einem Jahr im Heim abgeholt hatte.

Es sieht alles unverändert aus. Nur die Straße ist neu geteert. Nach der grauen Mauer, die den Berg davon abhält auf die Straße zu stürzen, biegt Herr Neumann links ab. Jetzt erkenne ich oben die beiden Häuser und zwischen ihnen die riesige, alte Eiche auf dem Hof. Unser Kinderheim. Herr Neumann steuert um die letzte Rechtskurve. Durch das Wagenfenster schaue ich hinunter ins Tal. Dort hängen viele Wolken. Es wird gerade dunkel. Der Regen ist sehr stark, so wie ich das früher an diesem Berg oft erlebt hatte. Die Zeit meines Nachdenkens ist vorbei. Meine Flucht ist hier beendet. Jetzt kommt mir die Zeit in dem kleinen Dorf sehr kurz vor. Meine beiden Geschwister Mark und Christian sind nicht mit uns gekommen.

VI. Später

Den brutalen Buchhalter, genauso wie den Heimleiter ertrage ich in dem Kinderheim auf dem Berg jahrelang. Nicht immer schaffe ich es, das Gefühl zu leben, mit beiden nichts zu tun zu haben. Das liegt daran, dass es mir doch nicht so gut gelingen mag, wie ich es mir vorgenommen hatte, beiden aus dem Weg zu gehen.

Manchmal kann ich meine Wut wegen der gewalttätigen Art dieser beiden Männer, wie sie uns Heimkindern oft gegenübertreten, nicht für mich behalten. Mehrmals erwischt mich vor allem der Buchhalter dabei, wie ich andern Kindern aufgebracht und wütend erzähle, was ich von dem Zuschlagen der beiden Männer halte. Deshalb schlagen mich Buchhalter und Heimleiter hin und wieder grün und blau.

Nach Jahren verlasse ich das Kinderheim mit dem brutalen Buchhalter und dem unberechenbaren Heimleiter. Mark hatte recht gehabt. Der Heimleiter ist ein brutaler Mensch. Was Mark lange befürchtet hatte, hat der Mann tatsächlich getan. Kurz bevor ich das Kinderheim verlasse, wird der Heimleiter von der Polizei abgeholt. In einem Gerichtsverfahren wird er zu mehrjähriger Haft verurteilt. Seine Verurteilung hängt mit den jungen Heimbewohnerinnen zusammen, hinter denen der Heimleiter oft her gewesen war. Wegen ihnen hatte sich Mark damals mit dem Mann angelegt. Deswegen hätte der Heimleiter Mark beinahe in ein Erziehungsheim geschoben.

Nach Jahren, ich wohne lange schon nicht mehr in dem Heim, zieht der Buchhalter mit seinem Kinderheim um. Das Haus wird verkleinert. Der Buchhalter leitet es weiter, bis zu seiner Berentung. Niemand beklagt sich bei dem Mann darüber, dass er damals Kinder verprügelt hatte. Keiner fragt ihn eines Tages, warum er die Heimkinder damals so unter Druck gesetzt hatte und warum er unkontrolliert auf sie eingeschlagen hatte. Auch ich stelle dem Mann diese Fragen nicht.

Mark muss noch lange schwer arbeiten. Er ruiniert sich den Rücken. Er verrichtet unterschiedliche Arbeiten. Er ist Fahrer, Verkäufer, Postbote, Rolladenbauer, Koch, Hausmeister, Büroangestellter, Automechaniker, Bühnenarbeiter und vieles mehr. Nirgends hält er es lange aus. Oft ist es nicht die Arbeit, die ihn nicht lange hält. Es sind die Menschen, seine Vorgesetzten.

Mark lernt, dass das Leben davon abhängt, welchen Beruf man gelernt hat. Er lernt, dass es nicht interessiert, was man davor getan hatte. Er lernt auch, dass es nicht interessiert, warum man nicht den Beruf lernen konnte, für den man sich interessiert hätte. Die Vorgesetzten in seinen tausenden Jobs interessiert es nicht, welche Fähigkeiten ein Mensch wie Mark hat. Dafür dass er sich als Kind engagiert hatte, dass er sich für uns eingesetzt hatte, dass er Kinder, die bedroht wurden zu schützen versucht hatte, erntet er niemals Dank.

Ich glaube, damals im Kinderheim und beim Vater hatte Mark sich menschlich verhalten, sonst nichts. Das interessiert in seiner Arbeitswelt niemanden. In seinem Beruf nützt ihm das nicht. Mark hatte damals versucht den Vater vom Schlagen abzubringen, und er hatte versucht den Heimleiter und seinen brutalen Stellvertreter zu überzeugen nicht mehr zuzuschlagen. Der brutale Buchhalter aber blieb brutal. Der Heimleiter war ins Gefängnis gekommen. Der brutale Buchhalter war Heimleiter geworden.

Hätte Mark mehr Angst haben müssen, so wie ich? Vielleicht ist der Satz falsch, den der Lehrer in der Dorfschule, damals aus dem Buch vorgelesen hatte:

“Angst ist ein schlechter Ratgeber.”

Ich glaube, Mark hatte damals wenig Angst. Er hatte sich von seiner Angst nicht beraten oder gar leiten lassen, so wie ich es oft getan hatte. Vielleicht hatte sich Mark deshalb, weil er sich so wenig von seiner Angst beraten ließ, so oft in den Weg gestellt. Vielleicht hatte er deshalb so viel Platz für die Idee im Kopf gehabt, dass der Heimleiter, der Buchhalter und der Vater menschlicher sein müssten. Weil in seinem Kopf nur wenig Angst gewesen war, hatte er Platz für die Utopie gehabt, dass diese Erwachsenen nicht schlagen dürften. So könnte es damals gewesen sein.

Christian, der nie etwas geschenkt bekommen hatte, kommt über sehr viele Jahre mit einem Job in einer Fabrik durchs Leben. Im Beruf hat er ein viel größeres Durchhaltevermögen als Mark. Vielleicht hat er das größte von uns allen. Keiner von uns hat schon so lange an einem Platz gearbeitet, wie er. In einem Ort in der Nähe des alten Dorfes findet er eine Heimat. Dort findet er viele Freunde. Es gelingt ihm viele der Demütigungen, die er bei Stiefmutter und Vater erlebt hatte, zu vergessen. Hoffentlich wird ihm der Alkohol den er dazu benötigt, nicht eines Tages zum Verhängnis.

Matthias besucht eine höhere Schule. Matthias ist ein sehr gescheiter Mensch. Er besucht unterschiedlichste, sehr hohe Schulen. Er lernt sehr viele Sprachen. Er arbeitet mit sehr vielen Menschen zusammen, die ihn sehr schätzen. Das wichtigste: Er lernt wieder zu lachen! Vor allem Matthias entwickelt sich, wie es der Vater niemals zugelassen hätte.

Auch ich kann eine höhere Schule besuchen. Ich bin nicht so gescheit geworden wie Matthias. Ich steige keine so hohe Leiter hinauf. Aber es geht mir gut. Es geht mir viel besser, als es beim Vater je möglich gewesen wäre.

Dass ich es damals endlich geschafft hatte, meine Angst zu überwinden und den Vater im Dorf für immer zu verlassen, bereue ich nicht. Im Gegenteil. Am liebsten wäre es mir gewesen, wenn ich das Dorf niemals kennen gelernt hätte.

Das traurigste an der Geschichte ist, dass die schönste Zeit mit den Geschwistern vorbei gegangen war, ohne dass ich das damals gemerkt hatte. Es war die Zeit gewesen, bevor uns der Vater aus dem Kinderheim geholt und zu sich gebracht hatte.

Mit Christian und Mark haben Matthias und ich heute nicht mehr viel zu tun. Das Jahr beim Vater hatte uns auseinander gerissen. Wir besuchen uns nur selten gegenseitig, denn wir leben völlig anders.

Die Stiefmutter und der Vater ziehen um. Das alte Haus im Dorf ist für sie zu groß. Sie wohnen in dem Ort wo der Vater damals die kleine Wohnung hatte. Dort haben sie einen ordentlichen Vorgarten, genauso wie damals im Dorf. Er ist frei von Unkraut. Abends lässt der Vater die Rollos herunter und morgens zieht er sie wieder hoch. Der Gartenweg ist gefegt.

Der Vater parkt den Wagen abends in der Garage neben dem Haus. Die Stiefmutter wartet in der Küche mit dem Essen auf ihn. Die Küche ist kleiner als im Haus im Dorf. Aber sie reicht für zwei Personen. Ich glaube, der Vater hat mehr Geld als damals. Von Mark muss er kein Geld mehr verlangen. Schließlich geht der Vater in Rente. Er genießt den Lebensabend mit der Stiefmutter.

Mark lebt heute in einer Stadt, einige hundert Kilometer entfernt von mir. Sie liegt nicht weit entfernt vom Ort, in dem der Vater wohnt. Trotzdem besucht er den Vater so wenig wie ich. Es gibt keinen Grund.

Heute Nachmittag hatte der Vater zu mir gesagt, dass er es verstehe, dass Mark und ich ihn länger als zwanzig Jahre nicht besucht hatten. Wir hatten ihn nie besucht. Heute Nachmittag war es das erste Mal, und es kann sein, dass wir ihn nie wieder besuchen werden. Es war meine Idee gewesen, den Vater aufzusuchen.

Ich sitze mit Mark in seiner winzigen Küche am Küchentisch. Wir sprechen über den heutigen Besuch beim Vater. Wir hatten uns nicht frühzeitig angemeldet. Ich hatte vorgeschlagen, den Vater einfach anzurufen. Mark rief an, der Vater war zu Hause und wenig später fuhren wir schon los.

Der Vater wohnt in einem Einfamilienhaus, ganz in der Nähe der Straße, wo wir Geschwister damals den Kaugummiautomaten auf dem Weg zum Spielplatz halb leer geplündert hatten. Es waren seine Gürtelschläge von damals, die der Vater gemeint hatte. Wegen ihnen verstehe er, dass wir den Kontakt zu ihm nicht aufgenommen hatten. Ich weiß das, ohne dass wir heute Nachmittag mit ihm darüber gesprochen hatten.

Weil ich bis heute nicht weiß wie der Vater wirklich ist, hatte ich die Idee, ihn zu besuchen. Jetzt am Abend, wo wir zurück sind und in der Küche bei Mark sitzen, weiß ich es immer noch nicht.

Der Vater sagte, dass er froh sei, alles zu haben, was er brauche. Er und die Stiefmutter leben nicht in Armut. Sie könnten sich sogar etwas leisten. Über das was damals gewesen war, wollte der Vater heute Nachmittag nicht reden. Wahrscheinlich war die Überraschung unseres Besuches für ihn zu groß. Als wir gingen fragte er uns nicht, ob wir wieder kommen wollten. Vielleicht möchte er, dass wir ihn mit dieser Geschichte in Ruhe lassen.

Von Matthias und Christian hatten wir dem Vater schöne Grüße bestellt.

Der Vater hatte gefragt was Matthias arbeitet. Ich erzählte, dass er eine ganz große Karriere gemacht hatte. Da spürte ich, dass der Vater nicht verstand, was ich gesagt hatte. Dass ich erklärt hatte, dass ausgerechnet Matthias eine ganz große Karriere gemacht hatte, schien sein Vorstellungsvermögen zu übersteigen. Es schien nicht in seine Welt zu passen. Ich merkte das an seinen wenigen Fragen. Der Vater hatte nur genickt, aber er fragte nicht genauer nach.

Ich glaube, er wollte nicht hören, dass gerade Matthias die größte und steilste Karriere von uns Geschwistern gemacht hatte.

Der Vater filmte Mark und mich mit einer Videokamera ab. Er wollte sich nicht weiter mit uns unterhalten.

Ich glaube, die Filmaufnahme braucht er, weil er nicht weiß, ob er uns noch einmal wiedersehen wird.

Die Oma und der Opa waren gestorben, ohne dass ich davon gehört hatte. Vom Kinderheim aus hatte ich sie noch ein paar Mal besucht. Es war immer schön bei ihnen gewesen. Irgendwann waren die Kontakte aber eingeschlafen. Erst Jahre später, als ich das Kinderheim verlassen hatte, hatte ich sie noch mal besucht.

Wir waren am Küchentisch gesessen, genauso wie damals an dem Morgen, bevor Opa mich ins Jugendamt gebracht hatte. Wir hatten darüber gesprochen, wie gut es damals gewesen war, dass Matthias und ich zurück in das Kinderheim gehen durften.

Das Gespräch war nicht mehr so, wie es früher bei Oma am Küchentisch gewesen war. Wir alle waren zehn Jahre älter geworden. Wir hatten vereinbart, uns öfter wieder zu sehen.

Leider war es nie mehr dazu gekommen. Es wäre an mir gelegen, bei ihnen vorbeizukommen, denn beide waren damals schon sehr alt und wenig mobil. Opa war zuerst gestorben, einige Jahre später starb auch Oma.

Geburtstag – Erzählung von Bernd Thümmel

Geburtstag – Erzählung  von Bernd Thümmel

Bernado streift ein letztes Mal durch Berchtesgaden bevor er nach Traunstein umzieht. Er lässt Stationen des Ortes und Erlebnisse an sich vorbei ziehen. Erinnerungen und Begründungen dafür dass er Berchtesgaden, den Ort seiner Kindheit verlässt, ziehen an seinem inneren Auge vorbei.

1. Das neue Zimmer

Nachmittags war ich neben meiner Mutter auf dem ledernen Beifahrersitz von deren großer Limousine gesessen. Obwohl ich ein großer Jugendlicher war, kam ich mir im Ledersitz des luxuriösen Fahrzeuges klein vor. Die Mutter steuerte den schweren Wagen vorsichtig die steile Straße hinunter. Sie bremste, nachdem die Reifen ratternd die Bahngleise überwunden hatten. Sekunden später kam die steil abfallende Kurve. Vor Jahren war ich mit meinem Fahrrad über sie hinausgetragen worden.

Die Mutter hatte das Lenkrad stets sicher im Griff ihrer großen Hände. So auch während unserer letzten gemeinsamen Autofahrt. Sie fuhr schwungvoll aber nicht hastig. Sie fuhr zügig, raste aber nicht. Geübt überblickte sie bei jeder Bergfahrt die steilen Kurven, reduzierte die Geschwindigkeit, bevor ein schwerer Lastwagen in der Kurve zu nahe an ihren Wagen herankam.

Für die Mutter ist Sicherheit sehr wichtig. Das gilt nicht nur für das Autofahren. So wie es an dem Nachmittag darum ging, sicherzustellen, dass ich ab heute ein neues Zimmer habe, in dem ich wohnen kann, war es ihr in den zurückliegenden Jahren immer darum gegangen, dass ich in sicheren und geordneten Verhältnissen lebte.

Das Haus mit meinem neuen Zimmer liegt auf einer kleinen Anhöhe direkt an einer viel befahrenen Bahnlinie. Frau Stößer ist meine neue Vermieterin. Sie ist eine sonnengebräunte, wohlgenährte Dame, trägt ausladendes, dauergewelltes, rotbraunes Haar, dazu eine große, getönte Brille. Sie begrüßte meine Mutter und mich an dem sonnigen Nachmittag in bayerischem Dialekt. Ich kenne den Ton sehr gut, denn seit vielen Jahren lebe ich in Bayern.

Den Dialekt habe ich von den Klassenkameraden in Berchtesgaden bestens zu verstehen gelernt. Meine Zeit auf der Grundschule, der Hauptschule, der Realschule und nun auch in Traunstein, auf der Fachoberschule, war und bin ich mit diesem Dialekt konfrontiert. Ich selbst bin davon nicht verschont geblieben. Ich spreche den Dialekt nicht wirklich, sondern ich versuche mich an das Hochdeutsche zu halten. Treffe ich Leute, die nicht aus Bayern stammen, muss ich mir aber sagen lassen, dass ich mir einen arroganten Tonfall angewöhnt hätte. Das sei der Ton, den man aus dem Fernsehen von Franz Josef Strauß und Gerold Tandler kenne. Es schwinge eine verachtende Note mit. Seitdem ich das weiß, achte ich auf meine Aussprache.

Mit den beiden Herren möchte ich nicht gerne verglichen werden. Solche kenne ich aus der Schule. Es sind diejenigen, die Bayern nicht nur deshalb lieben, weil das Land schön und die Umwelt rein ist, sondern weil sie überzeugt sind, dass in dieses Land nur Menschen gehören, die es auch verdient habe. Fremde, wie ich, die aus einem anderen Bundesland stammen, oder gar Ausländer, gehören nicht dazu und werden entsprechend ablehnend behandelt.

In Berchtesgaden habe ich den Dialekt so gut zu verstehen gelernt, dass er mir heute geläufig in den Ohren klingt, wie das Hochdeutsche. Ich war sehr froh, dass mein Deutschlehrer in der Realschule großen Wert darauf gelegt hatte, dass Bayerisch nicht die deutsche Amtssprache ist. Auch er stammte nicht aus Bayern. Wahrscheinlich deshalb hatte er sich gegenüber manchem Schüler das Ziel gesetzt, ihn nicht aus seinem jahrelangen Unterricht zu entlassen, ohne dem eine gehörige Portion Hochdeutsch bei gebracht zu haben. Dafür eigneten sich deutsche Gedichte und das Vorlesen von Klassikern. Der Deutschlehrer fand sichtliche Freude daran, den arroganten Tonfall des Josef Hintermaier in unbeholfenes Hochdeutsch mit bayerischem Akzent zu verwandeln. Dass er im Schulbus der „hinterfotziger Saupreiß“ war, weil er „a Zuagroaster Dampfpauderer“ war, sagte dem Lehrer natürlich keiner. Dafür fehlte der „Schneid“ und das wäre der Arroganz dann doch zu viel gewesen.

Weil ich mit dem Hochdeutschen keinerlei Probleme habe, war ich gegenüber den bayerischen Klassenkameraden zumindest im Deutschunterricht oft im Vorteil. Wegen meiner klaren Aussprache hatte ich wenig Mühe. Deren Beschimpfungen im Schulbus galten auch mir, denn ich war der einzige, der fremd war.

Die bayerischen Klassenkameraden mussten sich bemühen, den Dialekt soweit zu mäßigen, dass der Deutschlehrer sie nicht bei jedem zweiten Satz um Wiederholung bat. Meine Probleme lagen eher in der Schriftform des Deutschen. Orthographie und Interpunktion waren Gründe, derentwegen ich nachmittags mit der Mutter am Esstisch saß. Sie übte mit mir das Diktatschreiben.

Auch in vielen anderen Schulfächern, wie Englisch und Mathematik bemühte sich die Mutter jahrelang jeden Nachmittag um mich. Bevor ich auf die Realschule wechseln konnte, war ich ein sehr schlechter Schüler. Grund- und Hauptschule waren nutzlos an mir vorüber gezogen. Erst als die Mutter in mein Leben trat, fanden Schule und Lehrinhalte einen Weg in meinen Kopf. Ich begriff Schule als Ort des Lernens erst, nachdem ich die siebte Klasse auf der Realschule wiederholen musste.

Weil ich zuvor nie sitzen geblieben war, war die Mutter überzeugt, dass ich in der Schule weit mehr zuwege bringen könnte. Deshalb begann sie, die Zeit am Nachmittag für mich zu verwenden. Meinetwegen hatte sie ihre Arbeit im Geschäft aufgegeben. Sie wollte helfen einen Weg zu finden meine Schulleistungen zu verbessern. Tatsächlich hatte ich begonnen, in meinem Gehirn Platz frei zu räumen für die Schule. Die Mutter hatte mit mir unendlich scheinende Geduld. Deren Geduld habe ich es zu verdanken, dass ich in der Schule zu lernen gelernt habe.

Wie mag es dazu gekommen sein, dass ein auffälliger Mensch, mit so einer breiten, ausladenden Frisur, eine solch piepsige, laute und schrille Stimme hat? Frau Stößer ist in meinen Augen allein schon wegen deren Frisur eine sehr auffällige Person. Da ist es doch nicht nötig, eine schrille, laute Stimme zu haben. Wäre sie klein und zierlich, das wäre etwas andres. Wäre sie nicht so eine stämmige Person, hätte sie nicht so eine riesige Mähne über dem breiten Gesicht, dann fände ich deren Gekreische verständlich, denn sie müsste versuchen, sich mit ihrer Stimme bemerkbar zu machen. Mit der Frisur und der getönten Riesenbrille, ist Frau Stößer nicht übersehbar. Das waren die Gedanken in meinem Kopf. Frau Stößer rief von deren Haustüre:

“Ja grüßt Sie Gott! Sie zwoa san bestimmt wega dem Zimmer da!”

Umständlich versuchte sie schlüsselklimpernd das mehrere Meter hohe, schmiedeeiserne Tor zu öffnen. Das liegt zwischen einer breiten Doppelgarage und einem mächtigen Gartenzaun. Ich war versucht, meine Hilfe anzubieten. Dachte an klemmende Schlösser, die ich alle schon geöffnet hatte. Es gab immer einen Kniff. Einmal musste der Schlüssel leicht nach oben, unten oder zur Seite gedrückt werden, oder eine klemmende Stelle musste durch sanften Drück in eine Richtung überwunden werden. In diesem Moment donnerte auf den Gleisen hinter uns ein Schnellzug, aus Salzburg kommend in Richtung München vorbei. Der Lärm war so ohrenbetäubend, dass Frau Stößer ihre begrüßenden Worte abbrach. Der Schnellzug und dessen dröhnender Lärm waren für mich vom ersten Tag an keine Belästigung.

Das war ein Augenblick der Erinnerung. Die Frau und der Lärm weckten ein Bild in mir. Mein Vater hatte die Stiefmutter vor Jahren geheiratet. Sie war breit und ausladend gebaut. Sie trug einen grünen, im Wind wehenden Haushaltskittel und sie war eine kreischende Person. In der Tasche ihres grünen Haushaltskittels klimperte ein dicker Schlüsselbund. Mein Vater hatte mit der Heirat die Hoffnung verknüpft, dass er mit den Kindern wieder in einer Wohnung oder einem Haus zusammenleben konnte. Aber die Stiefmutter hatte sich als unbeherrscht, jähzornig, giftig kreischend, auf die Kinder einschlagend entpuppt.

Der Vater konnte dem nichts entgegenstellen. Die Armut zwang ihn, täglich von frühem Morgen bis in den Abend hinein zur Arbeit zu gehen. Von der kreischenden Stiefmutter hörte er abends deren Beschwerden über die Kinder. Das waren stets die gleichen. Schlechte Schulleistungen, miserable Hefteinträge, saumäßige Schrift der Kinder, viele Fehler in den Schulheften. Später begann auch der Vater, angespornt von der Stiefmutter, abends auf die Kinder einzuschlagen. Kinder müssten regelmäßig geschlagen werden, denn sonst würde nichts aus ihnen. Es entstand ein Kreislauf in dem sich die Gewalt er kreischenden Frau, die Anforderung in der Schule und meine Leistungsunfähigkeit immer schneller um mich herum drehten. An Lernen für die Schule oder für das Leben konnte ich nicht denken.

Frau Stößer führte uns durch eine schwere, dunkelbraune Eichentür in ihr Haus. Neben der Haustüre stieg sie schwerfällig eine steile Steintreppe hinauf in den ersten Stock. Oben ist es heller als im Hauseingang. Die Dachschrägen sind mit hellem Holz verkleidet.

Sie lotste uns in mein neues Zimmer. Meine Mutter lächelte sehr zufrieden.Ich zeigte mich auch äußerst zufrieden. Wie meine Mutter lächelte und nickte ich, um Frau Stößer meine Zufriedenheit zu zeigen. Gesagt habe ich aber nichts. Das überließ ich der Mutter. Beide, die Mutter und Frau Stößer gingen durch das kleine Zimmer, während ich in der Tür stehen blieb. Die Mutter erklärte Frau Stößer, dass ich wegen dem Besuch der Fachoberschule nach Traunstein ziehen würde. Die Schule sei der Grund, sagte sie, und sie erklärte Frau Stößer, wo ich am besten meinen Schreibtisch, den Schrank und das Bett hinstelle.

Eine knappe Stunde zuvor, während der Fahrt im Wagen neben der Mutter, war mir klar geworden, dass ich mich mit dem Zimmer sehr zufrieden geben würde. Ich hatte mir in meinem Kopf vergegenwärtigt, dass ich dieses Zimmer, sollte die Vermieterin Frau Stößer es mir tatsächlich geben wollen, auf jeden Fall nehmen würde. Für mich war schon während der Autofahrt zu Frau Stößer klar geworden, dass dieses Zimmer, egal wie es aussehen mochte, von mir dankbar angenommen würde, weil es wohl das letzte Angebot sein sollte, das ich von der Mutter zu erwarten hatte.

Im Wagen, im großen Ledersitz neben der routiniert fahrenden Mutter war für mich zweifellos und vollkommen klar geworden, dass ich diese letzte Bemühung der Mutter, welche sie für mich unternahm, dieses kleine Zimmer neben der Bahnlinie im Haus von Frau Stößer zu organisieren, ihren arbeitsreichen Nachmittag ein letztes Mal für mich zu verwenden, um mit mir zusammen Frau Stößer einen Besuch abzustatten, dass diese Leistung der Mutter von mir dankbar angenommen werden muss. Deshalb hatte ich beschlossen, egal was Frau Stößer für ein Angebot an diesem Nachmittag machen würde, dieses dankbar anzunehmen. Im Sitz neben der Mutter hatte ich mich daran erinnert, dass ich es mir nicht leisten kann, eine Anspruchshaltung gegenüber den Leistungen der Eltern an den Tag zu legen. In den zurück liegenden Jahren war klar geworden, dass ich dafür dankbar zu sein habe, dass die Eltern mich in ihrem Hause aufgenommen hatten. Ich erinnerte mich daran, dass ich diese notwendige-, weil von den Eltern erwartete Dankbarkeit erst mühsam erlernen musste.

Nachdem ich im Alter von dreizehn Jahren in den Haushalt der Mutter und des Vaters gekommen war, musste ich vollkommen neu eingekleidet werden. Meine Bekleidung bestand aus heruntergekommenen, abgetragenen Kleiderspenden und sie war mir zu klein. Ich glaube das war der erste Nachmittag, den sie für mich frei genommen hatte. Die Mutter war mit mir einen Nachmittag lang in Bekleidungsgeschäften im Ort unterwegs gewesen. Dort hatte ich viele verschiedene Kleidungsstücke anprobiert. Die Läden verließen wir, nachdem für mich eine komplett neue Garderobe erstanden worden war. An diesem ersten Nachmittag, den die Mutter mit mir verbracht hatte, war mit mir etwas Seltsames geschehen. Im Laden hatte ich das eine oder andere Kleidungsstück, das ein Verkäufer hervorgezogen hatte, ablehnend beäugt. Ich konnte mir nicht vorstellen in solch auffällig farbenprächtigen neuen Klamotten in die Schule zu gehen. Ich war es nicht gewohnt gewesen, zusammen mit einer Frau, die erst Wochen zuvor meine neue Mutter geworden war, neue Kleidung einzukaufen. Ich war gebrauchte, abgewetzte Kleidung gewohnt, die in Säcken angeliefert wurde, aus denen ich mir etwas herausziehen durfte. Die Situation in den Läden war für mich fremd und verunsichernd.

Dass die Mutter von mir anstatt Unsicherheit oder gar Ablehnung der neuen Kleidung klare Zeichen oder Worte meiner Dankbarkeit erwartet hatte, konnte ich an diesem Nachmittag noch nicht ahnen. Dankbarkeit zu zeigen, zu äußern, dass mir die Kleidung gefällt, zu sagen, was meine Lieblingsfarbe ist, mich zu freuen darüber, dass ich endlich eine nagelneue Jeans bekomme und die neuen Schuhe gleich dazu, das war mir bis zu diesem Tag schlicht unbekannt. Ich spürte an diesem ersten Nachmittag mit der Mutter, dass mein Verhalten in den Läden für die Mutter enttäuschend gewesen war. Anstatt mich richtig zu freuen und bei ihr zu bedanken, hatte ich den Angeboten von Verkäufern und Mutter, den Empfehlungen für bestimmte Kleidung nur zugestimmt. Ich hatte der Erwartung zu danken nicht entsprochen. Ich hatte mich von Beginn an als undankbar erwiesen.

Vielleicht hatte schon an diesem ersten Einkaufsnachmittag mit der Mutter in den Bekleidungsgeschäften im Gebirgsort die Enttäuschung der Mutter begonnen. Vielleicht war bereits an diesem ersten Nachmittag ein kleiner Grundstein für das gelegt worden, was sich über die dann folgenden Jahre kontinuierlich zwischen die Eltern und mich gefressen hatte. Über die Jahre hatte das schließlich ein Ausmaß, eine Dimension erreicht, die zwischen den Eltern und mir eindeutig klar gemacht hatte, dass die Beziehung zwischen uns am heutigen Tag enden muss.

Im großen Ledersessel im Wagen neben der Mutter spürte ich an dem Nachmittag auf dem Weg zu Frau Stößer die tiefe Kluft, die zwischen den Eltern und mir von Beginn an durch mein enttäuschendes, verletzendes und undankbares Verhalten aufgerissen worden war. Ich hatte die Mutter von Anfang an enttäuscht. Ich hatte sie verletzt, weil ich nicht in der Lage gewesen war, die Erwartung der Eltern rechtzeitig zu erkennen. Ich hatte nicht rechtzeitig erkannt, dass ich verpflichtet gewesen wäre, für alles was die Eltern mir entgegengebracht hatten, regelmäßig und eindeutig meine Dankbarkeit zu zeigen. Ich glaube, es wäre für die Beziehung zwischen den Eltern und mir sehr wichtig gewesen. Es wäre außerordentlich wichtig gewesen, viel mehr dankbare Zurückhaltung zu zeigen. Das habe ich erst heute verstanden.

Frau Stößer freute sich über unsere zufriedenen Minen und die Worte der Mutter. Sie hatte gelächelt und gesagt: “Des is wirklich a wunderschöns Studentenzimmer geh? Nicht zu klein und nicht zu groß!” Mit diesen Worten führte sie uns in einen Raum neben dem Zimmer. Es ist ein Badezimmer mit Toilette, Dusche und einem Waschbecken. Im Badezimmer hatte Frau Stößer erklärt, dass sie mit ihrem Mann unten wohne, wo sie noch ein weiteres Badezimmer habe. Deshalb würde dieses Bad zunächst nur mir zur Verfügung stehen, solange sie nicht ein weiteres Zimmer im Obergeschoss, das noch leer stünde, vermietet hätte. Dann waren wir ihr in einen weiteren Raum gefolgt. In diesem großen hellen Raum, seine großen Fenster weisen hinunter Richtung Tal und Stadtkern, findet sich eine kleine einfache Küchenzeile. Die Küche darf ich benutzen, wenn ich dafür Sorge, dass sie sauber bleibt. An einem Tag in der Woche, dem Dienstag, darf ich die Küche nicht benutzen. Dienstags lädt Frau Stößer in diesen großen Raum eine Gruppe von Damen ein. An einem großen Tisch in der Mitte des Raumes basteln die Damen mit Frau Stößer für Wohltätigkeitsbazare und den jährlichen Weihnachtsmarkt.

Weil Frau Stößer an diesem Nachmittag sofort festgestellt hatte, dass die Mutter und ich begeistert waren von ihrem Mietangebot, hatte sie uns auf ihre Terrasse in ihren Garten eingeladen. Dort servierte sie aus einem kleinen goldumrandeten Kännchen und ebensolchen Tässchen Tee. Vom Garten hat man einen herrlichen Blick über die Dächer der Stadt auf einen breiten Fluss, der die Stadt durchfließt. Im Hintergrund sieht man die hohen Berge. Zwischen denen liegt der Gebirgsort; in dem ich bis zum heutigen Tag wohne. Frau Stößer hatte bereits den Mietvertrag vorbereitet. Er hält fest, dass ich das Zimmer miete und Bad mit Küche „zweckgemäß“ mitbenutzen darf. Weil Frau Stößer an diesem Nachmittag sofort Vertrauen in mich und meine Mutter geschöpft hatte, und weil die Mutter und ich deutlich gezeigt hatten, dass dieses Zimmer für mich genau richtig ist, hatte Frau Stößer sofort den Vertrag angeboten. Ohne weitere Bedenkzeit unterschrieben wir alle drei.

Im Vertrag ist das heutige Datum als mein Einzugstag festgehalten.

2. Busfahrt in die nächste Kreisstadt

Neben mir schwitzt eine alte Frau. Seit der Abfahrt des Busses am Bahnhofsvorplatz hat sie mich keines Blickes gewürdigt. Weil ich mich neben die alte Frau gesetzt habe, musste sie zwei randvolle Einkaufstüten auf den Schoß nehmen. Vielleicht ist das der Grund für deren unbewegten Blick nach vorne. Ist es eine Erklärung dafür, dass sie auf meine höfliche Begrüßung kaum reagiert hat? Ich hatte „Grüß Gott“ gesagt und dabei freundlich gelächelt. Ich hatte die Frau genötigt, die Einkaufstüten vom freien Sitzplatz auf den Schoß zu zerren. Ich ließ mich neben ihr nieder, sagte leise „vielen Dank“.

Der Busbahnhof liegt gute zwanzig Minuten zurück. Der Bus hat sich seit Fahrtantritt bereits ein bisschen geleert. Meinen Sitzplatz habe ich noch nicht gewechselt. Die alte Dame muss weiter die beiden Einkaufstüten auf ihrem Schoß behalten. Ich habe das Gefühl, es könnte unhöflich sein, jetzt aufzustehen, um einen der freien Sitzplätze in den vorderen Reihen einzunehmen.

Ein schwüler, heißer Sommertag. Ich sitze in einer der hinteren Sitzreihen. in dem immer noch gut besetzten gelben Bus der öffentlichen Nahverkehrsbetriebe. Die Route führt mich durch den Ort über die Landstraße, durch mehrere grüne Täler, durch kleine Orte zur Kreisstadt. Bis dorthin sind es etwa zwanzig Kilometer.

Es könnte sein, dass die Frau ihren Blick so unbeweglich nach vorne richtet, weil ihr von der schnellen Fahrt auf der kurvenreichen Straße durch die gebirgige Landschaft inzwischen schlecht geworden ist.

Ich habe schon oft davon gehört, dass es bei Busfahrten hilfreich ist, den Blick nach vorne durch die Windschutzscheibe auf die Straße zu richten. Sehr hilfreich soll das vor allem dann sein, wenn die Fahrt ein flaues Gefühl in der Magengegend auslöst. Sollte der alten Frau neben mir tatsächlich ein wenig schlecht geworden sein, wegen des schwungvollen Lenkens des Busfahrers und wegen der Geschwindigkeit, die der Mann seinem monströsen Fahrzeug zumutet? Ich glaube dann könnte die Frau Abhilfe schaffen, indem sie ihren Sitzplatz wechselt, um einen der freien Sitzplätze weiter vorne zu erreichen.

Ich habe gehört, dass es bei einem so schwungvollen Fahrstil, wie ihn der Fahrer des gelben Busses pflegt, für die Fahrgäste hilfreich wäre, so weit als möglich vorne zu sitzen, weil dort das Gefährt weniger stark schaukelt. Vielleicht kann die Frau es gar nicht schaffen einen anderen Platz aufzusuchen. Ist ihr bereits so schlecht geworden, dass sie, wegen der Schaukelei nicht aufstehen kann? Dann bleibt ihr nur, den Blick starr auf die Fahrbahn nach vorne zu richten.

Ich frage sie nicht, ob sie sich auch so unwohl fühlt, wie ich, ob ihr wegen des Schaukelns vielleicht schlecht geworden ist. Starr schaue ich über die vielen Sitzreihen hinweg über die Köpfe der Fahrgäste. Ich blicke durch die riesige Windschutzscheibe hinaus auf die Fahrbahn.

Der Busfahrer benutzt die Motorbremse. Er schaltet einen Gang nach dem anderen hinunter. Die kurvige Straße fällt steil hinab. Sie ist zweispurig aber trotzdem eng. Auf der Gegenfahrbahn kommen Autos, große Lastwagen und Busse. Das nötigt den Busfahrer immer kräftig zu bremsen. In den engen Kurven sieht es aus, als seien nur Zentimeter zwischen Nahverkehrsbus und entgegenkommenden Lastwagen. Der harte Aufprall, den ich jeden Augenblick befürchte, bleibt aus.

Sekundenlang habe ich die Augen geschlossen. Ich öffne meine zwanghaft zusammen gepressten Augen. Vorne erkenne ich den Busfahrer. Er wirkt wie ein sportlicher Reiter, der jede steile Kurve mit diesem Monster von Bus bezwingt. In jede Kurve neigt sich der Mann, beide Hände am großen Lenkrad des Monsters festgekrallt. Mich erinnert das ein bisschen an einen Rodeoreiter. Der Fahrer sieht aus wie einer, der am Knauf des Sattels eines unbezwingbar wilden Pferdes festhält. Dabei scheint es fast egal zu sein, wohin dieses riesige Ross seinen Reiter zu schleudern versucht. Trotz der wilden Schaukelei schafft es der reitende Steuermann, sich heldenhaft in jede Kurve zu neigen, die das Monstrum vorzugeben scheint. Der Fahrer gibt die Kontrolle über Richtung und Geschwindigkeit nicht aus der Hand. Das Ungetüm schlägt nicht irgendeine beliebige Richtung ein.

Die Fahrgäste, drücken sich ängstlich in die braunen Kunstlederrückenlehnen. Hier im Bus reitet niemand wie auf einem Rodeopferd! Der Busfahrer kennt jede Reaktion, die dieses Riesenviech von sich gibt, während er es die Gebirgsstraße entlang treibt.

In den vergangenen Monaten war ich diese Strecke mehrfach mit einem Auto hinauf und hinunter gefahren. Ich war neben der Vorbereitung auf meine Abschlussprüfungen in der Schule, damit befasst gewesen, das Autofahren im praktischen, wie im theoretischen zu erlernen. Der Fahrlehrer hatte mich während der kurvenreichen Fahrt auf der Strecke die der Busfahrer gerade hinunter steuert, stets darauf aufmerksam gemacht, dass die Straße breit ist und sicher genug befestigt sei. Deshalb, so belehrte mich der Fahrlehrer, solle ich die Straße nicht im Schneckentempo befahren. “Sie dürfen ruhig die Bremsen des Autos ein wenig schonen”. Das waren mehrmals die Worte des Fahrlehrers gewesen, wenn ich die Anhöhe erreicht hatte.

Die Anhöhe liegt kurz vor den Bahngleisen über die der gelbe Nahverkehrsbus vor Minuten ungebremst gedonnert war. Unmittelbar nach diesen Gleisen führt die Straße in eine steile, stark abfallende Kurve. Vor dieser Kurve hatte ich in den Fahrstunden stets sofort das Bremspedal betätigt. Immer wenn ich diese Kurve sehe, denke ich daran, dass die Leitplanke das Fahrzeug keinesfalls davon abhalten würde die Böschung dahinter hinab zu stürzen. Ich kenne den steilen Abhang hinter der Leitplanke. Über scharfe Felsbrocken führt er etwa dreißig Meter hinunter in den Wald.

Einmal vor Jahren war ich auf meinem Fahrrad aus dieser Kurve getragen worden. Ich hatte versucht die Kurve ungebremst, wie dieser Busfahrer es eben getan hat, zu passieren. Deshalb war ich über die Leitplanke geflogen. Mein Fahrrad war zunächst scheppernd von der Leitplanke abgebremst worden, es flog schließlich hinter mir her. Ich war mit der Schulter auf einen großen Felsen gestürzt, einige Meter über die scharfen Kanten abgerutscht, und fand schließlich an einem kleinen Nadelbaum Halt. Ich hatte Glück im Unglück gehabt, denn ich hatte bei diesem Unfall nur grobe Schürfwunden davongetragen. Mein Fahrrad war vom Fels wie ein Gummiball abgeprallt und sauste in einem weiten Bogen über meinen Kopf und die kleine Tanne, an der ich mich festgekrallt hatte, hinweg.

An diesen Sturz dachte ich jetzt wieder, weil wir gerade die Kurve passiert haben. Deshalb habe ich im Sitz neben der unbekannten alten Frau, kurz bevor der Fahrer diese Kurve nahm, meine Augen wieder krampfhaft zugedrückt. Der Busfahrer hat diese Kurve ebenso routiniert und sicher bezwungen, wie alle anderen auf dieser mir gut bekannten kurvigen Bergstraße.

Seitdem mein Fahrlehrer festgestellt hatte, dass mich mein Sicherheitsbedürfnis vor dieser Kurve stets zu bremsen und zu vielleicht tatsächlich übertrieben langsamer Fahrt zwingt, war er mit mir in beinahe jeder Fahrstunde diese Strecke entlang gefahren. Jedes Mal vor dieser Kurve kehrt sofort meine Erinnerung an meinen Sturz vom Fahrrad wieder. Ich glaube der Fahrlehrer hat die Vorstellung, dass er seinen Schülern Ängste vor bestimmten Strecken nimmt, indem er sie möglichst oft auf diesen bestimmten Strecken fahren lässt. Wahrscheinlich glaubt er, dass seine Schüler durch viel Übung am besten lernen, solche gefährlichen Strecken sicher zu durchfahren. Bei mir wirkt das nicht. Ich glaube sogar, das Gegenteil ist der Fall. Das habe ich vor Minuten festgestellt. Kurz bevor der Busfahrer in diese Kurve gefahren war habe ich reflexartig meinen rechten Fuß angehoben. Vergeblich hatte ich versucht auf dem Boden vor mir ein Bremspedal zu betätigen, dabei hatte ich meine Augen kurz vor der Kurve ängstlich zugedrückt.

Nachdem wir vor Sekunden diese Kurve passiert haben, spüre ich jetzt in meinem Magen ein flaues Gefühl. Deshalb richte ich meinen Blick starr nach vorne und schaue durch die Windschutzscheibe. Mit beiden Armen stütze ich mich auf dem Sitz vor mir ab.

Draußen fliegen grüne Laub- und Nadelbäume vorbei. Die Straße schlängelt sich steiler und steiler hinunter. In den Kurven fliegen entgegenkommende Reisebusse und Lastwagen dicht an den Seitenscheiben des Nahverkehrsbusses vorbei. Ich spüre plötzlich ein Gefühl, wie ich es kenne, wenn ich mich auf einem Volksfest in ein Karussell setze. Weil ich das kenne, habe ich mich seit vielen Jahren nicht mehr in ein Karussell gesetzt, denn einmal war mir in einem Karussell so schlecht geworden, dass ich mich noch vor Fahrtende übergeben musste.

Jetzt höre ich ein lautes und sehr hohes Quietschen der Bremsen. Eine weitere scharfe Kurve steht bevor. Die Motorbremse reicht nicht aus. Ein Doppeldeckerreisebus kommt schwungvoll in der steil ansteigenden Kurve entgegen. Ich kenne diese Straße gut. Ich bin schon oft hier gefahren. Die Straße, so hatte der Fahrlehrer immer gesagt, ist breit genug. Zum ersten Mal erlebe ich es jetzt, dass sie nicht breit genug ist. Ich wünschte, der Fahrlehrer säße neben mir. Stattdessen sitz dort diese alte unbekannte Frau. Heute könnte ich mein Abbremsen vor der scharfen Kurve nach der Anhöhe gut begründen. Heute könnte ich seine Hinweise auf die Straßenbreite und seine Anspielungen auf mein überflüssiges Gebremse sehr gut begründet abschmettern. Dem Fahrlehrer würde heute buchstäblich Hören und Sehen vergehen, denn zum ersten Mal müsste er einsehen, dass die Straße eben nicht breit genug ist. Kommt der Bus endlich zum Stehen? Das Gequietsche ist ohrenbetäubend. Ich stemme mich gegen den Vordersitz. Ein Ruck geht durch den Bus. Ich glaube jetzt steht er. Das Geschaukle hat aufgehört. Das Gequietsche von den Bremsen ist vorbei. Ich höre nur noch das Rattern des Dieselmotors. Ich öffne meine Augen. Jetzt höre und sehe ich die Fahrgäste im Bus wieder. Ich glaube, sekundenlang hatten alle Mitfahrenden genauso wie ich die Augen geschlossen und den Atem angehalten. Ich glaube allen Menschen im Bus war sekundenlang klar geworden, dass der Bus jetzt entweder stehen bleibt, oder dass es kracht. Ich stehe nicht auf, wie viele andere Fahrgäste es jetzt neugierig tun. Ich bin nervös, aufgeregt und beunruhigt, wie alle anderen Fahrgäste. Trotzdem bleibe ich ruhig sitzen, genauso wie die alte schweigende Dame neben mir. Das tun wir, weil uns beiden sehr schlecht geworden ist. Ich lasse meinen Kopf weiterhin auf meinen Armen auf dem Vordersitz liegen und versuche an etwas anderes als diese Busfahrt zu denken. Mit Gewalt versuche ich mein Denken an einen anderen Ort zu entführen. Doch es mag mir nicht recht gelingen, denn ich bin zu aufgeregt. Ich schaffe es nicht, an etwas anderes zu denken als an das, was in diesen Minuten um mich herum geschieht. Ich nehme die Aufregung der Fahrgäste um mich herum wahr und ich nehme wahr, dass mir speiübel geworden ist.

Beinahe alle anderen Fahrgäste um mich herum erheben sich neugierig von ihren Sitzen. Sie blicken nach links durch die Fensterreihen hinaus. Auch die alte Frau neben mir will das jetzt tun. Sie will sehen, dass zwischen den beiden riesigen Vehikeln nur noch wenige Zentimeter Abstand sind. Ich glaube alle Fahrgäste im Bus, abgesehen von mir, der damit kämpft, sich von dem flauen Gefühl in seinem Magen und der Übelkeit abzulenken, wollen sehen, dass es nur wegen weniger Zentimeter die zwischen dem Lastwagen und dem Nahverkehrsbus geblieben sind, vor Sekunden nicht gekracht hat. Ich glaube die wenigen Zentimeter zwischen den Fahrzeugen haben wir dem scharfen und deshalb lauten Bremsen unseres Busfahrers zu verdanken. Ich will das nicht sehen, weil sich jetzt in mir alles zu drehen beginnt.

Die alte Frau will ihren Sitzplatz verlassen. Ich glaube, sie will jetzt endlich hinüber auf die linke Fensterseite, um sich, wie die anderen Fahrgäste, von dem minimalen Abstand zwischen beiden Fahrzeugen zu überzeugen. Deshalb knistert sie unruhig mit ihren Plastiktüten herum. Darauf reagiere ich noch nicht, denn ich habe das Gefühl als säße ich in einem immer schneller werdenden Karussell. Jetzt macht sie Anstalten aufzustehen. Ich bleibe trotzdem sitzen, weil ich spüre, dass ich im Sitz meines Karussells jetzt gleich den höchsten Punkt der Flugbahn erreichen werde.

“Is erna need guat?” Das höre ich jetzt. Die Stimme der Frau klingt gebrechlich. Jetzt sieht sie mich von der Seite an. Ich vermeide ihr ins Gesicht zu blicken, denn ich weiß, dass ich käsebleich bin. Endlich spüre ich, dass das Karussell langsamer wird. Es muss diese einfache bayerische Frage der Frau sein, die mich jetzt anderes denken lässt. „Is erna need guat?“ Wie soll ich so eine Frage beantworten? In welcher Mundart soll ich darauf antworten? Soll ich zu erkennen geben, dass ich die Mundart dieser Frau kenne aber nicht beherrsche? Für wen hält sie mich, wenn ich nicht in dieser Mundart antworte? Für einen Touristen? Ich bin kein Tourist, wie die meisten anderen Fahrgäste. Ich bin aber auch kein Einheimischer, wie diese alte Frau, die sich gerade auf ihre Art um mein Wohlergehen erkundigt. Wer bin ich eigentlich in diesem Bus, in dieser gebirgigen Landschaft, auf dieser kurvenreichen Strecke zur nächsten Stadt? Wer bin ich in meinem Gebirgsort, den ich „meinen Gebirgsort“ nenne? Bin ich hier Zu Hause? Soll ich versuchen mich als einen „Einheimischen“ erkennen zu geben? Das könnte mir sehr leicht misslingen. Ich glaube, die alte Frau wird mich sofort als Fremdling in ihrer Heimat identifizieren. Ich fürchte es würde lächerlich wirken, wenn ich versuchte der alten Frau eine Antwort in ihrer Heimatsprache zu geben, die ich über viele Jahre meines Lebens in meinem Gebirgsort bestens kennen gelernt habe. Ich weiß nicht, wie ich mit der alten Frau reden soll. Geschweige denn, dass mir einfällt, welche Antwort ich der alten Frau auf ihre Ansprache hin geben könnte.

Weil in meinem Kopf jetzt diese vielen Gedanken wild herumgewirbelt werden, hat das Karussell schnell an Geschwindigkeit verloren. Mein Karussellsitz nähert sich langsam dem Boden. Deshalb schaffe ich es endlich, mich sehr langsam und vorsichtig von meinem Sitzplatz im Bus zu erheben. Jetzt lächle ich die alte Frau an. Ich antworte: “Nein, mir geht es gut. Vielen Dank. Aber ich glaub, ich werde mich jetzt weiter vorne hinsetzen.”

Langsam und vorsichtig arbeite ich mich durch die neugierig stehenden und hinaus schauenden Fahrgäste den Mittelgang entlang. Der Busfahrer hat inzwischen den Rückwärtsgang eingelegt. Er lässt den Motor aufheulen. Ruckartig bewegt sich der Bus einige Meter rückwärts die steile Bergstraße hinauf. Ich lasse mich in einem freien Sitz, nur wenige Reihen vom Fahrer entfernt nieder.

Auf dem Sitzplatz am Fenster neben mir sitzt ein Mann. Der Mann trägt bayerische Lederhosen. Weil sich jetzt das Karussell in mir wieder zu drehen beginnt, begrüße ich den Mann nur flüchtig. Sofort lasse ich mich neben ihm in gleicher Haltung wie zuvor neben der alten Dame nieder. Durch meine Ellenbogen auf dem Vordersitz, auf die ich meinen Kopf lege, sehe ich unten, nahe dem Fußboden den Bund der braunen Lederhose des Mannes neben mir. Ich sehe auch die grauen Wollsocken, und die schwarzen Haferlschuhe, die der Mann trägt. Ich denke, der Mann neben mir ist ein richtiger Bayer. Mein Karussell gewinnt langsam wieder an Fahrt.

Langsam rollt der Nahverkehrsbus an dem immer noch stehenden Doppeldeckerbus vorbei. Schnell erreicht der Fahrer das gleiche Tempo wie zuvor. Als sei nichts geschehen steuert er jetzt seinen Bus schwungvoll durch die nächste steil abfallende Kurve. Meine Karussellfahrt wird deshalb wieder sehr schnell.

Mir ist schlecht. Weil das so ist, versuche ich jetzt wieder an etwas anderes zu denken, als an diese Busfahrt auf der ich mich gerade befinde. Das ist meine Technik in solchen Situationen. Mit ihr versuche ich dem Problem Herr zu werden. Wenn mir richtig schlecht ist, wie jetzt, dann reicht es nicht aus, dass ich mich im Bus weit nach vorne setze und zum Fenster hinaus auf die Straße starre. Ich habe schon häufig erlebt, dass es gerade dann, wenn ich nach vorne hinausschaue, noch schlimmer wird.

Also versuche ich zunächst über den bayerischen Mann in Lederhosen neben mir nachzudenken. Ich kann ihn nicht genauer betrachten, denn würde ich jetzt aufblicken, müsste ich unweigerlich zum Fenster hinaussehen. Würde ich jetzt die draußen vorbeifliegende Landschaft sehen, könnte etwas passieren. Das Karussell, das in mir sehr schnelle Fahrt erreicht hat, würde noch schneller werden und das könnte eine Katastrophe auslösen. Ich müsste dem Busfahrer sehr schnell klar machen, dass er sein Fahrzeug stoppen muss, um mich sofort aussteigen zu lassen. Also denke ich an den bayerischen Mann neben mir und blicke dabei nicht zu ihm auf, um ihn genauer zu betrachten. Stattdessen sehe ich unten seine saubere Lederhose und seine glänzenden Haferlschuhe in denen seine grauen Wollsocken stecken.

Wahrscheinlich hat auch der bayerische Mann neben mir in der Kreisstadt einige Formalitäten zu erledigen, so denke ich jetzt. Vielleicht hat er dort einen besonders wichtigen Amtsgang vor sich. Möglicherweise steuert er, genauso wie ich, das Landratsamt an. Sicherlich, so denke ich, hat der bayerische Mann neben mir dort wichtigeres zu erledigen als ich. Sicherlich, so stelle ich es mir nun vor, um mich von meinem flauen Gefühl in meinem Magen abzulenken, sicherlich geht es bei den Geschäften denen der Mann in gepflegter Lederhose und glänzenden Haferlschuhen heute Vormittag nachgeht um viel Geld. Ich bin ganz sicher: Der bayerische Mann neben mir hat in der Kreisstadt etwas zu erledigen, dass mich gar nichts angeht. Es ist etwas, das mich nicht zu interessieren braucht, denn diesen Mann kenne ich nicht. Ich denke nur darüber nach, weil ich verhindern möchte, dass mir noch schlechter wird. Weil ich jetzt spüre, dass mein Ablenkungsversuch zu gelingen scheint, denn das Karussell in mir ist langsamer geworden, mein schummriges Gefühl aus der Magengegend ist abgeklungen, wage ich nun einen Blick nach vorne durch die Windschutzscheibe.

Endlich hat der Bus das Tal nahe der Kreisstadt erreicht. Die Kurven liegen hinter uns. Die Straße führt bei leichtem Gefälle in gerader Richtung vorbei an Feldern, Weiden, Gehöften, Landgasthöfen, Pensionen und Hotels. Am Straßenrand fliegen grüne Wiesen vorbei. Auf ihnen weiden Kühe. Rechts und links der immer flacher werdenden, schmalen Ebene erheben sich dicht bewaldete Berge. Je höher das Auge deren Gipfel erreicht, desto kahler werden die Wälder, um schließlich ganz zu verschwinden. Dort oben ragen schroffe, kahle Felswände in den Himmel empor: Dort oben entsteht bei den Menschen, die solche Wände erklimmen ein berauschendes Gefühl von schwindelerregender Höhe. Es ist das Gefühl, welches in einfachem Glück mündet, wenn man nach stundenlangem, schweißtreibendem Anstieg die kahlen Gipfel erreicht und dort nur noch das einsame Pfeifen des Windes und das penetrante Geplärre der Dohlen hört. Mancher Gipfel ist so hoch, dass selbst jetzt im Hochsommer weiße Schneeflecken auf ihnen zu erkennen sind.

Seit langer Zeit, so denke ich jetzt, ist diese Landschaft meine Heimat. Es ist sehr einfach das zu denken. Ich denke jetzt sekundenlang einfach so und fertig! Das ist doch ganz unkompliziert! Ich denke einfach und unkompliziert! Das hier, was du hier um dich herum siehst, ist deine Heimat! Das ist eine klare und einfache Sache! Es ist einfach das zu denken. Warum komplizieren, was sehr sehr einfach ist? Jetzt könnte ich Schluss machen mit dieser Geschichte, denn jetzt denke ich endlich mal ganz einfach. Wenn ich weiter so denken könnte, dann könnte ich jetzt mit dieser Geschichte aufhören: Ich lebe hier in meiner schönen gebirgigen Heimat, in der es mir gut geht! Tolle Sache, Basta, Schluss, Ende, Aus. Ich hasse Heimatromane. Weil es mir in meiner Heimat bestens geht, kann ich jetzt also Schluss machen, mit diesem Bericht. Das wär’s! Weil’s mir gut geht, und ich Heimatromane hasse, brauche ich nicht weiter zu berichten, denn unter solchen Umständen könnte nur ein billiger Heimatroman herauskommen!

Die Heimat findet sich hier. Sie liegt rund um die Strecke in die Kreisstadt, genauso wie rund um den Gebirgsort in dem der Bus vor einer halben Stunde losgefahren war. Unten im Tal erweckt die Landschaft in mir stets das Gegenteil derjenigen Gefühle, die ich auf den Gipfeln schon sehr oft erlebt habe. Unten im Tal habe ich das Gefühl zwischen den hohen Bergen eingekeilt zu sein und von der Enge zerquetscht zu werden. Unten im Tal habe ich die vielen Jahre, die ich dort bis heute verbracht habe stets den eingeschränkten Blick geliebt und gleichzeitig gehasst, der durch diese steilen Berge begrenzt wird. Unten im Tal fehlt das, was oben zur Freiheit oder gar zum Glück gehört: Die Weite. Vielleicht, so habe ich schon oft gedacht, muss ich unten im Tal mit dem Gefühl der Enge und Beschränktheit für das bezahlen, was ich oben am Gipfel genießen kann, den Blick und die Ruhe einer schier unendlich scheinenden Weite. Was davon ist mein wirkliches Leben? Das frage ich mich seit Jahren. Ist es die Weite, die sich von den Gipfeln öffnet oder ist es die Eingeschränktheit, die das enge Tal zwischen diesen Bergen vermittelt?

Jetzt lege ich meinen Kopf nicht mehr auf meine Arme auf den Vordersitz. Mein Blick bleibt vorne auf der Straße. In einiger Entfernung erkenne ich bereits die Ampel, sie steht kurz vor dem gelben Ortsschild. Ich kann nicht sagen, warum es mir jetzt wieder besser geht. Vielleicht liegt es daran, dass die kurvenreiche Fahrtstrecke zu Ende ist. Vielleicht hat es mit meiner Ablenkungstechnik in meinem Kopf zu tun. Ich weiß es nicht.

3. Amtsgang in der Kreisstadt

In der Kreisstadt gibt es direkt vor dem Landratsamt eine Bushaltestelle. Ich betätige den Signalknopf und erhebe mich, um dem Busfahrer frühzeitig zu zeigen, dass ich aussteigen möchte. Ich bin überrascht, dass ich der einzige Fahrgast bin, der beim Landratsamt aussteigt. Wenigstens von dem Bayern auf dem Sitzplatz neben mir habe ich geglaubt, dass auch der dieses Ziel hat.

Im Landratsamt kenne ich mich nicht aus. Noch nie hatte ich hier ein Geschäft zu erledigen. Bislang waren alle amtlichen Dinge, die ich zu erledigen hatte, im Rathaus meines Gebirgsdorfes ohne weiteres abzuwickeln gewesen. Das hört sich beinahe so an, als hätte ich häufig irgendwelche Dinge auf der Gemeinde zu erledigen. Das Gegenteil ist der Fall. Bislang führte mich mein Weg erst zwei Mal in die Gemeindeverwaltung des Gebirgsdorfes. Einmal hatte ich meinen Kinderausweis gegen einen Personalausweis eingetauscht, das zweite Mal, es war erst vor drei Wochen gewesen, hatte ich einen Reisepass abzuholen. Den Reisepass hatte ich beantragt, weil ich in vierzehn Tagen, während der kommenden Sommerferien, mit Freunden aus der Jugendgruppe, die ich im Gebirgsort regelmäßig besuche, eine Rucksackreise nach Griechenland unternehmen möchte.

Mein heutiger Amtsgang liegt nicht in der Zuständigkeit der Gemeindeverwaltung des Gebirgsortes. Weil ich mich im Landratsamt nicht auskenne, suche ich auf einem schwarzen Brett nach der Zimmernummer auf dem ich mich einzufinden habe. Breite Steintreppen führen durch die Stockwerke des alten Gebäudes. Schwungvoll laufe ich hinauf. Während ich jeweils zwei der niedrigen Stufen auf einmal nehme, denke ich daran, dass mir, seit ich den Nahverkehrsbus verlassen habe nicht mehr schlecht ist. Ich fühle mich wieder fit. An die Rückfahrt möchte ich jetzt noch nicht denken. Doch weil ich genau das jetzt tue, schießt mir der Gedanke durch den Kopf, dass ich wahrscheinlich spätestens bei der Rückfahrt in den Gebirgsort wieder mit meiner Übelkeit wegen dem Fahrstil eines Busfahrers zu tun bekommen werde.

Im zweiten Obergeschoss finde ich die Zimmernummer nach der ich suche. Ich öffne eine schwere Holztüre. Ich betrete einen hellen Raum mit großen, geöffneten Fenstern durch die ein heißer Luftzug herein zieht. Ich schließe hinter mir die Türe und bleibe an einem Tresen aus hellbraunem Holz stehen.

An einem Schreibtisch hinter dem Tresen sitzt mitten in dem Amtszimmer ein Mann mittleren Alters. Er blättert in einem Karteikasten. Offensichtlich sucht er nach einer bestimmten Karte. Ein anderer Mann sitzt an einem Schreibtisch vor einem der geöffneten Fenster. Er wirkt älter als der Mann in der Mitte, denn er trägt einen schwarzen Vollbart. Er tippt auf einer Schreibmaschine. Offenbar ist es ein Formular, das er zu bearbeiten hat, denn er tippt stets nur kurz und verstellt dann das eingelegte Papier um die Stelle zu suchen, ab der er weiter zu tippen hat.

Von mir haben die beiden Herren bisher noch nicht Notiz genommen. Weil beide weiterhin ihrer Tätigkeit nachgehen, bin ich mir nicht sicher, ob sie überhaupt bemerkt haben, dass ich das Amtszimmer betreten habe. Weil keiner der beiden von mir Notiz nimmt, blicke ich mich weiter um. Auf dem Holztresen vor mir liegen grüne Schreibunterlagen. In einer Auslage neben dem Tresen sehe ich einige Formulare. Ich gehe an die Auslage und überprüfe, ob ein Formular dabei ist, dass ich vielleicht auszufüllen habe. Weil ich nichts Passendes für mein Anliegen finde, gehe ich zurück an den Tresen. Jetzt sehe ich in der Ecke auf dem Tresen einen an einer Halterung baumelnden Kugelschreiber. Daneben meine ich eine kleine Glocke zu erkennen, wie man sie an Hotelrezeptionen manchmal findet. Jetzt frage ich mich, ob die beiden Männer erwarten, dass ich diese Glocke kurz betätige. Weil ich glaube, dass dies der Fall sein könnte, nähere ich mich sehr langsam dieser Glocke.

Kurz vor ihr bleibe ich stehen, denn ich denke plötzlich, ich sollte sie lieber doch nicht betätigen. Weil ich der einzige Bürger bin, der jetzt in diesem Amtszimmer etwas erledigen möchte, glaube ich nicht dass dieses Gebimmel notwendig ist. Außerdem habe ich bei meinen wenigen Amtsgängen auf die Gemeindeverwaltung im Rathaus meines Gebirgsdorfes gelernt, dass man als Bürger sich während solcher Geschäfte in Geduld und Zurückhaltung zu üben hat. Bei meinem ersten Amtsgang, ich war gerade sechzehn Jahre alt geworden und war deshalb verpflichtet, den Kinderausweis gegen den Personalausweis einzutauschen, hatte ich eine sehr unschöne Szene in einem Büro, das diesem Amtszimmer in dem ich gerade warte sehr ähnlich sah, erlebt. Damals hatte sich ein junger Mann, der vor mir gewartet hatte, den Unmut eines Bediensteten zugezogen, weil er nervös auf dem Tresen der Amtsstube mit seinen Fingern herumgeklopft hatte. Ein Bediensteter, der ähnlich dem Bärtigen in diesem Amtszimmer auf einer Schreibmaschine tippte, hatte damals sein Getippe wegen des nervös Wartenden eingestellt, war flink hinter seinem Schreibtisch hervorgesprungen, und hatte sich vor dem nervösen jungen Mann aufgebaut. Dies tat er nicht, um ihn nach seinem Wunsch zu fragen, sondern der Bedienstete erklärte, dass wenn nicht sofort das nervöse Geklopfe aufhöre, garantiert niemand der geschäftig schreibenden und anderweitig arbeitenden Kollegen mit ihrer jeweiligen aktuell zu bearbeitenden Aufgabe fertig werden könne. Das erklärte der Mitarbeiter in bayerischer Direktheit und Deutlichkeit. Der junge, nervöse Mann vor mir schrak sichtbar zusammen. Die zuvor nervös klopfende Hand krallte er jetzt in die Tischkante der Theke vor ihm. Verängstigt nickte er der Amtsperson respektvoll schweigend zu. Ich hatte schnell verstanden, dass ruhiges und verständiges Warten in einer Amtsstube sozusagen das A und O ist, wenn Mann nicht riskieren will, nicht bedient zu werden. Der Bedienstete konnte so in Ruhe seine Aufgabe beenden, bevor er die Zeit fand, den jungen Mann und danach mich zu bedienen. An diese Begebenheit erinnere ich mich jetzt. Deshalb interessiere ich mich nicht mehr für die Glocke auf dem Tresen vor mir. Ich habe Zeit. Ich habe Respekt, vor der Arbeit der in dieser Amtsstube Tätigen. Der Bärtige und der andere Mann sollen ihre Arbeit in Ruhe und gebotener Sorgfalt erledigen. Ich will die beiden nicht durch Gebimmel aus dem Rhythmus ihrer alltäglichen Geschäftigkeit bringen. Ich weiß nicht, warum diese kleine Glocke auf dem Tresen steht und ich will es auch nicht wissen.

Noch ein Grund fällt mir ein, das Gebimmel zu unterlassen. Auch das könnte die damalige Wut des geschäftigen Bediensteten in der Gemeinde des Gebirgsortes begründen. Der Bedienstete war ein alter, gestandener Bayer. Ähnlich wirkt heute der Bärtige hinter seiner Schreibmaschine auf mich. Vermutlich arbeiten diese Menschen schon seit zwanzig oder gar dreißig Jahren in diesen Amtsstuben. Wenn ein junger Mann, so wie ich es heute tue, in das Büro kommt und sich nervös klopfend oder bimmelnd an den Tresen stellt, dann könnte das eine Provokation für einen alt gedienten Bediensteten sein. Nervöses Geklopfe oder Gebimmel in solch einer Situation wäre quasi eine provokative Dreingabe für die schwer und konzentriert arbeitenden Amtspersonen. Es würde ein Fass zum Überlaufen bringen: Selbst noch nie im Leben was gearbeitet haben, aber im Amt einen Ausweis abholen wollen! Die Dienste anderer auf der Gemeinde im Rathaus in Anspruch nehmen wollen! Unglaublich diese jungen Rotzlöffel heutzutage! Allein die Situation, in der ich mich gerade befinde, mein Warten im Amtszimmer, mein Alter, das könnte bereits ausreichen, einen altgedienten Menschen ärgerlich zu stimmen. Früher hat‘s das nicht gegeben! Und dann auch noch nervös herumklopfen und bimmeln! Wo gibt’s denn so was? Früher hat ein normaler junger Mensch zunächst etwas Vernünftiges gelernt und gearbeitet, bevor er in eine Amtsstube gekommen ist, um eine Dienstleistung in Anspruch zu nehmen!

So denke ich und stehe aufgeregt und nervös vor dem Tresen. Aber ich rühre mich nicht. Weder klopfe ich nervös auf dem Tresen, noch benutze ich die Klingel, die vielleicht dafür vorgesehen ist. Ich bemühe mich meine Aufregung und Nervosität zu unterdrücken. Innerlich spreche ich zu mir selbst um mir Mut zu machen: Du bist hier, weil Du das, was Du heute hier zu erledigen hast heute unbedingt erledigen musst. Das Papier, das Du hoffst hier im Amt zu erhalten, brauchst Du unbedingt heute. Heute musst du wichtiges erledigen! Du kannst das aber nur schaffen, wenn Du dieses mühsam erworbene Papier von einem der beiden Bediensteten heute bekommst! Also, ganz Ruhig vor diesem Tresen stehen bleiben, schweigen und warten bis Du dran kommst. Irgendwann wird es soweit sein. Nur Geduld und keine nervösen Bewegungen oder gar Herumklopfereien auf diesem hohen Tresen!

Wahrscheinlich, so drängt sich jetzt ein Gedanke in meinem Kopf nach vorne, werden die beiden Bediensteten glauben, wenn sie gleich von mir hören, was ich hier in ihrem Büro will, dass ich dieses Papier zu meinem Vergnügen heute hier abholen möchte. Sicherlich, so wird es jetzt ganz klar in meinem Kopf, würden die beiden Bediensteten niemals glauben, dass ich heute etwas sehr wichtiges zu tun habe. Beide Amtspersonen, das sehe ich jetzt deutlich in meinem Kopf vor mir, haben nicht einen winzigen Funken Ahnung davon, welch für mich wichtige Aufgabe ich heute zu erledigen habe, die mich nun in dieses Amtszimmer geführt hat. Ich bin fast sicher, die beiden werden denken, dass mich Vergnügen oder gar Langeweile heute hier her führen um dieses Papier ab zu holen.

Endlich hört das Getippe auf der Schreibmaschine auf. Der bärtige Mann erhebt sich behäbig und schwerfällig aus seinem Schreibtischstuhl. Er kommt gemächlich zu mir an den Tresen heran. In der Hand hält er ein Formular, das er gerade mit kräftigem Ruck aus der Maschine gezogen hat. “Was brauchens denn?” So höre ich jetzt seine tiefe Stimme. Der Mann fragt, ohne mich anzublicken. Er fragt beiläufig, eigentlich beinahe uninteressiert. Es ist berufliche Routine, die in seinen Worten durchschlägt. Es ist sein Alltag, voller Langeweile in dieser miefigen Amtsstube, den ich in den Worten zu erkennen glaube. Ein Alltag, der mir bisher weitgehend unbekannt ist. Es ist Gleichgültigkeit, gegenüber denjenigen, die er täglich hier zu bedienen hat, die ich in seinem Tonfall zu hören glaube. Während er so fragt, zieht er unter dem Tresen einen Ordner hervor. Den legt er auf den Tresen. Langsam öffnet er den Deckel. Knisternd blättert er sich durch mehrere Seiten von dünnem Durchschlagpapier. Irgendwo in dem Ordner findet er einen Platz, der dem Formular zugedacht zu seien scheint, dort heftet er das Formular ab. Schlagartig verschwindet der Ordner wieder unter dem Tresen. Der Mann blickt nun zu mir herab. Jetzt erst, wo der Mann erstmals Blickkontakt zu mir herstellt, spüre ich den tiefen, sonoren Klang seiner Stimme. Kurz glaube ich, der Tresen vor mir wackle und vibriere leicht. Der Schall, der mir sekundenlang in den Ohren nachklingt fliegt zum offenen Fenster hinaus.

Seit Minuten halte ich meinen Ausweis in den zittrigen Fingern. Ich lege ihn auf die grüne Unterlage auf den Tresen. „Ich möchte meinen Führerschein abholen.“ Ich höre plötzlich etwas dumpfes in meiner Stimme. Ich weiß, dass meine Stimme piepsig klingt. Ohne zu zögern schnappt sich der Mann meinen Ausweis. Mit ihm verschwindet er kurz hinter einem hohen Regal in der linken Hälfte des Zimmers.

Selbstverständlich ignoriert der vollbärtige Mann, dass heute mein Geburtstag ist. Ich hatte die Führerscheinprüfung vor mehreren Wochen abgelegt. Weil ich erst heute volljährig werde, war mein Führerschein so lange im Landratsamt geblieben. Erst heute darf er mir ausgehändigt werden. Ich unterschreibe auf einem Formular, das der Vollbärtige mir hinschiebt. Danach unterschreibe ich auf dem grauen Führerschein, den er mir ebenfalls über den Tresen zuschiebt.

Lange habe ich meine Unterschrift geübt. Trotzdem gelingt es nicht, sie auf dem Führerschein so hinzukriegen, wie ich es wünsche. Ich bin aufgeregt und habe verschwitzte Finger. Ich weiß, dass ich die Unterschrift nicht korrigieren kann. Meine Aufregung und Unsicherheit reicht so weit, dass ich, während ich meinen Namen schreibe, fürchte mich zu verschreiben. Zum Glück denke ich genau dieses in dem Moment des Unterschreibens. Deshalb konzentriere ich mich genau darauf meinen Namen richtig zu schreiben. Ich bin erleichtert, als ich merke, dass mir das gelingt.

Ich lächle den Vollbärtigen an und stecke den Führerschein und meinen Ausweis in meinen Geldbeutel. Ich piepse ein paar wenige Worte: „Vielen Dank. Aufwidersehen.“ Ich verlasse schnell das Amtszimmer. Vor der Tür spüre ich Erleichterung, wie nach der Führerscheinprüfung. Mein Amtsgang ist beendet.

Mehr habe ich in der Kreisstadt nicht zu erledigen. Meinen Führerschein habe ich abgeholt, deshalb bin ich auf dem Rückweg zur Bushaltestelle. Trotzdem denke ich immer noch nicht an die Rückfahrt. Ich denke daran, dass es großes Glück ist, dass ich heute den Führerschein in meinen Geldbeutel stecken kann. Die Sitzbank an der Bushaltestelle ist von zwei Frauen mit Einkaufstaschen und einem Mann, der eine Plastiktüte auf dem Schoß hat, besetzt. Deshalb warte ich stehend auf den Bus.

Es waren nicht die kurvenreichen Fahrten im Fahrschulauto über die steilen Bergstraßen, oder das Einparken des Wagens in der Kreisstadt gewesen, wegen denen ich die Führerscheinprüfung nur mit viel Glück bestanden hatte. Es waren meine großen Konzentrationsprobleme gewesen, die ich an dem Tag gehabt hatte, als ich morgens um Viertel nach acht Uhr in dem Prüfungsraum über dem Fragebogen zu den Verkehrsregeln gesessen war. Ich war sehr nervös und aufgeregt gewesen an diesem Tag. Es war der Morgen des Tages gewesen, an dem ich nachmittags in den etwas weiter entfernten, angrenzenden Landkreis fahren sollte. Dort sollte ich in der großen Kreisstadt ein Zimmer besichtigen.

Dass ich am Prüfungstag dieses Zimmer besichtigen würde, hatte ich schon lange vor der Prüfung gewusst. Die Mutter hatte den Termin schon Wochen zuvor organisiert und sie hatte mir lange schon gesagt, wann es so weit sein würde. Dass dieser Tag trotz dieser frühzeitigen Ankündigung aufregend werden würde, und dass die Aufregung morgens während der Prüfung besonders groß sein würde, hatte ich nicht erwartet. Ich hatte gedacht, dass ich sowohl auf die Prüfung am morgen als auch auf die Zimmerbesichtigung am Nachmittag sehr gut vorbereitet sei, weil mir genügend Zeit für diese Vorbereitungen gegeben war.

So hatte ich wochenlang Zeit mich in meinem Kopf auf die Fahrt am Nachmittag nach der Führerscheinprüfung in die große Kreisstadt in den angrenzenden Landkreis vorzubereiten. Wochenlang hatte ich immer wieder darüber nachgedacht, was an diesem Nachmittag auf mich zukommen würde und wie es danach weitergehen würde. Ich hatte mir ausgemalt wie ich mich in der unbekannten Stadt zu Rechtfinden würde. Ich hatte mir lange ausgemalt wie das Haus aussehen würde. Ich hatte ein Bild in meinem Kopf entwickelt, wie das neue Zimmer aussehen würde. So hatte ich versucht mich auf diesen Tag vorzubereiten. Ich hatte gehofft, wenn ich bereits vor diesem Tag möglichst oft und intensiv darüber nachdenke, wäre ich während der Führerscheinprüfung am Morgen nicht in der Gefahr, daran denken zu müssen was am Nachmittag auf mich zukommen würde. Meine Hoffnung war nicht in Erfüllung gegangen. Weil dieser Tag mit dem Tag der Führerscheinprüfung zusammen gefallen war, hatte ich gleich nach dem Aufwachen am frühen Morgen an den nahenden Nachmittag und meine Fahrt in die große Kreisstadt gedacht. In meinem Kopf war die Führerscheinprüfung deshalb ein bisschen in den Hintergrund gerückt. Sie war zu einer Nebensache geworden. Wegen meiner geringen Konzentration, wegen meiner Aufregung erzielte ich ein sehr schlechtes Prüfungsergebnis. Hätte ich in dieser Prüfung nur einen Fehler mehr gemacht, so erklärte mir der Fahrlehrer mit einem leichten Lächeln auf den Lippen, dann hätte ich mir die kurvenreiche Prüfungsfahrt im Anschluss an die theoretische Prüfung sparen können. Ich wäre nämlich nicht zugelassen worden. Stattdessen hätte ich mich zur nächsten Prüfung anmelden können. Stattdessen hätte ich noch mehrere Pflichtstunden im Fahrschulauto nehmen müssen. Stattdessen wäre ich sicherlich noch mehrfach mit dem Fahrlehrer auf der kurvigen Strecke Richtung kleine Kreisstadt unterwegs gewesen um meine Ängste vor der Anhöhe und den folgenden Kurven abzubauen. Ich musste die Prüfung nicht wiederholen. Ich hatte Glück. Heute steckt mein Führerschein in meinem Geldbeutel.

Vor dem Landratsamt fährt jetzt der Nahverkehrsbus vor. Beim Busfahrer löse ich eine Fahrkarte für die Strecke zurück bis zum Bahnhof in meinen Gebirgsort. Diesmal setze ich mich gleich vorne in die zweite Sitzreihe.

Nachmittags, während der Fahrt im Wagen mit meiner Mutter war ich sehr nervös und gespannt gewesen. Meine Anspannung hatte seit der Prüfung am Vormittag nicht nachgelassen. In meinem Kopf hatte ich erneut versucht mir vorzustellen, wie das neue Zimmer wohl aussehen würde. Meine Mutter konnte meine Fragen im Wagen nicht beantworten. Auch sie hatte das Zimmer noch nicht gesehen. Sie kannte weder das Haus, noch die Vermieterin. Selbst die große Kreisstadt kannte die Mutter kaum, weil ihr Weg sie dort eigentlich nie hingeführt hatte, weil sie alle Erledigungen stets in der kleinen Kreisstadt ausführen konnte. Ich glaube die Mutter hatte das Zimmer über eine Zeitungsanzeige gefunden.

Während der Fahrt hatte ich mir deshalb das Zimmer wieder und wieder ausgemalt. In meinem Kopf war es ein winziges, leeres Zimmer mit Waschbecken und einem Fenster hinaus ins Grüne. Meine Vorstellung war sehr einfallslos. Ich glaube, das hatte daran gelegen, dass ich seit Jahren so ein Zimmer bewohne. Natürlich ist mein Zimmer nicht leer, sondern es ist mit Möbeln der Eltern ausgestattet. Ich hatte mir einfach ein kleines, leeres, etwas finsteres Zimmer vorgestellt, dass meinem Zimmer sehr ähnlich ist. Mein Zimmer ist etwa zweieinhalbe Meter breit und dreieinhalbe Meter tief. Das Fenster weist hinaus Richtung Waldrand.

Mein neues Zimmer in der großen Kreisstadt erwies sich an dem Nachmittag als ein winziges Stück größer, als ich es mir in meinem Kopf ausgemalt hatte. Tatsächlich hat es ein Waschbecken und ein Fenster, das etwa genauso groß ist, wie mein Fenster am Waldrand. Vor diesem Fenster liegt jedoch kein Wald, sondern dort verläuft in etwa dreißig Meter Entfernung eine vielbefahrene Bahnlinie. Auf dieser fahren rund um die Uhr viele Züge nach Österreich, Italien, Griechenland und in viele andere Länder.

Heute Nachmittag werde ich dieses neue Zimmer in der großen Kreisstadt beziehen. Daran denke ich jetzt, während der Busfahrer kräftig Gas gibt. Das Ortsendeschild der kleinen Kreisstadt hat der Bus schon passiert. Der Busfahrer holt jetzt Schwung, solange die Straße noch nicht steil ansteigt. Am Ende der langen Geraden steuert er das Vehikel schwungvoll in die erste Rechtskurve. Der Motor dröhnt sofort deutlich lauter, denn diese Kurve ist der Beginn einer merklichen Steigung. Die Steigung hält über viele Kurven an. Steil führt die Strecke hinauf, bis oben auf dem Berg Bahngleise an einer Bahnschranke über die Straße führen. Weil ich auf der Rückfahrt nicht wieder das Selbe erleben will, wie auf der Hinfahrt, versuche ich jetzt nicht an diese Fahrt zu denken. Ich denke auch nicht daran, dass ich ab heute meinen Führerschein in meinem Geldbeutel habe und deshalb selbst Autofahren darf.

Ich denke an mein altes Zimmer, das ich heute den letzen Tag bewohne und ich denke an mein neues Zimmer, dass ich heute den ersten Tag beziehe. Genau genommen werde ich in der kommenden Nacht voraussichtlich die erste Nacht dort schlafen. Ganz genau genommen ist mit dem heutigen Tag, meinem Geburtstag, die Zeit bei meinen Eltern beendet. Ich bin nicht sicher, ob ich das einfach so denken sollte oder gar sagen kann. Vielleicht sollte ich besser denken und zu mir sagen, dass die Zeit bei meinen Eltern mit dem heutigen Tag abgelaufen ist. Oder ist das einfach das Gleiche? Abgelaufen oder beendet. Vielleicht ist es Haarspalterei darüber nachzudenken welcher dieser Begriffe besser für das passt, was heute zwischen den Eltern und mir geschieht. Genau genommen, so formuliere ich das jetzt in meinem Kopf, doch da höre ich plötzlich wieder die laut quietschenden Bremsen des Nahverkehrsbusses, an dessen schnelle Fahrt ich eigentlich gar nicht denken möchte, der mich jetzt aber zwingt meine Gedanken an den heutigen Tag zwischen den Eltern und mir in meinem Kopf in eine Ecke zu verfrachten, weil der Busfahrer zu einem scharfen Bremsmanöver gezwungen ist, und das, obwohl die Strecke steil bergauf führt. Der Gedanke bleibt nicht in seiner Ecke, in die ich ihn wegen des riskanten Fahrstils dieses Busfahrers in meinen Kopf gezwängt habe. Sondern der Gedanke springt unvermittelt wieder aus seiner Ecke hervor. Genau genommen, so hört mein Denken nicht auf, obwohl ich jetzt einen großen Lastwagen in der engen Kurve entgegenkommen sehe, genau genommen habe ich ab dem heutigen Tag bei meinen Eltern nichts mehr zu suchen! Sicherlich sind auch dies die falschen Worte, für das, was ich meine. Aber sie gehen mir jetzt durch den Kopf. So formuliere und denke ich und bleibe dabei ruhig auf meinem Sitzplatz sitzen. Heute ist es endgültig vorbei mit meinem Leben bei meinen Eltern. Diesen Gedanken spuckt mein Kopf jetzt schnell heraus, bevor ich im Bus meine ganze Aufmerksamkeit auf das Geschehen um mich herum richte. Allein dieser Gedanke wäre genug Grund, von meinem Sitzplatz aufzuspringen und einen wütenden Tanz oder einen kleinen Trauermarsch aufzuführen. Aber das tue ich nicht, weil ich diesen Gedanken schon seit langer Zeit kenne. Deshalb schaffe ich es mittlerweile gut, meine Gefühle bei diesen Gedanken in mein inneres hinein zu stopfen, quasi selbst aufzufressen und jegliche äußerlich sichtbare Reaktion zu vermeiden.

Der Bus steht in einer scharfen Kurve. Die Motoren von Bus und Lastwagen höre ich laut dröhnen. Der Lastwagen vor uns steht aber noch nicht. Schrilles Quietschen der Bremsen des Lastwagens durchdringt die heiße Luft. Das Führerhaus des Lastwagens kommt endlich, nur Zentimeter vor der Fahrerkabine des Nahverkehrsbusses, zum Stehen. Die Lastwagenbremsen verstummen. Ein zischendes Geräusch der Druckluftbremse ertönt.

Um mich herum spüre ich die aufgeregte Spannung der Fahrgäste. Viele waren von ihren Plätzen aufgestanden. Mancheiner lässt sich nun wieder in seinen Sitz zurückfallen. Ich glaube, genau jetzt fangen diejenigen Fahrgäste, die genauso wie ich es getan habe, für Sekunden die Luft angehalten hatten wieder zu atmen an. Sie drücken sich in ihre Rückenlehnen und versuchen so die Anspannung abzulegen. Ich gehöre diesmal nicht zu denjenigen, denen richtig schlecht geworden ist. Ich habe sogar das Gefühl, als sei ich ganz ruhig, beinahe entspannt geblieben. In mir spüre ich eine seltsame Entspannung, als ließe mich das Geschehen im Bus beinahe unberührt. Vielleicht hat das mit meinen Gedanken zu tun, die mir gerade durch den Kopf gegangen waren. Ich glaube, meine Technik, die ich gerade ohne es zu planen angewandt hatte, ist tatsächlich wirkungsvoll. Wegen des Geschehens auf der Straße ist mir weder schlecht geworden, noch bin ich aufgeregt, wie die anderen Fahrgäste.

Auch der Busfahrer scheint nicht besonders angespannt zu sein. Ruhig greift er zum langen Schaltknüppel und legt einen anderen Gang ein. Routiniert findet er den Gang, den er sucht. Diesmal ist es ein schwerer Lastwagen, wegen dem er sein Gefährt langsam zurückrollen lässt. So macht er dem von oben entgegenkommenden, tonnenschweren Brummer Platz. Die Anspannung im Bus ist nun restlos verflogen. Die Menschen um mich herum beginnen jetzt, sich über die Situation aufzuregen. Die Aufregung unter den Fahrgästen ist größer als auf der Herfahrt. Ich höre Stimmen von norddeutschen Touristen. “Um Gottes Willen, das war knapp! Unglaublich mit welchem Tempo die hier entlang donnern! Das gibt’s doch nicht, wie die hier fahren! Da hat ein Engel eingegriffen! Wenn das mal immer so gut geht!”

Die Touristen erwarten in dieser gebirgigen Landschaft Erholung und keine abenteuerlichen Linienbusfahrten. Ich glaube die Aufregung der Touristen ist berechtigt. Der große, schwer beladene Lastwagen hatte in der zurückliegenden Kurve ein sehr geräuschvolles Bremsmanöver gemacht. Ein Bremsversagen auf dieser sehr steilen Straße wäre sicherlich katastrophal, für einige Mitfahrende vermutlich tödlich gewesen. Weil ich, wegen dieser neuer Gedanken in meinem Kopf langsam wieder ein flaues Gefühl aus meiner Magengegend spüre, beende ich dieses Denken. Der Busfahrer steuert den Bus weiter auf seine Weise den steilen Berg hinauf.

Ich kann jetzt noch nicht wissen, wie es sich zwischen den Eltern und mir weiterentwickeln wird. Tatsache ist, dass ich heute Nachmittag meinen spärlichen Besitz von meinen Eltern abholen soll, um damit mein neues Zimmer in der großen Kreisstadt zu beziehen. Klar ist auch, dass mir ab heute mein altes Zimmer bei den Eltern, das ich jahrelang bewohnt hatte, nicht weiter zur Verfügung steht. Dieses Zimmer verlasse ich heute für immer.

Darüber, dass mein heutiger Geburtstag ein Schuss-Strich ist, sind wir uns einig. Seit Wochen, Monaten, eigentlich seit mehr als einem Jahr hatten wir uns darauf geeinigt, dass heute zwischen uns Schluss ist. Das Leben bei meinen Eltern endet mit dem heutigen Tag. Darauf haben wir uns einvernehmlich verständigt. Über diese Frage hatten wir uns nicht gestritten. Die Frage, ab welchem Tag Schluss sein soll, hatte ich klar beantwortet und meine Eltern hatten das seit langer Zeit ebenso klar gesehen.

Weil zwischen uns schon lange Zeit klar geworden war, dass heute dieser Tag kommt, hatte meine Mutter sich sehr bemüht, dieses neue Zimmer in der großen Kreisstadt für mich aufzutreiben. Ich glaube, sie hatte sich sehr dafür verantwortlich gefühlt, dieses Zimmer aufzutreiben. Ich glaube, es war ihr sehr wichtig gewesen, sicher zu stellen, dass ich auch ab heute noch ein Dach über dem Kopf habe. Ich glaube das hatte sie getan, weil sie befürchtet hatte, dass sie sonst ihr Gewissen plagen würde. Ich glaube, dass sie mit ihrem Einsatz für mein neues Zimmer der Verantwortung für mich, die ihr immer sehr ernst gewesen war, ein letztes Mal gerecht werden wollte.

Während der Autofahrt neben meiner Mutter, an dem Tag meiner beinahe verpatzten Führerscheinprüfung, hatte ich meiner Mutter dafür gedankt, dass sie diese letzte Verantwortung für mich übernommen hatte. Ich hatte ihr während dieser Fahrt gesagt, dass ich darüber sehr froh bin, dass sie dieses neue Zimmer für mich organisiert hat.

Ich glaube, ich hätte einige Schwierigkeiten damit gehabt dieses Zimmer zu finden, denn ich hatte mich in den zurückliegenden Wochen auf meine Abschlussprüfungen in der Schule vorzubereiten. Nein, ehrlich gesagt, so drängt es mir mein Kopf nun auf, ich glaube, das ist nicht Grund genug! Das ist eine zu einfache Begründung! In den Augen meiner Mutter ist das ganz sicher eine viel zu einfache Begründung. Mein Kopf sagt mir, dass ich so einfach nicht denken, nicht so einfach begründen darf, dass es schwerwiegendere Gründe dafür geben muss, dass ich nicht in der Lage war, mir mein neues Zimmer eigenständig zu suchen. Während der Bus schon wieder in einer scharfen Kurve liegt, und mein Magen das Gefühl von Übelkeit erzeugt, weil sich das Vehikel bedenklich aus der Kurve neigt, dabei knarrt wie ein alter klappriger Stuhl unter der Last eines gewichtigen Menschen, und ich fürchte, der Bus könnte die Leitplanke streifen oder gar darüber hinaus getragen werden, denke ich trotzt der mir jetzt endgültig wahnsinnig scheinenden Raserei dieses Busfahrers, dass ich noch mal von Vorn beginnen muss das zu begründen.

Ich bin der Mutter dankbar, dass sie dieses Zimmer organisiert hat, weil ich sicher bin, dass ich niemals ein Zimmer gefunden hätte. Künftig werde ich von sehr wenig Geld leben. Meinen Lebensunterhalt verdiene ich noch nicht selbst. Geld werde ich, solange ich weiter eine Schule besuche, von der Sozialkasse erhalten. Das Geld reicht meiner Meinung nach aus um davon Lebensmittel und Kleidung zu kaufen und um die Miete zu bezahlen. Es reicht bestimmt aus um einigermaßen über die Runden zu kommen. Doch ich glaube, mit meiner Ansicht, dass dieses Geld für meinen Lebensalltag reicht, brauchte ich mich nicht für ein Zimmer zur Untermiete zu bewerben. Ich glaube, jetzt, wo der Busfahrer die letzte Steigung vor den Bahngleisen nimmt, habe ich einen passablen Grund gefunden. Deshalb habe ich meiner Mutter während der Autofahrt in die große Kreisstadt für ihren Einsatz um dieses Zimmer gedankt: Meine geringen Geldmittel hätten jeden Vermieter misstrauisch gemacht. Ich glaube mir hätte niemand ein Zimmer vermietet.

Die Mutter verfügt über genügend Geld, das sieht jeder Vermieter schon an der Kleidung, die sie trägt und dem Wagen, den sie fährt. Niemand weiß, dass ich künftig nicht auf die Geldmittel der Mutter zugreifen kann, wenn ein Engpass eintritt. Die Vermieterin hat sich nicht dafür interessiert, was heute zwischen den Eltern und mir geschieht. Sicherlich hat das Vertrauen in die Geldmittel der Eltern dazu geführt, dass die Vermieterin mir den Vertrag für das Zimmer gegeben hatte. Deshalb bin ich froh, dass meine Mutter diese letzte Verantwortung für mich übernommen hat.

4. Am Busbahnhof

Nach kurvenreichem Geschaukel in den Gebirgsort zurückgekehrt, warte ich nun verschwitzt und geduldig am Busbahnhof auf einen anderen Bus. Mit dem möchte ich auf einen der umliegenden Berge fahren. Dort oben wohnt Martina, eine Bekannte von mir. Mit ihr hatte ich vereinbart, dass sie mir heute ihren kleinen grünen Wagen leiht. Ein kleiner, leicht verbeulter Peugeot. Mit ihm möchte ich meinen bescheidenen Umzug in die große Kreisstadt machen.

Den Berg kenne ich sehr gut. Täglich war ich in den vergangenen vier Jahren auf diesen Berg hinauf gefahren um die Schule zu besuchen. Die Schule liegt in einer wunderbaren Aussichtslage. Von dort überblickt man die Bergketten rings um das Tal. Oft hatte ich in den zurückliegenden Jahren morgens durch die Fenster des Schulbusses die Sonne hinter den Berggipfeln aufgehen sehen. An vielen Tagen lag morgens das Tal unter einer Wolkendecke, die der Schulbus auf der steil ansteigenden Bergstraße durchquerte und unter sich zurückgelassen hatte. Oben am Berg angekommen wurde die Schulbusfahrt deshalb oft zu einer wunderbaren Aussichtsfahrt. Der Schulbus hatte über den Wolken im Tal noch mehrere Kilometer bis zur Schule auf der weit oben liegenden Höhenstraße zurückzulegen. So konnte ich an vielen Tagen in der Morgensonne hell erleuchtete Gipfel sehen, während unten im Tal eine dichte Wolken- und Nebelwand hing. An manchen Tagen haben sich Wolken und Nebel im Tal nicht aufgelöst, so dass ich die Sonne nur in der Schule sehen konnte.

Morgens, bevor ich meinen Weg zum Bahnhof und dem Schulbus angetreten hatte, spielte sich für mich täglich ein nahezu unveränderter Ablauf ab. Zu Hause war ich an den Werktagen täglich der erste gewesen, der sich an den Frühstückstisch gesetzt hatte. Ich war stets pünktlich aufgestanden, denn täglich war klar gewesen, dass der Schulbus auf diesen Berg, pünktlich um sieben Uhr auf dem Parkplatz hinter dem Bahnhof abfahren würde. Am Frühstückstisch saß ich zu der frühen Morgenstunde stets allein.

Das Geschenk in dieser herrlichen Naturlandschaft aufwachsen zu dürfen, und bei diesen Eltern leben zu dürfen, habe ich im Grunde nie richtig verstanden. Vielleicht habe ich mich mit diesem Geschenk zu wenig beschäftigt, vielleicht hätte ich, um es verstehen und annehmen zu können, viel stärker auf die Eltern zugehen müssen, vielleicht hätte ich mich viel mehr anstrengen müssen, um ein harmonisches Zusammenleben mit den Eltern zu erreichen. Die Harmonie und Schönheit eines Berggipfels kann man nur spüren, wenn man nach einem langen Aufstieg, der viel Schweiß und Mühe kostet, den Gipfel erreicht. Vielleicht habe ich mir in den zurückliegenden Jahren bei den Eltern zu wenig Mühe gegeben, um an den Gipfel heran zu gelangen.

An Schultagen hatte ich mir früh morgens in der kleinen Küche neben dem Esszimmer einen Becher Milch warm gemacht. Ich hatte das Radio auf dem Fensterbrett im Esszimmer eingeschaltet und mich auf meinen Platz gesetzt. Aufmerksam hatte ich morgens dem Radiosprecher zugehört. Täglich sagte der: “Guten morgen verehrte Hörerinnen und Hörer, es ist viertel nach Sechs.” Der Ablauf, in meiner Einsamkeit am Frühstückstisch war fast täglich der gleiche. Nachdem der Radiosprecher “viertel nach Sechs” gesagt hatte, setzte ich mich an den Tisch und blickte müde durch das Fenster. Dort draußen hatte ich, je nach Wetterlage und Tageslicht, beinahe täglich den Berg gesehen, den ich morgens um sieben Uhr mit dem Schulbus hinaufgefahren war. Nach dem ersten Musikstück aus dem Radio hörte ich das leichte Rauschen aus dem kleinen heißen Milchtopf lauter und lauter werden. Der Radiosprecher kündigte das nächste Musikstück an. Das war beinahe jeden Morgen der Augenblick in dem ich meine Augen vom Ausblick aus dem Esszimmerfenster löste, zum Küchenherd ging, den Topf mit der heißen Milch von der Platte nahm und einen Becher Kaba bereitete. Oft war das Gedudle aus dem Radio sehr langweilig gewesen. Der Radioempfang in diesem engen Tal ist sehr eingeschränkt. Es gibt nur zwei Sender, die ohne Rauschen zu empfangen sind. Deshalb schaltete ich das Radio, bevor ich begann mein Marmeladenbrot zu schmieren, ab. Obwohl mich die Musik aus diesem Radiosender jeden morgen gelangweilt hatte, unterließ ich es nie das Radio morgens kurz einzuschalten. Ich wollte hören wie spät es ist, um sicher zu gehen, dass meine Uhr stimmte und ich hatte die Hoffnung nie aufgegeben, aus diesem Radio morgens einmal etwas schwungvollere Musik zu hören. Diese Hoffnung hatte sich niemals erfüllt, jahrelang waren um diese Stunde morgens die immer gleichen, seichten Melodien zu hören.

Den dampfenden Becher Kaba in der Hand ließ ich mich auf meinem Platz nieder und begann mir das Marmeladenbrot zu schmieren. Durch die dünnen, dampfenden Schwaden aus dem Kababecher blickte ich während des Brotstreichens jeden Morgen aus dem Fenster. Ich hatte mich an diese Ruhe am Morgen über die Jahre gewöhnt.

Meist hatte ich nicht ganz die Hälfte des Marmeladenbrotes gegessen und etwa die Hälfte des Kabas getrunken, als ich die Türe des Elternschlafzimmers und die Badezimmertür hörte. Für mich war dieses Geräusch das Signal, mein Brot schneller zu kauen und den Kaba schneller zu trinken, denn die Eltern waren täglich genauso wie ich sehr pünktlich aufgestanden. Ab diesem Zeitpunkt begann ich täglich, meine Bewegungen zu beschleunigen. Ich kippte den Rest Kaba in mich hinein, erhob mich noch am Brot kauend vom Tisch, nahm Teller, Messer und Becher und räumte alles in der Küche in die Spülmaschine. Das Radio schaltete ich dann für Sekunden noch einmal ein, und tatsächlich ertönte jetzt auf dem Sender der Gongschlag, mit dem die Halbsiebenuhrnachrichten angekündigt wurden. Noch einmal überprüfte ich meine Armbanduhr, die stets richtig ging, und schaltete das Radio wieder aus. Das hatte ich immer getan, obwohl ich wusste, dass der Vater es später, wenn er zu frühstücken beginnen würde, wieder einschalten würde. Zuhause waren Geräte wie Radio oder Fernsehgerät niemals im Dauerbetrieb eingeschaltet. Das morgendliche Radiohören während des Frühstückens gab es nur während der Werktage. An Wochenenden, wenn in der Familie gemeinsam gefrühstückt worden war, blieb das Radio immer ausgeschaltet.

Über dem Waschbecken in meinem Zimmer putzte ich meine Zähne, danach verließ ich mit meiner Schultasche mein Zimmer. Das war beinahe täglich der Zeitpunkt, an dem die Eltern bereits voll bekleidet aus dem Bad gekommen waren. Wir begrüßten uns mit einem sehr knappen “guten Morgen”. Nach diesem kurzen Gruß war ich täglich schnell die Treppe hinuntergelaufen, um unten Schuhe und Jacke anzuziehen und das Haus Richtung Bahnhof zu verlassen.

Der Ablauf am Morgen hatte sich über die Jahre eingespielt. Jetzt, wo ich am Busbahnhof sitze und warte, fällt mir jedoch ein, dass dieser Ablauf nicht immer so gewesen war. Anfangs, vor fünf Jahren, als ich gerade ganz neu bei den Eltern eingezogen war, hatte ich unten im Ort die Hauptschule besucht. Damals war ich täglich später aufgestanden, denn ich musste nicht bereits um sieben Uhr am Bahnhof sein. Die Eltern waren auch damals, wegen ihres sehr gut gehenden Geschäftes, das sie im Gebirgsort betreiben, täglich zur gleichen Zeit aufgestanden. Vor fünf Jahren muss es demnach zunächst so gewesen sein, dass wir drei, Mutter, Vater und ich zeitgleich gefrühstückt hatten. Seltsam, dass ich mich an den Ablauf dieser gemeinsamen Frühstücke und Morgende heute kaum mehr erinnere.

Damals, als ich die Hauptschule im Ort besuchte, hatte mich mein Schulweg täglich bergab durch den Wald hinter dem Haus der Eltern geführt. Nachdem ich den Wald hinter mir gelassen hatte, durchquerte ich den Ort, um die Schule zu erreichen, sie liegt ganz unten an alten stillgelegten Bahngleisen. Jetzt erinnere ich mich wieder gut an meinen alten Schulweg und daran, wie es mir morgens gegangen war, als ich diesen Weg täglich zu laufen hatte. Ich hatte diesen Weg immer sehr genossen. Auf dem Schulweg hatte ich die Ruhe des Waldes und ich war allein unterwegs. So konnte ich in aller Ruhe mein Tempo gehen. Auf dem Schulweg bereitete ich mich innerlich auf den Schulvormittag vor.

In der Hauptschule im Ort war es mir nicht gut gegangen. Über den Wechsel auf die neue Schule oben auf dem Berg war ich damals froh gewesen, auch wenn mich mein neuer Schulweg anstatt durch die Ruhe der Waldes und des morgens noch verschlafenen Ortes, in einen lärmenden Schulbus führte. In meiner alten Schule unten im Ort hatte ich häufig Ärger mit Mitschülern gehabt, denn nachdem ich bei meinen Eltern eingezogen war, war es mit mir in schulischer Hinsicht sehr schnell steil bergauf gegangen. Über viele Jahre war ich in der Schule im Ort einer der schlechtesten Schüler in meiner Klasse gewesen. Meinen Eltern, vor allem meiner Mutter, habe ich es zu verdanken, dass ich innerhalb eines Schuljahres so gut geworden war, dass ich auf die Schule auf dem Berg wechseln konnte.

Schon immer hatten mich die Mitschüler in der alten Schule unten im Ort gehänselt. Der Grund war über viele Jahre mein damaliges Zuhause gewesen, das ich gehabt hatte, bevor ich bei den Eltern eingezogen war. Ich glaube, weil es für viele Kinder und Jugendliche damals in dieser Schule sehr befremdend gewesen war, dass ich und einige andere Mitschüler nicht “ganz normal” bei ihren Eltern gelebt hatten, waren Kinder wie ich, häufiger als andere Kinder, zu Zielscheiben von Anfeindungen und zu einer Art Abladestelle für den Ärger von Mitschülern und manchmal auch deren Hass geworden.

Hass und Ablehnung hatte ich von einigen Mitschülern auch weiterhin gespürt, nachdem ich bei den Eltern eingezogen war. Der Grund, dass deren Hass und Ablehnung trotz dieses veränderten Umstandes kein Ende gefunden hatte, war mir lange Zeit nicht klar geworden. Nachdem ich bei den Eltern eingezogen war, hatte ich gehofft, dass ich mit den Klassenkameraden besser zu Recht kommen würde. Ich hatte geglaubt, dass ich von nun an besser zu den Mitschülern gehören würde, weil ich genauso wie sie mit Eltern zusammenleben würde. Während der ersten Monate bei den Eltern hatte ich diese Hoffnung langsam aufgegeben. Die Sache schien nicht so einfach zu sein. Die Erwartung, dass ich plötzlich für die Mitschüler ein normaler Mensch sei, weil auch ich Eltern gefunden hatte, war falsch. Anfeindungen, Ausgrenzungen und Hänseleien der Mitschüler wurden fortgesetzt, wie zuvor. Der Hass, den ich von einigen Mitschülern gespürt hatte wurde sogar noch stärker. Ich glaube, das hatte mit meinen schlagartig verbesserten Schulnoten zu tun.

In der Schule im Ort war ich ein gehasster und gehetzter Außenseiter, weil ich im Gegensatz zu den Klassenkameraden viele Jahre lang ohne Eltern gelebt hatte. Ich blieb weiterhin ein Außenseiter, weil sich meine Schulleistungen wegen der Förderung nach dem Einzug bei den Eltern schnell verbessert hatten. Ich war in den Augen vieler Mitschüler zu einem Streber geworden. Vor allen Dingen hatte ich das Problem einfach anders als sie zu sein. Das reichte. Es reichte, dass mein Leben bei Eltern stattfand, die nicht meine wirklichen Eltern sind. Weil ich einmal anders gewesen war, hatte ich keine Chance mehr dieses anders sein los zu werden. Alles was sich bei mir änderte, wie etwa der Einzug bei meinen neuen Eltern, blieb in den Augen der Mitschüler offenbar trotzdem oder gerade deshalb anders. Das reichte für tägliche Hänseleien. Die Mitschüler hatten mich über Jahre zum Außenseiter, zum Schuldigen für Diebstähle, zum gehassten Fremden gemacht. Ich war schuldig, weil ich anders gelebt hatte, weil ich keine Familie hatte. Nachdem die neuen Eltern für mich gefunden worden waren, nachdem ich bei ihnen eingezogen war, konnten die Mitschüler ihren zuvor entwickelten Hass nicht mehr ablegen. Ich lernte, dass einer wie ich, der einmal Ablehnung auf sich gezogen hatte, weiterhin Ablehnung erfährt, auch wenn die Umstände, die den Hass begründet hatten, längst nicht mehr bestehen.

Einmal war ich auf dem Heimweg nach der Schule durch den Ort hinauf zum Wald, von einer Gruppe von Mitschülern abgefangen worden. Sie hatten mich überrascht, als ich gerade am Waldrand angekommen war. Von dort hatten sie mich in das nahegelegene Haus eines Mitschülers gezerrt, dessen Eltern den ganzen Tag lang in einer Werkstatt in der Nähe gearbeitet hatten. In einem kleinen Zimmer fesselten sie mich an einen Stuhl. Sie bespuckten und beschimpften mich. Mehrfach traten sie mich in den Bauch und gegen die Beine. Zunächst weinte ich nicht, ich schrie oder wimmerte nicht. Ich zeigte nicht, dass ich Angst hatte. Sondern ich saß stumm und versuchte das alles über mich ergehen zu lassen, ohne dabei eine Mine zu verziehen. Ich glaube, weil ich nicht so reagiert hatte, wie die Mitschüler es erwartet hatten, wurden sie mehr und mehr böse. Einer, der mich besonders gehasst hatte, den auch ich deshalb besonders wenig leiden konnte, kam nun auf eine neue Idee. Der Knabe erhitzte einen Feuerhaken, den er aus dem Kachelofen im Wohnzimmer der Wohnung geholt hatte. Er legte den Hacken auf eine Kochplatte auf den Elektroherd in der Küche. Mit dem heißen Haken fuchtelte er vor meinen Augen herum. Dabei brüllte er mich an, bespuckte mich erneut und drohte mir den Haken auf die Backe und in die Augen zu drücken. Erst in diesem Augenblick hatte ich richtig Angst bekommen. Erst als ich diesen heißen Feuerhaken vor mir gesehen hatte, begann ich zu weinen und zu winseln. Ich versprach alles zu tun, was sie wollen, wenn nur der Feuerhaken wieder wegkäme. Ich glaube das war es gewesen, was sie von mir sehen und hören wollten. Ich glaube die Mitschüler wollten wissen, sie wollte spüren, dass sie mich in dieser Situation beherrschten, dass sie Macht über mich hatten, dass ich ihnen hilflos ausgeliefert war. Ich glaube, sie hatten einen Menschen wie mich gebraucht, an dem sie ausprobieren konnten, ob es möglich ist, einen Menschen soweit zu bringen, dass er alles täte, was sie verlangten. So weit hatten sie mich an diesem Nachmittag schließlich gebracht. Mehr hatten die Mitschüler an diesem Tag nicht ausprobieren wollen. Das war wohl mein Glück in diesem Unglück gewesen. Sie banden mich, nachdem sie meine Angst deutlich spürten wieder los. Bevor wie mich vor die Tür warfen drohten sie damit, mir “die Fresse zu polieren”, wenn ich zu Hause davon erzählte. Ich versicherte heulend, das ganz bestimmt nicht zu tun. So ließen sie mich durch den Wald nach Hause laufen.

Zu Hause hatte ich an dem Nachmittag der Mutter von dem Vorfall erzählt, obwohl ich mir auf meinem Nachhauseweg durch den Wald vorgenommen hatte, das Erlebnis zu verschweigen. Wegen der Drohungen mit dem Feuerhaken war ich jedoch sehr verstört zu Hause angekommen. Ich hatte richtig Angst. Noch auf dem Heimweg plagte mich die Frage, wie es künftig mit diesen Mitschülern weitergehen würde. Ich hatte gespürt, dass die Drohung mit dem Feuerhaken der erste Schritt zu weiteren noch schlimmeren Drohungen und Taten sein könnte. Mittags zu Hause hatte die Mutter sofort gemerkt, dass mit mir etwas nicht in Ordnung ist. Deshalb war sie, nachdem ich in meinem Zimmer begonnen hatte, wie an jedem Nachmittag meine Schularbeiten zu erledigen, zu mir gekommen. Sofort erkannte sie, dass ich zwar über den Hausaufgaben brütete, aber nicht in der Lage war, mich auf sie zu konzentrieren. Deshalb setzte sie sich mit mir auf mein Bett, dort hatte sie versucht mit mir über das, was vorgefallen war zu sprechen.

Wenn der Mutter an meinem Verhalten etwas Ungewöhnliches auffiel, hatte sie sich stets sehr bemüht herauszufinden was mir zugestoßen war. Sie war stets sehr bereitwillig gewesen auf mich einzugehen und ich glaube, es war immer ihre Absicht gewesen, mich zu trösten, wenn Trost notwendig war. Mir waren solche zweifellos gut gemeinten Absichten der Mutter, sich um mich zu kümmern, stets sehr unangenehm gewesen. Die Jahre bei den Eltern hatte ich immer versucht, diese Art Hilfe abzuweisen. Ich glaube, das hatte ich immer getan, weil ich mir niemals sicher gewesen war, ob solche Angebote der Hilfe von Erwachsenen wirklich ernst gemeint waren. Ich hatte nicht gewusst, dass Trost und Hilfe von Erwachsenen in solchen Situationen einem Kind und Jugendlichen wie mir vielleicht tatsächlich helfen könnten. Ablehnung und Hass die mir jahrelang in der alten Schule im Ort entgegenschlugen, fanden wenige Wochen nach diesem Ereignis schließlich deshalb sein Ende, weil ich die Schule wegen meiner besseren Leistungen verlassen durfte.

Am Busbahnhof fährt endlich der orangefarbige Nahverkehrsbus vor. Etwa ein Dutzend Menschen steigen aus. Einige von ihnen kenne ich. Es sind ehemalige Mitschüler aus der Schule auf dem Berg. Ich grüße sie lächelnd, nicke ihnen zurückhaltend zu. Die Mitschüler wohnen auf der Strecke hinauf zur Schule. Ich weiß an welchen Bushaltestellen wer von den Bekannten täglich in den Schulbus zusteigt. Von der täglichen Fahrt im Schulbus auf diesen hohen Berg kenne ich die Häuser am Straßenrand, in denen die Mitschüler wohnen.

Der Nahverkehrsbus ist jetzt leer. Die ersten Touristen, die offensichtlich mitfahren wollen um heute auf diesem Berg Wanderungen durch die Wälder zu unternehmen, haben den Fahrpreis beim Busfahrer schon entrichtet und nehmen Platz. Der Bus wird nicht voll werden. Zwischen fünfzehn und zwanzig Menschen steigen ein, die meisten mit Wanderstöcken und Bergschuhen ausgerüstet. Auch ich steige jetzt zu. Ich krame etwas umständlich zwei Mark und achtzig Pfennige aus meiner Hosentasche und gebe sie dem Fahrer. Dafür erhalte ich von dem ein weißes Zettelchen auf dem der Fahrpreis gedruckt ist. Das Zettelchen stopfe ich in meine Hosentasche. Ich setze mich in die zweite Sitzreihe hinter dem Fahrer in einen der dunkelbraunen Kunstledersitze am Fenster. Den Motor hat der Fahrer noch nicht angeworfen, denn der Bus fährt fahrplanmäßig erst in fünf Minuten ab. Der Busfahrer steigt aus, wohl weil momentan kein weiterer Fahrgast zusteigen will. Er verschwindet durch die hohen Flügeltüren in die Halle des Busbahnhofes.

In den vergangenen Jahren hatte ich mich gegenüber gutgemeinten Angeboten der Mutter oft sehr abweisend verhalten. Weil ich Hilfe oder Trost nicht annehmen wollte, weil ich immer versucht hatte alle Probleme mit mir selbst zu lösen, weil ich nicht dazu bereit gewesen war mich auf die Hilfe der Mutter einzulassen, – ich glaube auch deshalb hatte ich auf Dauer in der Familie eine schlechte Stimmung erzeugt. Zwischen mir und der Mutter und auch dem Vater war deshalb ein gewisses Misstrauen entstanden. Ich glaube, weil die Eltern für mich Verantwortung übernommen hatten, waren sie gewissermaßen verpflichtet gewesen, gerade dann herauszufinden was mit mir los gewesen war, wenn sie an meinem Verhalten ungewöhnliches beobachtet hatten. Aber gerade diese Situationen waren es gewesen, in denen ich mich vor den Eltern besonders gerne zurückgezogen hatte. Wenn ich zu Hause für Ärger gesorgt hatte oder wenn ich Probleme mitgebracht hatte, dann wollte ich diese Dinge nicht mit den Eltern besprechen. Vielleicht war dieses Verhalten von mir der Auslöser, dass zwischen den Eltern und mir ein Kreislauf in Gang gekommen war, der es verhindert hatte, dass zwischen uns Vertrauen entstehen konnte. Weil ich in den Jahren in der Familie mein Verhalten nicht geändert hatte, war ich erheblich daran beteiligt gewesen, dass dieser Kreislauf nicht unterbrochen werden konnte.

Nicht weil ich zu große Angst wegen der Androhung der Mitschüler gehabt hatte, wollte ich zu Hause nichts genaueres von dem Vorfall erzählen, sondern, die Wahrheit ist wohl, dass ich der Mutter nichts davon erzählen wollte, weil ich das Gefühl hatte, dass zwischen uns nicht das notwendige Vertrauen da gewesen war. Ich war in meinem Zimmer neben ihr gesessen und druckste herum. Schließlich hatte ich ihr die Geschichte doch erzählt. Aber ich erzählte sie etwas anders. Ich erzählte, dass ich auf dem Nachhauseweg bei einem Mitschüler gewesen sei, wir dort mit einigen andern ein bisschen getobt hätten und ich schließlich den Ellenbogen von einem in den Magen bekommen hätte. Deshalb hätte ich noch Schmerzen, die mich von den Hausaufgaben abhielten aber das würde schon wieder werden.

Der Mutter hatte meine Erklärung nicht gereicht. Ich glaube auf die Mutter hatte ich einen sehr verstörten Eindruck gemacht. Deshalb hatte sie weiter gebohrt und weiter nachgefragt. Schließlich hatte sie mich so weit gebracht, dass ich von den Fesseln erzählte, welche die Mitschüler mir angelegt hatten. Weil ich mich im Laufe des Gespräches beruhigt hatte, erzählte ich ihr, dass dies nur ein Spiel gewesen sei, und die Sache für mich erledigt wäre. Die Mitschüler seien schließlich weiterhin meine Freunde. Nachdem ich nicht geweint hatte, mich beruhigt hatte und alles erzählt hatte, gab sich die Mutter schließlich zufrieden. Sie bohrte nicht weiter. Ich war froh darüber gewesen, nicht auch noch über meine Ängste wegen dem Feuerhaken und meiner Befürchtungen möglicher weiterer Angriffe der Mitschüler mit der Mutter gesprochen zu haben.

Der Gebirgsort ist klein, die Eltern sind wegen ihrem Laden im Ort sehr bekannt. Vielleicht hatte sich auch deshalb nie richtiges Vertrauen zwischen uns entwickelt. Ich war nie sicher gewesen, was von den Dingen, die ich zu Hause erzählte, tagsüber im Geschäft oder abends am Telefon der Eltern wieder auftauchte. Mein Kontakt zu den Eltern wurde schlechter. Es entstand Misstrauen. Ich erzählte immer weniger und ich fühlte mich zunehmend beobachtet. Die Jahre hindurch spürte ich mehr und mehr, dass meine Schritte durch den Ort, mein Verhalten auf der Straße, in den Lebensmittelläden oder in der Schule oft von Augen verfolgt worden waren, die intensive Kontakte zu den Eltern pflegten. Deshalb hatte ich immer versucht mich so unauffällig wie möglich zu verhalten. Vertrauen in die Eltern war dabei nicht entstanden.

Oft spürte eine Angst davor, dass in dem kleinen Ort schnell die Runde machen würde, was für die Eltern nicht gedacht war. Deshalb war mein Verhalten überall stets sehr kontrolliert gewesen. Ich war kein spontanes und ein wenig emotionales Kind. Ich glaube das verstärkte das Misstrauen in der Familie. Ich misstraute der Mutter. Ich hatte Furcht, dass sie Dinge, die ich ihr vertraulich berichtete tagsüber im Geschäft im Ort weitererzählt. Natürlich nicht in böser Absicht, sondern aus Fürsorge, oder um mit den Eltern von Mitschülern bestimmte Dinge aufzuklären. Deshalb war ich keinesfalls sicher gewesen, ob der Vorfall mit den Klassenkameraden über meine Mutter deren Eltern erreicht hätte. Das hätte für mich noch mehr Angst vor den Klassenkameraden bedeutet. Deshalb bemühte ich mich, den Vorfall so gut es ging zu verharmlosen. Irgendwo und irgendwann müssen Unsicherheit und Misstrauen gegenüber der Mutter in mir entstanden sein. Ich weiß nicht wie und wo das angefangen hatte. Heute weiß ich zumindest, dass es eine schlechte Grundlage für den Aufbau von Vertrauen zwischen uns gewesen war. Die Jahre bei den Eltern in diesem Ort war ich stets darauf bedacht gewesen, nirgendwo unangenehm aufzufallen. Tatsächlich, so fällt es mir heute an meinem letzten Geburtstag in diesem Ort ein, war es mir in den zurückliegenden fünf Jahren gelungen, keinerlei Fehlverhalten an den Tag zu legen, dass dazu geführt hätte, dass die Eltern wegen mir bei irgend jemandem hier im Ort in Misskredit geraten wären. Mein Fehlverhalten hatte sich stets zu Hause bei den Eltern abgespielt. Außerhalb des Elternhauses hatte niemand Anlass gesehen, sich über mich zu beschweren.

Der Busfahrer kommt jetzt wieder. Er tritt aus der großen Schwingtüre der Bahnhofshalle. Beschwingt laufend setzt er sich eine dunkle Sonnenbrille auf. Er besteigt den Linienbus und lässt sich auf seinem Fahrersitz nieder. Zwei ältere Damen mit Wanderstöcken, die Minuten zuvor an der Bushaltestelle eingetroffen waren, steigen zu. Zweimal klingelt der Geldautomat des Busfahrers. Er reißt zwei winzige Zettelchen ab, die der Automat ausspuckt. Die Fahrscheine überreicht er den beiden Damen. Eine der beiden Damen hält dem Fahrer einen Geldschein hin. Daraufhin zückt der Fahrer eine schwarze Geldtasche, die er durchsucht. Weil er nicht findet, wonach er sucht, zieht nun auch die zweite Dame ihre Geldbörse heraus. Sie überprüft, ob sie ausreichend Kleingeld findet. Weil das nicht der Fall ist, erhebt sich der Fahrer. Er zwängt sich an den beiden Damen vorbei, verlässt den Wagen und schlendert, seine schwarze Geldtasche am Handgelenk, zurück in die Bahnhofshalle. Ich finde er tut dies betont langsam, denn die fahrplanmäßige Abfahrtszeit ist nun erreicht. Auf mich macht das den Eindruck einer gewissen Verärgerung des Fahrers. Ich glaube, er ist ein wenig sauer, weil diese beiden Damen so knapp vor Abfahrt erscheinen und kein passendes Kleingeld haben. Der Fahrer scheint sich für seine Mühe einen großen Geldschein in der Halle wechseln zu müssen, mit einer verspäteten Abfahrt bedanken zu wollen. Minutenlang ist von dem Busfahrer nichts zu sehen.

5. Busfahrt auf den Berg

Das Haus der Eltern liegt auf halber Höhe eines kleinen Berges. Das Haus hatte ich täglich um zehn Minuten vor sieben Uhr morgens verlassen. Im Eilschritt lief ich zunächst auf einem schmalen Trampelpfad hinunter durch ein kurzes Waldstück hinter dem Haus. Dann ging es auf der Pflasterstraße weiter bis zu einer abkürzenden Schotterpiste, die hinunter zu den Bahngleisen ins Tal führt. Eine alte Holzbrücke quert die Bahngleise. Laut trampelnd und tief atmend war ich täglich morgens über die dicken Holzbohlen gerannt. Meist war die Zeit sehr knapp gewesen, meine Eile war deshalb immer berechtigt. Am Ende der Holzbrücke geht es durch ein riesiges altes Gemäuer über mehrere Windungen führt eine große, finstere Steintreppe hinunter. In diesem Gemäuer war es stets kühl und es stank fürchterlich nach Urin. Am Ende dieser finsteren, kalten Treppe erreicht man den Bahnhofsvorplatz. Auf dem Parkplatz hinter dem Bahnhof erwartete mich täglich der überfüllte Schulbus.

Pünktlich um eine Minute vor sieben Uhr war ich beinahe jeden Morgen auf dem Parkplatz hinter dem Busbahnhof in den vollbesetzten Schulbus gestiegen. Vier Jahre lang hatte ich die Schule auf dem Berg besucht. Nicht ein einziges Mal habe ich die Abfahrt des Busses versäumt.

Nachdem ich in den Bus eingestiegen war, hatte ich jeden Morgen aus den Lautsprechern über den Sitzreihen des Reisebusses die ausklingende Erkennungsmelodie einer Radiosendung des bayerischen Rundfunks gehört. Meine Schultasche in den Händen arbeitete ich mich durch den vollen Mittelgang des Busses. Täglich presste ich die Schultasche dicht an meinen Körper und zwängte mich zwischen den vielen Schülern hindurch, die den Mittelgang verstopften. Meist fand ich im hinteren Teil des Vehikels einen Stehplatz. Die vorderen Stehplätze waren bei den Mitschülern beliebt, weil der Bus dort weniger schaukelte. Der Fahrer warf täglich genau dann den Motor an, wenn die Erkennungsmelodie aus dem Radio beendet war. Dann ertönte ein viermaliges Piepsen gefolgt von einem Gongschlag aus dem Radio. Den Gongschlag hörte ich verzerrt. In dieser Sekunde betätigte der Busfahrer den Zündschlüssel. Deshalb fehlte dem Radio eine Sekunde lang der Strom. Der Nachrichtensprecher sagte, dass es nun sieben Uhr ist, dann nannte er das Datum und den Wochentag und gab bekannt, dass nun Nachrichten folgen. Der Busfahrer lenkte den Bus vom Parkplatz auf die breite Straße, die parallel zu einem breiten Fluss verläuft und das Tal wie ein Strich aus Teer durchzieht. Jetzt war es soweit, die Schultasche auf den Fußboden des Mittelganges hinunter gleiten zu lassen. Während der rasanten Fahrt vom Parkplatz auf die breite Straße und der dann sofort folgenden Beschleunigung war es wichtig, beide Hände an der Gepäckablage über den Sitzplätzen zu haben, denn mehrere Ampeln auf der Straße durch das Tal passierte der Fahrer täglich bei Gelb. Hin und wieder entschloss er sich abrupt zu bremsen. Dann war ein sicherer Halt an der Gepäckablage unbedingt notwendig. Der Busfahrer war jeden Morgen schwungvoll durch das langgestreckte Tal gefahren. Er benutzte das leichte Gefälle an der Abfahrt des Parkplatzes als Beschleunigungsstrecke. So erreichte er täglich auf der Hauptstraße zwischen den Bahngleisen und dem breiten Gebirgsfluss ein beträchtliches Fahrttempo. Nach Möglichkeit versuchte ich mich an einem der Sitze anzulehnen. Das war nicht immer möglich gewesen, denn der Bus war häufig so überfüllt, dass die beliebten Stehplätze auf denen man sich anlehnen konnte, bereits besetzt waren. Noch während der fünfminütigen Radionachrichten bog der Bus in die steile Bergstraße nach rechts ab. Auf einer kurzen Brücke über welche die Straße den eiskalten Gebirgsfluss quert, legte der Busfahrer einen tieferen Gang ein. Von dieser Brücke aus musste der Motor richtig arbeiten. Tosend ging es eine sehr steile, kurvige Bergstraße hinauf. Gleich nach der Brücke ging es in eine enge Kurve, ihr folgte ein sehr steiles gerades Stück. Der Busfahrer schaltete noch einen Gang herunter um die Steigung zu bezwingen.

Der Linienbusfahrer kommt nun endlich mit dem Wechselgeld aus der Bahnhofshalle. Sein mürrischer Blick verrät Ärger. Die verspätete Abfahrt hat für andere Fahrgäste Vorteile. Ein älterer Herr und eine ältere Dame haben sich neben den beiden auf das Wechselgeld Wartenden eingefunden. Die Nachzügler haben Glück, denn sie müssen nicht auf den nächsten Bus warten, der erst in zwei Stunden fährt. Die Nachzügler halten das Fahrtgeld passend bereit. Schnell nimmt der grimmig dreinblickende Fahrer denen ihr Geld ab. Noch bevor die älteren Herrschaften ihren Platz erreicht haben, heult auch schon der Motor auf. Und, als gäbe es jetzt keine Sekunde Zeit mehr zu verlieren, rauscht der Bus in steilem Winkel aus seiner Parklücke heraus. Der Fahrer gibt kräftig Gas. Er brummt auf die rote Ampel an der Ausfahrt des Bahnhofs zu. Weil die rote Ampel nicht grün werden will, steigt er kräftig in die Eisen. Das quietscht schrill, laut und hoch, so dass ich ein Pfeifen höre. Jetzt finden die älteren Herrschaften gezwungener Maßen Platz. Sie lassen sich auf die nächstgelegenen Sitzbank fallen. Der Mann, der seine Begleiterin am Oberarm gepackt hat um sie zu sich auf die dunkelbraune Doppelsitzbank zu ziehen, ich glaube um sie so vor einem Sturz zu bewahren, ruft in Richtung des Fahrers: “Muss denn das sein?“ Mehr Aufbegehren gegen dieses unnötige Anfahren höre ich nicht. Der Fahrer reagiert darauf nicht. Vielleicht hält er sein unbeherrschtes Anfahren für berechtigt. Vielleicht beschweren sich die alte Dame und der Herr nicht stärker über den beinahe erlittenen Sturz, weil sie dankbar sind, überhaupt mit diesem Bus fahren zu dürfen.

Ich hätte froh und dankbar sein sollen, bei den Eltern leben zu dürfen. Anstatt meinen Dank dafür zu zeigen habe ich dort so gelebt, wie ich bin. Ich habe mich misstrauisch, manchmal sogar unzufrieden gezeigt. Wo Dankbarkeit angebracht gewesen wäre zeigte ich nichts in diese Richtung. Ich habe mir herausgenommen was mir nicht zusteht. Genauso wie diese älteren Herrschaften froh sein können überhaupt noch mit diesem Bus mitfahren zu können, hätte ich froh und dankbar sein können, überhaupt eine Familie gefunden zu haben. Diese Gedanken kommen mir jetzt. Die heutige viel zu späte Einsicht ist vielleicht Grund genug dafür, dass ich ab heute nichts mehr bei den Eltern zu suchen habe. Die Chance des Findens, die Zeit des Suchens, die einmalige Gelegenheit, die mir bei den Eltern geboten wurde ist heute abgelaufen. Fünf Jahre hatten sie mir Zeit gegeben und ihre Angebote unterbreitet. Ich hatte nicht begonnen anzunehmen, was sie mir geboten hatten. Ich hätte gar nicht suchen müssen, sondern ich hätte nur das Angebot annehmen müssen. Warum konnte ich nicht annehmen, was mir jahrelang geduldig, freundlich, gut gemeint angeboten wurde?

Die heutige Fahrt im Linienbus empfinde ich trotz des launischen Busfahrers viel angenehmer, als es jede Busfahrt im Schulbus auf den Berg in den vergangenen Jahren gewesen war. Grund ist der Sitzplatz auf dem ich jetzt die kurvige Bergstraße sitzend hinaufgefahren werde und die Ruhe, die unter den Fahrgästen herrscht.

Im Schulbus hatte immer Lärm geherrscht. Es waren bayerische Stimmen von Schülern aus allen Jahrgangsstufen die während der Busfahrt an meine Ohren drängten. Ein wildes Durcheinander von lauten Gesprächsfetzen, Fragen nach nicht erledigten Hausaufgaben, Berichte über die Höhepunkte des gestrigen Abendprogramms im Fernsehen, Zankereien und dazu die seicht vor sich hin dudelnde Unterhaltungsmusik eines bayerischen Radiosenders. Müde stand ich täglich im Mittelgang zwischen den Sitzen. Meine Hände krallten sich an der Gepäckablage fest. So erwartete ich täglich das Ende der Busfahrt. Das rückte in dem Augenblick näher, wenn ich den blauen Himmel und unten im Tal die Wolkenmassen sehen konnte. Dann konnte die Fahrt nicht mehr lange dauern, denn dann hatte der Bus den Anstieg auf den Berg geschafft und die Höhenlage erreicht auf der die Schule auf dem Berg liegt.

Weil ich in der Schulklasse unten im Ort oft die Zielscheibe für Fußtritte, Faustschläge, Stolperfüße oder Spucke gewesen war, war ich sehr froh darüber gewesen, dass ich es wegen meiner besseren Leistungen geschafft hatte, die Schule auf dem Berg zu besuchen. Die Schüler der Bergschule kamen aus unterschiedlichen Orten der Umgebung. In meiner Klasse der Bergschule hatte ich glücklicher Weise niemanden getroffen, den ich von der Schule unten im Ort bereits kannte. In vielerlei Hinsicht war diese Schule deshalb für mich eine neue Chance gewesen. Sie war nicht nur die Chance einen höheren Abschluss zu erreichen, sondern auch Hass und Abneigung der Mitschüler gab es dort nicht mehr, weil die ganze Klasse aus neuen Schülern zusammengewürfelt worden war, die sich alle zuvor nicht gekannt hatten. Die neue Schule war für mich deshalb Chance und Herausforderung. Ich hatte es schon nach einem Jahr bei meinen neuen Eltern geschafft, die Aufnahmeprüfung in die neue Schule zu bestehen. Trotzdem war keineswegs sicher, dass ich auch die neue Schule bestehen würde. Erst die Mutter hatte durch ihre Hilfe und Unterstützung dafür gesorgt, dass mir das Bestehen dieser Schule möglich wurde. Unermüdlich hatte die Mutter sich jeden Nachmittag mit mir darangesetzt, meine Hausarbeiten zu kontrollieren und diejenigen Dinge mit mir zu lernen, die ich in den vergangenen langen Schuljahren versäumt hatte. Sie hatte mir beigebracht für die Schule zu lernen. Erst durch sie hatten mich die Botschaften erreicht, die von den Lehrern seit Jahren erfolglos an mich herangetragen worden waren. “Wer etwas erreichen will muss lernen und Lernen will gelernt sein.” Das war die Einstellung der Mutter.

Beinahe täglich war mir, wegen der Busfahrt in die Schule schlecht geworden. Ich hatte versucht meine mulmigen Gefühle, dieses flaue Gefühl in der Magengegend zu kontrollieren. Das war wegen dem Geschaukel im Bus sehr schwer. In der Anfangszeit in der neuen Schule war es fast täglich vorgekommen, dass ich beim Betreten des Schulhauses sauer aufstoßen musste und mich auf der Toilette übergeben musste. Aber ich lernte schnell mich von diesen widrigen Umständen nach der kurvenreichen Busfahrt nicht zu lange behindern zu lassen.

Weil ich in der Schule, wegen der täglichen Unterstützung der Mutter schnell meinen Weg gefunden hatte, gewann ich mehr und mehr an Sicherheit. Deshalb begannen sich Veränderungen einzustellen, die ich niemals erwartet hatte. Den Unterrichtsstoff hatte ich meist sehr schnell verstanden. Deshalb war ich im Unterrichtsgeschehen für die Lehrer zu einem Ansprechpartner in der Klasse geworden. Auch für die Mitschüler entwickelte ich mich zu einem Ansprechpartner, der während der Busfahrt und in den Schulpausen zu bestimmten Dingen befragt wurde. Mein erlerntes Wissen war zunehmend gefragt. So war es gekommen, dass sich Kontakte zu Gleichaltrigen ganz anders entwickelten als zuvor. In der Schule entwickelte ich mich zu einem aufmerksamen, guten aber kritischen Schüler. Ich glaube, die Mitschüler und viele Lehrer hatten das schnell gemerkt. Deshalb entstand das Gefühl, dass die mich ernst nehmen. Außerhalb des Elternhauses fühlte ich mich ernst genommen.

Weil die Eltern mich als unterstützungsbedürftigen Knaben aufgenommen hatten, der extrem schlechte Schulzeugnisse vorzuweisen hatte, war es ihnen sehr schwer gefallen, die Veränderungen, die sie an mir ausgelöst hatten auch wahrzunehmen. Ich glaube, weil es für die Eltern so schwer gewesen war, meine Veränderungen anzunehmen, hatte zu Hause der harte Kampf zwischen ihnen und mir begonnen. Es war der normale Kampf um die Ablösung von meinem neuen Zuhause gewesen. Dass es sich um einen normalen Kampf handelte und, dass dieser nicht ungewöhnlich war, konnten weder ich noch die neuen Eltern denken und wissen. Ich glaube, weil dieser Kampf für alle beteiligten in der Familie damals neu und unbekannt war, weil keiner darauf eingestellt war und weil keiner von uns diesen Kampf aufgrund eigener Erfahrung bereits gekannt hatte, war er im Laufe der Zeit beinahe zu einer Existenzbedrohung für die Eltern, vor allem für die Mutter geworden.

Ich konnte damals nicht so denken wie jetzt, auch die Eltern konnten das nicht. Auch heute, an meinem letzten Geburtstag bei den Eltern kann ich noch nicht wirklich so denken und die Eltern können das auch noch nicht.

Zu kurz ist die Zeit bei den Eltern vorbei, es sind erst Stunden. Heute beginnt eine neue Zeit. Heute beginnt die Zeit, in der die Zeit bei den Eltern vorbei ist. Diese Zeit wird täglich mehr. Wahrscheinlich braucht es Jahre, um das was gestern gewesen war, anders, klarer weil mit größerem Abstand von den nahe zurückliegenden Geschehnissen und deshalb vielleicht deutlicher sehen zu können. Vielleicht braucht diese heute beginnende neue Zeit noch sehr viele Gedanken in meinem Kopf um zu lichten, was ich heute nicht wirklich erkennen oder gar schon richtig deutlich und klar sehen kann. Es sind die Verletzungen, die ich den Eltern vor allem der Mutter mit meiner Art, die sie häufig „unverschämt“ genannt hatte, zugefügt habe. Es war meine Art, wie ich diesen Kampf geführt habe. Verletzend für die Mutter, niederschmetternd für den Vater. Meine Art diesen Kampf zu führen hat mich dot hin geführt, wo ich heute bin. Die Art, meine Art war falsch. Bei den Eltern war es der normale Kampf, den zu führen jeder Mensch einmal in seinem Leben als Aufgabe vor sich hat, wenn er, wie ich endlich Eltern gefunden hat oder wenn er seine Eltern aufgrund glücklicher Umstände nicht verloren hat und deshalb bei ihnen aufwächst. Meine Chance das zu erkennen beginnt heute, sie braucht Zeit.

Mein größtes Lebensglück war es gewesen, diese neuen Eltern zu finden. Bei ihnen war es mir möglich geworden Familie zu erleben. Wie schwer es ist, als Familie zusammen zu leben hatte ich zuvor nicht geahnt, auch die neuen Eltern hatten das nicht gewusst, da bin ich sicher. Um mich zu entwickeln, musste ich die neuen Eltern, die endlich für mich gefunden waren, sehr schnell wieder loslassen, denn ich war bereits so alt gewesen, dass es notwendig für mein Leben war, mich nicht zu stark an die neuen Eltern zu binden. Ich musste bei den neuen Eltern zu mir selbst finden. Ich musste lernen zu lernen. Ich konnte erkennen, dass ich bereits wusste, was richtig und was falsch ist, was gut und was böse ist, das mussten die neuen Eltern mir nicht mehr beibringen.

Zum Glück, so kann ich das heute schon sagen, gab es viele Dinge, die ich nicht erst bei den neuen Eltern lernen musste. Denn es wäre unmöglich gewesen, neben den vielen grundlegenden Dingen, den vielen Wissenslücken in der Schule, die es bei mir zu schließen gab, auch noch das alltägliche menschlich sein lernen zu müssen. Ich hatte bereits ein ausgeprägtes Denken über wichtige Fragen in meinem Kopf in das Haus zu den neuen Eltern mitgebracht. Schon vor den neuen Eltern hatte ich gelernt, im Alltäglichen zwischen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit zu unterscheiden, den Besitz anderer zu respektieren, die Lehrer in der Schule ernst zu nehmen und zu respektieren, Erwachsenen gegenüber respektvoll zu sein und deren Anweisungen zu befolgen. Trotzdem hatte ich eine eigene Meinung entwickelt. Diese war meist nicht die gleiche, wie die Meinung, die ich von Erwachsenen zu hören bekam. Insbesondere die Meinung der Eltern hatte ich sehr selten geteilt. Trotzdem hatte ich immer Respekt gegenüber Erwachsenen. Aber es reichte mir nicht aus, Respekt zu haben, ich gebe zu, dass mir das nicht gereicht hatte. Ich wollte, dass auch meine Meinung ernst genommen wird. Ich wollte provozieren und gleichzeitig ernst genommen werden und mit Erwachsenen diskutieren und von ihnen lernen. All das konnte bei den Eltern nicht so gut funktionieren, wie es gegenüber den Lehrern in der neuen Schule auf dem Berg funktioniert hatte. Die neuen Eltern waren anders, sie waren meine neue Familie.

Hier könnte eines der hauptsächlichen Probleme zwischen den Eltern und mir entstanden sein. Es war nicht die konträre Meinung, die ich meist den Eltern gegenüber eingenommen hatte, sondern, vielleicht war das Hauptproblem, dass die Eltern nicht wahrgenommen hatten, dass ich mich grundsätzlich „in die richtige Richtung“ entwickelte. Die Eltern nahmen meine Entwicklung nur einseitig wahr, sie hatten meine vielen Versäumnisse in der Schule gesehen und begannen zu retten, was noch zu retten möglich war. Dass ich aber eindeutig nicht in der Gefahr war, mich zu einem Lügner, einem Dieb, oder einem gewalttätigen Menschen zu entwickeln, ich glaube, das erkannten die Eltern nicht. Im Verhalten der Eltern mir gegenüber erkannte ich stets eine gehörige Portion Misstrauen. Deshalb fühlte ich mich von den Eltern auf Schritt und Tritt in dem winzigen Ort und der Umgebung verfolgt. Stets wollten die Eltern wissen, wohin ich gerade unterwegs war, mit wem ich mich wo verabredete. Die Eltern hatten ein großes Interesse an Kontrolle, denn sie ahnten nicht, dass ich grundsätzlich ein vernünftiger Mensch war, der niemals solchen Mist bauen würde, dass den Eltern oder andern Menschen ernsthaft Schaden entstehen würde. Die Eltern waren in Sorge um mich und um sich selbst. Der alltäglich Kampf um die Ablösung aus der Obhut der Eltern hatte bereits eingesetzt, als die Eltern noch sehr besorgt um meine Entwicklung gewesen waren und keines Wegs überzeugt waren, dass ich begonnen hatte einen guten Weg einzuschlagen. Ich glaube, bis heute haben sie nicht wahrgenommen, dass ich einen einigermaßen vernünftigen Weg einschlagen werde. Ich lebte in einer Familie, ich lebte bis heute in ihrer Familie.

An den Nachmittagen mit der Mutter hatte ich mehr und mehr Widerwillen gespürt, gemeinsam mit ihr am Tisch zu sitzen und meine Hausaufgaben kontrollieren zu lassen. Auch das Abfragen von Vokabeln, die Übungen in Mathematik und Stenografie, das alles hatte mir wegen der Kontrolle und Unterstützung der Mutter bald gereicht. Ich war davon überzeugt, dass ich das alles nun selbst schaffen würde. Aber es war nicht einfach gewesen, das mit der Mutter zu besprechen. Weil die Mutter immer nachmittags dabei gewesen war und mit mir für die Schule gelernt hatte, war ich sicher, dass dieser normale Alltag nicht zu unterbrechen ist. Ich hatte nicht daran gedacht, die Mutter darauf anzusprechen, der Alltag war zu stark eingespielt gewesen, deshalb hatte ich mir das nicht zugetraut. Weil ich hilflos gewesen war, dieses Problem anzusprechen, war ich mit der Zeit wütend darüber geworden. Deshalb hatte ich irgendwann diese Unterstützung der Mutter als lästige Einmischung in meine Angelegenheiten empfunden.

An einem Nachmittag hatte mich der vereinbarte Termin mit der Mutter besonders geärgert. Deshalb hatte ich mir überlegt, einfach nicht da zu sein um mit ihr für die Schule zu lernen. Das Haus konnte ich nicht verlassen, denn sicherlich wäre mir die Mutter im Treppenhaus begegnet, oder sie hätte die Haustüre gehört und hätte mir dann vom Balkon aus zugerufen. Deshalb war ich in meinem Zimmer unters Bett gekrochen. Unter dem Bett hatte ich mich auf den Boden gepresst. Dort hatte ich gebannt auf meine Armbanduhr geschaut. Um drei Uhr hätte ich mich mit meinen Unterlagen im Wohnzimmer bei der Mutter einzufinden gehabt. Es war bereits einige Minuten nach drei Uhr gewesen. Um fünf Minuten nach drei hatte die Mutter mein Zimmer betreten. Ich presste mich auf den Fußboden unter meinem Bett und versuchte möglichst leise zu atmen. Im Zimmer war es absolut still gewesen. Die Mutter hatte die Tür hinter sich geschlossen und setzte sich an meinen Stuhl vor meinen Schreibtisch. Dort begann sie nicht meine offen daliegenden Hefte zu kontrollieren, sondern sie schrieb einen Brief an mich. Zehn Minuten später hatte sie das Zimmer wortlos wieder verlassen.

Ich glaube, die Mutter spürte schon lange, dass ich einen Widerwillen gegen die tägliche gemeinsame Lernzeit entwickelt hatte. Die Lernnachmittage waren immer unangenehmer geworden. Ich glaube nicht, dass ich während dieser täglichen Zusammenkünfte einen besonders glücklichen Eindruck gemacht hatte. Meine Ablehnung musste die Mutter lange schon gespürt haben. Mein unentschuldigtes Fernbleiben an diesem Nachmittag nannte sie in ihrem Brief „Undankbarkeit“ und „Unverschämtheit“. Die Mutter hatte geschrieben, dass sie sich von meinem Fernbleiben sehr verletzt fühlt. Von mir erwartet sie keine Dankbarkeit aber Aufrichtigkeit. Sie hat in ihrem Geschäft gemeinsam mit dem Vater sehr viel zu arbeiten, das wüsste ich doch. Deshalb ist es unverschämt, dass ich die teure Zeit die sie sich für mich nimmt einfach abschmettere, und ohne einen Ton zu sagen fernbleibe. Deshalb so schrieb sie, ist die Konsequenz von nun an, dass sie sich um meine schulischen Dinge nicht weiter kümmern werde.

Der Brief der Mutter hatte mich sehr getroffen. Ich hatte mich als undankbarer Ausbeuter ihrer teuren Zeit gefühlt. Aus dem Brief schloss ich, dass ich, derjenige der vom Geld der Mutter und des Vaters lebt, sich von ihnen unterstützen und helfen lässt, von ihnen Kleidung und Essen bekommt und sich materiell ausstatten lässt, die Unverfrorenheit besitze, die teure Zeit der Mutter zu vergeuden. Solches Verhalten, so verstand ich den Brief der Mutter, ist nicht zu entschuldigen. Deshalb hatte ich an dem Nachmittag ein sehr schlechtes Gewissen gehabt. Trotzdem war es mir nicht möglich gewesen, mit der Mutter darüber zu sprechen. Mit ihrem Brief in der Jackentasche hatte ich mich aus dem Haus geschlichen, um ihn im Wald noch einmal in Ruhe zu lesen. Abends hatte ich mich kaum getraut, mich an den Abendbrottisch zu setzen.

Seit diesem Vorfall hatte die Mutter ihre Unterstützung für die Schule komplett eingestellt. Ich hatte erreicht, was ich wollte. Allerdings war das nur auf Kosten unserer Beziehung und meines Gewissens möglich geworden. Ich war nicht in der Lage gewesen, die Mutter auf ihren Brief und auf mein Verhalten an dem Nachmittag anzusprechen. Über diesen Nachmittag wurde in der Familie nicht gesprochen. Ich glaube, die Mutter hatte gedacht, dass sie ihren Teil mit ihrem Brief erledigt hatte. Ich glaube sie dachte, dass es an mir wäre, mit ihr über die Sache ins Gespräch zu kommen. Ich sah mich nicht in der Lage, die Mutter selbständig auf ihren Brief anzusprechen. Ihr Vorwurf gegen mich, dass ich sie mein Fernbleiben so sehr enttäuscht hatte, hat mich so hart getroffen, dass ich nicht den Mut fand die Mutter darauf anzusprechen. Der Brief der Mutter war so formuliert gewesen, dass er es notwendig gemacht hätte, dass ich zunächst meine Schuld in vollem Umfang gegenüber den Eltern einräume. Es wäre erforderlich gewesen, dass ich erst einmal eingestehe, mit welch niederträchtiger Haltung ich in der Familie das von den Eltern entgegengebrachte Angebot der Hilfe und Unterstützung missbraucht und abgewehrt habe. Die Mutter hatte mit ihrem Brief eine hohe Barriere zwischen uns aufgebaut, die von mir nur durch das vollständige Eingeständnis meiner Schuld zu durchbrechen gewesen wäre. Ich hatte das Vertrauen der Mutter verletzt, so hatte sie geschrieben. Es war nicht darum gegangen zunächst einmal genau zu klären, welches Vertrauen die Mutter mir eigentlich entgegengebracht hatte, was sie damit exakt meint. Das hätte die Mutter als ironische Haarspalterei verstanden. Damit hätte ich der Frechheit nicht genug, noch eins drauf gesetzt.

Der Brief der Mutter hatte eine derartige Kraft, dass zweifellos klar war, dass es sich eindeutig um ihr Vertrauen gehandelt hatte, das ich gedankenlos verspielt hatte. Ich hatte einen Anschlag auf die Mutter verübt, das hatte die Mutter mit ihrem Brief klargestellt. Hätte ich es gewagt, die Frage nach dem Verständnis der Mutter von deren Vertrauen, das sie mir entgegenbrachte aufzuwerfen, anstatt zuerst ein vollständiges Schuldeingeständnis gegenüber der Mutter abzulegen, wäre dieses ein weiterer provokanter Angriff gegen die Mutter und die Familie gewesen. So gesehen war es unmöglich, die Mutter darauf anzusprechen, ohne weiteres Porzellan zu zerschlagen. Ich glaube, es war dieser Nachmittag gewesen, der die endgültige Eiszeit zwischen mir und den Eltern eingeleitet hatte. Weil ich die Leistung der Mutter mich in der Schule zu unterstützen nicht weiter annehmen wollte, und weil ich mich nicht getraut hatte mit der Mutter wegen dieses Nachmittags ins Gespräch zu kommen, war ein Stein ins Rollen geraten, der dazu führte, dass sich der Kontakt zwischen den Eltern und mir verschlechterte.

Langsam tuckert der Linienbus die steile Bergstraße hinauf. Obwohl er im Vergleich zu meinem früheren Schulbus beinahe leer ist, erreicht er trotz dröhnendem Motor nicht annähernd dessen Geschwindigkeit. Viele Fahrgäste sind inzwischen ausgestiegen. Noch einige steile Kurven stehen bevor, bis der Bus die Wendeschleife und Endhaltestelle erreicht. Von dort besteht die Möglichkeit in einen kleineren Bus umzusteigen, der die Straße bis kurz vor dem Berggipfel hinauffährt. Ich steige an der Wendeschleife aus. Jetzt habe ich noch etwa zwei Kilometer zu Fuß vor mir. Die meisten Touristen bezwingen die steile Bergstraße bis zur Wendeschleife in Reisebussen die von Touristikunternehmen gechartert wurden. Weil Hochsaison ist, steht der Busparkplatz hinter der Wendeschleife voll von Reisebussen. Rings um die Wendeschleife herrscht buntes touristisches Treiben. Massen von wartenden Touristen, die mit Kleinbussen bis nahe an den Gipfel heranfahren wollen, belagern die winzigen Buden rings um die Wendeschleife. Hier decken sie sich mit Ansteckern, Aufklebern, Wanderstöcken, bayerischen Hüten und allen nur erdenklichen Souveniren ein.

Ich arbeite mich durch die Menschentrauben, die sich vor den Ramschbuden stauen. Ich höre das Klicken von Fotoapparaten und das Surren von kleinen Filmkameras. Hin und wieder weiche ich einem zu weit abgewinkelten Wanderstock aus. Unten im Ort war es mir vor Jahren einmal passiert, dass mich so ein Tourist mit seinem ausgestreckten Wanderstock beinahe von meinem Fahrrad gestoßen hätte. In den Sommermonaten sind die Gehsteige von begeisterten Besuchern der Gegend völlig überfüllt. Hin und wieder geschieht es, dass einer mit seinem Wanderstock unvermutet vom Gehsteig auf die Straße ausschert. Ich hatte großes Glück, denn der Autofahrer hinter mir hatte das gesehen und sofort gebremst, so dass ich mit dem Fahrrad auf die Fahrbahn ausweichen konnte. Diese Menschen nennen die Ortsbewohner „Watzmannstecher“. Sobald sie den Watzmann am blauen Himmel erkennen reißen sie unvermittelt ihren Wanderstock in die Höhe, stürzen auf die Straße und stechen mit ihrem Stock auf den weit entfernten Berg ein. Dazu brüllen sie begeistert „des isser, des isser!“

6. Auf dem Berg

Im Ort und auf den umliegenden Bergen war ich stets sehr viel mit dem Fahrrad unterwegs gewesen. Das Fahrrad hatten mir die Eltern gleich zu meinem ersten Geburtstag, nachdem ich zu ihnen gekommen war, geschenkt. Es war ein rotes Herrenfahrrad, Felgengröße 28 mit einer Dreigangschaltung. Nie zuvor hatte ich so ein gutes Fahrrad besessen. Von diesem tollen Geburtstagsgeschenk war ich restlos begeistert. Ich nutzte das Fahrrad beinahe täglich und bei jedem Wetter. Ich pflegte das Fahrrad besser als mich selbst. Ich wienerte oft daran herum und reparierte jeden Schaden sofort. Die Dreigangschaltung an dem Fahrrad war für mich ein großer Luxus. Mit ihr bezwang ich beinahe jede Steigung. Nahezu alle Bergstraßen der näheren Umgebung hatte ich mit dem Rad in den vergangenen Jahren mindestens einmal bezwungen. Auch zur Buswendeschleife auf den Berg hinauf zur Schule war ich oft gefahren.

Den Waldweg, den ich jetzt in Richtung meiner ehemaligen Schule entlang laufe, war ich schon oft mit dem Fahrrad gefahren. Bei meinen Fahrradtouren durch die Umgebung hatte ich mir meist wenig befahrene Nebenstrecken gesucht. Die Eltern fanden es gut, dass ich nachmittags nach den Hausaufgaben und an Wochenenden viel mit dem Fahrrad in der Umgebung unterwegs war. Ich glaube, sie dachten dabei vor allem daran, dass ein junger Mensch wie ich sich sportlich betätigen sollte, um nicht auf dumme Gedanken zu kommen.

Als ich eines Tages allerdings den Wunsch hatte, in den Ferien alleine eine Fahrradtour hinüber in das nahegelegene Nachbarland zu machen und im Zelt auf einem Zeltplatz zu übernachten, waren die Eltern nicht mehr so begeistert gewesen. Ich war damals sechzehn Jahre alt geworden und meiner Meinung nach, vernünftig genug, um für eine Woche auf Fahrradtour zu gehen. Von meinem Taschengeld hatte ich Landkarten besorgt, zum Geburtstag hatte ich Fahrradtaschen von den Eltern geschenkt bekommen.

Die Mutter hatte gesagt, dass ich einen Brief an meinen Vormund, dessen Adresse sie mir gab, schreiben sollte. Wenn der meinem Vorhaben zustimmen würde, hätte ich kein Problem. Dann könnte ich gerne in den Ferien mit dem Fahrrad losfahren. Den Vormund, der sich weit vom Gebirgsort entfernt aufgehalten hatte, kannte ich von seltenen Besuchen in früheren Jahren. Auf meinen Brief antwortete der prompt. Er wollte wissen, ob ich einen Fahrradführerschein hätte und ob ich die Verkehrsregeln vernünftig einhalten würde. Den Fahrradschein hatte ich vor Jahren in der Schule erworben. In meinem Antwortbrief schrieb ich selbstbewusst über langjährige Fahrradpraxis zu verfügen. Das und die Kopie meines Fahrradführerscheins hatten den Vormund überzeugt. Er stimmte zu. So war ich während der Ferien mit meinem Fahrrad und meinem winzigen Zelt, das ich von den Eltern zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte, im nahen Nachbarland unterwegs. Den Eltern hatte ich während dieser Ferienunternehmung keinerlei Ärger gemacht. Die Tour war vollkommen reibungslos ohne Vorkommnisse verlaufen. Während der Ferien war ich aufgeräumt gewesen. Ich denke jetzt, während ich den Waldweg am Berghang entlang laufe, dass ich damals eigentlich gezeigt hatte, dass die Eltern sich auf mich verlassen können und ich keinen Mist bauen würde, wenn sie mich laufen ließen.

Die Eltern hatten mich damals durch ihr Verhalten unterstützt. Nachdem der Vormund zugestimmt hatte und damit quasi die Verantwortung für mein Vorhaben übernommen hatte, beschenkten mich die Eltern am Geburtstag mit Fahrradzubehör und Zelt. Ich glaube für die Eltern war der formelle Akt, dass die Verantwortung beim Vormund und nicht bei ihnen lag sehr wichtig. Durch diese Regelung entfiel jeglicher Streit. Die Frage, ob es angemessen war, als Sechzehnjähriger eine selbständige Radtour zu machen wurde zuhause nicht weiter diskutiert oder angezweifelt. Weil der Vormund zugestimmt hatte durfte ich fahren. Ich glaube nicht, dass die Eltern sich durch diese Entscheidung des Vormunds bevormundet fühlten. Sie wirkten wegen dieser Entscheidung nicht verärgert, sondern sie wirkten entlastet. Die Verantwortung lag beim Vormund, nicht bei ihnen. Das war den Eltern wichtig. Ob es fragwürdig war, dass ein mehrere hundert Kilometer entfernter Vormund diese Verantwortung übernahm, war für die Eltern kein Thema. Der Vormund hatte die Verantwortung schwarz auf weiß übernommen. Das verhinderte einen Streit zwischen den Eltern und mir.

Auf der Strecke durch den Wald erreiche ich nun einen lichten Fleck mit Aussichtspunkt. Wanderer mit Stöcken und festem Schuhwerk stehen am Holzgeländer, sie blicken Richtung Tal hinunter und sie fotografieren die Bergketten ringsum. Im Vorbeigehen werfe ich einen flüchtigen Blick hinunter ins Tal. Keine Wolke, kein Nebel trübt heute den Blick hinunter. Klare Sicht auf die Berge auf der andern Seite des Tals, so wie ich sie im Sommer aus dem Schulbus täglich sah.

Der Schulbus war täglich nur wenige Meter oberhalb des Wanderweges auf der breit ausgebauten Ringstraße entlanggedonnert. In einiger Entfernung von dem Aussichtsplatz bleibe ich an einer hohen Fichte stehen. Ringsum ist es ruhig. Kein Fahrzeug nähert sich auf der oben liegenden Ringstraße, keine Wanderer kommen mir auf dem Spazierweg entgegen. Meinen Blick richte ich hinunter ins Tal. Dort unten erkenne ich den Gebirgsort, den ich bis heute meine Heimat nenne. Ich suche am Ortsrand, dicht unterhalb eines vergleichsweise niedrigeren Berges, nach dem Haus der Eltern. Mit einem Fernglas wäre das Haus der Eltern heute sehr einfach zu finden. Die Sicht ist sehr klar. Auch ohne Fernglas glaube ich das Elternhaus jetzt gesichtet zu haben. Es ist ein winzig kleiner Punkt, den ich zwischen grünen Wiesen und Wald am Ortsrand ausfindig mache. Vor dem winzigen Punkt erkenne ich einen geraden Strich. Das ist die Straße am Berg vor dem Haus der Eltern.

Obwohl der Ort klein und überschaubar ist, obwohl das Haus der Eltern und die kleine Straße vor dem Haus noch aus kilometerweiter Entfernung gut zu finden sind, obwohl in diesem Ort und über den Ortsrand hinaus alles sehr übersichtlich ist, konnten die Eltern mich nicht einfach laufen lassen. Die Eltern hatten stets Kontrolle über die Wege gehabt, auf denen ich unterwegs war. Sie pflegen wegen ihres Geschäftes im Ortskern beste Kontakte zu sehr vielen Bewohnern im Ort und in den kleineren Orten rings herum. Ich bin sicher, die Eltern hätten umgehend Meldung erhalten, wenn ich von einem Bewohner im Ort auf Abwegen beobachtet worden wäre. Trotzdem blieb stets mein Gefühl, dass die Eltern nie sicher gewesen waren, ob ich nicht Unsinn anrichte, der ihrem Ansehen als Geschäftsleute schaden könnte. Ich glaube, die Eltern hatten ein Höchstmaß an Verantwortung für mich übernommen. Ich glaube, die Eltern fürchteten, dass bereits minimale Zweifel an ihrer Verantwortlichkeit ausgereicht hätten, um ihrem Ansehen im Ort als erfolgreiche Geschäftsleute schwer zu schaden.

Eigentlich hatten die Eltern immer gewusst wo ich mich gerade aufhalte. Die Geschäftsleute im Ort haben täglich Kontakt zu den Bewohnern des Ortes. Täglich überblicken sie, was auf der Straße vor ihren Läden geschieht. Täglich tauschen sich Geschäftsleute und Kunden miteinander aus. Die Geschäftsleute im Ort wissen am besten, wer gerade wo unterwegs ist. Wenn ich also im Ort irgendwo unterwegs gewesen war, war für die Eltern eigentlich immer klar gewesen, wo ich mich gerade aufhalte oder wohin ich als nächstes gehen würde.

Ich stehe am Waldweg auf dem hohen Berg neben der Fichte und überblicke das gesamte Tal. Unten, direkt vor, mir sehe ich den Ortskern. Links davon sehe ich einige Ansiedlungen. Es sind kleine Gemeinden, die ich alle kenne. Rechts vom Ortskern sehe ich andere kleine Gemeinden. Die gesamte Umgebung dieses Ortes, so finde ich, ist eigentlich sehr übersichtlich. Jetzt, wo ich das alles noch einmal vor mir sehe, wird mir klar, dass meine Eltern in den vergangenen Jahren keinen Grund hatten, mich nicht einfach gehen zu lassen. Weil die Eltern, wegen ihres Geschäftes sehr viele Kontakte haben, hätten sie, selbst wenn ich einmal verloren gegangen wäre binnen weniger Minuten per Telefon herausgefunden, wo ich mich gerade aufhalte.

Langsam gehe ich auf dem Höhenweg weiter. Hatten die Eltern ihre Verantwortung für mich zu ernst genommen? Vielleicht hatten die Eltern berechtigte Angst davor, dass ich Mist baue. Rechts neben dem Höhenweg sehe ich jetzt einen Bussard. Er fliegt parallel zum Höhenweg. Jetzt bleibt er in der Luft vor mir stehen. Vielleicht hat er unten Beute erspäht, die er gleich ergreifen wird. Mich im Ort oder der Umgebung zu finden wäre sicherlich keine schwierige Jägeraufgabe gewesen. Ich glaube nicht, dass eine besondere Spürnase oder gar Bussard- oder Adleraugen notwendig gewesen wären, mich an jedem beliebigen Tag der vergangenen fünf Jahre aufzuspüren. Jetzt stürzt der Bussard im Steilflug direkt vor meinen Augen vom Himmel herab. Kurz verschwindet er hinter den nahen Bäumen am steilen Hang unterhalb meines Weges. Nur Sekunden bleibt er verschwunden. Wild flügelschlagend peitscht er jetzt aus den Baumkronen unter dem Höhenwanderweg auf. In seinen Krallen hält er etwas, das ich nicht erkennen kann. Wahrscheinlich hat er einen guten Fang gemacht. Mit seiner Beute zwischen den Krallen verschwindet er aus meinem Blickfeld in rechter Richtung hinauf auf den Berg.

Ich glaube, die Eltern und ich, wir hätten uns viele unangenehme Zusammenstöße erspart, wenn den Eltern klar gewesen wäre, dass ich im Grunde in diesem Ort jederzeit von ihnen auffindbar gewesen war.

Das zunehmende Misstrauen zwischen den Eltern und mir war immer wieder durch weiteres Fehlverhalten von mir aufs Neue begründet worden. Ich hatte die größte Schuld daran, dass das Misstrauen der Eltern gegen mich und meine Schandtaten nicht geringer geworden war. Immer wieder hatte ich gezeigt, dass es notwendig war, einen Menschen wie mich auf Schritt und Tritt mit einem vernünftigen Maß an Misstrauen zu beobachten, wenn nötig zu verfolgen und dem Fehlverhalten zu begegnen. Eine meiner vielfältigen Verfehlungen trug sich an einem Wochenende zu. Ich glaube ich war gerade fünfzehn Jahre alt geworden. An einem Samstagabend war ich an einem Bettuch aus meinem Zimmer aus dem ersten Stock hinunter geklettert. Im wahrsten Sinne des Wortes hatte ich mich an dem Abend von den Eltern abgeseilt. In den Freizeiträumen unten in der Schule im Ort hatte an diesem Abend eine Musikgruppe gespielt. Die Musiker kannte ich alle von einer Jugendgruppe, in der ich Mitglied gewesen war. Den Eltern hatte ich von dem Konzert erzählt und ich hatte gehofft, dass ich bis Mitternacht dort bleiben könnte. Natürlich war es dumm von mir darauf zu hoffen, dass die Eltern mir für diese Musikveranstaltung bis zu so später Stunde die Erlaubnis geben würden. Solch eine Erlaubnis wäre nicht nur ein Vertrauensbeweis der Eltern gewesen. Mit ihr wäre auch verknüpft gewesen, dass die Eltern entgegen der gültigen Jugendschutzbestimmungen erlaubt hätten, dass ich mich bis mitten in die Nacht hinein dort aufhielt.

Die Eltern wussten, dass die Jugendlichen aus meiner Jugendgruppe alle vernünftige Menschen sind. Meine Eltern hatten die meisten Eltern der Jugendlichen gekannt, zu denen ich Kontakt pflegte. Die Musikveranstaltung fand in einem von der Gemeinde eröffneten Jugendhaus statt. Die Räume lagen im Schulhaus des Gebirgsortes, das den Eltern gut bekannt ist. Für die Eltern kam es aber trotzdem nicht in Frage ihre Einwilligung zu geben. Das Verantwortungsgefühl der Eltern für mich war groß gewesen. Es war ein Angriff gegen die Eltern, dass ich es gewagt hatte, darum anzufragen, dass die Eltern an diesem Abend ausnahmsweise die gültigen Jugendschutzbestimmungen außer Acht lassen. Vielleicht bestätigte allein diese Frage erneut, dass ein gehöriges Maß an Misstrauen und Überwachung meiner Wege berechtigt war. Die Eltern hatten es nicht erlaubt. Ich sollte um zehn Uhr abends zu Hause sein. Die Veranstaltung hatte aber bis zwölf Uhr gedauert. Meine Freunde waren gerade mitten in ihrem Spiel, als ich pünktlich, um zehn Uhr zu Hause angekommen war. Ich hatte keine Möglichkeit gesehen, mit den Eltern eine längere Uhrzeit auszuhandeln. Deshalb habe ich mich später an diesem Abend am Bettuch aus dem Fenster abgeseilt.

Im Ort hatte es damals nur sehr selten solche Veranstaltungen für Jugendliche gegeben. Der Genehmigung dieser Freizeiträume durch den Gemeinderat war ein langjähriger Kampf vorausgegangen. Meine Jugendgruppe war an diesem Kampf als Veranstalter beteiligt gewesen. Die Eltern hätten genau gewusst, wo ich mich bis zwölf Uhr aufhielt. Noch nie war es vorgekommen, dass über mich Beschwerden bei den Eltern eingingen. Fehlverhalten hatte ich immer nur zu Hause gezeigt.

Natürlich hatten die Eltern das verknotete Bettuch bemerkt und natürlich hatte es am nächsten Morgen großen Ärger gegeben. Mein Ausstieg aus dem Fenster war für die Mutter und den Vater ein unfassbarer Anschlag auf deren Vertrauen. In einem Brief an mich hatte die Mutter meinen nächtlichen Ausstieg aus dem Zimmerfenster und meinen Ausflug zu dem Musikkonzert, trotz des eindeutigen Verbotes, als tiefen Vertrauensbruch bezeichnet. Und in mir schon bekannter Weise hatte die Mutter unmissverständlich in ihrem Brief an mich dargelegt, dass mein Fehlverhalten einen nahezu unverzeihlichen Graben zwischen den Eltern und mir aufgerissen hat.

In mir weckte die Mutter mit solchen Briefen ein Schuldgefühl, dem ich nichts entgegen setzen konnte. Der Tatsache meiner Schuld waren keine Argumente entgegenzusetzen. Die Moral, welche aus den Briefen der Mutter sprach, war tief und sie wirkte auf mich wie ein naturgegebener, von nichts und niemandem anzuzweifelnder Richterspruch. Die Mutter war eine Instanz, welche stets die Wahrheit sprach. Werte und Moral, die mir die Mutter in ihren Briefen und ihren Worten vermittelte, hatten immer Gültigkeit. Die Moral, welche die Mutter mir eingeflößt hatte, sorgte dafür, dass mein Gewissen von Jahr zu Jahr, von Monat zu Monat, am Ende von Tag zu Tag schlecht geworden war. Meine Art die Dinge zu sehen, meine Art zu den Eltern zu sprechen, meine Art mit dem gutgemeinten Hilfeangebot der Eltern umzugehen, meine Art bei den Eltern zu leben. All das machte mir ein schlechtes Gewissen. Ich glaube diese – meine Art empfanden die Eltern als Angriff. Besonders schlecht war mein Gewissen, wenn ich einen Brief der Mutter auf meinem Schreibtisch vorfand. Dann hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil mir die Briefe der Mutter meist vorwarfen, dass ich die Unverfrorenheit besaß, mir nicht nur ein schönes Leben auf Kosten meiner selbstlosen Eltern in deren Haus zu erlauben, sondern neben dieser Tatsache legte ich in den Augen der Mutter auch noch eine unfassbar gemeine Art an den Tag, mit der ich mir erlaubte die hilfsbereite und selbstlose Erziehungsaufgabe welche die Eltern sich auferlegt hatten, zu erschweren, zu einer schier unmöglich zu bezwingenden Last zu machen, indem ich die Eltern etwa mit meinen egozentrischen Forderungen ärgerte solche Vergnügungsveranstaltungen besuchen zu wollen oder die Eltern in niederträchtigster Weise hintergangen habe indem ich das Haus auf solche Weise verlassen hatte.

Wöchentlich hatte ich im Ort eine Jugendgruppe besucht. Dort hatte ich in den vergangenen Jahren die meisten Kontakte geknüpft. Vertrauen zu anderen Menschen, das ich bei den Eltern und in der Schule nicht gefunden hatte, fand ich in der Jugendgruppe. Vielleicht hatte das in der Gruppe funktioniert, weil dort niemand versucht hatte Verantwortung für mich zu übernehmen, oder mich in eine bestimmte Rolle zu zwängen. In der Gruppe hatte ich das Gefühl willkommen zu sein ohne bestimmte Vorleistungen erbringen zu müssen. Mein schlechtes Gewissen, das mich im Kontakt mit den Eltern häufig geplagt hatte, entfiel in der Jugendgruppe.

Die Gruppe war für mich wichtig, auch weil wir uns in ihr oft wichtiger gefühlt und gemacht hatten, als es berechtigt gewesen wäre. Die Themen mit denen wir uns in der Gruppe befasst hatten und im Ort hin und wieder auf uns aufmerksam gemacht hatten, hatten mit unserem Leben in diesem Ort kaum etwas zu tun. So organisierten wir mehrfach Verkaufsstände von Waren aus der sogenannten Dritten Welt auf dem Marktplatz. Wir versuchten mit den Bewohnern im Ort über Themen wie “die Rolle multinationaler Konzerne auf dem Weltmarkt”, die geplante Stationierung von Mittelstreckenraketen oder die Lebensbedingungen von gefassten Terroristen in den Haftanstalten, zu diskutieren. Es waren die Themen, die Ende der Siebziger und Anfang der Achtziger in der politischen Diskussion waren. Natürlich war meine Beteiligung daran eine riesige Provokation für die Eltern.

In der Jugendgruppe war ich auf Gleichaltrige und junge Erwachsene getroffen, die auf freiwilliger Basis Kontakt zu mir haben wollten. Dort habe ich Martina kennen gelernt, die mir heute Nachmittag ihren Wagen leihen will. Niemals würden mir die Eltern eines ihrer zwei Autos leihen, damit ich heute meinen spärlichen Besitz aus der Wohnung abtransportieren könnte. Das Vertrauen in mich fehlt. Nicht nur das Vertrauen in meine Fahrkünste, am heutigen ersten Tag als Führerscheinbesitzer. Ich glaube, in den Augen der Eltern fehlt mir das Recht dazu, meinen Auszug aus der elterlichen Wohnung heute mit einem ihrer Fahrzeuge zu machen. Das Konto der Verstöße gegen die elterliche Moral habe ich in den vergangenen Jahren, Monaten, Wochen und Tagen weit überzogen. Für mich gibt es keinen Kredit mehr bei den Eltern. Den Kredit, den die Eltern mir vor fünf Jahren gegeben hatten, als sie mich in ihr Haus aufnahmen, als sie uneigennützig und selbstlos gekommen waren, um ein dreizehnjähriges, freches, vorlautes, zappeliges, nervöses, armselig bekleidetes, mit miserabelsten Schulnoten daherkommendes, dummes Kind aus einem anonymen Kinderheim herauszuholen, diesen Kredit habe ich in nur fünf Jahren verspielt. Ich habe mich als undankbarer Mensch erwiesen.

Die Eltern hatten ein armseliges Würstchen aus den katastrophalen Verhältnissen eines unverantwortlich geführten Kinderheimes der siebziger Jahre befreit. Über Jahre hatten sie versucht mich in ihrem Hause zu lehren, wie ein normaler Mensch mit seinesgleichen und Erwachsenen zu sprechen hat. Sie hatten mich gelehrt, wie ein Schüler für die Schule zu lernen hat und sie lehrten mich, dass ein intelligenter Schüler nicht für die Schule, sondern für sein Leben zu lernen hat. Ich habe es ihnen nicht gedankt.

Selbst die Jugendgruppe und die Freundschaften, die sich daraus entwickelt hatten, habe ich den Eltern zu verdanken. Nur weil ich in ihrem Hause gelebt hatte, war es selbstverständlich gewesen, dass ich der Einladung eines jungen Jugendgruppenleiters folgen durfte. Keinen Menschen aus dem Kinderheim, welches vor den Eltern mein zu Hause gewesen war, habe ich in der Jugendgruppe wiedergetroffen. Auch dieses Geschenk der Eltern, die Erlaubnis, dass ich die Jugendgruppe besuchen darf, hatte ich angenommen, ohne dafür zu danken. Die Jugendgruppe war aus der Konfirmandengruppe entstanden. Gegen meine Konfirmation hatte ich aber Bedenken und Zweifel beim Pfarrer geäußert. Selbst damit hatte ich die streng gläubigen Eltern wieder einmal vor den Kopf gestoßen.

Martina hat offenbar Vertrauen zu mir. Für sie ist es selbstverständlich, dass ich den kleinen Wagen heute leihen darf um meinen mickrigen Besitz damit abzutransportieren. Martina hat mich nicht gefragt, warum ich nicht einen Wagen meiner Eltern benutze. Die Eltern haben ein viel größeres Fahrzeug. Statt das auszuleihen, werde ich all meine Sachen in den winzigen Peugeot von Martina zwängen. Martina hat Vertrauen. Sie weiß genau, dass sie von mir ihren Wagen unbeschädigt und pünktlich zurückbekommen wird. In der Jugendgruppe war ich auf Gleichaltrige getroffen, denen die Moral und die Maßstäbe, welche die Mutter mir täglich vermittelte, offenkundig egal waren. In der Jugendgruppe waren wir uns alle unheimlich wichtig vorgekommen. Dort haben wir uns mit Dingen beschäftigt, die uns im Grunde egal hätten sein können. Alles, was wir dort besprachen und machten hätte uns egal sein können: Der sogenannten „Dritte-Welt-Verkaufsstand“, den wir in der Fußgängerzone im Ort veranstalteten. Die Filmabende und Diskussionen zum Thema Rechtsradikalismus in Deutschland. Die Diskussionen über die Atomenergie. All das war uns wichtig. Sicherlich nicht nur der Sache wegen, sondern auch, weil sich jeder Einzelne aus der Jugendgruppe wichtig fühlte, weil man sich mit diesen Themen und Veranstaltungen wichtig machen konnte. Das stärkte unser Selbstbewusstsein. In der Jugendgruppe waren wir mit etwas Sinnvollem beschäftigt. Das hatten die Eltern freilich anders gesehen. Für sie schien von der Jugendgruppe eher Gefahr auszugehen. Was dort stattfand war für die Eltern zu viel Politik. In ihren Augen sollte die Kirche nicht solche kritischen Themen behandeln. Vor allem sollte das nicht in einer kirchlichen Jugendgruppe geschehen. Die Jugend ist doch viel zu leicht zu beeinflussen. Die Jugend ist doch viel zu unreif für diese Themen. Die Jugend hat doch kein Recht kritische Äußerungen zu tun oder gar Ansprüche zu stellen. Die Jugend weiß doch gar nicht, wie hart die Erwachsenengeneration gearbeitet hat, bis die heutigen Lebensgrundlagen erschaffen waren. Die Jugend sollte in der kirchlichen Jugendgruppe nicht zu diskutieren lernen. Sondern sie sollte die Bibel lesen. Die Jugend sollte beten und zu glauben lernen. Das ist Aufgabe einer kirchlichen Jugendgruppe. Die Jugend sollte sich nicht einmischen in etwas, das sie nicht beurteilen kann. Wer gegen Atomenergie ist, darf nicht mit einem Auto fahren. Er darf nicht das Licht einschalten. Er darf nicht fernsehen oder Radio hören. Er darf nicht hier leben. Die kirchliche Jugendgruppe war ein Frontalangriff gegen die Eltern. Was ich dort lernte und tat, empfanden die Eltern als Anschlag und Provokation gegen ihren Lebensalltag, gegen ihre Werte, gegen ihre Einstellung, gegen ihre Moral, gegen alles was sie lebten, gegen sich. Ich war jede Woche mindestens einen Abend und am Wochenende einen Tag lang mit der Jugendgruppe aktiv. Die Jugendgruppe war zu einem wichtigen Bestandteil meines Lebens geworden. Sie hat sozusagen meinen geistigen Horizont um ein großes Stück erweitert. In ihr war ich auf Menschen getroffen, welche die Welt anders sahen, als die Eltern, als die Lehrer oder die Mitschüler.

Dort war ich auf Leute, wie Walter getroffen. Walter rennt mit Fotoapparat und Filmkamera herum, weil er Journalist werden will. Im Moment ist es sein größter Wunsch einen Artikel in der örtlichen Tageszeitung zu veröffentlichen. Welches Thema er dort abhandeln will, weiß Walter noch nicht. Er ist da sehr flexibel. Er könnte über den Besuch von Franz Josef Strauß im Bierzelt auf dem Volksfest im Gebirgsort genauso schreiben, wie er eine Kritik über die Aufführung der Laien-Theatergruppe des Gymnasiums oder einen Bericht über die erste und möglicher Weise letzte Musikveranstaltung im Jugendkeller unterhalb der Schule verfassen würde. Leider hat ihn die örtliche Tageszeitung bisher zu nichts dergleichen beauftragt. Seine unverlangt eingesandten Artikel hat Walter alle zurückbekommen, ohne Veröffentlichung. Das neuste Projekt von Walter ist es, einen Film zu drehen. Er will einen Dokumentarfilm über die Aktivitäten und das Engagement der Jugend im Gebirgsort machen. In dem Film will er zeigen, wie wichtig die „Sozialisation der Jugend“ ist. Er spricht gerne davon, dass die Jugend die Zukunft sei. Er liebt es entgegen zu setzen, dass wir es sind, die später die Renten zu bezahlen hätten, wenn er ältere Erwachsene gegen die nutzlose Jugend wettern hört, die im Wesentlichen aus kiffenden “Gammlern“ bestünde. Bei zahllosen Diskussionen auf dem Marktplatz an unserem Verkaufsstand für Waren aus sogenanntem fairen Handel hatte sich Walter oft in engagierte Debatten mit Erwachsenen verstrickt. Er ist redegewandt und hat immer schlagfertige Argumente. Die Jugend sei nicht faul und dumm, wie es gerne platt behauptet wird. Sondern sie ist der Kern der Demokratie in der Zukunft dieses Landes. Wer heute behaupte, so hörte ich Walter erst letzten Samstag am Verkaufsstand reden, die Jugend, das seien alles RAF – Sympathisanten, der riskiert, dass die RAF die Jugend zunehmend unterwandert. Diese Behauptung, so plärrte Walter einem aufgebrachten alten Mann ins Ohr, der zuvor unseren Verkaufsstand als „linke RAF-gesteuerten Propaganda“ abgetan hatte, sei nichts anderes, als dumpfer Populismus, der nicht ernst genommen werden kann aber leider zunehmend in unserem geliebten, konservativen Heimatland um sich greife.

Walter hat schon einen Film gedreht. Es war ein Kriminalfilm, den er mit einigen Jugendlichen im Gebirgsort abdrehte und eines Abends im Jugendkeller mit erstaunlichem Erfolg uraufführte. Jetzt hofft er darauf, dass seine Bekanntheit, die er durch den ersten Film im Ort erreichen konnte auch Publikum für seinen Dokumentarfilm bringen wird. Walter vertritt folgende These: „Man muss die Leute zuerst mit billigem Unterhaltungsschrott ködern, und auf diesem Wege ihr Interesse für ernsthafte Themen wecken.“ Am Abend der Uraufführung seines Krimis hat er deshalb mächtig die Werbetrommel für seinen neuen Dokumentarfilm gerührt. Er hatte sogar einen Termin für die Uraufführung seiner Dokumentation bekannt gegeben. Von dem Film hat er aber noch keinen Millimeter abgedreht. Walter ist ein Macher, der Charisma und Überzeugungskraft hat.

In der Jugendgruppe war ich neben Walter auf Martin getroffen. Er liebt das Gitarrespiel. Er besitzt mehrere E-Gitarren und spielt in einer Band. Davon kann ich nur träumen. Martin ist ein politisch denkender Mensch. Sein Thema ist der Krieg. Er lädt regelmäßig zu Diaveranstaltungen ein. Seine Diavorträge prangern die Grausamkeit von Krieg an. Sie handeln von den Opfern des Vietnamkrieges. Martin schafft ein Bild von dem Grauen des Krieges, den keiner von uns kennt. Er schafft Bewusstsein dafür, das es überall auf der Welt nach wie vor Krieg gibt. Er schafft Meinungen gegen den Krieg, der vom Gebirgsort sehr weit entfernt zu sein scheint. Martin kämpft mit immer wieder neu zusammengestellten Bildern, mit seiner Musik und seinen Worten dafür, dass in den Köpfen der Menschen ein Bild vom Krieg und eine Einstellung gegen Krieg entstehen. In seinen Diavorträgen zeigt Martin das Töten. Es ist die alltägliche grausame Tätigkeit des Krieges. Er zeigt das Töten als Arbeit der Soldaten im Krieg. Dabei zeigt er deutlich das Grauen, das mit dieser Arbeit entsteht. Er zeigt den Jugendlichen im Ort, dass etwas unvorstellbares weltweit weiterhin geschieht: Das Töten in den Kriegen auf der Welt. Martin sagt, dass es wichtig ist, davon auch im Gebirgsort zu wissen, auch wenn uns das alles sehr weit entfernt zu seien scheint. Aber, so sagt Martin, das ist nicht so weit entfernt! Wir leben und profitieren von so manchem Krieg, sagt Martin.

Die Eltern hatten stets befürchtet, dass meine Kontakte in der Jugendgruppe, meiner Entwicklung im Gebirgsort schaden könnten. Tatsächlich ging es aber um deren Angst, dass ich Meinungen und Einstellungen übernehme. Genau das ist geschehen. Die Menschen in der Jugendgruppe haben mich beeinflusst. Der Einfluss der Eltern dagegen war geringer geworden. Ich habe mich von den Eltern abgelöst. Das ist ein normaler Vorgang. So hatten die Eltern das aber nicht gesehen. Meine Art mich abzulösen, war eine Provokation. Weil ich mit meinem Interesse an Themen und Mitarbeit in der Jugendgruppe und mit meinem Verhalten die Eltern provoziert hatte, war ein Bruch mit den Eltern unausweichlich geworden.

Der Kontakt zu den Menschen, die ich in der Jugendgruppe kennen gelernt hatte, wirkte auf mich wie ein Befreiungsschlag. Ich knüpfte und pflegte Kontakte, die außerhalb der Zwänge von Schule oder Familie lagen. Ich erkannte, dass es um mich herum Gleichaltrige und junge Erwachsene gibt, die Kontakt zu mir haben wollten. In diesen neuen Kontakten spürte ich kein Gefühl von Misstrauen, wie ich es bei den Eltern kennen gelernt hatte. Während der vergangenen zwei Jahre verbrachte ich sehr viel Freizeit mit den Freunden aus der Jugendgruppe. Was die Eltern nicht gesehen hatten: Das sind junge Leute, die in schulischer Hinsicht einen wesentlich geradlinigeren Weg als ich vorzuweisen haben. Die meisten besuchten das Gymnasium am Rande des Ortes.

Es gab in der Jugendgruppe neben mir nur einen Jugendlichen, der nicht das Gymnasium besuchte. Gemeinsam mit Jörg besuche ich während der ersten drei Schuljahre die gleiche Schulklasse. In der Schule wie in der Jugendgruppe ist Jörg ein sehr zurückhaltender Mensch. Mir war Jörg wegen seiner zurückhaltenden Art in der Schulklasse nie aufgefallen. Meine Aufmerksamkeit hatte ich damals vor allem auf die Abwehr von Angriffen der lauten und angriffslustigen Mitschüler gerichtet. Deshalb war mir nie aufgefallen, dass auch Mitschüler wie Jörg meine Schulklasse besucht hatten. In der Jugendgruppe traf ich wieder auf Jörg, den ich zuvor schlicht übersehen hatte. Meine Art der Gestaltung von Kontakten änderte ich wegen der Jugendgruppe. Früher waren mir Menschen wie Jörg “irgendwie über den Weg gelaufen”. Ich hatte Jörg ignoriert. Ich war mit anderem beschäftigt gewesen. Menschen wie Jörg konnte ich nicht wahrnehmen. Erst durch die Gruppe fand sich Gelegenheit Menschen, die mir jahrelang über den Weg gelaufen waren zu begegnen und kennen zu lernen.

Jörg hatte jahrelang in einer Diskothek des Ortes Musik aufgelegt. Ich glaube damals war es die einzige Diskothek gewesen, die es im Ort gegeben hatte. So kam es, dass ich mich mit zunehmender Regelmäßigkeit samstags in dieser Diskothek aufhielt, um dort mit Jörg zu plaudern. Auch andere Tage der Woche entwickelten sich wegen der Kontakte, die ich über die Jugendgruppe geknüpft hatte, zu regelmäßigen Terminen. So wurde ich nicht nur zu einem regelmäßigen Diskothekenbesucher. Walter und andere junge Leute aus der Gruppe versammelten sich jeden Donnerstagabend in einer Kneipe. Dort wurde genauso wie in der Jugendgruppe über Gott und die Welt debattiert. So oft es mir meine Taschengeldkasse möglich machte, war ich Donnerstagabends mit dabei.

Kneipenbesuche und Discobesuche. Das waren objektive Gründe für die Eltern, mich auf einem gefährlichen Weg zu sehen. Zigaretten und Alkohol waren die Stichworte. Ich glaube, die Eltern sahen mich auf Abwegen, weil sie über meine Vergangenheit im Kinderheim zu wenig gewusst hatten. Als ich der vorlaute Schreihals, im Alter von dreizehn Jahren zu den Eltern gekommen war, hatten sie es als ihren Auftrag begriffen, einen Menschen der bedroht war „abzurutschen“ vor dem Untergang zu bewahren. Sie begriffen es als ihre Aufgabe mich von gefährlichen Lastern fernzuhalten. Die Eltern hatten es geschafft, mich schulisch auf das richtige Gleis zu bringen. Aber die dadurch gewonnene „geistige Beweglichkeit“ hatte ich außerhalb der Schule nicht im Sinne der Eltern weiter entwickelt. Ich hatte begriffen, dass ich mich im Jammertal der Schule freischwimmen kann. Das bewerkstelligte ich mit meinen verbesserten Leistungen. Die angriffslustigen Mitschüler waren verschwunden, weil ich auf die nächsthöhere Schule wechseln konnte. Dort war ich anerkannt, weil ich Eltern hatte und weil ich Wissen erlernt hatte. Das gefiel den Eltern. Außerhalb hatte ich mich auch freigeschwommen. Aber ich hatte mich den falschen Leuten angeschlossen. Das gefiel den Eltern nicht.

Meine Verselbständigung und Loslösung von den Eltern vollzog sich nicht in zu schnellem Tempo. Als Kneipe und Disco für mich interessant wurden, war ich bereits siebzehn Jahre alt geworden. Trotz Kneipe und Disco, trotz Alkohol und lauter Musik, die dort reichlich angeboten wurden und für Ablenkung vom Alltag gesorgt hatten, standen für mich die Kontakte zu den Freunden, die ich dort traf im Vordergrund. Es war mir stets darum gegangen Freunde zu finden. Für mich war immer selbstverständlich gewesen, dass ich mich auf keinerlei ernsthafte Dummheiten einlasse. So war ich weder an Drogen noch an Alkoholexzessen interessiert. Kriminellen Machenschaften jeder Art war ich nicht zugänglich. Weil während der Jahre bei den Eltern und auch in den Jahren zuvor nie irgend etwas derartiges vorgefallen war, woran ich beteiligt gewesen war, und deshalb den Eltern nie etwas unangenehmes über mich mitgeteilt worden war, hatte ich gedacht, dass den Eltern klar sein müsste, dass ich weit davon entfernt bin, von dem Weg auf den sie mich gebracht hatten, abzurutschen.

Wegen der weltoffenen Jugendgruppe und der dann folgenden regelmäßigen Disco- und Kneipenbesuche, so sagte es mir mein Gefühl, hatten die Eltern in ihrer Situation berechtigte Sorge um mich. Letztendlich war das Recht der Eltern, von mir nicht auch noch belogen zu werden, wenn sie mich fragten wohin ich abends gehe, naturgemäß schon deshalb gegeben, weil die Eltern vor fünf Jahren das Risiko eingegangen waren, ein gestörtes, unverschämtes, schreiendes, freches Bürschchen aus dem Kinderheim heraus zu holen. Meine Gegenleistung wäre es gewesen, das Risiko der Eltern abzumildern. Ich hätte mich ihnen und ihren Vorstellung besser anzupassen gehabt. Das wäre es vielleicht gewesen. Ich hatte mich in eine Art Bringschuld begeben indem ich mich von den Eltern aus dem Kinderheim herausholen ließ. Ich stand in der Schuld gegenüber den Eltern. Meine Leistung diese Schuld zu begleichen hätten Anpassung und Zustimmung sein müssen. Stattdessen kamen von mir Herausforderung und Provokation. Zwischen den Eltern und mir gab es eine schwere Last. Die Last meiner Vergangenheit. Für die Eltern war ich sozusagen die Katze im Sack, die sie sich freiwillig eingehandelt hatten. Ich brachte den Eltern Belastung mit einem unbekannten Wesen, für das die Eltern Verantwortung übernommen hatten.

Die Eltern hatten jede Menge Grund gehabt, sich wegen meiner Entwicklung Sorgen zu machen. Während der vergangenen fünf Jahren bestand Gefahr, dass ich in der Öffentlichkeit auffalle: Einen kriminellen Weg einschlage, nachts alkoholisiert durch den Ort irre, mich an Diebstählen beteilige, bei Schlägereien mitmische und überhaupt: Andern Menschen schade. Für das Ansehen der Eltern eine Katastrophe. Zweifellos wäre es denkbar gewesen, dass ein frecher Lümmel wie ich es mit dreizehn Jahren gewesen war, permanent von der Polizei nach Hause gebracht wird, weil er jede Nacht aus dem Fenster seines Schlafzimmers steigt, um seine dubiosen Freunde aus seiner noch dubioseren Jugendgruppe aufzusuchen. Aus der Jugendgruppe, auch das wäre denkbar gewesen, wird der schwer gestörte Rotzlöffel, (inzwischen ist er übrigens siebzehn Jahre alt geworden aber offenbar keinen Millimeter gescheiter) jede Nacht (zugekifft mit Drogen und zugedröhnt von Alkohol) durch die Polizei herausgeholt. Den Rest der Nacht verbringt er in der Ausnüchterungszelle. Die ist inzwischen zu einer Art zweiter Heimat für ihn geworden. Die Eltern, auch das wäre denkbar gewesen, hatten sich daran zu gewöhnen, sich gegenüber den Bürgern und Kunden ihres Geschäftes zu rechtfertigen. Sie hatten diesen schweren Missgriff getan. Sie hatten einen echten Lausebengel in ihrem Haushalt aufgenommen. Ein richtig verzogenes, verlogenes, versoffenes und obendrein arrogantes Bürschchen. Deshalb, auch das wäre denkbar gewesen, verbrachten die Eltern seit fünf Jahren keinen ruhigen Tag mehr. Ständig riefen irgendwelche besorgten Bürger und Kunden an. Aber meist kam gleich die Polizei im Geschäft der Eltern vorbei. Das Kind war schon vor vielen Jahren im Kinderheim in den Brunnen gefallen. Da war nichts mehr zu machen. Versaut und frech war das Bürschchen. Es musste täglich von der Polizei zu Hause abgeliefert werden. Täglich gab es einen neuen Polizeibericht, der von einer neuen gemeinen Schandtat dieses jugendlichen Saukerls berichtete.

Das Geschäft der Eltern, auch das wäre denkbar gewesen, war vor fünf Jahren in riesiger Blüte und voller Pracht gestanden. Inzwischen ist es heruntergekommen, weil gemieden von den meisten Bürgern des Ortes. Schuld daran ist einzig die Tatsache, dass der missratene und obendrein gar nicht echte Sohn riesiges Unglück über die selbstlosen Eltern gebracht hatte. Im Ort ist er zu einem Inbegriff des Schreckens geworden. Fast jedem der (inzwischen ehemaligen) Kunden der Eltern hat der teuflische Knabe strafrelevanten Schaden zugefügt.

Auch das wäre denkbar: Mit dreizehn Jahren war ich ein auffälliger Jugendlicher gewesen. In der Schule habe ich auch bei den Eltern nichts dazu gelernt. Außerhalb der Schule habe ich nichts dazu gelernt. Bei den Eltern entwickelte ich mein auffälliges Verhalten weiter. Ich bedrohte andere, kleinere Jugendlichen und wurde selbst von größeren bedroht. Ich erpresste andere und wurde selbst erpresst. Ich begann zu stehlen um meine Schulden zu bezahlen. So war ich zu einem kriminellen Menschen geworden. So war ich polizeibekannt geworden. So war ich zum Schrecken des Ortes geworden. So habe ich in nur fünf kurzen Jahren ruiniert, was die Eltern mühsam aufgebaut hatten. Ihr Geschäft im Ort wurde von den Kunden gemieden. Der Konkurs stand bald bevor. Stattdessen besaß ich die Frechheit, mich regelmäßig an beinahe politischen Aktionen, wie dem sogenannten „Dritteweltwarenverkauf“ auf dem Marktplatz oder an einer Befragung von Passanten über deren Haltung zur geplanten Stationierung von Mittelstreckenraketen in Deutschland zu beteiligen. Das war eine riesige Provokation für die Eltern.

Ich glaube, keiner von den jungen Leuten im Ort, mit denen ich für die Eröffnung einer Jugendfreizeitstätte gekämpft hatte, oder gegen die Ausrichtung des Gebirgsortes als Olympiastandort demonstrierte, oder Filmvorführungen gegen Rassenhass und Rechtsradikalismus organisierte, war ein wirklich politisch denkender Mensch. Ich glaube wir haben durch derartige Aktionen zum Ausdruck gebracht, dass wir ganz normale Jugendliche sind. Wir haben, nach unseren Möglichkeiten, unsere Meinung kundgetan. Auch bei der hitzigsten Diskussion, die wir in den Räumen unserer Jugendgruppe zum Thema Atomenergie organisiert hatten, war mein Gefühl geblieben, dass jeder von uns in erster Linie daran interessiert war, mit anderen ins Gespräch zu kommen.

Anstatt grölend und alkoholisiert mit Bierflaschen durch den Touristenort zu wanken haben wir eben einen Verkaufsstand für Waren aus der sogenannten dritten Welt organisiert. Oder wir machten einen Filmabend mit anschließender Diskussionsrunde über die braune Vergangenheit. Sicherlich hatten wir mit den Themen, die wir in Veranstaltungen im Ort immer wieder mal anrührten für gewisse Aufmerksamkeit gesorgt. Aber genau das könnte auch heißen, dass wir ein Thema berührt haben, das in dem Ort nicht sichtbar aber trotzdem wichtig ist und durch uns sichtbar gemacht wurde. Wir waren weit davon entfernt, damit wirklich größeres Interesse auf uns zu ziehen. Im Grunde, so sagt mir schon heute mein Gefühl, hat es im Ort eine Ära von Wichtigtuern gegeben. Ein paar harmlose Jugendliche dieser Jugendgruppe hatten sich zusammengefunden. Die haben sich für bestimmte Dinge, darunter auch politisches engagiert. Ich glaube, diese Zeit ist bereits heute dabei zu Ende zu gehen. Viele meiner Freunde aus der Jugendgruppe haben sich wieder in ihre elterlichen Höhlen zurückgezogen. Einige sind, so wie auch ich es heute tue, aus dem Ort weggezogen. Wegen und mit unseren Veranstaltungen im Gebirgsort zeigten wir, dass wir harmlose, vielleicht sogar lächerliche Exoten waren. Von Touristen und Einheimischen wurden wir, wenn überhaupt, bestenfalls zur Kenntnis genommen. Inhalte unserer Veranstaltungen haben, wenn sie überhaupt angekommen sind, höchstens diejenigen erreicht, die ohnehin über das jeweilige Thema informiert waren.

Ich vermute jetzt sogar, dass es in der Jugendgruppe nie ernsthaft um die Themen gegangen war. Wichtig war das Gefühl gewesen ernst genommen zu werden. Was wir getan haben war für viele Erwachsene im Ort, nicht nur für meine Eltern, eine gewisse Provokation gewesen. Dieses zu erleben war wichtig. In der Jugendgruppe hatte ich das Gefühl, etwas Vernünftiges zu tun. Das provozierte die Erwachsenenwelt um mich herum, das erregte deren Aufmerksamkeit und provozierte Auseinandersetzung. Darum ging es. Es ging um Zeichen. Es ging darum Ernst genommen werden. Das war notwendig und gut.

Unser Verkaufsstand auf dem Marktplatz im Ort passte nicht in das Bild des Touristenortes. Er erinnerte in all dem Reichtum an die Armut in der Welt. Das musste doch mindestens ein schlechtes Gewissen bei den Touristen und Bewohnern auslösen. Wir ließen es nicht beim Verkauf der sogenannten „Dritteweltwaren“, sondern wir verteilten Informationsmaterial, das selbstverständlich eine politische Färbung aufwies. Gerne verwickelten wir die Menschen im Vorbeigehen in sogenannte politische Diskussionen. Dafür hatten wir Walter, unseren „Frontman“. Wir wollten etwas uns sinnvoll erscheinendes tun. Das haben wir erreicht.

Die Eltern fürchteten ich könnte in eine politisch ungünstige Richtung abrutschen. Ungünstig war die Richtung, weil es nicht die der Eltern gewesen war. Deren politische Einstellung wurde mir täglich klarer. Der Vater ist seit Jahren im Gemeinderat.

7. Schöne Aussicht

Der Wanderweg führt mich an einer Ausflugsgaststätte vorbei. Eine Terrasse voll von Touristen. Sie genießen die wunderschöne Aussicht. Drüben sehe ich hohe Felsmassive. Unten liegt das enge, langgezogene, grüne Tal. Am ersten Tag als ich die Wohnung der Eltern betreten hatte, war mir zuerst die wunderschöne Aussicht aus der großen Fensterfront des Wohnzimmers auf die gigantischen Berge aufgefallen. Ich erinnere mich, dass mein erster Tag bei den Eltern ein wunderschöner Julitag gewesen war. Der Vater stand vor der Fensterfront im lichtdurchfluteten Wohnzimmer. Dort steht ein halb hoher alter Schrank. In einer Schüssel auf dem Schrank lagen Briefe, mit denen der Vater gerade befasst gewesen war. Der Vater hatte die Mutter und mich erwartet. Er war gerade damit beschäftigt, einen Brief zu öffnen, als wir das große Wohnzimmer betraten. Sofort hatte er den Brief zurück in die Schüssel vor den großen Fenstern gelegt. Lächelnd war er auf die Mutter und mich zugekommen. Mir reichte er die Hand und begrüßte mich.

Der Vater ist ein mittelgroßer Mann. Er hat einen drahtigen, sportlichen Körper. Sein helles rundes Gesicht strahlte auf mich an diesem ersten Tag Aufgeschlossenheit und Freundlichkeit aus. Ich weiß nicht mehr, was in diesen ersten Sekunden Vaters Worte gewesen waren.

Ich bin sicher, der Vater war von Beginn an guten Willens mit mir. Ich bin sicher, weder Vater noch Mutter wollten mir böses. Das ist deshalb ganz sicher, weil beide mich freiwillig an diesem Tag vor beinahe genau fünf Jahren aufgenommen haben. Die Eltern hatten mich aufgenommen, weil sie mir Gutes tun wollten, weil sie mir helfen wollten, weil sie mich in meiner Entwicklung nach Kräften unterstützen wollten.

Gespräche zwischen dem Vater und mir hatte es bis heute nur wenige gegeben. Es gab sie ganz am Anfang, als ich in die Familie gekommen war. Damals hatte der Vater schnell festgestellt, dass es nicht einfach war mit mir ein vernünftiges Gespräch zu führen. Der Vater traf mich unvorbereitet. Er wusste, dass ich komme, trotzdem war er unvorbereitet. Kann man sich auf einen Menschen vorbereiten, den man noch nicht kennt? Kann man darauf vorbereitet sein, einen jungen Menschen, den man nicht kennt in seine Familie aufzunehmen? Der Vater war auf mich nicht vorbereitet gewesen. Mit meiner Sprache, meiner Art, meinem Auftreten hatte er nicht gerechnet.

Ich glaube nicht, dass der Vater sich das so schwer vorgestellt hatte. Wahrscheinlich hatte er erwartet, dass er mit einem dreizehnjährigen Jungen irgendwie zu Recht kommen werde. Mindestens hatte er gedacht, dass er mit einem dreizehnjährigen Knaben, den er zusammen mit seiner Frau aus einem schlechten, weil miserabel geführten Kinderheim befreit hatte, in seiner gewohnten Alltagssprache reden kann. Der Vater hatte sich getäuscht. Meine Sprache war nicht seine Sprache. Hatte er gehofft, dass ich mich automatisch an seine Sprache anpasse? Hatte er gehofft, dass er mit seiner Sprache leicht mit mir in Kontakt kommen würde? Hatte er gehofft, dass er sich automatisch an meine Sprache anpassen würde? Der Vater hatte versucht in seiner Sprache mit mir zu sprechen.

Ich weiß bis heute nicht welche Vorstellung der Vater von mir gehabt hatte. Ich weiß nicht, wie er sich das damals gedacht hatte, mit einem dreizehenjährigen Jungen Kontakt aufzubauen. Ich weiß nicht, welchen Plan der Vater gehabt hatte als er einen Knaben von Heute auf Morgen in seine Familie aufgenommen hatte. Ich sollte zusammen mit dem Vater und der Mutter leben. Der Vater hatte aber nicht gewusst, dass er mit mir nicht sprechen kann, weil seine Sprache eine andere war als meine. Die Gespräche hatten deshalb all die Jahre mit der Mutter stattgefunden. Schnell hatte der Vater begonnen mich zu meiden Schnell hatte ich begonnen den Vater zu meiden. Fünf Jahre lang hatten wir bis heute in der Familie zusammen gelebt.

Der Vater war von Beginn an nicht mit mir ins Gespräch gekommen. Deshalb war er mit mir nicht zu Recht gekommen. Auch ich war von Beginn an nicht mit ihm zu Recht gekommen. Ich bin überzeugt, dass der Vater alles in seinen Möglichkeiten steckende versucht hatte, Kontakt zu mir herzustellen. Aber die Möglichkeiten des Vaters hatten nicht ausgereicht. Der Vater konnte sich von seiner Sprache nicht lösen. Er konnte sich keinen Millimeter auf meine Sprache einlassen. Auch ich konnte mir die Sprache des Vaters nicht aneignen. Deshalb hatte ich ihn in den fünf Jahren nie verstanden. Heute verstehe ich ihn immer noch nicht. Am Anfang habe ich den Weg zu Vaters Sprache nicht gefunden, weil ich ihm nicht folgen konnte. Heute finde ich den Weg nicht, weil ich seine Sprache kennen und verstehen gelernt habe. Ich habe beschlossen, dass ich seine Sprache nicht lernen möchte.

Für den Vater muss es ein Schock gewesen sein. Ein dreizehn Jahre alter Mensch in seiner Familie. Dumm, laut, frech. Ein dummes Kind weil es in der Schule nichts versteht. Ein lautes Kind, weil es Angst hat, nicht gehört und nicht verstanden zu werden. Ein freches Kind, weil es jahrelang in einer Kinderheimgruppe gelernt hatte sich mit Frechheiten gegen Anfeindungen zu verteidigen, um zu überleben.

Viele Familien sitzen auf der sonnigen Terrasse. Die Ausflugsgaststätte ist voll. Ich sehe springende Kinder. Ich höre sie, wie sie sich laut mit ihren Eltern unterhalten. Ich beobachte, wie junge Menschen und Eltern miteinander reden. Ich sehe, wie Familien ganz normal miteinander umgehen.

Mein Verhalten war damals nicht schlimm gewesen. Ich war nicht lauter als das, was ich vor mir auf der Aussichtsterrasse des Ausflugslokals sehe. Meine Sprache war ungezogen. Ich war laut. Ich war dumm. War das nicht ganz normal? War es ganz anders, als das was sich hier auf der Terrasse der Ausflugsgaststätte gerade vor meinen Augen mit den vielen Familien abspielt? Es war mein alltägliches Verhalten gewesen. Ich hatte es über die Jahre im Kinderheim gelernt. Ich hatte eben lange Zeit nicht in einer Familie gelebt. Ich hatte damals eine schlimme Sprache gesprochen. Das hat der Vater sehr schnell gemerkt und das hatte er mir auch ganz schnell gesagt. So brauchte ich dem Vater nicht zu kommen. Mein dummes Gequatsche war das Letzte gewesen, was der Vater hören wollte. Mit dem Vater brauchte ich nicht so zu reden, wie mit den Kindern im Kinderheim. Ihm brauchte ich nicht so frech und vorlaut zu kommen, wie den Erwachsenen im Kinderheim. Der Vater hatte wichtigeres zu tun, als mein Gequassel anzuhören. Er hatte wichtige Arbeit zu erledigen. Er hatte keine Zeit, um zu versuchen, das zu verstehen, was ich sagte.

Meine Sprache hatte ich im jahrelangen Kampf in meinem Kinderheimleben gelernt. Meine Sprache hatte ich jahrelang gebraucht um mich gegenüber den Angriffen von älteren und stärkeren Kindern zu verteidigen. Ich hatte meine Sprache auch gebraucht, um die häufigen Angriffe von Erwachsenen zu ertragen.

Der Vater hatte nicht damit gerechnet, dass der Dreizehnjährige, eine so schnelle, vorlaute und freche Klappe hat. Meine hastige, schnelle Sprache war meine Mauer der Verteidigung. Sie war meine Mauer der Angst gegenüber dem Neuen. Sie war meine Angewohnheit aus dem Kinderheim. Sie zeigte, dass ich jahrelang im Kinderheim gegen meinen Untergang gekämpft hatte. Was ich dort mit körperlichen Kräften nicht zu verteidigen wusste, verteidigte ich mit meiner Sprache. Der Vater hatte davon keine Ahnung. Der Vater hatte nicht gewusst, dass im Kinderheim, in dem ich meine Kindheit zugebracht hatte, die Macht der körperlichen Überlegenheit und Gewalt geherrscht hatte. Deshalb war meine Sprache über die Jahre so schnell, so vorlaut und manchmal feindselig geworden. Das war meine einzige Waffe gegenüber älteren Kindern und Erwachsenen gewesen. Ich hatte sie geschmiedet um im Kinderheim durchzuhalten und zu überleben. Wegen meiner Sprache war auch ich im Kinderheim in der Lage gewesen meinen Aggressionen Platz zu verschaffen. Ich konnte nicht, wie andere Kinder und Erwachsene es dort oft getan hatten, einfach zuschlagen. Ein, vielleicht zweimal hatte ich das versucht. Jedes Mal hatte mich dann sofort mein schlechtes Gewissen gepackt. Immer wenn ich zugeschlagen hatte, waren es kleinere Kinder gewesen, die das traf. So hatte ich das an den anderen Kindern gesehen und an den Erwachsenen. Der Feind musste besiegbar sein. Besiegbar war er nur, wenn er schwächer war. Schwächer waren immer die kleineren. Aber ich konnte das nicht. Mein Gewissen hatte mich Tage und vor allem Nächtelang geplagt, wenn ich kleinere Kinder geschlagen hatte. Ich konnte das Leid der kleineren nicht ertragen. Ich konnte nicht ertragen, dass die Leiden müssen, weil ich nicht größere schlage, die mir etwas angetan hatten, sondern stattdessen auf die kleineren eintrete. So hatten das im Kinderheim aber alle gemacht. Vor allem der Heimleiter und sein Stellvertreter hatten dort jahrelang geprügelt. Ich hatte versucht das von denen zu lernen. Ich konnte das aber nicht lernen. Mit taten die kleinen Leid, die ich geschlagen hatte. Deshalb hatte ich meine Sprache entwickelt.

Ich konnte immer Reden. Zum Glück habe ich das niemals verlernt, so wie ich das bei manchem Kind im Kinderheim beobachtet hatte. Die Einschüchterung durch ältere Kinder und den Heimleiter und seinen Stellvertreter hat mir nie die Sprache verschlagen. Ich konnte immer laut schreien und schnell Reden. Andere Kinder fingen an zu Schweigen. Die Tritte von größeren Kindern, die Faustschläge des Heimleiters der Fußtritt des stellvertretenden Heimleiters, das hatte andere Kinder im Kinderheim zu Schweigen gelehrt. Die sagten jahrelang fast nichts mehr. Stattdessen schlugen sie ab und an auf die kleinen ein. Ich plärre und schrie und oft rannte ich davon und flüchtete.

Ich war zu schwach gewesen, die Schläge der älteren Kinder und die Schläge des Heimleiters durch meine Schläge zu erwidern. In der Welt des Kinderheims der siebziger Jahre war ich jahrelang von Erwachsenen und älteren Kindern geschlagen, getreten, bespuckt und gedemütigt worden. Die Regeln dieser Welt machten es beinahe überlebensnotwendig zurück zu schlagen. In dieser Welt galt das Prinzip des Stärkeren und Mächtigeren. Weil ich nicht schlagen konnte, war es meine Sprache geworden, die mir in dieser Welt Verteidigung und damit Überleben möglich gemacht hatten. Meine vorlaute Klappe, mein vorlautes Geschrei, das auf den neuen Vater wie das Geplärre eines Bengels von der Straße gewirkt hatte, war meine Schutzmauer gewesen. Nur mit ihr konnte ich die Jahre, bis ich die Familie kennen gelernt hatte, überstehen. Nur mit ihr hatte ich es geschafft trotz der täglichen Demütigungen die lange Zeit im Kinderheim zu überleben. Meine Sprache hatte auf den Vater wie ein Schlag in sein Gesicht, wie ein Angriff gegen seine Person gewirkt. Meine Sprache war die eines aufgewühlten, zappeligen Jugendlichen. Ich hatte Erwachsene nicht als Gesprächs- und Kontaktpartner gekannt, die es gut mit mir meinten. Erwachsene waren für mich Menschen, die mir jahrelang befohlen hatten, was zu tun ist. Sie hatten mich geschlagen, wenn ich das nicht tat. Sie hatten mir gesagt, wie ich mich zu verhalten habe. Sie hatten geschrieen und geprügelt, wenn ich mich anders verhielt. Sie waren Menschen, die sich nicht mit mir unterhalten wollten. Sie hatten mir nie beigebracht, mich an deren Sprache anzupassen. Niemals hatten Erwachsene im Kinderheim versucht Sprache für ein Gespräch zu verwenden. Die Sprache des Kinderheimleiters und seines Stellvertreters war Mittel um zu befehlen zu kontrollieren, Macht zu zeigen und zu demütigen.

Vielleicht wäre vieles bei den neuen Eltern viel besser geworden, wenn ich damals gelernt hätte, dass Sprache notwendig ist, um zu verstehen und nicht nur um anzugreifen oder zu verteidigen. Ich war nicht in der Lage gewesen, das schnell zu erkennen und zu verändern. Zu viele Jahre hatte ich von erwachsenen Menschen Befehle und Schläge erhalten. Zu lange Zeit hatte ich gelernt, mich von Erwachsenen fern zu halten. Zu lange Zeit hatte ich mit meinen Versuchen zugebracht, fürchterlichen Bestrafungen des Kinderheimleiters aus dem Weg zu gehen. Diejenigen Erwachsenen, die den Auftrag gehabt hatten, mich zu erziehen, hatte ich über viele Jahre als die schlimmsten Menschen erlebt. Sie hatten Macht und Gewalt skrupellos angewandt um zu erreichen, dass ein Kind tat, was sie befahlen.

Ich hatte gelernt mich vor Erwachsenen zu verstecken. Meine Verstecke waren im Wald, sie lagen auf dem Dachboden oder es gab sie irgendwo in einer verfallen Hütte. Immer wieder fand ich neue Verstecke um vor den Erwachsenen zu flüchten, und es gab meine Sprache. Mit ihr mauerte ich zu, was in mir steckte. Auf keinen Fall wollte ich riskieren, dass die prügelnden älteren Kinder oder der Leiter im Kinderheim erkennen konnten, wer ich wirklich bin. Es wäre sehr gefährlich gewesen, sich eine Blöße zu geben. Schwäche zu zeigen war die Einladung an den älteren oder erwachsenen Feind gewesen, zuzuschlagen. Demütigungen des Heimleiters hatten mich dort am empfindlichsten getroffen, wo ich Schwächen gezeigt hatte. Deshalb die riesige Schutzmauer meiner Sprache. Sie hatte oft verhindert, dass meine inneren Empfindungen, sei es nun Freude oder Angst gewesen, nach außen dringen konnten. Demütigungen, manchmal sogar Schläge konnten mich deshalb oft nicht erreichen. Sie prallten an meiner Oberfläche, an meiner Mauer, ab. Der machtlüsterne und prügelnde Heimleiter mit seinem Stellvertreter hatten es zu zweit nicht geschafft mein Inneres zu erreichen, um mich zu zerstören. Mit meiner Sprache hatte ich mich, unerreichbar für ältere Kinder und Erwachsene, in mich selbst eingeschlossen. Darin fühlte ich mich sicher. Sie konnten mich nicht knacken. Heimleiter und Stellvertreter wollten mich, meinen Willen, mein Denken, mein Fühlen, mein Hören, meinen Geist, mein Verstehen, meinen Kopf brechen, das verhinderte ich mit Sprache, Denken und Flucht zum rechten Zeitpunkt. Das kostete mich all die Jahre im Kinderheim meine ganze Kraft, deshalb rauschte der Schulunterricht damals an mir vorbei als gäbe es ihn nicht.

Weil ich meine Sprache nicht schnell ablegen konnte, weil ich mich nicht schnell umstellen konnte auf die neue Situation bei den Eltern, war von Beginn an kein Gespräch zwischen dem Vater und mir und damit auch keine gute Entwicklung für mich in der Familie möglich geworden. Genauso wie ich war auch der Vater nicht in der Lage gewesen, einer besseren Entwicklung die notwendige Zeit zu geben. Durch meine Sprache zerstörte ich von Beginn an das was zwischen dem neuen Vater und mir hätte entstehen müssen um unser Zusammenleben nicht nur erträglich, sondern schön zu machen. Wegen der Zerstörungen, die von Beginn an bei den Eltern eingetreten waren, das glaube ich heute, konnte der neue Vater Veränderungen in meiner Sprache, wie sie im Laufe der Jahre bei den Eltern sich eingestellt hatten, nicht mehr erkennen. Der Kontakt zwischen uns war von Beginn an wegen meiner Sprache schwer belastet gewesen. Deshalb konnte er nicht wachsen.

Auf der Sonnenterrasse beobachte ich Väter und Mütter. Ich sehe ihnen dabei zu, wie sie mit ihren Kindern reden, spielen und den sonnigen Tag und die herrliche Aussicht genießen. Zwischen mir und dem Vater hatten in den vergangenen fünf Jahren keine Gespräche stattgefunden. Für den Vater war es unmöglich gewesen auf meine Sprache einzugehen. Meine Sprache war die eines Jugendlichen gewesen. Bis zu meinem dreizehnten Geburtstag hatte ich gelernt in der Kinderheimgruppe Gleichaltriger zu Recht zu kommen. Dort musste ich mich vor Ellenbogen, Schlägen, Fußtritten, Taschengelddiebstählen, Erpressungen und der Gefahr von unberechenbaren Übergriffen Erwachsener und älterer Jugendlicher schützen. Das ungefährliche Leben in einer ordentlichen und sicheren Familie kannte ich nicht. Deshalb war es mir unmöglich, mich von Heute auf Morgen umzustellen. Wie soll ein junger Mensch eine neue Situation in die er von Heute auf Morgen hinein gerät sofort richtig meistern?

Ich glaube, die meisten Mütter und Väter auf der Sonnenterrasse der Ausflugsgaststätte erleben etwas ganz anders, als das was der Vater mit mir erlebt hatte. Das harmonische Bild vor mir erweckt den Eindruck, dass im familiären Zusammenleben gegenseitige Abwehr unnötig ist. Weil ich keine Ahnung von diesem Zusammenleben hatte, war ich davon ausgegangen, dass mein Abwehrverhalten gegenüber Erwachsenen weiter notwendig ist.

Für den Vater war meine Sprache Herausforderung und Provokation gewesen. Ich hatte gesprochen, wie es unter Jugendlichen damals für mich normal gewesen war. Für den Vater war das ein schockierendes Vokabular. Es war das Vokabular eines entwurzelten pubertierenden Jugendlichen. Wegen ihm war unsere Beziehung nie zustande gekommen. Schon nach wenigen Tagen hatte ich mich nicht mehr getraut ein Gespräch mit dem Vater zu beginnen. Der Vater hatte mir gesagt, dass er mein Gerede nicht hören will. Der Vater ist ein sehr gescheiter Mensch. Er möchte sich nicht mit einem Jugendlichen der eine so dumme Sprache spricht unterhalten. Deshalb hatte ich schnell begonnen, dem Vater aus dem Weg zu gehen. Ich wusste welche Sprache der Vater bräuchte. Die konnte ich aber nicht sprechen. Deshalb mied ich die Begegnung wo immer es möglich war. Mit dem Vater hatte ich jahrelang nur die alltäglichen Sätze gesprochen: “Guten Morgen” und “Gute Nacht”. Die vergangen Jahre hatten der Vater und ich nebeneinander her gelebt. Wir hatten nichts miteinander zu besprechen. Irgendwann hatte sich meine Anwesenheit in der Familie für den Vater zu einer Art “Duldung” entwickelt. Ich war geduldet gewesen, bis zum heutigen Tag, an dem ich abgeschoben werde.

Auch meine Beziehung zur Mutter hatte sich mit den Jahren verschlechtert. Mit mir hatte es in der Familie nicht so funktioniert, wie es die Vorstellungen der Mutter gewesen waren. Ich glaube beide, Mutter und Vater hatten gedacht, dass sie auf mich mehr EinFluss nehmen könnten. Ich habe mich nicht so entwickelt, wie sie es sich gewünscht hatten. Anstatt mit sehr kurzen Haaren auf dem Kopf durch den Ort zu laufen, hatte ich stets längere Haare getragen. Anstatt am Wochenende mit in ein klassisches Konzert zu fahren, war ich lieber zu Hause geblieben. Anstatt im Geschäft einen ordentlichen Anzug auszusuchen, um mit in ein Theaterstück gehen zu können, hatte ich lieber eine Jeans gekauft. Die Eltern hatten von mir ganz anderes erwartet. Ich war zu einer Enttäuschung für sie geworden.

Alles wäre nicht so schlimm geworden, wenn nicht dieser Eindruck entstanden wäre: Die Eltern zu hintergehen. Mit fehlten von Beginn an Moral und Anstand. Davon hatte ich viel zu wenig. Die Eltern hatten davon sehr viel. Von mir hatten sie davon auch sehr viel erwartet. Für ein vernünftiges Leben ist ein hohes Maß an Moral und Anstand notwendig. Die Mutter war enttäuscht von meinen Eskapaden und meinen Einstellungen, die ich aus der Jugendgruppe nach Hause gebracht hatte. Die Eskapade, als ich mich aus meinem Zimmerfenster abgeseilt hatte war moralisch das schlimmste für die Eltern. Sie waren erschüttert, wegen der Tiefe dieses Vertrauensbruchs. Dass ich von Zuhause flüchte, ohne Erlaubnis einzuholen. Ich hatte die Eltern schlimm hintergangen. Das war der Gipfel der Verlogenheit. Die gesamten fünf Jahre bei den Eltern erscheinen der Mutter und dem Vater heute, an meinem achtzehnten Geburtstag, als ein einziger riesiger Vertrauensbruch. Das Vertrauen, das die Eltern in mich gesetzt hatten, indem sie mich in ihrem Hause aufgenommen haben, hatte ich über die vergangenen Jahre missbraucht und mit Füßen getreten. Mir fehlt jeder moralische Anstand.

Weil ich oft nicht so gewollt hatte, wie sie es von mir erwartet hatten, ist all das, was ich in den vergangenen Jahren getan hatte, für beide Eltern vollkommen verwerflich. Ich habe nicht, wie sie es vorgeschlagen hatten, eine Bewerbung für eine Ausbildung bei der Armee des Landes geschrieben. Stattdessen war ich in den vergangenen Jahren in einer Jugendgruppe an Aktionen beteiligt gewesen, die gegen weitere Atomraketenrüstung gerichtet waren.

Meine Konfirmation: Sie hatte im zweiten Jahr bei den Eltern stattgefunden. Sie war zu einem anstrengenden Streit zwischen uns ausgeartet. Anders als es die Eltern erwartet hatten, war ich von Beginn an nicht begeistert von der Idee gewesen mich überhaupt konfirmieren zu lassen. Ich wollte genau wissen was das bedeutet. Das war mein Problem. Eine Woche vor dem Termin hatte ich immer mehr Zweifel gehabt am Sinn dieser Sache. Ich wollte die Konfirmation um ein Jahr verschieben. Die Eltern hatten aber bereits Verwandte eingeladen. Die meisten von denen wollte ich am Tag der Konfirmation aber gar nicht sehen. Ich wusste nicht, was man da feiern soll. Warum? So fragte ich frech, warum feiern und Verwandte einladen, für eine Sache, an der man solch große Zweifel hat? Anstatt reibungslos an den Vorbereitungen für das Fest teilzunehmen, wie es der Wunsch der Eltern gewesen war, hatte ich grundsätzlich daran gezweifelt. Ewig habe ich herum überlegt. Viele Gespräche mit dem Sohn des Pfarrers habe ich geführt. In den Gesprächen war ich auf die Idee gekommen, dass ich das Ganze um ein Jahr verschieben sollte. Weil ich die bevorstehende Konfirmation viel zu ernst genommen hatte, entwickelte schließlich selbst der Pfarrer wegen meiner Zweifel Bedenken. Die Eltern waren schockiert. Was hatten sie da für einen missratenen Sohn aufgenommen? Der treibt es soweit, dass selbst der Pfarrer anfängt zu zweifeln! Unglaublich. Die Eltern besuchen regelmäßig, mindestens wöchentlich die Kirche. Meine Zweifel, die ich anstatt sie zu verbergen offen gelegt hatte, wirkten wie ein Anschlag gegen ihren Glauben. Es schockierte die Eltern, dass ich mit Zweifeln und Fragen versah, woran sie fest glaubten. Die Eltern konnten nicht verstehen, welche Zweifel ich hatte. In ihren Augen waren meine Zweifeln nicht ernst zu nehmen. Sie waren eine Provokation. Ich glaube für die Eltern war das eine der großen vielen Enttäuschungen. Wollte ich die Eltern provozieren? Ja, ich wollte sie dazu provozieren, mit mir über die Konfirmation offen zu reden. Dazu ist es nicht gekommen. Weil mir schnell klar geworden war, dass Reden nicht möglich war und dass es für die Eltern absolut nicht akzeptabel gewesen war meine Konfirmation aufzuschieben, hatte ich schließlich zugestimmt. Weil an dem Tag stattfand, was ich eigentlich nicht gewollt hatte, war ich schlechter Laune. Die eingeladenen Verwandten der Eltern waren begeistert gewesen von meinem Konfirmationsanzug. Ich trug den Anzug widerwillig. Das feierliche Kuchenessen mit den Verwandten fand nachmittags planmäßig statt. Die Eltern hatten an diesem Tag einen unwilligen, trotzigen Jugendlichen zu Hause. Der Tag war für uns alle fürchterlich.

Meine Sprache habe ich in den Jahren verändert. Die Mauer habe ich abgebaut. Ich will über die Dinge mit den Eltern ins Gespräch kommen. Um das zu erreichen habe ich ihre Sprache angenommen. Ich habe eingesehen, dass meine Sprache aus dem Kinderheim nicht weiter notwendig ist. Trotzdem ist bis heute kein Verstehen zwischen den Eltern und mir möglich geworden. Es reicht nicht aus die Mauer meiner Sprache zu durchbrechen. Ich müsste mich viel stärker an den Willen, an die Meinung, an das ganze Familienleben bei den Eltern anpassen. Ich glaube vieles bei den Eltern wäre leichter gewesen, wenn ich in der Schule und der Jugendgruppe nicht nur gelernt hätte zu reden und zu diskutieren, sondern wenn ich gelernt hätte gegenüber den Eltern nachzugeben. Wenn ich gelernt hätte, dass keinerlei Widerstand gegen die Eltern notwendig gewesen wäre, und wenn ich deren Leben in der Familie einfach friedlich und ruhig mit ihnen gelebt hätte, ich glaube, dann wäre es für uns alle einfacher gewesen. Ich glaube, wenn ich dazu in der Lage gewesen wäre, dann würde ich heute nicht unterwegs sein um diesen Wagen auszuborgen. Heut würde ich mit Freunden meinen Geburtstag feiern und anschließend zu den Eltern nach hause kommen, anstatt mein Leben bei den Eltern abzuschließen.

8. Ein geliehener Wagen

Den Höhenwanderweg durchtrennt eine schmale Schotterpiste. Nach rechts biege ich auf diese ab und laufe mit großen Schritten hinab. Die Schotterpiste führt steil hinunter. Nach fünfzig Metern erreiche ich eine scharfe Rechtskurve. Von hier führt parallel zum Berghang eine Einfahrt zum Haus von Martinas Eltern. Auf dem kleinen Vorplatz am Haus sehe ich schon von weitem den grünen, alten Peugeot.

Vielleicht beobachtet mich Martina von ihrem Fenster aus, wie ich in riesigen Schritten die Schotterpiste runter laufe. Ich habe es nicht eilig. Der heutige Tag ist nicht für Eile geeignet, so denke ich und nehme dabei die letzten großen Schritte auf der steil abfallenden Schotterpiste. Ich lausche dem Rhythmus meiner dunkelbraunen Halbschuhe, wie sie knirschend den groben hellen Kies des Weges bearbeiten. Den heutigen Tag sollte ich keineswegs eilig durchlaufen. Auf gar keinen Fall sollte ich rennen. Heute ist es mir wichtig noch einmal an meinem inneren Auge vorbeiziehen zu lassen, was ich hier abschließe. Ich nehme mir die Zeit darüber nachzudenken, warum ich heute die Aufgabe habe die Eltern wieder zu verlassen. Den Schotterweg laufe ich trotzdem sehr schnell runter. Ich passe mich dem Tempo an, welches das steile Gefälle meinen Füßen vorgibt.

Auch das hatte ich in den Jahren bei den neuen Eltern gelernt und auch dagegen hatte ich mich gewehrt: Das wunderschöne gebirgige Land zu durchwandern und dabei den Laufschritt dem Rhythmus der gebirgigen Landschaft anzupassen. Die Wanderausflüge am Wochenende mit den Eltern hatten mir nur am Anfang Spaß gemacht. Es hatte mir Freude gemacht vorauszulaufen und dann an irgendeiner Ecke immer wieder auf die Eltern zu warten oder sie mit einem Sprung aus einem Gebüsch zu überraschen. Nach drei oder vier Ausflügen mit den Eltern hatte ich schließlich die Lust daran verloren, ohne dass ich einen Grund dafür finden konnte. Ich glaube, es könnte die Langeweile gewesen sein, die sich bei mir eingestellt hatte. Der Reiz nach einem schweißtreibenden Anstieg zusammen mit den Eltern oder schneller als die Eltern eine Berghütte zu erreichen war eines Tages verschwunden. Ich fand es langweilig, den herrlichen Ausblick mit den Eltern von einer Aussichtsterrasse über die Berggipfel in das Tal zu genießen.

Die Wirte der Hütten auf den Gipfeln waren den Eltern oft gut bekannt. Sie waren Kunden ihres Geschäftes. Die Eltern kannten viele einheimische Wanderer, die wir auf den Berghütten getroffen hatten. Die Eltern stellten mich diesen Menschen vor. Zu Beginn fand ich das noch ganz interessant. Später war mir das unangenehm geworden. Überall im Ort und auf den Bergen waren die Eltern wegen ihres Geschäftes bekannt. Welchen Gipfel auch immer wir erreicht hatten, stets gab es ein Gespräch mit einem Kunden oder einem Bekannten. Irgendwann war mir das zu viel. Ich wollte lieber mit meinen Freunden aus der Jugendgruppe durchs Gebirge wandern.

Das Leben der Geschäftsleute ist das Leben von Menschen die jeder im Ort kennt. Diese Art der Öffentlichkeit war mir unangenehm geworden. Die Eltern hatten für die Kunden ihres Geschäftes nicht nur in ihrem Laden zu sorgen. Bei Kunden die ein eigenes Geschäft oder eine Gaststätte betrieben, waren die Eltern regelmäßig zu Gast. Die Auswahl von Ausflugszielen, der Besuch zum Mittagessen in einer Gaststätte hatte oft den Hintergrund, dass der Betreiber einer Hütte oder Gastwirtschaft Kunde im Geschäft der Eltern war. Mir wurde das zunehmend unangenehm.

Das Wandern durch die Berge macht mir viel Spaß. Ich habe so viel Freude daran entwickelt, dass ich in den letzten zwei Jahren regelmäßig mit einem Freund, den ich durch die Jugendgruppe kennen gelernt hatte, lange Wandertouren über die Gipfel rund um den Ort unternommen habe. Vielleicht war mir der Spaß an den Ausflügen mit den Eltern vergangen, weil ich erkannt hatte, dass die Ziele von den Geschäftskunden bestimmt worden waren. Vielleicht hatte sich wegen der Gespräche der Eltern mit den Geschäftskunden auf den Berghütten oder in den Gaststätten, ohne dass ich es verhindern konnte, ein gewisser Neid oder gar eine Art Eifersucht bei mir entwickelt. Ich konnte nur schwer ertragen, dass die Eltern die Ziele der Ausflüge bestimmten, ohne mich bei ihren Entscheidungen mit einzubeziehen. Das könnte es gewesen sein, was mir schließlich den Spaß an den Unternehmungen mit den Eltern verdorben hatte. Es war nicht nur die Langeweile mit den Eltern zu wandern. Eine gewisse Eifersucht könnte eine Rolle gespielt haben. Die Eltern hatten sich stets bestens mit den Hüttenwirten oder Gastleuten unterhalten. Für die Eltern waren solche Gespräche selbstverständliche alltägliche Routine gewesen. Für mich war es langweilig dabei zu sitzen. Vielleicht hatte ich deshalb das Gefühl entwickelt, von den Eltern zu wenig Beachtung zu erfahren. Ich war eifersüchtig geworden auf die Geschäftsleute. Mit ihnen zu sprechen war den Eltern wichtig. Mit mir zu sprechen war nicht wichtig. Die Eltern wissen wie sie mit ihren Kunden umzugehen haben. Die Eltern haben gutes Gespür und eine gute Hand für die Pflege ihrer Kunden. Mit ihren Kunden waren die Eltern immer bestens zu Recht gekommen. Mit mir waren sie nicht zu Recht gekommen. Vielleicht hatte mir das den Spaß verdorben. Ich musste erleben und ertragen, dass Eltern bei ihren Kunden bekannt und beliebt sind. Im Ort genießen die Eltern einen sehr guten Ruf, den sie regelmäßig pflegen.

Ich war nicht auf die Idee gekommen, mir den guten Ruf der Eltern zu nutze zu machen. Wenn wir unterwegs waren und auf Kunden und Bekannte trafen, hatten die Eltern mich immer vorgestellt. Ich hätte eine Chance gehabt. Ich hätte mich an den Kontakten beteiligen können. Aber mir waren diese Kontakte unangenehm geworden.

Martina steht in der offenen Eingangstüre. Gemächlich nehme ich die wenigen Treppenstufen bis zu ihr hinauf. Martina erwartet mich. Ich reiche Martina lächelnd die Hand. Ich werfe dabei einen flüchtigen Blick auf meine Armbanduhr. Ich bin pünktlich. Minutengenau komme ich an, so wie ich es vereinbart hatte. Obwohl ich heute keine Eile habe bin ich pünktlich.

Zu spät zu kommen war nie meine Art gewesen. Geregelte Zeiteinteilung und Ordnung in meinem täglichen Alltag bei den Eltern musste ich nicht erst neu erlernen. In meinem Kopf hatte es schon immer eine Ordnung gegeben. Meine Ordnung hat mir stets geholfen, meinen Lebensalltag im Griff zu behalten. Neben meiner Sprache als meine Schutzmauer, war meine innere Ordnung ein wichtiger Pfeiler, der mich nie im Stich gelassen hat. Meine innere Ordnung habe ich im Kinderheim entwickelt. Ablehnung und Schläge, die ich dort erfahren hatte ordnete ich in mein Ordnungsprinzip in meinen Kopf ein. Dort hatte ich mir vielerlei Begründungen und Erklärungen zu Rechtgelegt. Dort hatte ich die Haltungen der Menschen, die mich und andere quälten gespeichert und geordnet. Meine innere Ordnung tickte viele Jahre lang, wie ein unzerstörbares Uhrwerk. Situationen tiefster Verzweiflung habe ich mit meiner inneren Ordnung bewältigt. Schläge des Heimleiters, Gewalt von älteren Jugendlichen, Hass und Chaos um mich herum, das alles ordnete ich in meinen Kopf ein. Meine Ordnung fußte auf einem einfachen Prinzip: Alles was ich erlebte musste begründbar sein. Konsequente Suche nach Gründen für das was ich um mich herum sah und erlebte schaffte Ordnung. Wenn ich in meinem Kopf sagen konnte, „der macht das, weil…“, dann hatte ich ein Stück Freiheit in meinem Kopf gefunden. Ich habe in meinem Kopf das, was ich erlebt hatte, was mir angetan wurde nach meinem Denken geordnet. Wenn ich da etwas nach meinem Denken geordnet hatte, dann ordnete ich mich nicht dem Vorhaben des gewalttätigen Heimleiters unter. Ich dachte trotz seiner Gewalttätigkeit weiter. Ich dachte vor allem deshalb weiter. Mit dem Denken kommt Freiheit und es verschwindet Hilflosigkeit. Damit verschwindet das Gefühl dem anderen ausgeliefert zu sein. Damit erscheint das Gefühl frei zu sein, denn ich weiß warum der andere tut, was er tut. Im Kopf hatte ich jahrelang für all das was geschah immer Begründungen gefunden. Mein Denken hatte mir zuverlässig dabei geholfen, nicht zu verzweifeln und aufzugeben, sondern immer wieder zu mir selbst zurück zu finden. Aus unerklärlichem Grund war mein Kopf immer pünktlich zur Stelle, um zu mir zu sagen, dass ich nicht aufgeben darf. Oft sagte ich zu mir selbst, dass ich deshalb beste Chancen habe das gewalttätige Leben in dem Kinderheim zu überstehen. Genau so ist es gekommen.

Ich weiß nicht wie meine innere Ordnung entstanden ist. In meiner Erinnerung an mein Leben in dem Kinderheim finde ich keine greifbare, sichtbare Erklärung. So zu denken, wie ich damals immer gedacht hatte, war meine Überlebensstrategie. In dem Kinderheim war für mich keinerlei Perspektive erkennbar. Trotzdem hatte kein Schlag in mein Gesicht und kein Fußtritt gegen mich dazu geführt, dass ich meine innere Ordnung aufgab.

Meine innere Ordnung hatte Auswirkung darauf, wie ich meine äußere Welt sah. Trotz vorgegebener Orientierung an Maßstäben von Gewalt, Macht und Hass gegenüber Kindern, welchen ich in dem Kinderheim über viele Jahre ausgesetzt war, hatte ich immer gewusst, wie ich das einzuordnen habe. Hatte ich mich daran beteiligt schwächere Kinder ungerecht zu behandeln, so wie es alltägliches Grundprinzip in dem Kinderheim gewesen war, beschwerte sich sofort meine innere Ordnung darüber: Wenn ich ungerecht gehandelt habe trat mein Gewissen auf den Plan. Aus meiner inneren Ordnung war über Jahre auch eine äußere Ordnung geworden. Pünktlichkeit im Alltag war mir nie schwer gefallen. Neben dem Chaos aus Macht und Gewalt gab es in dem Kinderheim auch vorgegebenen Uhrzeiten. An die hatte sich jeder zu halten. Alltägliche Verrichtungen waren immer an bestimmte Uhrzeiten geknüpft. Vom Aufstehen über das Zähneputzen, vom Frühstück über den Schulbesuch, vom Mittagessen, über die Hausaufgaben, war der ganze Tag in Uhrzeiten eingeteilt. Das hatte ich als Unterstützung empfunden. Vielleicht habe ich darüber zu meiner inneren Ordnung gefunden. Für mich war der immer gleiche Rhythmus des Tages ein fester Fels im Alltag meines Kinderheimlebens gewesen. Egal welche Gewalttaten ich tagsüber erlebt hatte, die Uhrzeiten von Frühstück, Schule, Mittagessen, Hausaufgaben, Schuhputzen, Abendessen und zu Bettgehen, waren immer geblieben. Das ergab ein Bild der Sicherheit. Mein alltäglicher Tagesablauf war sicher gewesen. Täglich war er gleich geblieben. In meinen Kopf war ein klares Ordnungsprinzip entstanden.

In meinem Kopf ordnete ich die Gewalttaten des Heimleiters als vorgegebenen, alltäglichen Ablauf ein. Schläge, Tritte, Gehässigkeiten, Übergriffe, Beschimpfungen, Einsperren, Ausgangsverbote, Strafarbeiten. Das war alles alltäglich, wie Morgens um sechs Uhr aufzustehen und am Abend um neun Uhr das Licht zu löschen. Es gab keinen Menschen, der das verhindern konnte. Es gab keinen der das verhindern wollte. In meinem Alltag im Kinderheim war das normal gewesen. Es war auch normal gewesen, dass der Heimleiter seine Lieblinge hatte, die er vermeintlich besser behandelte. Es war normal und alltäglich gewesen, dass der Heimleiter, vielleicht als Gegenleistung dafür, dass er sie nicht schlug, gegenüber seinen Lieblingen immer zutraulicher geworden war. Und es war normal, dass kein Mensch da gewesen war, der das merkte und sagte, dass es nicht normal ist, dass der Heimleiter nachts im Zimmer einer Heimbewohnerin verschwand. Dass jemand Gewalt an Kindern in dem Kinderheim verübte, sich austobte und sich wie auch immer durch Gewalt befriedigte war für mich lange Zeit alltäglich und normal gewesen. In meinem Kopf war das genauso vorgegeben, wie die täglichen Uhrzeiten. Deshalb, so glaube ich heute, musste für mich damals immer klar gewesen sein: All die Gewalt um mich herum zertritt mich nicht wirklich. Wenn ich anderes gedacht hätte, hätte ich das wohl nicht überlebt vor Angst. Warum habe ich so gedacht und wie habe ich gedacht? Aus gleichem Grund, wie ich gelernt hatte, dass Uhrzeiten geschaffen waren, weil sie notwendig waren, lernte ich, dass auch Gewalt und Übergriffe geschaffen seien, weil sie der Ordnung wegen dazu gehörten. Ich glaube, so hatte ich damals darüber gedacht. Alltägliche Uhrzeiten und alltägliche Gewalt waren nicht wegen mir oder wegen anderer Kinder in dem Kinderheim geschaffen worden. Sie waren vorgegeben vom Heimleiter und deshalb normal, sie mussten von niemandem begründet werden. Sie entstammten einer höheren Ordnung. Diese Ordnung, so hatte ich damals gedacht, gab es nicht nur in meinem Kinderheim. Lange Zeit glaubte ich, dass solche Ordnung überall existiere. Tugenden wie tägliche Pünktlichkeit tägliche Ohrfeigen, Kopfnüsse, Schläge und Fußtritte sind die originären Maßstäbe im alltäglichen Umgang aller Menschen miteinander. Das glaubte ich, weil ich das nicht anders kannte. Weil ich das glaubte überlebte ich. Im Kinderheim war ich niemals auf die Idee gekommen, dass nicht rechtens ist, dass der Stärkere sich vom Schwächeren nimmt, was er gebrauchen kann.

Ich erinnere mich, dass ich damals geglaubt hatte, die Ordnung der Welt, dank der Ordnung in meinem Kinderheim gut verstanden zu haben. In den Nachrichten im Fernsehen hatte ich hin und wieder gesehen, dass es weltweit Kriege und Armut gibt. Wir, so hatte ich damals verstanden, hatten großes Glück im Reichtum zu leben. Genauso wie der Heimleiter die schwächeren Menschen, nämlich uns Kinder, regelmäßig verprügelte und daran seine Freude hatte, sah für mich die Ordnung der Welt in den Fernsehnachrichten aus. Wir, die Reichen in dieser Welt sind diejenigen, die sich bei den Armen der Welt holen, was wir meinen zu brauchen. Wenn die Armen sich dagegen wehren, so hatte ich damals die Nachrichten verstanden, gab es Krieg. Die Reichen wandten Gewalt an um sich zu holen, was ihnen der Ordnung nach zustand. Der Heimleiter holte sich bei den Mädchen, was ihm der Ordnung nach zustand. Er schlug auf uns Kinder ein, um sich Macht und Raum, die ihm der Ordnung wegen zustanden, zu verschaffen. Den klaren Regeln dieser einfachen Ordnung hatten wir Kinder zu folgen. Wenn wir der Ordnung nicht folgten gab es Tritte und Schläge, zu denen der Heimleiter berechtigt gewesen war, weil er diejenige Kraft und Macht besaß, die diese einfache Ordnung immer wieder durchsetzte. Im Krieg im Kinderheim war der Heimleiter der Reiche, der sich bei uns Kindern holte, was er glaubte zu benötigen, worauf er glaubte Kraft der herrschenden Ordnung Anspruch zu haben. Der Heimleiter, so glaubte ich jahrelang, tat nichts anderes, als der alltäglichen Ordnung unserer Welt zu folgen. Diese einfache Ordnung sah ich hin und wieder in den Fernsehnachrichten bestätigt. Weil es niemanden gegeben hatte, der auch nur geringste Zweifel an der Ordnung von Macht und Gewalt gegen die Kinder im Kinderheim äußerte, hatte ich keinen Zweifel daran, dass mein Schicksal darin bestand, mich Gewalt und Macht unterzuordnen.

Erst nachdem ich zu den Eltern gezogen war, begann sich die Sicht auf meine alltägliche Welt zu ändern. Die Eltern hatten mit dem, was ich im Kinderheim erlebt hatte nichts gemein. Bei den Eltern war das oberste Gebot nicht, dass ich mich unter zu ordnen hatte. Das wichtigste, so schien es mir, war dass ich lernte etwas zu leisten. Dass ich dazu in der Lage bin, hatten die Eltern schnell erkannt. Das bestätigte sich, weil ich dank deren Förderung binnen eines Jahres die Schule wechseln konnte.

Martinas Familie, ihre Eltern und ihre drei Geschwister waren vor einigen Jahren aus der Großstadt hier her gezogen. Martinas Eltern hatten die Gegend im Urlaub kennen gelernt. Mit dem Umzug erfüllten sie sich einen Traum. In Martinas Familie, das ist seit Jahren mein Eindruck, geht es locker zu. Die Kinder, inzwischen groß geworden, leben nach wie vor in der Familie. Freunde und Bekannte gehen täglich und selbstverständlich ein und aus. Dass ich für meinen Umzug den Wagen borgen kann ist in meinen Augen nicht nur ein Zeichen für Vertrauen, es ist auch ein Zeichen für die lockere Atmosphäre in Martinas Familie.

Ich folge Martina durch das Erdgeschoss hinaus auf die Terrasse. Dort bietet mir Martina eine Tasse Tee an. Ich nehme mir die Zeit für den Tee, denn ich habe sie. Auch Martina und ihre Familie gehören zu meiner Heimat. Der Duft des Tee erinnert mich an kalte Herbsttage. Im letzen Herbst war ich hier mehrmals zu Besuch. Im Wohnzimmer roch es Samstagnachmittags nach Tee. Ich roch den Tee schon, wenn ich im Hauseingang meine regennasse Jacke auszog. Der Tee passt nicht zum heutigen herrlichen Sommertag. Meine Heimat verlasse ich heute. Vielleicht ist es gut, dass Martina heute diesen Tee reicht. Vielleicht ist es gut, dass der Tee nicht zum heutigen Tag passt. Er gehört zu meinen Erinnerungen an die Bilder des Herbstes in diesem Haus. Vielleicht ist es gut, dass Martina diese Bilder jetzt schon durcheinander bringt. Weil ich diese Heimat heute verlasse, werden künftig andere Bilder von meiner Heimat in meinem Kopf entstehen. Alles, was bis heute meine Heimat gewesen war wird durcheinander geraten. Künftig werde ich im Ort Besucher sein. Ich werde nicht mehr bei den Eltern leben. Mein Bild vom Ort wird sich ändern. Ich werde eine neue Sicht einnehmen müssen. Meine Freunde in diesem Ort werde ich künftig aus anderem Blickwinkel sehen und erleben. Nach einem Besuch bei meinen Freunden werde ich künftig nicht mehr selbstverständlich in mein zu Hause bei den Eltern im Ort zurückkehren. Was bislang in diesem Ort für mich so ist, wie es ist, endet heute. Künftig wird es anders sein. Den Ort und die Menschen werde ich künftig ganz anders erleben als bisher.

Auch damals habe ich meinen Blickwinkel verändert. Nachdem ich vom Kinderheim zu den Eltern umgezogen war, hat sich mein Bild von diesem Ort und seinen Menschen verändert. Mein bisheriges Kinderheimleben war von einem auf den nächsten Tag abgebrochen. Obwohl der Ort der gleiche geblieben war, war für mich und mein Leben in diesem Ort alles anders geworden. Schläge und Gewalt, die in meinem Leben selbstverständlich gewesen waren, waren vorbei. Erwachsene, die mir immer Befehle gegeben hatten, und sich nicht dafür interessiert hatten, ob ich eigene Interessen habe, begannen nun meine Interessen zu suchen und zu fördern. Vorurteile, vor denen ich in der Schule jahrelang geflüchtet war, waren plötzlich verschwunden. Meine Schulzeugnisse, die bislang niemanden interessiert hatten, waren plötzlich wichtig geworden. Mein Kinderheimleben war zusammengebrochen.

Heute bricht wieder etwas zusammen. Diesmal ist es mein Leben bei den Eltern, das abbricht. Den heutigen Bruch verstehe ich besser, als den damaligen Abbruch. Weil ich älter geworden bin, kann ich heute schon mehr von dem erkennen, was auf mich zukommt, als es damals gewesen war. Die Entscheidung, dass heute ein Bruch stattfindet erlebe ich heute deutlicher, als den damaligen Wechsel vom Kinderheim zu den Eltern. Für mich wird heute keine ganze Weltordnung zusammenbrechen. Ich werde meine Sicht ändern müssen, Ansprüche zurückschrauben müssen, die Sicherheit der Eltern verlieren. Vermutlich wird daraus neues entstehen. Ich kenne das. Was nach dem Abbruch meines Kinderheimlebens entstand hat mir gut getan.

Auf der Terrasse schenkt mir Martina nicht nur Tee ein, sondern sie überrascht mich mit einem Geburtstagsgeschenk. Sie hat zusammen mit Karin, ihrer Freundin die ich auch durch die Jugendgruppe kennen gelernt habe, einen kleinen Wandteppich für mein neues Zimmer genäht. Ich freue mich riesig. Der Wandbehang wird der erste bunte Fleck in meinem Zimmer werden. Trotzdem ist mir das Geschenk auch ein bisschen unangenehm. Niemals könnte ich den beiden vergleichbares schenken.

Bei den Eltern war es mir stets schwer gefallen, geeignete Geburtstagsgeschenke für sie zu fertigen. Es war deren Anspruch von mir etwas selbst Gebasteltes geschenkt zu bekommen. Die Eltern verfügen über alles, was sie benötigen. Es wäre unglaubwürdig und lächerlich gewesen, wenn ich in einem Geschäft etwas für sie gekauft hätte, um sie an Geburtstagen oder an Weihnachten zu beschenken.

Trotzdem hatte ich dem Vater in den letzten Jahren mehrfach eine bestimmte Schokoladensorte, die er sehr gerne isst, gekauft. Weil der Vater selbst nie zum Einkaufen in den Ort geht, war es ein Leichtes für mich, ihm diese Freude zu machen. Dass er gerne diese Schokolade als Geschenk angenommen hatte, war für mich eine riesige Erleichterung gewesen, denn immer hatte ich größte Schwierigkeiten gehabt, mir für den Vater ein passendes Geschenk auszudenken. Etwas leichter war es bei der Mutter gewesen. Sie konnte ich mit einem selbst gebauten Gartengerät oder einem Gutschein für das Rasenmähen im Garten, oder das Ausstechen eines Gemüsebeetes beglücken. Weil die Eltern sehr wohlhabend sind konnten meine Geschenke keinen materiellen Wert haben.

Hatten meine Geschenke an die Eltern einen anderen Wert? Waren sie ein Zeichen meiner Zuneigung? Oder hatten sie lediglich der Befriedung zwischen uns gedient, weil sie nur den Zweck erfüllten, dass ich der geltenden Regel nachgekommen war, die Eltern an Geburtstagen oder Weihnachten zu beschenken? Diese Fragen waren mir oft durch den Kopf gegangen. Nie konnte ich eine Antwort darauf finden. Weil Martina mich mit einem Geburtstagsgeschenk überrascht finde ich diese Fragen wieder in meinem Kopf.

Ich hatte nie das Gefühl, die Eltern aus Zuneigung zu beschenken. Immer war mit dem Schenken das Gefühl verbunden, dass es sein musste. Es war nie ein ganz freiwilliger Akt. Stets flammten in mir Gedanken daran auf, wie die Eltern reagieren würden, welche Enttäuschung es wäre, wenn ich nichts schenken würde. Diese Gedanken, die Vorstellung davon wie das sein würde, führten in meinem Kopf oft zu einem Inferno. Es geschah etwas in meinem Kopf, das mir bis dahin unbekannt gewesen war. Am Ende hatte eine riesige Explosion stattgefunden, die viel Staub aufwirbelte. War der Staub verschwunden, sah ich in meinem Kopf nichts weiter als schwarze Finsternis. Es schien eine undurchdringliche Finsternis zu sein. Jetzt fällt mir dazu ein, dass dieses Bild vielleicht meine Vorahnung, von der abbrechenden Verbindung gewesen sein könnte, die heute zwischen den Eltern und mir beginnt. Vielleicht hatte ich in meinem Kopf schon immer einen Keil, den ich mehr und mehr zwischen mir und die Eltern trieb. Bevor ich bei den Eltern eingezogen war, hatte ich geglaubt, dass Schenken in erster Linie mit dem materiellen Wert des Geschenkes zu tun habe. Im Kinderheim hatte es die Regelung gegeben, dass ein Kind zum Geburtstag oder zu Weihnachten ein Geschenk im Wert von 20 Mark erhält. Diese Summe war von den Jugendämtern vorgegeben. Das jeweilige Geschenk hatte sich das Kind selbst zu besorgen. An Weihnachten war es dann von den Erziehern eingepackt und unter den Weihnachtsbaum gelegt worden. Am Geburtstag erhielt man das Geld vom Heimleiter und kaufte sich sein Geburtstagsgeschenk.

Schenken war ein Akt, der wie die übrige Ordnung geregelt und vorgegeben war. Es war um Spielzeug im Wert von 20 Mark gegangen, so war die Vorgabe. Um mehr ging es dabei nicht. Andere Bedeutungen waren mir unbekannt gewesen. Weil ich bei den Eltern neue Bedeutungen des Schenkens erkannt hatte, war das Schenken für mich zu einem Problem geworden. Ich habe bis heute nicht geklärt, welche Symbole hinter meinen Geschenken an die Eltern gesteckt hatten. Ich spürte, dass es nicht um den materiellen Wert meiner Geschenke an die Eltern ging. Ich erlernte eine neue Bedeutung des Schenkens. Ich lernte, die Eltern zu beschenken, weil dies in der Familie bei den entsprechenden Gelegenheiten eine feststehende Regel gewesen war. Meine Geschenke an die Eltern hatten eine weitere Bedeutung: Sie waren der Versuch, die von mir befürchtete Finsternis zwischen den Eltern und mir abzuwenden.

9. Die erste Autofahrt

Den Wagen kenne ich von einigen verbotenen Autofahrten. Martina hatte mich öfter ans Steuer gelassen. Es waren zusätzliche Übungsfahrten gewesen, die es mir ermöglicht hatten einige Fahrstunden für den Führerschein einzusparen. Martina hatte mich mehrfach ihren Wagen die steile Bergstraße hinauf steuern lassen. Sie hatte erstaunliches Vertrauen in meine Fahrsicherheit. Ich brauchte sie nicht groß zu überreden mich ans Steuer zu lassen. Während ich die steile Bergstraße hinauf, über die Höhenringstraße zum Haus ihrer Eltern gefahren war, saß sie immer ruhig auf dem Beifahrersitz. Nur einmal, es ist etwa zwei Monate her, war sie unruhig geworden, weil ich einem Reisebus, der die steile Strecke offensichtlich nur mit letzter Mühe bewältigte, zu dicht aufgefahren war.

Vielleicht hatte Martinas Vertrauen in meine Fahrkünste ohne Führerschein damit zu tun, dass sie mich seit Jahren aus der Jugendgruppe kennt. Dort hatte ich sie und ihre Geschwister vor vier Jahren kennen gelernt. Ich glaube, der Eindruck den ich in der Gruppe erweckt hatte, war der eines vernünftigen, ansprechbaren Jugendlichen, dem keiner zutraut, dass er sich auf verantwortungsloses Handeln einlassen würde. Dass ich Martina gebeten hatte, mich ihren Wagen steuern zu lassen, könnte man als verantwortungsloses Handeln bezeichnen. Genau genommen war es eine Anstiftung zu illegalem Handeln gewesen. Bei genauerer Betrachtung, kann man zu der Schlussfolgerung kommen, dass ich einen eindeutigen Gesetzesverstoß begangen habe, in den ich auch Martina verwickelt hatte.

Vielleicht, so denke ich jetzt, neige ich dazu hin und wieder Verbotenes zu tun. Vielleicht, so kommt mir der Gedanke, haben die Eltern so eine Neigung an mir wahrgenommen. Vielleicht habe ich einen gewissen Hang Gesetze und Regeln zu übertreten. Vielleicht habe ich die Eigenart, Gesetze und Regeln die mir im Alltag vorgegeben sind, immer wieder mal einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. Vielleicht ist meine Art mit vorgegebenen und sicherlich notwendigen Regeln umzugehen, von einer äußerst kritischen Aufmerksamkeit geprägt. Vielleicht habe ich solche Art Aufmerksamkeit erlernt, weil alle mir Bekannten Regeln, die gesamte Ordnung aus dem Kinderheim plötzlich zusammengebrochen waren, als ich zu den Eltern gezogen war. Regeln und Maßstäbe, damals vom Heimleiter vorgegeben, erschienen bei den Eltern in völlig anderem Licht. Mit den Jahren bei den Eltern wurde mir zunehmend klar, dass die große Welt zwar tatsächlich von Macht und Gewalt regiert wird, dass aber die kleine Alltagswelt in diesem Land zu erheblichem Teil durch andere Gesetze geregelt ist. Der Heimleiter hatte solche Gesetze gebrochen, indem er die Ordnung der Welt, wie sie mir aus der Nachrichtenberichterstattung über die Kriege in unserer Welt bekannt gewesen war, in sein von ihm geführtes Kinderheim übertrug. Das erkannte ich erst Jahre später bei den Eltern.

Vielleicht neigt ein Kind wie ich dazu, wenn es solchen Bruch erlebt hat, eine vorgegebene Ordnung nicht mehr ganz so ernst zu nehmen. Wer sagt mir, dass die bei den Eltern vorgegebene Ordnung nicht eines Tages zusammenbricht? Vielleicht ist auch diese Ordnung einfach falsch? Vielleicht bin ich geschädigt, weil ich so denke. Vielleicht muss ich immer an vorgegebenen Regeln kratzen, weil ich bei den Eltern erkennen musste, dass eine Ordnung, die dem Kind jahrelang galt, nicht nur zusammenbricht, sondern gar nicht rechtens im Sinne der Gesetze dieses Landes war. Während der vergangen fünf Jahre hatten die Eltern vielleicht mit Recht erkannt, dass ich in der ständigen Gefahr lebe, wegen meiner Vergangenheit, wegen meines daraus resultierenden Denkens und Handelns, in das Leben eines Gesetzesbrechers abzurutschen.

Ich habe das damals beim Fahren ohne Führerschein nicht so gesehen und ich glaube auch Martina hat das nicht gesehen. Sie weiß wegen unserer Zeit in der Jugendgruppe, dass ich vernünftig bin. Deshalb war mein Fahren ohne Führerschein für Martina kein schlimmer Gesetzesbruch. Es war klar gewesen, dass ich ihren Wagen mit größter Vorsicht steuern würde. Das hatte ich immer getan. Martinas Vertrauen habe ich nicht enttäuscht, obwohl ich etwas Gesetzwidriges getan hatte. Es hätte für uns beide unangenehme Konsequenzen gehabt, wenn dabei etwas passiert wäre. Es war niemals etwas passiert. Es hatte uns niemals jemand dabei beobachtet. Niemand hat beobachtet, dass ich es gewesen war, der den kleinen grünen Peugeot fahrerseitig verlassen hatte. Das Fahrzeug habe ich oft samstags in der Dunkelheit der Nacht, nachdem ich Martina in der Disco bei Jörg getroffen hatte, auf dem Parkplatz vor dem Haus ihrer Eltern abgestellt.

Ich glaube, Martinas Eltern bieten ihre elterliche Unterstützung an, indem sie den Kindern notwendige Freiräume gewähren, ohne dass diese von den Kindern erkämpft werden müssen. Während sie das tun bleiben sie mit ihren Kindern in gutem Kontakt. So schaffen es Martinas Eltern viel Streit und Belastung von vorn herein zu vermeiden. So erreichen sie es, dass sie ihre Kinder nicht rauswerfen müssen. Martinas Eltern entwickeln nicht das Gefühl, dass die Kinder ihnen über den Kopf wachsen und der Kontakt zu den Kindern von Ohnmacht, Ratlosigkeit und vielleicht sogar Hass gezeichnet ist. So scheinen sie es geschafft zu haben, dass Martina, die bereits neunzehn Jahre alt ist, gerne bis zum Ende ihrer Schulzeit bei ihren Eltern wohnen möchte.

Es wäre gelogen, wenn ich jetzt, während ich im Wagen von Martina sitze, versuchen würde zu denken, dass Martina mich nur wegen der Jugendgruppe, in der wir beide Mitglieder waren, oder gar nur wegen ihres Autos, mit dem sie mir zusätzlich Fahrstunden gegeben hatte, interessiert. Es ist eindeutig, dass ich mich in sie verliebt habe. Während ich Martina vor wenigen Minuten auf der Terrasse ihrer Eltern gegenüber saß, und wir gemeinsam Tee tranken, hatte ich kurz daran gedacht. Ich saß zurückgelehnt im Stuhl und unterhielt mich mit ihr über den voraussichtlichen Ablauf des heute vor mir liegenden Nachmittags. Ich lehnte ihr Angebot ab, mir bei meinem Umzug zu helfen. Ich erklärte, dass ihre Hilfe nicht notwendig sei, weil es sich nur um eine spärliche Menge an Umzugsgut handle.

Vor Minuten, auf der sonnigen Terrasse, hätte ich die Frage aufklären können, ob auch Martina sich in mich verliebt hat. Vielleicht hätte ich gerade klären können, was zwischen uns beiden los ist. Am heutigen herrlichen Sommertag hätte ich es schaffen können, Martina zu sagen, dass es gut und schön wäre, wenn ich meinen heutigen Weg begleitet von ihr machen könnte. Dazu war ich nicht in der Lage. Stattdessen täuschte ich Sachlichkeit vor. Angeblich ist es nicht notwendig, dass Martina mir heute beim Umzug hilft. Angeblich habe ich heute zu wenig abzutransportieren. Das alles ist völliger Unsinn! Ich habe jede Menge abzutransportieren. Mein Leben bei den Eltern und mein Leben in diesem Ort habe ich heute abzutransportieren. Das ist jede Menge! Da könnte die Hilfe eines vertrauten Menschen nicht schaden. Im Gegenteil: Sie wäre gut. Martinas Hilfe würde mir einiges erleichtern. Vielleicht würde solche Hilfe einiges an Gewicht aus meinem Kopf nehmen, welches ich dem heutigen Tag beimesse. Sicherlich würde mir Martinas Begleitung am heutigen Umzugstag einiges leichter machen. Ihr Angebot habe ich abgelehnt. Martinas Wagen steuere ich gemächlich auf der Höhenstraße durch die breiten Kurven. Martinas Angebot mich am heutigen Tag zu begleiten abzulehnen hat einen Grund. Dass ich mich in sie verliebt habe ist völlig klar. Absolut nicht klar ist, dass auch Martina Gefühle für mich hat. Sie wollte mir beim Umziehen behilflich sein und mehr nicht. Es gibt eine freundschaftliche Beziehung zwischen uns. Martina ist diejenige von der ich heute ein Geburtstagsgeschenk bekommen habe. Ich sollte mich davor hüten, von mehr als einer freundschaftlichen Beziehung auszugehen. Auch Karin war an dem Geschenk beteiligt. Sie kenne ich ebenfalls durch die Jugendgruppe. Beide haben sich einfallen lassen, dass mir ein bunter Tupfer an den kahlen Wänden in meinem neuen Zimmer nicht schaden wird. Das tut er bestimmt nicht.

Es wäre schön gewesen, wenn zwischen den Eltern und mir in den vergangenen Jahren ein Stück mehr Vertrauen entstanden wäre. Ich glaube, zu Vertrauen zwischen den Eltern und mir war es nicht gekommen, weil für die Eltern die Verantwortung, die sie für mich übernommen hatten, so schwer wog, dass daraus anstatt Vertrauen Misstrauen erwachsen war. Misstrauen zwischen uns war entstanden, weil die Eltern sehr schnell von mir enttäuscht gewesen waren. Misstrauen entstand auch, weil ich anders gewesen war, als sie es sich erwartet hatten. Als ich zu den Eltern gekommen war, befand ich mich auf dem Wege einer schlechten Entwicklung. Ich glaube für die Eltern war ich ein armseliges und irgendwie gefährdetes Kind aus dem Heim. Die Mutter benutzt gerne das Wort „gefestigt“. Bei mir war damals nichts „gefestigt“. Eher war ich ein Risiko. Ich war ein schwer verunsicherter Jugendlicher und für die Eltern war mit meiner Aufnahme in ihr Haus eben solche Unsicherheit verbunden. Es wäre möglich gewesen, dass ich den Weg eines intoleranten Draufgängers zu mache. Es wäre möglich gewesen, dass ich mich im Haushalt der reichen Eltern zu einem arroganten und wohlstandsverwahrlosten Jugendlichen entwickle. Ich kenne solche jungen Menschen. Sie nehmen alles Materielle mit, das die Eltern ihnen bieten. Sie gewöhnen sich an diese Überversorgung. Das geht soweit, dass es den jungen Menschen regelrecht schadet, alles zu haben. Die Wertschätzung gegenüber den Eltern geht langsam verloren und die Wertschätzung gegenüber den materiellen Dingen. So entstehen Bindungslosigkeit, manchmal sogar Hass. Ich wurde nicht zu einem wohlstandsverwahrlosten Menschen. Ich zeigte oft meine Dankbarkeit gegenüber den Eltern. Aber ich glaube, meine Art wie ich dankte und dabei immer selbständiger wurde, war für die Eltern nicht geeignet. Meine Ablösungsschritte führten bei den Eltern zu Ängsten. Die Eltern befürchteten, dass ich abrutschen könnte und einen schlechten Weg nehmen könnte.

Das Misstrauen der Eltern war deutlich spürbar. Ich hatte es gespürt, wenn die Mutter mit mir nachmittags meine Hausaufgaben durchgesehen hatte. Ich spürte Misstrauen, wenn ich mit der Mutter mein Haushaltsgeld abgerechnet hatte, dass für den regelmäßigen Einkauf von Kleinigkeiten für Haushalt und Schule vorgesehen war. Vielleicht war das Misstrauen der Mutter berechtigt gewesen. Ab und an verspürte ich tatsächlich die Versuchung, die Kosten für von mir für den Haushalt eingekaufte Waren zu einem höheren Preis in mein Haushaltshefchen einzutragen, als es der Wahrheit entsprochen hätte. Dieser Versuchung war ich nie erlegen. Vielleicht gab es dafür nur einen Grund: Alle gekauften Waren musste ich unter Vorlage des Kassenzettels in mein Haushaltsheftchen eintragen. Regelmäßig rechnete die Mutter das Heftchen mit mir ab. Vielleicht hatte die Mutter meine Versuchung gespürt. Vielleicht bin ich wirklich ein hochgradig gefährdeter Mensch gewesen. Vielleicht hätte ich das Haushaltsgeld veruntreut. Vielleicht waren Misstrauen und regelmäßige Kontrolle meines Haushaltsheftes unabdingbar notwendig. Um mich vor dem Abrutschen in Kriminalität zu bewahren, um mich zu Ehrlichkeit und Genauigkeit im Umgang mit dem Geld zu erziehen, benötigte ich genaueste Kontrolle. Die Mutter musste erkannt haben, dass Geld in meinen Händen, für die Einkäufe im Haushalt, ein Risiko bedeutete. Aber sie hatte ebenso die wichtige Aufgabe erkannt, mich von der Gefahr zu lügen und zu betrügen abzubringen. Deshalb hatte sie mir einen Etat an Haushaltsgeld anvertraut. Allerdings nicht ohne meinen Umgang damit genau zu kontrollieren. Die Mutter musste es als ihre Aufgabe erkannt haben, mich zu verantwortlichem Umgang mit Haushaltsgeld zu erziehen. Die Mutter hatte mir ein, gemessen an meiner Vergangenheit im Kinderheim, riesig großes Stück anvertraut: Eigenes Haushaltsgeld. Die Mutter hatte mir einen Teil des Haushaltsgeldes regelmäßig anvertraut und das war gut so. Nur wegen dieser Art Vertrauen und der mütterlichen Art Kontrolle konnte ich lernen, dieses Geld nicht zu veruntreuen. So muss ich das sehen! Die Mutter hatte so gesehen Vertrauen in mich, dass sie regelmäßig durch Kontrolle überprüfte und stärkte, deshalb hatte sie mir einen Teil des Haushaltsgeldes anvertraut. So ist es gewesen! Die Mutter hatte das Geld mit mir alle zwei Wochen abgerechnet. Das war nicht allein deshalb notwendig, weil sie mir misstraut hatte. Sondern weil es vollkommen normal war, dass wir zusammen noch einmal meine Rechnungen überprüfen, um gemeinsam festzustellen, dass alles richtig war. Diese gemeinsame Feststellung war Voraussetzung dafür, dass mir die Mutter eine neue Summe anvertraut hatte. Mit dem Geld kaufte ich samstags oder nachmittags nach den Hausaufgaben, Lebensmittel für den Haushalt ein.

Vielleicht ist das Misstrauen zwischen den Eltern und mir entstanden weil ich denke, wie ich denke. Ist Misstrauen zwischen uns entstanden, weil ich damals genauso gedacht hatte, wie ich es noch heute tue? Vielleicht liegt darin ein entscheidender Schlüssel. Meine Art zu denken könnte mir viele Türen zu den Eltern verschlossen haben. Meine Art zu denken, ein Fehler. Woher kommt meine Art zu denken? Warum oft so viele Gedanken, wo vielleicht weniger besser wären? Vielleicht hätte ich nach dem Kinderheim erst einmal aufhören sollen zu denken. Vielleicht wäre es bei den Eltern besser gelaufen, wenn ich pausiert hätte. Meine Art zu denken, zu erklären, welche im Kinderheim gewachsen war, könnte für das Leben bei den Eltern genau falsch gewesen sein. Vieles bei den Eltern habe ich wahrscheinlich falsch in meinem Kopf erklärt. Ich habe zwar meinen Blickwinkel aus dem ich das Leben sah mit dem Umzug zu den Eltern geändert, aber nicht mein Denken. Mein Denken, das vielleicht im Kinderheim für mich überlebenswichtig gewesen war, könnte bei den Eltern tödlich gewesen sein.

Ich will versuchen anders zu denken. Vielleicht wäre es damals gut gewesen so zu denken: Die Mutter hat gutes Recht das Haushaltsgeld noch einmal mit mir durchzurechnen, obwohl ich bereits zweimal nachgerechnet habe. Eigentlich bin ich ja nur deshalb so genau und rechne zweimal nach, weil ich weiß, dass die Mutter noch einmal nachrechnet. Das schadet nicht, denn so lerne ich zu rechnen! Es ist nicht nur das Recht der Mutter sich zu vergewissern, dass ich das anvertraute Haushaltsgeld richtig berechnen kann, sondern es ist das Recht der ganzen Familie. Meine Einkäufe mit dem Haushaltsgeld dienen der ganzen Familie. Warum denke ich immer an Misstrauen, wo die Mutter nur tut, was recht und notwendig ist: Es ist notwendig und vollkommen rechtens, dass die Mutter mich, ihren neuen Sohn genau kontrolliert. Es wäre schlimm, wenn die neuen Eltern nicht kontrollieren würden, was ich tue. Vielleicht wäre es sogar gefährlich, würden sie mich nicht kontrollieren. Durch Kontrolle lerne ich mich richtig zu verhalten. Die Eltern erkennen durch Kontrolle, dass ich mich gut entwickele. Wenn sie das erkennen, können sie ihre Kontrolle lockern. So entsteht Vertrauen.

So hätte ich damals denken müssen! Aber durch ihre Kontrolle hatten die Eltern nicht festgestellt, dass ich mich gut entwickelte. Ihre Kontrolle konnten die Eltern nicht vermindern. Weiterhin musste ich kontrolliert werden.

Die Eltern hatten größte Befürchtungen, dass ich zu viel fernsehe. Ich glaube, sie haben bis zum heutigen Tag Angst, dass mein Charakter sehr schlecht werden könnte, wegen des Fernsehens. Die Eltern hatten immer befürchtet, dass ich mir im Fernsehen gerade diejenigen Sendungen am liebsten ansehen würde, die am dümmsten waren. Tatsächlich habe ich oft eine gewisse Neigung gespürt, mich auf dem Stuhl vor dem Fernseher einfach absacken zu lassen. Das Nichtstun vor der Glotzkiste, die ihre Bilder herauswirft, wirkt auf mich vor allem abends einschläfernd. Eine gewisse Flucht vor dem alltäglichen Leben kann ich nicht leugnen. Einfach einschalten, davor sitzen und langsam wegsacken. Und das ohne vorher das Fernsehprogramm zu studieren um eine sinnvolle Sendung auszusuchen. Das hatte ich manchmal gedacht und dann getan, wenn die Eltern abends zu Besuch bei Freunden oder Kunden oder im Konzert oder im Theater gewesen waren. Dass ich dann, wenn sie abends weggegangen waren fernsehe, hatten sie natürlich gewusst. An manchem Abend, wenn die Stimmung zwischen uns Bestrafung notwendig machte, hatten die Eltern den Schlüssel von dem Schrank in dem das Fernsehgerät steht abgezogen. Diese Strafe hatte mich immer getroffen. Die Suche nach dem Schlüssel habe ich immer schnell aufgegeben. An solchen Abenden legte ich mich frühzeitig ist Bett und hörte Radio. Vielleicht hatten die Eltern meine Neigung erkannt. Sicherlich hatten sie mich auch hier gefährdet gesehen: Berieselung durch Fernsehen, Gefahr durch Nichtstun und Abschalten. Nichtstun, Dösen, Faulenzen, Abschalten und vielleicht sogar nicht einmal mehr Denken. Das Fernsehen, eine riesige Gefahrenquelle der Volksverdummung. Gefahr besteht darin, dabei zuzusehen, wie andere etwas tun, während man selbst in Untätigkeit verharrt. Dabei lernt man nichts. Ich glaube darin hatte die Mutter für mich größte Gefahr gewittert.

Im sogenannten Kinderheim war das Fernsehprogramm die Attraktion des Tages gewesen. An beinahe jedem Abend war es die übliche Freizeitveranstaltung gewesen. Alle Kinder saßen abends mit dem Heimleiter vor der bunten Glotze. Auch ich saß jeden Abend still vor der Kiste. Ich bin sicher, dass ich dabei genauso aufmerksam gewesen war, wie alle anderen Kinder. Gebannt hatte ich meinen Blick auf die flimmernde Röhre gerichtet. Dabei hatte es mich niemals wirklich interessiert, was für ein Film oder was für eine Hitparaden- oder Volksmusiksendung um halb acht Uhr abends über den Bildschirm flimmerte. Ich saß still und gebannt, weil alle anderen um mich herum genauso saßen. Das Fernsehen bot Gelegenheit in Ruhe zu sitzen. Es war ungefährlich. Streit und Schlagen waren nicht vorhanden, weil jeder gebannt in die Röhre glotzte. Diese Sicherheit und Ruhe bewirkte Entspannung. Ich konnte sicher sein, dass keiner auf ein Kind einschlug, wenn abends das ganze Kinderheim vor der Glotze saß. So entspannte ich mich und sackte dabei ein wenig zusammen. Ich genoss die bunten Bildchen der Menschen, die über die Mattscheibe tänzelten. Das Programm war mir nie wichtig, deshalb ließ ich es an mir vorbei ziehen. Wichtig war, dass die Situation ungefährlich war. Was im Kinderheim alle Kinder täglich getan hatten, was dort Alltag gewesen war, abends vor der Glotze einfach abzuschalten, hatte meinen Kontakt zu den neuen Eltern belastet. Ich wollte bei ihnen weiterhin, so wie ich es über Jahre gelernt hatte, vor der Mattscheibe sitzen und Nichtstun.

Fünf Jahre lang habe ich es nicht geschafft, mein Verhalten so zu verändern, dass die Eltern Vertrauen anstatt Misstrauen in mich schöpfen konnten. Ich war nicht in der Lage gewesen ihnen besseres Verhalten zu zeigen. Ich habe es nicht geschafft, den Eltern meinen Wunsch nahe zu bringen, dass ich ihr Vertrauen eben nicht immer wieder enttäuschen möchte. Ich habe nicht erkannt, dass Familienleben sich auf der Grundlage von gegenseitigem Vertrauen entwickeln könnte. So eine Grundlage habe ich bei den Eltern nie erreicht. Vielleicht hatte ich dort von Beginn an verspielt.

Die Handhabung von Martinas grünem, altem Peugeot unterscheidet sich von dem Fahrschulauto, das ich gewohnt bin. Um Abzubremsen ist festerer Tritt notwendig. Die Gangschaltung ist technisch völlig anders aufgebaut. Es handelt sich um eine Lenkradschaltung. Die Höhenstraße ist großzügig breit. Sie sieht aus, wie von einem scharfen Messer in den Berghang geschnitten. Weil die Straße groß und breit ist, neigen viele Autofahrer dazu, sie als Rennstrecke zu benutzen. Ich fahre langsam, denn ich bin Fahranfänger und sitze in einem geliehenen Wagen. Ich fahre offenbar viel zu langsam. Ständig werde ich überholt. Trotzdem gebe ich nicht mehr Gas, trotzdem werde ich nicht schneller, denn ich habe Zeit. Ich versuche mich vom Tempo der anderen Autos nicht beeindrucken zu lassen. Ich versuche das auch durchzuhalten, wenn ich sie dicht hinter mir im Rückspiegel sehe. Fest aber unsicher habe ich das Lenkrad im Griff. Mir wird abwechselnd heiß und kalt. Kurze Blicke, die ich in den Rückspiegel wage, sorgen für Anspannung. Da sehe ich aufblitzende Scheinwerfer. Sie nötigen mich schneller zu fahren als ich es möchte, als ich es kann. Ich halte mich soweit als möglich rechts. Die Leuchtsignale im Rückspiegel machen mich nicht schneller. Heute, zum ersten Mal, sitze ich legal am Steuer. Zum ersten Mal wage ich es, diesen Wagen bei Tageslicht zu fahren. Zum ersten Mal sehen mich andere Menschen dabei, wie ich diesen Wagen fahre. Ihre Blicke, die ich kurz sehe, wenn sie mich in einer längeren Lücke ohne Gegenverkehr überholen, sind abweisend. Sie sind böse. Wut steht in ihren Gesichtern, wenn sie dröhnend an mir vorbeiziehen. Hass glaube ich da zu erkennen. Autofahren ist kein Spaß, lese ich in den Augen eines bitter böse zu mir rüber blickenden Mannes. Alle scheinen es sehr eilig zu haben. Ich bin es, der die Bergbevölkerung und die Touristen wegen langsamen Fahrens verärgert. Ich halte die Menschen auf der Touristenstraße auf. Ich bin im grünen kleinen Wagen von Martina ein Verkehrshindernis. Ich störe die alltägliche Hektik dieser breiten touristisch genutzten Straße. Durch dicke Brillengläser erkenne ich hasserfüllte Augen. „Host dein Führerschein im Lotto gewonnen?“ So plärrt ein Cabriofahrer beim Überholen zu mir rüber. Die breite Straße bietet Höhepunkte atemberaubender Aussicht. Vielleicht sollte ich mich entspannen und die vielen Gipfel rund um die Bergstraße genießen.

Morgens und mittags hatte auf dieser wunderschön gelegenen Straße auch der Schulbusfahrer immer kräftig Gas gegeben. Den Busfahrer hatte genauso, wie die aufblinkenden Autofahrer in meinem Rückspiegel, die breite Straße zu schnellem Fahren verleitet. Die breite Straße ist ein übertrieben dicker Messerschnitt durch die grüne Natur an diesem Berg. Die Straße heißt Höhenringstraße, weil sie den riesigen Berg beinahe umrundet und dabei fast permanent eine gigantische Aussicht ins Tal und auf die umliegenden Berge bietet. Ich denke die Straße muss umbenannt werden. Die Landkarte, welche eine dicke grüne Markierung neben dieser Straße aufweist, um auf den landschaftlichen Reiz der Umgebung und die herrliche Aussicht hinzuweisen, muss geändert werden. Die Landkarte muss den Touristen, der sie benutzt dringend auf die Realität, auf den wahren Alltag an dieser Straße hinweisen. „Gefahrenstrecke!“ Genau das sollte in der Landkarte stehen. „Höhenring-Gefahrenstrecke!“ Das wäre doch ein guter Hinweis und Name. Da sollte nicht mehr stehen „landschaftlich reizvolle Strecke“. Das ist blanker Unsinn. Wer die herrliche Landschaft während der Autofahrt auf dieser Straße genießen will, hat Pech gehabt. Das muss auf der Rückseite der Touristenkarte, neben den Hinweisen auf diese Straße als touristisch interessante Strecke, unbedingt vermerkt werden. Wer auf der Höhenring-Gefahrenstrecke langsam unterwegs ist, so wie ich es heute bin, der sollte starke Nerven mitbringen. Jederzeit besteht die Gefahr in seinem Wagen von einem hinterrücks nahenden Geschoss in den Straßengraben geräumt zu werden. Jederzeit besteht die Gefahr, von einem metallic lackierten Geschoss durchbohrt und den steilen Abhang, hinter der niedrigen Mauer am Straßenrand, hinunter ins Tal katapultiert zu werden. Von solchen Geschossen gewahrt ein langsamer Fahrer, dessen Absicht es ursprünglich war, die Reize von Landschaft und Aussicht durch die Wagenfenster zu genießen, bestenfalls noch eine Abgaswolke. Die Todesgeschosse lenken routiniert beschleunigende Berganwohner, wütende und von Stress gemarterte Touristen. Während der langsame Autofahrer im Straßengraben hart aufschlägt oder den Berghang runter poltert, steuern die Unfallverursacher ihre Geschosse auf das nächste langsam am Straßenrand fahrende Auto zu. Die Gefahr sollte nach meiner Meinung in der Erklärung jedes Touristenführers zu dieser Straße vermerkt sein. Nachts, im Wagen am Steuer neben Martina, war auf dieser Straße nie etwas los gewesen.

Auf der Straße sind tagsüber zu viele Touristen unterwegs. Die Autos der Touristen füllen alle Parkbuchten an den Aussichtsparkplätzen. Oft genug parken sie auch unvermutet. Ihre asiatischen Kleinwagen parken sie direkt hinter einer Kurve. Weil die Straße breit ist, parken sie ihre Fahrzeuge in großzügigem Abstand zum Straßenrand. Wenn ich so etwas erkenne, versichere ich mich schnell im Rückspiegel, dass kein Geschoss naht. Sind solche Geschosse auch auf der Gegenspur nicht zu sehen, setze ich ordnungsgemäß den Blinker. Dann steuere ich über den Mittelstreifen an den Schlangen von bunten Touristenautos vorbei. Genau dann taucht im Rückspiegel plötzlich ein Geschoss auf. Dicht hinter mir scheint es an meiner Stoßstange fest zu kleben. Ebenso wie ich, hat auch der Fahrer in dem Geschoss den linken Blinker gesetzt. Wenn die Autoschlange rechts neben mir endet und ich ordnungsgemäß begleitet von Blinken den rechten Fahrbahnrand ansteuere, donnern mehrere Geschosse nacheinander laut röhrend links an mir vorbei. Angestrengte Blicke von Autofahrern strafen mich für meine Gemächlichkeit, welche ich hier an den Tag lege.

In jeder Kurve parken Fahrzeuge von Menschen, die mit Ferngläsern, Fotoapparaten, Filmkameras und Wanderstöcken ausgerüstet, meist genau in dem Augenblick ihr Fahrzeug verlassen, in dem ich mich mit dem grünen Peugeot nähere. Touristen verlassen ihre Autos stets fluchtartig. Eilig schlagen sie Autotüren zu. Sie sehen abgehetzt aus. Sie rennen mit Stöcken bewaffnet los, ohne sich genauer umzublicken. Die Straße überqueren sie immer blind. Es ist eine Art Zick-Zack-Lauf. Durch die Windschutzscheibe beobachte ich sie dabei, wie sie versuchen zu den Aussichtspunkten zu gelangen, die immer auf der anderen Straßenseite liegen. Touristen an dieser Straße scheinen Menschen zu sein, die einer unsichtbaren Regel folgend, offensichtlich befürchten, dass der schöne Ausblick einfach verschwinden könnte. Touristen, so scheint es, haben grundsätzlich nicht genügend Zeit. Touristen fehlt daher die Möglichkeit auf der Straße den rasenden Verkehr mit der notwendigen Vorsicht und Aufmerksamkeit zu beachten. Ich fahre bremsbereit und langsam. Abgehetzte, verbissene Menschen sind das, den Fotoapparat um den Hals, stehen sie Stock schwingend am Straßenrand. Manche sehe ich gefährlich nahe vor der Motorhaube des kleinen grünen Wagens. Wie am Start eines Marathonlaufes drängen sie sich. Im Rückspiegel sehe ich, wie sie losrennen. Sie überqueren die Straße springend, rennend, die Fotoapparate wippen im Laufschritt gegen ihre Bäuche. So sichern sie sich die besten Plätze an den Aussichtspunkten. Irgendwie unmerklich schleicht es sich ein, je länger man hier fährt: Ich gewöhne mich an die Verhältnisse auf dieser Straße. Das Treiben der Touristen an den Aussichtspunkten wird zu einem Geschehen, dass hier her gehört. Vor jeder Kurve denke ich daran, dass nach der Kurve viele Autos von Touristen stehen und Menschen gerade in Startposition stehen, über die Straße zu rennen. Hinter jeder Kurve finde ich was ich dort vermute. Touristen die ihre Autos verlassen.

Während der Schulbusfahrten war mir das rege Treiben an der Straße täglich aufgefallen. Das hektische Verhalten der Touristen auf diesem Berg hatte ich Jahre lang durch die großen Schulbusfenster gesehen. Sie sitzen in ihren Wagen. Ohne Blinkzeichen zu geben stoppen sie am Straßenrand. Ohne sich umzusehen wird die Fahrertür aufgerissen. Männer mit schweren Objektiven um den Hals vergessen im Gebirge, dass sie sich auf einer befahrenen Straße befinden. Erst auf dem Mittelstreifen scheint ihnen das wieder einzufallen. Aber falsch! Nicht um den Verkehr endlich zu beachten bleiben sie dort stehen. Fotografieren scheint von dort besonders aussichtsreich zu sein. Auf der Rückfahrt von der Schule fuhr der Busfahrer langsamer als frühmorgens. Häufig hatte der Fahrer die Hupe eingesetzt. Schon vor den Kurven vertrieb er so die Touristen in den Kurven von der Straße. Manchmal hatten sie ihren Fotoapparat trotzdem noch sekundenlang in beiden Händen vor ihren Augen gehalten. Erst wenn das ersehnte Urlaubspanorama im Kasten gebannt ist, macht man sich hier von der Straße um sich vor herannahenden Fahrzeugen in Sicherheit zu bringen.

Ich war täglich weit hinten im Schulbus gestanden. Durch die großen Seitenfenster des Busses sah ich Sekunden später die Touristen, die ich durch die Windschutzscheibe auf der Straße schon gesehen hatte noch einmal. Auf diesen schnell vorbei fliegenden Bildern sahen die Menschen verängstigt aus. Verwirrt standen sie im grünen Gras am Straßenrand. Durch die großen Busfensterscheiben hatte ich täglich viele solche verschreckte Blicke gesehen. Schutz suchend hechtete sich mancher Tourist am Straßenrand ins Gras. Arme und Hände mit den Kameras waren oft nach oben gerissen worden.

Wegen der vielen Touristen auf diesem Berg hatte die Rückfahrt im Schulbus mittags stets länger gedauert als morgens. Manchen Autolenker hatte der Busfahrer durch besonders dichtes Auffahren zum Abbiegen auf eine Nebenstrecke gezwungen. Obwohl ich jede Kurve der Strecke bestens kenne, waren die Busfahrten immer spannend geblieben. Manchmal waren sie riskant, meist waren sie zumindest aufregend gewesen. Sehr oft war mir mittags im Schulbus schlecht geworden. Niemals hatte ich mich im Bus übergeben. So habe ich mir angewöhnt, in dem Moment, in dem ich spüre, dass es mir schlecht wird, an etwas anderes als die Busfahrt zu denken. Meist habe ich damals an etwas gedacht das ich für die Schule zu lernen hatte. Die Ablenkung hatte immer geholfen. Beim Aussteigen am Bahnhof war mir zwar immer noch schlecht, aber Kotzen musste ich dort noch nicht. Vom Bahnhof lief ich schnell die gewohnte Strecke über die Brücke hinauf zum Wald. Erst im Wald ließ ich meinem Magen freien lauf. Oft hatte ich mich an einen Baum gelehnt um mich zu übergeben. Danach ging es mir schnell wieder gut. Zuhause angekommen war ich immer in der Toilette verschwunden. Nach dem Pinkeln spülte ich in dem kleinen Waschbecken Mund und Gesicht. Mit den Jahren war das Gekotze nach den Schulbusfahrten immer weniger geworden. Mehr und mehr gewöhnte ich mich an den Fahrstil im Gebirge. Mein täglicher Nachhauseweg vom Bahnhof über die Holzbrücke, den Schotterweg hinauf, über die Pflasterstraße auf den Pfad durch den Wald, wurde zu einer Übungsstrecke. In der frischen Luft, festen Boden unter den Füßen, gelang es mir im Laufe der Jahre immer besser die Busfahrten ohne mich danach zu übergeben zu verarbeiten. In den letzten zwei Jahren habe ich nach den Fahrten überhaupt nicht mehr gekotzt. Das gelang mir, obwohl ich glaube, dass ich nach dem Aussteigen am Bahnhof im Gesicht immer kreidebleich gewesen war. Im Wald, kurz vor dem Elternhaus, hatte ich gelernt die Bergluft zu genießen. Auf dem Weg normalisierte sich meine Durchblutung, Stabilisierte sich mein Kreislauf, beruhigte sich mein Magen. Weil ich immer alleine unterwegs war, konnte ich so langsam oder schnell laufen, wie ich das wollte. So lernte ich den Willen des Magens, der entleert werden will, zu kontrollieren. Im Wald hatte ich mir angewöhnt täglich an einer bestimmten Stelle stehen zu bleiben. Nicht um zu kotzen, sondern um kräftig durchzuatmen. Auch hatte ich mir angewöhnt die letzten Meter aus dem Wald über die Treppenstufen durch den elterlichen Garten hinauf bis zur Haustür, tief durchatmend in munteren Schritten zu laufen.

Nach der Schule erreichte ich das Haus der Eltern täglich gegen zwei Uhr mittags. Beide Eltern hatten bereits zu Mittag gegessen. Vater, oft auch Mutter waren um diese Zeit schon wieder im Geschäft. Dort verkauften sie teure Waren an Touristen und Einheimische. Die Mutter hatte das Mittagessen für mich jeden Mittag im Ofen warm gehalten. Weil ich die Schule am Berg besuchte, und deshalb einen langen Schulweg hatte, war ich mittags wie morgens allein am Tisch gesessen. Die Mutter kocht hervorragend. Niemals war es vorgekommen, dass ich etwas von ihr gekochtes nicht gegessen habe. Am Mittagstisch hatte ich nie, so wie ich es morgens gewohnt war, das Radio auf dem Fensterbrett eingeschaltet. Mit der Mutter gab es darüber keine Absprache. Weil aber mittags nie sicher gewesen war, wann die Mutter aus dem Geschäft wieder nach Hause kommen würde, und weil nie sicher gewesen war, ob sie tatsächlich im Geschäft war, war es jederzeit möglich gewesen, dass sie überraschend im Esszimmer erschien. Weil nie sicher gewesen war, dass der Ablauf am Mittagstisch der gleiche bleibt, war ich mittags immer ein bisschen unruhiger als am Frühstückstisch gesessen.

Oft war die Mutter gekommen. Nie hatte sie die Zeit, sich zu mir an den Tisch zu setzen. Darüber war ich nicht traurig gewesen. Damit hatte ich kein Problem. Im Gegenteil. Nach der unangenehmen Schulbusfahrt und dem Schulvormittag hatte ich die Ruhe am Mittagstisch immer genossen. Oft war die Mutter nur für kurze Zeit ins Esszimmer gekommen. Dann sagte sie mir, dass sie nachmittags Termine habe und wann sie von diesen zurückkommen würde. Mutters Termine haben stets bestimmt, wann ich mich zur Kontrolle der Hausaufgaben und zur Lernzeit bei der Mutter im Wohnzimmer einzufinden hatte. Meist war das zwischen drei und fünf Uhr Nachmittags gewesen. Ich war froh, als es endlich soweit gekommen war, dass die Nachmittage mit der Mutter nicht mehr notwendig waren. Erst nach Jahren bei der Mutter hatte ich endlich meine schulischen Angelegenheiten selbst in die Hand genommen.

Weil ich meine schulischen Angelegenheiten selbst in die Hand genommen habe, waren die Kontakte zur Mutter immer weniger geworden. Vielleicht war das der Anfang vom Ende bei den Eltern gewesen. Oft habe ich nachmittags gegen vier Uhr das Haus verlassen, um entweder zu einem Schulfreund zu gehen, im Ort für Zuhause einzukaufen, oder im Wald herum zu laufen. Oft war ich von meinen Auflügen erst abends um halb sieben Uhr wieder zu Hause erschienen. Das war die Zeit, die in der Familie für den Abendbrottisch galt.

Das Verhältnis zwischen der Mutter und mir war, seitdem ich die Hausaufgabenzeit mit der Mutter zerstört hatte immer schlechter geworden. Ich glaube, so hatte sich bei der Mutter langsam das Gefühl und der Eindruck entwickelt, dass ich versuchte unser Familienleben auszunutzen. Ich spürte, dass sich die Mutter mehr und mehr von mir verletzt fühlte. Damals muss ich ein grauenvoller Egoist gewesen sein. Das merkte ich daran, dass die Mutter mir immer vorwurfsvoller begegnete. Unsere Gespräche hatten immer öfter den Geschmack eines Streites. Der Grund dafür wurde mir immer klarer: Zu Hause nahm ich mir zuviel und gab zuwenig. Meine Aufgaben in Haushalt und Garten, meine Einkäufe für die Familie, meine Weihnachts- oder Geburtstagsgeschenke, alles was ich zu Hause getan hatte war im Laufe der Jahre bei den Eltern zu wenig geworden. Zwischen der Mutter und mir war so der Vorwurf der Undankbarkeit zu einem hohen Berg angewachsen, so war es zu einer riesigen Kluft zwischen uns gekommen. Ich glaube, das führte dazu, dass mir nur noch die Chance der Flucht blieb. Mein heutiger Geburtstag ist der Tag meiner Flucht.

Obwohl ich weiterhin meine Aufgaben für die Familie erledigt hatte, spürte ich wie die große Enttäuschung, die ich der Familie gebracht hatte mehr und mehr anwuchs. Weiterhin hatte ich der Mutter in der Küche geholfen, weiterhin war ich abends mit meinem Fahrrad zum Milchholen zum Bauern gefahren und weiterhin hatte ich regelmäßig den Rasen vor dem Haus gemäht. Mehr und mehr hatte ich trotzdem das Gefühl, dass dies nicht mehr ausreicht. Alles was ich tat war irgendwann in diesen Jahren für die Eltern zu Verletzung und Enttäuschung geworden. Selbst meine gute Entwicklung in der Schule war für die Eltern eines Tages zur Verletzung geworden. Nicht weil ich begonnen hatte selbst zu denken, sondern weil ich nicht so gedacht hatte, wie es die Eltern gewünscht und erwartet hatten. Mein Denken, mein Handeln, mein Leben, meine Einstellung und meine Freunde, alles war für die Eltern enttäuschend, weil all das nichts mit ihrem Leben zu tun hatte. Ich hatte einen Weg eingeschlagen, der mich deutlich von den Eltern weg führte. Provokativ daran war, dass ich dabei nicht leise und unsichtbar war. Ich lebte weiter in der Familie, die Eltern sahen und hörten mich täglich, dabei besaß ich die Frechheit mich von ihnen zu entfernen. Es wurde immer deutlicher, dass ich anders war als die Eltern mich haben wollten, trotzdem blieb ich bis heute in der Familie. Für die Eltern war das eine verletzende Grenzüberschreitung. Auch meine Jugendgruppe war für die Eltern eine verletzende Provokation. Dort traf ich junge Menschen, die ich verstand und die mich verstanden. Für meinen Kontakt in die Jugendgruppe, für das, wie wir jungen Leute im Ort lebten, hatten die Eltern kaum Verständnis. Was hatten wir uns um die Probleme der sogenannten dritten Welt zu kümmern? Was hatten wir uns darüber zu beschweren, dass die Energie in Atomkraftwerken produziert wurde? Was hatten wir überhaupt für ein Recht, in einer Jugendgruppe über Leben und Politik zu diskutieren? Wer in seinem Leben noch nie etwas geleistet hat, hat auch kein Recht zu diskutieren. Das war die Meinung der Eltern. Ich glaube, es war zum Teil auch die Meinung der Politik über die Jugend. Für die Eltern war es schlimm, dass ich so war, wie die meisten Jugendlichen: Ich war einfach nicht wie die Eltern es wünschten. Ich war anders. Ich war enttäuschend anders. Das war schlimm für Mutter und Vater. Meine Interessen waren andere gewesen. Die Eltern haben mich so nicht gewollt.

Ich glaube es wäre gut gewesen auf die Eltern zuzugehen. Gut wäre gewesen, einen anderen Weg zu gehen. Mein Weg war falsch. Mehr Selbständigkeit! Aber auf anderem Wege! Das wäre gut gewesen. Welcher Weg hätte das sein können? Ein vernünftigerer Weg wäre notwendig gewesen. Der Weg den ich genommen hatte war für die Eltern zu unvernünftig.

Irgendwann war der Kontakt zwischen den Eltern und mir sehr schlecht geworden. Hin und wieder hatte ich mich sogar vom Abendbrot abgemeldet, weil ich den Abend in der Jugendgruppe verbringen wollte. Für die Mutter war das eine Unverschämtheit. Das Zuhause bei den Eltern hatte ich nie wie ein Hotel erlebt. Meine Mithilfe im Haushalt hatte ich niemals verweigert. Stets war ich bereit gewesen, die Mutter bei der Hausarbeit zu unterstützen. Ich glaube, die Eltern waren mehr und mehr wütend auf mich geworden, weil sie gesehen hatten, dass sie, wie eine Art Katalysator auf meine Entwicklung gewirkt hatten. Mein Entwicklung verlief ganz klar in eine Richtung, sie war die Ablösung von den Eltern. Die Eltern hatten diese Entwicklung dadurch beschleunigt, dass sie mir ihre Ablehnung immer deutlicher zeigten. Die Mutter schimpfte darüber, dass ich mich zu Hause verhalten würde wie in einem Hotel. Der Vater sprach schließlich gar nicht mehr mit mir. So wollten die Eltern erreichen, dass ich mich in ihrem Sinne bessere. Das Gegenteil geschah: Ich besserte mich nicht, ich entfernte mich von ihnen.

Wie ein Bumerang war auf die Eltern zurückgekommen, was sie in mir geweckt hatten. Wie in einer Kettenreaktion hatte ich die Impulse, die ursprünglich von der Mutter ausgegangen waren in Fähigkeiten für mich verwandelt. In der Schule und in der Freizeit hatte ich mich binnen kürzester Zeit genau an die jeweils herrschenden Anforderungen angepasst. Nach einem Jahr Förderung durch die Mutter, war ich nicht mehr der auffällige, vorlaute, dumme Schreihals gewesen. Ich war zu einem Kind auf dem Weg zum Jugendlichen geworden, der unauffällige, gute Leistungen in der Schule erbrachte und im Ort Kontakte zu Gleichaltrigen aufbaute und pflegte. Es war eine Entwicklung genauso wie sie viele andere Menschen in meinem Alter machten. Die Mutter hatte das in mir ausgelöst und auf den Weg gebracht. Mit der Zeit hatte sich das weiterentwickelt und schließlich hatte ich mich verselbständigt.

Ich glaube, “das Hotel” und viele andere Vorwürfe der Mutter kann ich darauf zurückführen, dass meine Entwicklung so schnell und intensiv in Gang gekommen war. Die Mutter selbst muss davon überrascht gewesen sein. Obwohl das, was damals mit mir geschehen war im Nachhinein vielleicht einfach zu verstehen ist, glaube ich, dass die Mutter keine Chance gehabt hatte das zu begreifen. Weil die Mutter, genauso wie ich, mitten drin gestanden war in dem Geschehen, konnte sie nicht aus sich heraustreten und von Außen darauf blicken um auch die guten Seiten an dem Geschehen zu erkennen.

Bei den Eltern habe ich festgestellt, dass ich Fähigkeiten in mir trage, die in den langen Jahren bevor ich zu den Eltern gekommen war, immer unbeachtet in mir vor sich hin schlummerten. Unbeachtete oder bis dahin unbemerkte Fähigkeiten durfte ich erst bei den Eltern entwickeln. Zunächst war ich dabei sehr vorsichtig gewesen, denn ich hatte mich nicht recht getraut. Ich wäre gerne auf der alten Schule im Ort geblieben, trotz Hass und Widrigkeiten, die ich dort jahrelang erlebt hatte. Aus Bequemlichkeit hätte ich das alles weiter ertragen. Was dort stattfand gehörte zu meiner Ordnung, die ich ungern aufgab. Als mit Beginn meines Lebens bei den Eltern jedoch alles umgeworfen worden war, Elternhaus und Schule für mich unter völlig neuen, bislang unbekannten Grundregeln neu begonnen hatten, war für mich schnell spürbar geworden, dass ich es bin, um den es geht. Mein Leben geriet in Begriff, sich radikal zu verändern. Weil ich viele neue Fähigkeiten mit Hilfe der neuen Eltern entwickelt hatte, war es endlich möglich geworden, dass ich beginnen konnte Einfluss auf meinen alltäglichen Ablauf zu nehmen.

Im nahen Wald auf unserem Berg war ich oft gesessen. Ein Stück ab vom Weg hatte ich mir einen riesigen Felsen gesucht, auf dem ich nachmittags oft saß und nachdachte. Vor dem Felsen geht es steil über eine unbewachsene, scharfe, graue Felswand hinab. Von dort hatte ich wunderbare Sicht auf viele Häuser des Ortes. Ich sah auch die Häuser von einigen Klassenkameraden meiner früheren Schule unten im Ort. In deren Augen, so hatte ich an vielen Nachmittagen auf dem Felsen gedacht, musste ich damals ein dummer Kerl gewesen sein. Sie mussten von mir den Eindruck gewonnen haben, dass ich schwach und verletzlich bin. Deshalb, so dachte ich auf meinem hohen Felsen oft, während mein Blick über die grauen Blechdächer im Ort wanderte, war ich für diese Menschen vom Klassenkameraden zu einem Opfer geworden. Mich zu ärgern und zu bedrohen war für die Klassenkameraden jahrelang ein Leichtes gewesen. Das hatte sich schließlich zu einer Art Spiel entwickelt. Opfer dieser Klassenkameraden musste wohl genau so ein Mensch sein, wie ich es damals gewesen war. Ich war anders und ich war wehrlos. Das war schon gut aber noch nicht alles. Ich konnte mein Anderssein nicht verbergen. Dass ich aus dem Kinderheim kam wussten alle. Trotzdem versuche ich das zu verbergen. Mein hilfloser Versuch dieses zu verbergen war ein Fehler. Denn das spornte den Hass und die Abneigung der Klassenkameraden wohl noch mehr an mich verächtlich zu behandeln.

An vielen Nachmittagen auf dem Felsen im Wald war mir klar geworden, dass ich erst wegen der neuen Eltern gelernt hatte, mich selbst zu spüren. Zu spüren wer ich bin hatte mich gestärkt. Schließlich hatte ich beschlossen mich zu wehren. Weil ich begonnen hatte meine Fähigkeiten zu entwickeln war ich in der Zeit bei den Eltern nur noch einmal zum Opfer der alten Klassenkameraden geworden. Anstatt weiter das Opfer zu sein, war ich zu einem geworden, der in der Schulklasse und der Jugendgruppe mehr und mehr nach seiner Meinung gefragt wurde. Ich versuchte nichts mehr zu verbergen. Dass ich aus dem Kinderheim kam nicht und dass meine neuen Eltern nicht meine wirklichen Eltern waren. Ich hatte verstanden, dass ich eh nichts verbergen kann und dass mir das Verbergen eher schadet. Wer es wissen wollte, dem sagte ich, wie es ist. So wuchs ich in eine andere Rolle hinein. Die neuen Mitschüler begannen mich nach Hilfe zu fragen. Sie trauten mir brauchbare Antworten zu, ich wurde ernst genommen. Gespräche mit mir waren für die Freunde und Mitschüler interessant geworden. Auch die Lehrer in der neuen Schule hatten mich viel mehr gefragt und einbezogen als es auf der alten Schule gewesen war. Vielleicht hatten sie das getan, weil sie gewusst hatten, dass richtige Antworten oder passende Ideen die ihren Erwartungen nahe kommen, von mir kommen könnten. An den Nachmittagen auf dem Felsen hatte ich mir vorgenommen genau so weiter zu machen. Ich hatte nicht darüber nachgedacht, dass sich damit das Verhältnis zwischen den Eltern und mir weiter verschlechtern würde.

Im grünen Wagen auf der Höhenringstraße bin ich in einen Stau geraten. Massen von Touristenbussen warten kurz vor der Abzweigung ins Tal. Sommerlich warme Bergluft mischt sich mit den Abgasen laufender Dieselmotoren. Damals im Wald war ich nicht auf den Gedanken gekommen, dass meine Distanz zu den Eltern sich entwickelt hatte, weil die Eltern vielleicht gar nicht bemerkt haben, was Klassenkameraden, Freunde und Lehrer aus der Schule an mir entdeckt hatten. Viele von denen hatten im zurückliegenden Jahr, es war das schlechteste zwischen den Eltern und mir, immer wieder bestätigt, dass man mit mir gut reden könne. Weil ich für viele Jugendliche im Ort zu einem guten Kontakt geworden war und weil meine Schulnoten gut geworden waren, hatte ich immer geglaubt, dass dies der richtige Weg für mich sein könnte. An Auswirkungen auf die Beziehung zwischen mir und den Eltern hatte ich dabei nie gedacht. Die Eltern haben nie gezeigt, dass man gut mit mir reden könnte. Bis heute haben die Eltern das einfach übersehen. Sie sehen die Dinge grundsätzlich ganz anderes als ich.

Jetzt erreiche ich im Stau hinter den Touristenbussen endlich die Abzweigung hinunter in Richtung Ort. Massen von Touristen sind dorthin unterwegs. Zahllose Reisebusse quälen sich langsam die Straße hinunter. Es scheint als seien sämtliche Busunternehmen der nächstgelegenen größeren Orte heute auf diesem Berg unterwegs. Weil ich nicht stundenlang im Schneckentempo hinter der qualmenden Buskolonne den Berg hinunter bremsen möchte, fahre ich an der Abzweigung ins Tal vorbei.

10. Auf der Schnellstraße

Ich habe eine andere Abfahrt von der Höhenringstraße genommen. Die endet nach einer stark abfallenden Geraden an einer Kreuzung. Hier mündet sie auf eine breit ausgebaute Schnellstraße. Sie verbindet den Gebirgsort mit einer Stadt im naheliegenden Nachbarland. In diese Stadt waren die Eltern häufig unterwegs gewesen, weil es dort große Theaterbühnen gibt und weil es dort an interessanten klassischen Konzerten nicht mangelt.

Ich stehe an der Kreuzung und habe den Blinker vorschriftsmäßig nach links, Richtung Gebirgsort gesetzt. Ich überzeuge mich davon, dass weder rechts noch links ein Fahrzeug naht. Langsam lasse ich die Kupplung kommen, dabei gebe ich Gas und steuere nach links. Aber der Wagen will nicht so, wie ich mir das vorstelle. Der Wagen hoppelt mitten auf die Straße. Deshalb trete ich sofort wieder auf die Kupplung. Trotzdem stirbt der Motor sofort ab. Ich habe Glück, denn der Wagen rollt noch. Die breite Straße verleitet viele Autofahrer im Bereich dieser Abzweigung zu überhöhtem Tempo. Der Wagen rollt langsam über die Mittellinie. Ich drehe am Zündschlüssel, höre den Anlasser, bleibe auf der Kupplung, gebe Gas, aber der Motor springt nicht an. Ich sitze, lenke, schwitze und hoffe, dass ich es bis zum Straßenrand schaffe. Der Wagen rollt langsam, aber er rollt. Ich setze den Blinker nach rechts, schalte ihn wieder aus und schalte, wie ich es gelernt habe, die Warnblinkanlage ein. Jetzt nehme ich den Gang raus und lasse langsam vom Kupplungspedal ab. Sogleich löse ich den Sicherheitsgurt, öffne die Fahrertüre und springe schnell auf die Fahrbahn. Die Rechte am Lenkrad, die Linke am Türholm unterstütze ich das Rollen des Wagens durch meine Kräfte. So schaffe ich es den Wagen auf den Seitenstreifen der breiten Straße zu bewegen. Jetzt donnert das erste schnelle Fahrzeug auf der Fahrbahn an mir vorbei. Ich setze mich wieder in den grünen Peugeot und betätige die Zündung. Ich versuche das drei vier Mal, doch der Wagen will nicht anspringen. Erst als ich höre, dass der Anlasser bei jedem Zündversuch schwächer und schwächer durchdreht und schließlich nur noch ein jämmerliches Heulen von sich gibt, höre ich mit den Zündversuchen auf. Ich steige aus, öffne den Kofferraum. Dort finde ich tatsächlich, worauf ich hoffe. Ein hellgrüner Benzinkanister. Leider leer. Den Wagen sperre ich ab. Den leeren Kanister schwenkend laufe ich auf die gegenüberliegende Straßenseite. Hinter der Einmündung der Bergstraße, die ich vor Minuten herunter gerollt war, stelle ich mich an den Straßenrand. Ich halte meinen Daumen heraus, sobald sich ein Fahrzeug nähert. Die nächste Tankstelle kenne ich. Sie liegt in etwa drei Kilometern Entfernung in Richtung der Landesgrenze. Weil sich die Mittagszeit nähert ist der Verkehr auf der sonst stark befahrenen Straße nur gering. Vereinzelt donnern schnelle Fahrzeuge an mir vorüber. Ich laufe nicht los, denn ich kenne die Straße. Die Kreuzung ist gut geeignet, einen Tramper zusteigen zu lassen. Ich stehe auf einem breiten Seitenstreifen. Wegen der Kreuzung ist höchstens eine Geschwindigkeit von siebzig Kilometern erlaubt.

Zwanzig Minuten stehe ich am Straßenrand, bis sich ein grauer, langer Wagen nähert. Es ist ein viertüriger Kombi. Der Fahrer hat den Blinker nach rechts gesetzt und wird langsamer. Noch bin ich nicht sicher, ob er das wegen mir und meinem grünen Benzinkanister und meinem Daumen, den ich der Fahrbahn entgegenstrecke tut, oder ob er auf die Bergstraße abbiegen möchte, vor deren Auffahrt ich mich am Straßenrand postiert habe. Tatsächlich reduziert der Fahrer sein Tempo wegen mir. Der Wagen bleibt stehen. Ich öffne die Beifahrertür. Ein langer Kerl sitzt am Steuer. “Wo wuist‘n hi?” Anstatt eine Antwort zu geben halte ich den grünen Kanister hoch. Der lange Kerl löst seine riesige rechte Hand vom Lenkrad und deutet mir, schnell einzusteigen. “Hast koan Saft mehr oder wos?” Ich setze mich in den schwarzen Kunstledersitz und nicke bestätigend. Der Kerl gibt kräftig Gas, so dass die Wagentür zuknallt. Das sagt mir, dass der Mensch in Eile ist. Vielleicht will er die Sekunden an Zeitverlust, welche durch mich entstanden sind, schnell wieder rein zu holen. Ich greife zum Sicherheitsgurt, ziehe ihn vor mich und suche links nach dem roten Einraster. Erst jetzt erkenne ich, wen ich da neben mir habe.

Ich sitze im Wagen neben Michael, der kräftig Gas gibt. Michael war in meiner alten Schule einer der Klassenkameraden. Vor Jahren war er daran beteiligt gewesen, als mich er und andere Klassenkameraden mit dem heißen Feuerhaken bedrohten. Für Michael scheint völlig klar zu sein, wen er da zur nächsten Tankstelle mitnimmt. Obwohl wir uns Jahre nicht gesehen haben, erkennt er mich sofort wieder. Jetzt begrüßt er mich lächelnd und nennt dabei meinen Namen. „Servus Bert!“ plärrt er mir ins linke Ohr. „Wia schauggts bei dir aus?“ schreit Michael. Aus dem Radio dröhnt ein Abba-Song. „Supertruper“ heißt der glaube ich, zumindest verstehe ich das. Das passt ja richtig super, denke ich. Ist wirklich „supertruper“, dass ich jetzt ausgerechnet auf den alten, halbstarken Klassenkameraden Michael treffe! Ausgerechnet heute! Auch ich schreie wegen „Supertruper“ so laut wie mir möglich: „Passt scho, laft scho, geht scho!“

Den Vorfall mit dem Feuerhaken, die Abneigung zwischen uns während der damals verbleibenden Zeit, die ich auf der Schule im Ort noch zugebracht hatte, scheint Michael wohl vergessen zu haben. Denn er lacht mich von der Seite an. Ich finde er lacht nicht frech oder gar gehässig. Diesem Menschen und den anderen beteiligten war ich nach der Sache mit dem Feuerhaken stets aus dem Weg gegangen. In der Schulklasse konnte ich damals erreichen, dass mich der Lehrer in die andere Ecke des Klassenzimmers neben den ruhigen und zurückhaltenden Oliver aus Helgoland umsetzte. Oliver war damals so wie ich ein Außenseiter gewesen. Oliver war der einzige Mensch in der Schulklasse gewesen, von dem ich einmal nach Hause eingeladen worden war. Oliver hatte mich eingeladen, obwohl ich zu diesem Zeitpunkt sogar noch im Kinderheim gelebt hatte. Damals hatte ich mit Oliver einen wunderschönen Nachmittag in einem Haufen von Spielzeug verbracht. Mehr als dieser eine Nachmittag hatte zwischen uns aber nicht stattgefunden. Bis zu dem Erlebnis mit dem Feuerhaken war ich stets bemüht gewesen, meine Fremdheit und die Ablehnung der Mitschüler die mir entgegen schlug, dadurch zu überwinden, dass ich verzweifelt trotzdem Kontakt zu denjenigen suchte, die mir seit Jahren gezeigt hatten, dass sie mich ablehnten. Das wollte ich nicht aufgeben. Ich wollte erreichen, dass auch ich dazugehörte. Oliver hatte ich deshalb genauso wie es die Mitschüler getan hatten jahrelang links liegen gelassen. Selbst nach dem Erlebnis mit dem Feuerhaken war zwischen Oliver und mir kein Kontakt oder gar Freundschaft entstanden. Wir waren lediglich Leidensgenossen geworden, die sich eine Schulbank miteinander teilten. Nach meinem Wechsel auf die neue Schule hatte auch Oliver die Schule verlassen. Er war mit seinen Eltern zurück nach Norddeutschland umgezogen.

Michael spricht mit mir, als sei ich ein alter Schulfreund. Ohne dass ich ihn danach gefragt habe, erzählt er von denjenigen Dingen die momentan seine Hauptbeschäftigung zu sein scheinen. In den wenigen Minuten bis zur Tankstelle komme außer noch zwei, drei mal „passt scho“, geht scho“, „laft scho“ nicht zu Wort. Darüber bin ich froh, denn ich spüre in den wenigen Minuten neben Michael, trotz seines freundlichen Lächelns, dass Widerwillen in mir aufkeimt, mit Michael ins Gespräch zu kommen. Während Michael brachial die Gänge reinhaut um andere Autos zu überholen und hastig an einer qualmenden Zigarette zieht, schreit er an mich gerichteten Sätze vor sich hin. “Laft wiada supa de Hochsaison! Woast scho, draußt glei neba am Riedl-Wirt hinter da Tanke, wost du glei ausse wuist, woast scho, wost aussteigts“, ich nicke verstehend, „da wos hinauf geht, woast scho, aufe geht’s da zur Höin! Da drom, jeden Tag bin i dorten! Fünfe oder sechse von de Führungen, woast scho, soichane für Touristen mach i dorten! Woast scho durch de Eishöl! Da jag i`s durch de Deppen de depperten!“ Ich sage „passt scho“ und „sauber sag i!“ und lasse Michael weiter schreien. „Madel! Woast scho de Touristinnen! Geil sans wieder drauf heuer! Auf’t Nacht geht’s wieder auf! Hint in der Disco beim Seimi!”

Michaels Geschrei gegen die Windschutzscheibe ist nicht zu bremsen. „Supertruper“ ist vorbei, ein Radiosprecher kündigt jetzt „Mexico“ den Hit der „Less Humphrie Singers“ an. Aus dem Lautsprecher dröhnt ein erstes „Meeegsicooo“. Ich stehe vor Michaels Wagen und versuche mich durch das offene Beifahrerfenster zu bedanken und zu verabschieden. Das kommt bei Michael aber nicht an. Selbst als ich mich in Richtung der Tankstelle abwende ruft Michael mir durch das Fenster hinterher: „Auf jeden Fall schaugst heit auf`t Nacht im Seimei vorbei! Do konst wos erlem!“ Ich hebe aus einiger Entfernung von Michaels Auto grüßend den leeren Kanister zu Michaels offenem Beifahrerfenster und rufe: „passt scho!“ und „merce dir! fürs mitnehmen, servus!“

Die Disco liegt im Keller eines kleinen Jugendhotels. Es ist die Disco in der ich mich oft mit Martina und anderen aus der Jugendgruppe getroffen hatte. Dass die Touristinnen in dieser Disco, so wie es Michael mir gerade ins Ohr gebrüllt hatte, angeblich darauf warten, von Typen wie ihm abgeschleppt zu werden, davon hatte ich von Jörg noch nie gehört.

Mit meinem Kanister gehe ich an die Zapfsäule. Genau fünf Liter fülle ich ein. An der Kasse kaufe ich noch einen Kaugummi, von dem ich mir, wieder draußen auf der Straße, einen in den Mund stecke. Mit dem gefüllten Kanister laufe ich einige hundert Meter am Straßenrand entlang Richtung Gebirgsort. Kurz vor der Ausbuchtung für den Linienbus bleibe ich am Straßenrand stehen und halte wieder den Daumen raus.

Michael hatte sich offenbar zu einem Menschen entwickelt, dem ich gerne aus dem Weg gehe. Hinten in seinem Wagen würde er die Touristinnen “flach legen”, so plärrte er, und dass die Saison besonders gut sei in diesem Jahr. Seine Lehre als Automechaniker habe er abgebrochen, zugunsten dieses Touristenführerjobs. Im Winter habe er immer Arbeit als Skilehrer. Ich bin froh, dass die Tankstelle so nah liegt und ich deshalb seinem Gequatsche nicht länger zuhören musste. Ob ich jemals wieder in der Disco erscheinen werde bezweifle ich jetzt sehr.

Ein Nahverkehrsbus rollt heran. Der Fahrer wirft einen kritischen Blick auf mich. Der gefüllte Benzinkanister weckt vermutlich sein Misstrauen. Weil ich keine Anstalten mache in den Bus zu steigen, kein Fahrgast aussteigen möchte und neben mir kein weiterer Fahrgast an der Haltestelle steht, gibt der Busfahrer sein Blinkmanöver auf und rauscht ohne anzuhalten an der Haltestelle vorbei.

Michaels überraschendes Erscheinen als Mitfahrgelegenheit zur Tankstelle bringt meine Gedanken zurück in das Schuljahr, als ich noch die Schule im Ort besucht hatte. Trotz der deutlichen Verbesserung meiner Schulleistungen war ich damals nicht von selbst auf die Idee gekommen, die Eltern zu bitten mich auf der anderen, auf der „höheren“ Schule auf dem Berg anzumelden. Ich hatte zwar gewusst, dass man sich auf der Schule anmelden kann, wenn man sich durch gute Leistungen für so eine „höhere“ Schule qualifiziert, doch dass auch ich dafür geeignet sein könnte, darüber hatte ich mir damals keine Gedanken gemacht. Die Mutter war es, die letztlich ohne meinen Wunsch abzuwarten dafür gesorgt hatte, dass ich an der Aufnahmeprüfung teilnehmen konnte. Aus eigenen Kräften wäre ich damals nicht in der Lage gewesen so eine große Veränderung, wie diesen Schulwechsel in die Wege zu leiten.

Einerseits wusste ich, dass meine Schulnoten gut genug geworden waren, um die „höhere“ Schule zu besuchen. Andererseits hatte ich Angst davor, die gewohnte Schule zu verlassen. Obwohl ich wegen Mitschülern wie diesem Michael jahrelang viele Probleme in der Schulklasse gehabt hatte, war der Schulbesuch dort, zu einem Stück Kontinuität für mich geworden. In der Schule hatte ich genauso wie im Kinderheim gelernt, welche Überlebensstrategie mir hilft dort zu Rechtzukommen. Ich versuchte unauffällig zu sein. Das könnte dort zu meinem Verhängnis geworden sein. Mein Schulbesuch war verbunden mit der ständigen Flucht vor unberechenbaren, aggressiven Mitschülern, die sich Menschen suchten, die anders waren. Ich war anders, weil ich lange Zeit im Kinderheim gelebt hatte. Deshalb gehörte ich zu denjenigen die geschlagen werden durften, auf die man sich im Streitfall schneller stürzen durfte, weil sie andere Menschen waren und das bedeutete irgendwie wohl auch, dass sie schlechtere Menschen waren. Menschen wie ich waren, weil sie anders waren, schutzloser. Gewissermaßen war ich für Kinder wie Michael wie Freiwild zum Abschuss freigegeben. Mein Alltag in der Schulklasse ähnelte dem im Kinderheim. Allerdings waren es in der Schule nicht die Erwachsenen, so wie es im Kinderheim der Heimleiter gewesen war, die auf mich einprügelten, mich einschüchterten und Angst verbreiteten. Kinder wie ich hatten keine Eltern, die wegen dreckiger, zerrissener Schulkleidung oder einem Bluterguss nach einer Schlägerei im Schulhof oder Wald bei Eltern von Mitschülern anriefen. Wegen mir hatte nie ein Erwachsener den Versuch unternommen, herauszufinden, warum ich von der Schule mit verdreckten Klamotten oder einem blauen Fleck nach Hause gekommen war. Im Kinderheim hatte das nicht interessiert. Erst die Mutter war es gewesen, die Gründe erforschen wollte, wenn ich nach dem Schulbesuch einen verstörten Eindruck auf sie gemacht hatte.

Für mich waren die Schultage, genauso wie der tägliche Ablauf im Kinderheim, zu einer alltäglichen Gewohnheit geworden. Ich war daran gewöhnt, Anfeindung, Ablehnung und Gewaltandrohung von Mitschülern aus dem Weg zu gehen. Ich wusste welche Mitschüler unberechenbare, jähzornige Menschen waren und wer in der Klasse ein ausgeglichener und ruhiger Mensch war. Ich hatte meine Einschätzung von jedem Mitschüler. Ich wusste welche kleinen Grüppchen sich schnell zusammenrotteten, wenn die Situation geeignet war, um einen Mitschüler wie mich zu malträtieren. Ich wusste, wer welche Situation nutzen würde, um mich in der Schulklasse gegenüber den Lehrern zu Denunzieren. Ich hatte über Jahre in der Schule und im Kinderheim gut gelernt solche Abläufe und Gefahren schnell zu erkennen und ihnen aus dem Weg zu gehen. Ich wusste genau, was ich anzustellen hatte, um einem Angriff zu entkommen. Das gab mir oft Sicherheit. Oft gelang mir die Flucht.

Vermeintliche Sicherheit war manchmal auf Kosten anderer Mitschüler entstanden. Oft war es nur dann möglich gewesen Angriffe abzuwehren, wenn andere den Angriffen ausgeliefert wurden. Dies in Kauf zu nehmen war viele Jahre Teil meiner Überlebensstrategie gewesen. Es war eine Art ungeschriebenes Gesetz, dass einer immer das Opfer sein musste. Wenn Michael im Sportunterricht sauer gewesen war und wieder begonnen hatte, seine Hasstiraden gegen „unsportliche, lahmarschige Saupreißen“ loszulassen, wusste ich sofort, dass es so weit war. Schnell hatte Michael ein Grüppchen von drei, vier anderen um sich. Leise und gezielt näherten die sich. Zu viert standen sie vor mir und versperrten den Weg in die Umkleidekabine. Im Flüsterton hieß es: „Elendiglicher Saupreiß, jetzt ziang ma dir dei Preißen-Hosen aus und grilln di unter der hoaßen Dusch wia a Händl!“ In solchen Momenten musste ich schnell sein, sonst war es aus. Ich zeigte mit ausgestreckter Hand durch die offene Tür auf den Sportplatz. Ich plärrte: „Was macht denn der Oli wieder für an Mist!“ Der rannte auf der Aschenbahn. Beim Training für den Hundertmeterlauf war Oliver von unserem alten Sportlehrer gezwungen worden in seiner gerippten kurzen Unterhose zu laufen, weil er mal wider seinen Turnbeutel vergessen hatte. An den vier Angreifern in der Tür zur Umkleidekabine rannte ich schnell vorbei, weil die ihre Blicke kurz zur Aschenbahn gewandt hatten. Draußen krümmte ich mich und lachte gemein, wegen Oliver in seiner Unterhose auf der Aschenbahn. Das reichte um die Aufmerksamkeit von Michael und seinen Freunden auf Oliver zu lenken. Der Fremde aus Norddeutschland war oft auch gut genug. Nach dem Lauf ließ Michael seine Wut an ihm aus. Das verschonte mich. Oliver wurde von Michael im Eingang zur Umkleidekabine ein Bein gestellt. Die drei anderen Burschen rissen ihm die Unterhose weg. Sie zerrten ihn unter die Dusche. Oliver bekam die Unterhose erst im Klassenzimmer wieder zurück. Michael stopfte sie in seinen leeren Joghurtbecher, den er in der Pause gegessen hatte. Den stellte er vor Oliver auf die Schulbank.

Oft war Entkommen nur möglich gewesen, wenn andere Kinder wie Oliver oder Heimkinder aus anderen Klassen da waren, auf die ich die Aggression der Mitschüler umlenken konnte. Michael und seine Freunde hatten sich zu ihrem Vergnügen Fremdlinge wie mich gesucht um sich jahrelang auf deren Kosten zu amüsieren. Vor Leuten wie Michael war ich nicht nur auf der Flucht, sondern ich hatte stets andere Menschen gebraucht die Prügel einsteckten, die eigentlich für mich gedacht waren.

Oliver hatte erst spät gespürt, dass er manchmal einstecken musste, was für mich gedacht war. Vielleicht hat er mich deshalb nur einmal zu sich nach Hause eingeladen. Zwischen Oliver und mir war wahrscheinlich deshalb nie eine echte Freundschaft entstanden. Meine Angst vor Leuten wie Michael in der Schule war zu groß gewesen. Die Prügel der Mitschüler konnte ich nur abwenden, wenn ich jemand anderen bieten konnte, den sie schlagen konnten. So war ich meinen Leidensgenossen oft in den Rücken gefallen. Andere Heimkinder, die in der Pause im Schulhof herumstanden, wurden ihres Pausenbrotes oder ihres Taschengeldes erleichtert, weil Michael und seine Freunde erst durch mich auf diese Kinder aufmerksam gemacht worden waren. Auf dem Weg durchs Treppenhaus hinunter in den Schulhof pirschte sich ein Freund von Michael von Hinten an mich heran. Er packte meine Hand und bog meinen Arm über meinen Rücken. Schmerz gekrümmt ging ich in die Knie und flüsterte: „Ich weiß jemanden, der was hat, ich weiß jemanden für heute!“ Von Michaels Freund so am Arm gepackt, wurde ich über den Pausenhof in einen Ecke geschoben. Von dort sah ich mich nach Heimkindern um von denen ich glaubte, dass es möglich sein könnte, dass sie noch Reste von ihrem Taschengeld vom Wochenende bei sich hatten. Während mir der Arm weiter über den Rücken gedrückt wurde, erfuhr Michael durch Blickkontakt über den Schulhof von meinem Peiniger, welches Heimkind Geld dabei haben könnte. Zu diesem Kind schickte Michael einen anderen seiner Freunde. Von weitem sah ich wie das Heimkind in die gegenüber liegende Ecke des Schulhofes gedrängt wurde. Dort wurde es malträtiert. Durch ein Zeichen erfuhr Michael, ob von dem betreffenden Kind Geld zu holen war. Wenn das zutraf wurde ich losgelassen. Traf es nicht zu, wurde mir der Arm ruckartig auf dem Rücken Richtung Hinterkopf gedrückt. Wilder Schmerz zog über Rücken und Nacken hinauf in den Kopf. Ich spürte, wie mir das Blut in den Kopf schoss. Mir wurde heiß und kalt. Wenn ich schwindlig zusammensackte, zog der Knabe kräftiger. Ich versuchte möglichst gerade zu stehen. Schnell musste ich ein anderes Heimkind nennen, das Geld dabei haben könnte. Wenn die Pausenglocke ertönte und ich bis dahin kein Kind finden konnte, dem Michael sein Geld gab, wurde ich von meinem Peiniger in den Schwitzkasten genommen. Der würgte mich, bis ich versprach am nächsten Tag das Geld für eine Cola mitzubringen, die Michael in der Pause aus dem Automaten ziehen wollte. In der ersten Pause des nächsten Schultages musste ich dann sofort an den Getränkeautomaten gehen und das Geld für eine Cola einwerfen. In der Schlange hinter mir stand Michael. Ich musste so tun, als habe der Automat mein Geld nicht angenommen. Ich musste schnell verschwinden. Danach tat Michael so, als werfe er Geld ein. Er öffnete das Flaschenfach und zog die Cola, die ich bezahlt hatte. Das Geld hatte ich manchmal nachmittags bei anderen Kindern im Kinderheim gestohlen. Nur selten hatte ich noch etwas von meinem eigenen Taschengeld übrig, womit ich die Cola bezahlen konnte.

Vielleicht wollte ich meine alte Schule nachdem ich zu den Eltern gezogen war, nicht aufgeben weil sie das einzig sichtbare blieb, das von meinem Lebensalltag im Kinderheim übrig geblieben war. Mein Wille daran festzuhalten schien meine Ängste vor Mitschülern wie Michael überstiegen zu haben. Heute bin ich sehr froh darüber, dass die Mutter mich damals für die Aufnahmeprüfung angemeldet hatte. Es wäre wirklich dumm von mir gewesen, weiterhin auf dieser Schule zu bleiben. Ich glaube dort wäre ich solchen Dummköpfen, wie diesem Michael auf lange Sicht nur schwerlich aus dem Weg gekommen.

Die heutige Möglichkeit künftig eine andere weiterführende Schule in der großen Kreisstadt zu besuchen, habe ich dem damaligen Schulwechsel und deshalb letztlich der Mutter zu verdanken. Mit dem Schulwechsel hatte sich damals endgültig alles an meinem Lebensalltag geändert. Das wichtigste an der Veränderung war für mich, dass ich nicht mehr täglich solchen Menschen wie Michael begegnen musste. Wegen der Eltern, wegen meines Schulwechsels konnte ich damit aufhören die vermeintlich Starken auf andere Außenseiter, wie ich es einer gewesen war, zu hetzen. Ich musste nicht mehr meine komplette Aufmerksamkeit auf mögliche Gefahrenquellen in den anderen Menschen richten. Nur weil ich die Jahre bei den Eltern geschenkt bekommen habe, konnte sich bei mir so vieles verändern.

Jetzt hält ein Wagen an. Diesmal ist es ein Kleinwagen mit einem Kennzeichen des nahegelegenen Nachbarlandes. Die Fahrerin ist eine zierliche Person. Sie trägt eine kleine Nickelbrille in ihrem schmalen Gesicht. Sie nimmt mich mit bis zu meinem liegengebliebenen Wagen. Sie unterhält sich während der kurzen Fahrt mit ihrem Kind das hinten sitzt. Beide wollen im Gebirgsort das Salzbergwerk besuchen. Während ich aus dem Wagen aussteige erkläre ich der Frau den Weg dorthin.

In den letzten Sommerferien hatte ich für sechs Wochen einen Ferienjob im Salzbergwerk. Ich hatte in der Bekleidungskammer gearbeitet. Den ganzen Tag lang war ich hinter einem langen Tresen gestanden. Hinter mir hingen in übersichtlichen Reihen, nach Kleidungsgrößen geordnet die schwarzen Kleidungsstücke. In viertelstündigen Abständen drängte je eine Gruppe von etwa einhundert Touristen in die große Bekleidungskammer. Sehr schnell hatte ich in diesem Ferienjob gelernt die Kleidergrößen der Menschen abzuschätzen. Nach meiner Einschätzung jeweils passende Klamotten nahm ich von den Kleiderbügeln hinter mir und legte sie den Touristen auf den Tresen. Das war von morgens neun- bis abends achtzehn Uhr meine Aufgabe.

Das verdiente Geld aus diesem Ferienjob habe ich in meinen Führerschein investiert. Die Hälfte der Kosten dafür hatte mir die Mutter schon lange vorher versprochen. Ihr Versprechen hatte sie vom Bestehen der Abschussprüfung auf der Schule auf dem Berg abhängig gemacht. Ich glaube, dass die Mutter sich über dieses frühe Versprechen bald geärgert hatte. Das Verhältnis zwischen uns hatte sich vor allem im vergangenen Jahr sehr schlecht entwickelt. Die Mutter hat ihr Versprechen trotzdem gehalten. Eines ihrer Prinzipien ist es, stets zu ihren Worten zu stehen. Der Schulabschluss ist mir gelungen. Weil die Mutter ihren versprochenen Teil für meinen Führerschein bezahlt hatte, habe ich jetzt von dem verdienten und gesparten Geld aus dem Ferienjob im Salzbergwerk noch etwas Geld übrig. Das werde ich auch brauchen. Ich glaube, das erste Geld für meinen künftigen Lebensunterhalt, für die Zimmermiete und den weiteren Schulbesuch werde ich von der Sozialkasse erst Mitte des kommenden Monats erhalten.

Das Benzin sprudelt durch den Einfüllstutzen in den Tank. Den Kanister verstaue ich im Kofferraum. Der Wagen springt sofort an. Darüber bin ich sehr froh. Tatsächlich hat nur Benzin gefehlt, aber die Batterie war schon schwach. Ich habe noch nie an einem Automotor nach einem Defekt gesucht.

11. Ein Umweg

Der Motor läuft einwandfrei. Die Tankanzeige scheint defekt zu sein. Sie zeigt voll gefüllt an. Auf der breiten Straße Richtung Ort komme ich in der Nähe eines Sees vorbei. Dort habe ich in den letzten Wochen jeden Nachmittag einen bezahlten Job gehabt. Das war mein vierter Ferienjob. Kurz nach den Pfingstferien waren die Abschlussprüfungen beendet. Seither habe ich in einem Bootshaus am See gearbeitet. Es war mein Job Touristen beim Einstieg und Ausstieg aus den Ruderbooten zu helfen. Trotz der miserablen Bezahlung habe ich diesen Job gerne gemacht. Es war der einzige Job gewesen, den ich finden konnte. Die Sommerferien hatten noch nicht begonnen. Die besser bezahlten Ferienjobs gab es aber erst ab Ferienbeginn. Die Arbeit ließ sich gut mit meinen letzten Fahrstunden verbinden. Ein anderer Fahrschüler wohnt in der Nähe des Sees. Am Ende meiner Fahrstunde hat mich der Fahrlehrer deshalb immer zur Wohnung des anderen Schülers gelotst. Von dort wurde ich zum Bootshaus gefahren. Ein toller Service für mich, auf den sich der Fahrlehrer gerne eingelassen hatte. Die Arbeit im Bootshaus war sehr schlecht bezahlt, weil nie absehbar war, wie viele Boote tagsüber an Touristen verliehen werden konnten. An manchem Sommertag scheint der Touristenstrom an den See nicht abzureißen. An Schlechtwettertagen findet kaum einer den Weg dort hin. An manchem Regentag habe ich kein einziges Ruderboot verliehen. Hin und wieder, wenn der Regen stark und anhaltend war, habe ich mich vor Arbeitsantritt telefonisch beim Chef gemeldet. Der sagte mir dann, dass sein Bootshaus geschlossen bleibt. An solchen Tagen hatte ich natürlich keinen Verdienst. Das Wetter war seit Pfingsten außergewöhnlich warm und trocken, so dass der Job für mich trotz schlechten Stundenlohns einträglich war, denn beinahe täglich konnte der Chef alle zur Verfügung stehenden Bote verleihen.

Die Mutter hat es unterstützt, geradezu gewünscht, dass ich in den Ferien, einem bezahlten Job nachgehe. Der Mutter war wichtig, dass ich aus eigenen Kräften ein Ziel erreiche. Bei den Ferienjobs war das Ziel Geld zu verdienen von dem ich das kaufen konnte, was ich für notwendig hielt. Es war Ziel die Summe zusammen zu kriegen, die für die Hälfte des Führerscheines notwendig war. Das Ziel habe ich erreicht. Der Führerschein ist zur Hälfte von der Mutter und zur anderen Hälfte von mir bezahlt worden. Während der vier Jobs, die ich in der Zeit bei den neuen Eltern angetreten habe, ist bei mir das eingetreten, was der Mutter wichtig gewesen war. Ich habe gelernt meine Kräfte zu benutzen um Geld zu verdienen. Ich habe jetzt davon Kenntnis, wie anstrengend es ist täglich zu arbeiten.

Die Mutter hat großen Einfluss auf mich ausgeübt. Ihre Lebenseinstellung zu Leistung in Schule und Arbeit ist mir im Laufe der Jahre immer klarer geworden. Ich glaube, die Mutter selbst ist dazu erzogen worden, dass Leistung und Arbeit die der Mensch in seinem Leben vollbringt, zum Schluss entscheidende Dinge sind, anhand derer das Leben dieses Menschen in Erinnerung bleibt. Leistung und Arbeit sind die wesentlichsten Tugenden. Um sie herum Gruppieren sich alle anderen Tugenden, die Voraussetzung sind um im Leben etwas zu leisten und zu Arbeiten. Die anderen Tugenden sind: Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit aber auch Unterwürfigkeit und vor allem die Dankbarkeit. Ich denke, für die Mutter ist letzteres in aller erster Linie der Schlüssel zu einem einigermaßen erfüllten Leben. Wenn ein Mensch wie ich in diesem Leben diejenigen Karten gezogen hatte, wie ich sie eben habe, wenn jemand schon so wie ich ins Pech hineingeboren zu sein scheint, dann sollte er wenigstens lernen Dankbarkeit dafür zu zeigen, wenn dieses Pech eine Wende zum Besseren nimmt. Das Bessere fällt nicht vom Himmel. Dafür gibt es Menschen, wie die Eltern. Sie haben mir zweifellos dabei geholfen meinem Leben eine Wendung zum Besseren, zum Guten zu geben.

Die Mutter, daran denke ich jetzt, ist sehr gut erzogen worden. Ich glaube sie hat eine sehr klare Erziehung von ihren Eltern erlebt. Ihre, in allen Punkten des familiären Lebens wohl beinahe militärisch korrekten Eltern, haben alle Tugenden welche die Mutter heute ohne jeden Zweifel vertritt, und an mich und andere weitergibt, ebenso an ihre Tochter vermittelt. Mutters Vater und ihre Mutter habe ich in den Sommerferien auf deren Hof in Norddeutschland besucht. Im Winter haben sie uns oft hier in den Bergen besucht. Ich glaube, sie haben die Mutter zu Anstand, Moral, Dankbarkeit, militärischer Korrektheit, absoluter Genauigkeit, Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit und Fleiß erzogen. Ich glaube, die Ausstrahlung der Mutter ist so sehr von diesen und vielen anderen Tugenden behaftet, weil sie das alles von ihrem Vater, einem hochdekorierten General und ihrer sie liebenden Mutter gelernt hat.

Die Eltern der Mutter haben mich bei den Besuchen immer sehr anständig und äußerst korrekt behandelt. In den Ferien durfte ich mir auf dem Hof ein zusätzliches Taschengeld verdienen indem ich die Scheunentore mit neuem Anstrich versah. Das hat mir sehr viel Spaß gemacht. Meine Fähigkeiten hatten die Großeltern eher im Handwerklichen gesehen. Mich nannten sie „Malermeister Klecksel“. Abends beim Abendbrottisch erhielt der „Malermeister Klecksel“ vom Großvater ein großzügiges Lob für seinen ergiebigen Fleiß. Das spornte mich an, am nächsten Tag gleich das nächste Scheunentor zu streichen. Ich war ein armes, dummes Kerlchen, das durch den guten Willen der gut erzogenen Mutter, eine Chance auf eigene Leistung und Arbeit erhielt. Die Großeltern behandelten mich deshalb wie ein Familienmitglied, wenn auch nicht wie ein vollwertiges. An die, wie mir scheint in militärischer Tradition stehende, adelige Familie war ich nur durch den klaren Willen der Mutter geraten. Sie wollte einem Kind das ins Unglück hineingeboren wurde Hilfe gewähren. Die Bindung, die in den fünf Jahren bei den Eltern entstand, war aber nicht zu dem herangewachsen, was die Mutter und vielleicht auch ihre Eltern sich erhofft hatten. Die Bindung wird deshalb heute wieder aufgeknotet und gelöst.

Der Job im Bootshaus war der leichteste Job, den ich bis heute hatte. Es war zugleich mein letzter Ferienjob, den ich noch bei den Eltern wohnend angetreten habe. Vielleicht habe ich den Job deshalb als den letzten angetreten, weil ich darüber gegenüber den Eltern keine Rechenschaft mehr schuldig war. Der Job hat mich wahrlich wenig Anstrengung gekostet. Während der Arbeitszeit war es möglich im Bootshaus auf einem Stuhl zu sitzen und Zeitung zu lesen. Der Chef, der täglich am Eingang des Bootshauses an der Kasse saß, hatte nichts dagegen, dass ich die Zeit in der keine Touristen mit Booten zu bedienen waren, mit dem Zeitungslesen totschlug. Der Chef selbst saß an seiner Kasse vor einer Zeitung.

Der Mutter gegenüber musste ich diesen Job nicht mehr erklären, denn mein Auszug am heutigen Tag stand fest. In den letzten Wochen gab es keine Gespräche mehr mit mir in der Familie. Zu Hause war Ruhe eingekehrt. Wir schwiegen uns gegenseitig an. So warteten wir auf den heutigen Tag. So musste ich der Mutter weder erzählen, was ich den Tag über gearbeitet hatte, noch hatte sie Interesse daran von mir zu erfahren, mit welchen Ergebnissen ich die Abschlussprüfungen in der Schule geschaffte hatte. Natürlich weiß die Mutter das alles. Sie weiß genau, dass ich bestanden habe, wahrscheinlich weiß sie sogar, wie ich bestanden habe. Und sie weiß auch, dass der Ferienjob am See für mich ein lockeres Vergnügen war. Mit Arbeit, wie sie die Mutter versteht, hatte mein Ferienjob am See nichts zu tun. In diesem Ort weiß die Mutter immer genau was ich tue und was ich lasse.

Dass wir in den letzten Wochen in der Familie nicht mehr geredet haben, war für mich nicht unangenehm gewesen. Ich konnte täglich in Ruhe am See arbeiten, ohne begründen zu müssen, warum ich jeden Tag so einer leichten Aufgabe nachgehe oder gar mit der Mutter darüber reden zu müssen, warum ich diesen Faulenzerjob überhaupt angetreten hatte. Ich glaube, diese Fragen hatte die Mutter längst für sich selbst beantwortet. In den Gesprächen die in den Jahren in der Familie zwischen uns stattgefunden hatten, war mir oft der Gedanke gekommen, dass die Mutter ihre Fragen an mich, für sich selbst bereits beantwortet hatte. Sie wusste immer genau, warum ich etwas Bestimmtes getan hatte. Über meinen Weg, über mein Leben, über meine Beweggründe, über meine Faulheit, über meine Schwächen, über meine Dummheit, über alles an mir war die Mutter bestens in Kenntnis. Wenn sie mit mir gesprochen hatte, dann gab es immer die Absicht der Mutter, Verbesserungen an mir in ihrem Sinne zu erreichen. Ihr war wichtig, dass ich in der Schule nicht den einfachsten Weg ging, sondern den schwierigeren, holprigen, weil ich auf dem mehr lerne. Sie wollte nicht, dass ich den leichten Ferienjob mache, sondern den schweren, damit ich besser begreifen kann, wie viel Arbeit notwendig ist, um Geld zu verdienen.

Mir war bewusst, dass die Mutter genau wusste, dass ich mir mit dem Job am See den leichten Job gesucht hatte. Weil aber die Mutter aufgehört hatte, mich auf solche Dinge anzusprechen, passierte mit mir etwas neues: Ich wusste genau, wie die Mutter über meinen Faulenzerjob dachte, weil sie ihre Meinung darüber aber nicht mehr im Gespräch mit mir kundtat, musste ich mein Verhalten auch mir selbst gegenüber weniger kritisch überprüfen und begründen. In dieser neuen Situation ging es mir in der Familie besser als je zuvor. Mein schlechtes Gewissen gegenüber den Eltern, wegen dem allzu leichten Weg, den ich gewählt hatte, war leichter geworden. Manchmal in den letzten Wochen war es völlig verschwunden. Obwohl ich ganz eindeutig Tugenden der Mutter missachtet hatte, war mein Gewissen plötzlich nicht mehr der Plagegeist, wegen dem ich mich zuvor täglich quälte.

Das Thema mit den Tugenden war in der Familie abgeschlossen. Es war während der Jahre bei den Eltern klar geworden, dass ich die Tugenden der Familie nicht lernen werde. Die Situation, dass die Mutter nichts tugendhaftes mehr zu mir sagte, sondern mich deshalb gewähren ließ, weil ich in der Familie ohnehin schon lange gescheitert war, wirkte auf mich wie eine Befreiung von einer großen Last. Ich konnte die Schule und die Abschlussprüfung in Ruhe beenden, den Führerschein machen und einen einfachen Job haben. Dabei ging es mir in den letzten Wochen nicht schlecht. Ich ließ es mir gut gehen. Tagsüber am See, hin und wieder traf ich Freunde abends in einer Kneipe im Ort, oder ich besuchte sie zu Hause, nebenbei die Führerscheinprüfung. Ja, die Führerscheinprüfung. Das war der Tag, der mich in den letzten Wochen am stärksten belastete. Vormittags die knappe Führerscheinprüfung, nachmittags die gemeinsamen Fahrt mit der Mutter zu Frau Stößer wegen meines neuen Zimmers in die große Kreisstadt. Das war das anstrengendste Erlebnis für mich in den letzten Wochen. Davon abgesehen ging das Leben während der letzten Wochen in der Familie recht ruhig von der Hand. Das Schweigen in der Familie wirkte wie ein verlässlicher Vertrag. Beide Seiten hatten miteinander abgeschlossen und gönnten sich eine abschließende ruhige Zeit miteinander, um den heutigen Tag, an dem der Vertrag endet, in Ruhe zu erreichen und in Ruhe vorüberziehen zu lassen.

Vor drei Jahren hatte die Mutter mir einen Ferienjob vermittelt. Tante Gretel und ihr Mann sind Pächter einer bekannten Berghütte. Kurz unterhalb des ersten Gipfels eines riesigen Bergmassivs findet sich das Übernachtungshaus von Tante Gretel. Auf dem Weg zu einer Gipfelbesteigung kommt man an Tante Gretels Hütte als Übernachtungsstation nicht vorbei. Man schafft den Aufstieg zum Gipfel und den Abstieg nicht an einem einzigen Tag. Selbst ortskundige, durchtrainierte Kenner der Route legen bei Tante Gretel eine Übernachtung ein. Vor zwei Jahren habe ich zwei Wochen lang auf der Hütte gearbeitet. Auch im vergangen Jahr war ich oft über das Wochenende zur Hütte aufgestiegen, um dort zu arbeiten. Tante Gretels Bezahlung für meine Mitarbeit war sehr schlecht gewesen. Trotzdem war ich im vergangenen Jahr über die Sommermonate beinahe jeden Freitagnachmittag auf die Berghütte hinaufgestiegen und am Sonntagabend kurz vor der Dämmerung wieder abgestiegen. Die Eltern haben es gerne gesehen, wenn ich mein Taschengeld durch regelmäßiges Arbeiten aufbesserte. Täglich viel und schwer zu arbeiten, das ist der Mittelpunkt des Alltags der Eltern.

Dass es den Eltern materiell gut geht hängt unmittelbar mit deren sehr gewinnbringenden Geschäft zusammen. Das Geschäft liegt an einer belebten Straße im Ort in zentraler Lage. Ich glaube, den Eltern war sehr daran gelegen, dass ich nicht nur in meinem Kopf, sondern durch eigene Erfahrung ein Bild davon entwickle wie anstrengend es ist Geld zu verdienen.

Den Eltern war immer sehr daran gelegen mich nicht mit unnötigen Dingen zu versorgen, mich nicht materiell zu verwöhnen. Deshalb hatten sie bestimmte Wünsche von mir nicht einfach erfüllt, obwohl es ihnen möglich gewesen wäre. Das taten die Eltern auch dann nicht, wenn sie davon überzeugt gewesen waren, dass mein Wunsch ein guter, weil sinnvoller Wunsch ist. So war mein Wunsch den Führerschein zu machen in den Augen der Eltern ein vernünftiger, denn beide Eltern sind der Meinung, dass ein Führerschein heutzutage unentbehrlich sei. Trotzdem war es für die Eltern selbstverständlich, dass ich für einen erheblichen Teil der Kosten selbst aufkommen sollte. Es war den Eltern immer wichtig, dass ich lerne den Wert der Dinge richtig einzuschätzen.

Für mich war es selbstverständlich, dass ich an die Eltern keine materiellen Forderungen richtete. Das schon deshalb nicht, weil sie ohnehin für meinen Lebensunterhalt sorgten. Meine Ansprüche waren bescheiden. Aus dem Kinderheim war ich es gewohnt, kein neues Spielzeug zu besitzen. Ich war daran gewöhnt kein neues Radio geschenkt zu bekommen und keine neue Kleidung zu tragen. Diese Dinge waren stets bereits von anderen Kindern benutzt worden. Für mich hatte das keinerlei Problem dargestellt. Die Haltung der Eltern hat dazu geführt, dass ich weiterhin sparsam mit meinem Taschengeld und meinem selbst verdienten Geld umging. Sie hat meine Sparsamkeit und Bescheidenheit weiter unterstützt. Ich glaube deshalb bin ich bestens gerüstet auch künftig in der großen Kreisstadt mit dem bescheidenen materiellen und finanziellen Rahmen, den ich habe zu Recht zu kommen. Materielle Geschenke der Eltern waren für mich stets mit einem unangenehmen Beigeschmack behaftet. Ich hatte immer ein schlechtes Gewissen. Auch wenn ich mich über den neuen Radiorecorder zur Weihnachten, dem Fahrrad und die neue Uhr zum Geburtstag gefreut und bedankt hatte, auch wenn ich mir die neuen Fahrradtaschen und das Zelt gewünscht hatte, in meinem Gefühl blieb zurück, dass es mir aus welchem Grund auch immer, vielleicht auf Grund meiner Erfahrungen aus dem Kinderheim, eigentlich naturgegeben nicht erlaubt gewesen wäre einfach solche teuren und unbenutzten Geschenke anzunehmen. Ich war verunsichert. Ich wusste nicht woher ich plötzlich das Recht bekommen hatte, Geschenke der Eltern anzunehmen. Dankbar habe ich das alles angenommen. Ich habe versucht mich auch an diese neue Situation zu gewöhnen. Trotzdem blieb ich unsicher, weil ich jahrelang nicht solch neue Dinge geschenkt bekommen hatte.

Die Meinung der Eltern, ich könnte Gefahr laufen nicht die richtige Einstellung zu Arbeit und Geldverdienen zu erlernen, was den Einkauf solcher materiellen Werte erst ermöglicht, war glaube ich unberechtigt. Ich wusste damals genauso gut wie heute, dass Dinge, die man neu kauft sehr viel Geld kosten. Ich hatte lange bevor ich die Eltern kennen gelernt habe schon erlebt und gelernt, dass ich mir in meiner Situation keineswegs neue Dinge leisten kann. Für mich hatte jahrelang ein gebrauchtes Fahrrad, oder ein defektes Radio, das ich aus dem Abfallberg hinter einem Elektroladen zog um es zu reparieren, einen riesigen Wert. Für mich ist es heute noch unschätzbar wertvoll, wenn es mir gelingt, einen demolierten Schallplattenspieler wieder in Gang zu setzen und noch viele Jahre weiter zu benutzen. Ich habe im Kinderheim gelernt, mit sehr wenig Geld auszukommen. Dort habe ich gelernt einen alten Kassettenrecorder aus einer Mülltonne zu ziehen, zu zerlegen und den Defekt zu finden. Mein Bruder hat mir im Kinderheim gezeigt, wie man mit einem alten Lötkolben, den er ebenfalls aus dem Müllkübel hinter einem Fernsehgeschäft gezogen hatte, die zerkratzten Verbindungen auf Platinen wieder herstellt. Im Kinderheim habe ich gelernt die Geduld vieler Stunden aufzubringen, um in einem Radio sämtliche Widerstände, Kondensatoren, Transformatoren, Kabel- und Platinenverbindungen zu überprüfen, bis der Fehler festgestellt war. Bei der Reparatur solcher Geräte hat mir mein Bruder im Kinderheim gezeigt, wie man mit Phantasie, Improvisation und einem gehörigen Maß Mut zum Risiko die Defekte in den Geräten so weit mindert, dass der Plattenspieler wieder einsetzbar war. Für mich war es die größte Freude gewesen, benutzte Sachen die andere weggeworfen hatten, so aufzumöbeln, dass sie gut weiterhin benutzt werden konnten. All das hat mich wohl deshalb so stark interessiert und begeistert, weil ich den Wert des Geldes schon lange zu schätzen wusste. Mir war immer klar gewesen, dass ich nie das Geld haben werde, um solche Dinge neu anzuschaffen.

Auf der Berghütte bei Tante Gretel war ich für das schmutzige Geschirr in der Küche und für die Reinigung der Matratzenlager und vermieteten Zimmer zuständig. Die Arbeit hatte mir Spaß gemacht. Probleme gab es dabei nicht. Ich arbeitete schnell und ordentlich. Probleme gab es mit der Tante. Sie hat mich stets bei der Arbeit beobachtet. Sie kontrollierte genau, wie sauber und ordentlich ich arbeitete. Sie unterwies mich jedes Wochenende neu in meine Aufgaben. Die Unterweisungen der Tante waren exakt. Der lehrreiche Ton der Tante war scharf und deutlich. Die Kommandos der Tante wiederholten sich jedes Wochenende so als sei ich zuvor noch nie zur Arbeit auf der Hütte erschienen. Nach zwei Monaten hatte ich das Gefühl, dass die kommandierende, strenge Tante jetzt wissen müsste, dass ich bereits kenne, worin sie mich jedes Wochenende erneut einwies. Doch die Tante dachte nicht daran. Jeden Freitagnachmittag, wenn ich durchgeschwitzt die Berghütte erreicht hatte, war die Tante sofort zur Stelle, um mir aufs Neue zu erklären, dass ich das Haus vom Matratzenlager unter dem Dach abwärts über die Zimmer im ersten Stock bis in den Keller sauber zu machen habe. Das erklärte mir die Tante jedes Mal wieder so genau und detailliert, dass ich eines Freitags dachte, dass die Tante, aus welchem Grund auch immer, davon überzeugt sein musste, dass sie einen sehr dummen Jugendlichen vor sich hat.

Wegen dieser Idee war mir der Gedanke gekommen, dass die Tante in ihrer strengen Art der permanenten Unterweisungen einen Auftrag der Mutter übernommen haben könnte. Weil die Tante ein Familienmitglied ist, war ich sicher gewesen, dass die Tante mit der Mutter hin und wieder über mich gesprochen hatte. An besagtem Freitagnachmittag fegte ich gründlich, wie es stets meine Art gewesen war vom Matratzenlager bis zum Keller durch jedes Zimmer des Hauses. Meine Gedanken waren dabei auf die Frage gestoßen, welche Absprachen wohl zwischen Mutter und Tante getroffen worden waren. Die Genauigkeit und Kontrolle der Tante, ihre kommandierende Art, das mag ihr eigen gewesen sein. Ihr Verhalten mir jedes Wochenende aufs Neue das bereits detailliert erklärte noch mal vorzukauen, dem kann nur die Annahme zu Grunde liegen, dass ich von einem Wochenende aufs nächste vergesse, was und wie ich auf der Hütte zu arbeiten habe. Andererseits, so dachte ich, während ich über die Fensterbänke im Matratzenlager wischte und durch das Glas die herrliche Aussicht über die weitläufigen Hochgebirgsketten unter dem strahlend blauen Julihimmel sah, andererseits konnte ich mir nicht vorstellen, dass die Mutter der Tante verkauft hatte, dass ich zu dumm wäre, die mir zugeordneten Reinigungsarbeiten eigenständig zu erledigen und mir binnen einer Woche zu merken, um welche Reinigungsarbeiten es sich handelte.

Wahrscheinlich hatte die Tante mit der Mutter mehrfach über mich gesprochen. Wahrscheinlich hatte diese Tante, die Informationen der Mutter auf ihre Weise ausgewertet. Wahrscheinlich behandelte mich die Tante so dumm, wie es ihr persönlicher Eindruck von mir gewesen war. So habe ich schließlich an dem Nachmittag gedacht, während ich mit feuchtem Lappen und Putzeimer den kalten Keller wischte. Vielleicht hatte sie von der Mutter den Auftrag erhalten, mich während meiner Arbeit genau zu kontrollieren. Sicherlich hatte die Tante nicht den Auftrag, mich wie einen dummen Jungen zu behandeln.

Letztes Jahr, während der Schulferien über Pfingsten, sollte ich zwei Wochen lang in der Hütte arbeiten. An meinem freien Nachmittag hatte ich mir eine Fernsehsendung angesehen. Es gab ein kleines Aufenthaltszimmer für die Mitarbeiter. Dort stand ein winziges Fernsehgerät, das für die Mitarbeiter zugänglich gewesen war. Das Fernsehen war jedem Mitarbeiter in seiner Freizeit erlaubt. Eines Nachmittags hatte die Tante mich in dem Zimmer vor dem Fernsehgerät aufgespürt. Es sei eine Unverschämtheit von mir, faul vor dem Fernsehgerät zu sitzen. Sie scheuchte mich aus dem Zimmer. In ihrem gewohnten Komandierton hielt mich die Tante zur Arbeit an. Dass ich einen freien Nachmittag gehabt hatte, der im Schichtplan eingezeichnet war, interessierte die Tante nicht. Meine Erklärung war für die Tante unnütz, weil in ihren Augen ungültig. In ihren Augen fehlte mir die Berechtigung für eine Erholungspause vor dem Fernsehgerät. Freie Nachmittage, so hatte sie kurz und deutlich gesagt, gäbe es nur für diejenigen Saisonarbeiter, die den gesamten Sommer durcharbeiten würden. Ferien- und Wochenendbeschäftigte wie ich, hätten keine freien Nachmittage. Der Sohn der Tante war der offizielle Hüttenwirt. Er hatte mich angestellt und mit mir den Arbeitsvertrag und die Schichtplanung gemacht. Mit ihm waren meine zwei freien Nachmittage während der vierzehntägigen Schulferien vereinbart. Leider war der Sohn in dieser Zeit nur selten auf der Hütte zu sehen. Die Tante führte das Regiment.

Die Situation, als die Tante mich vor dem Fernsehapparat ertappt hatte, erinnerte mich an die Mutter. Vielleicht hatte die Mutter der Tante gesagt, dass ich auf der Berghütte arbeiten sollte, aber auf keinen Fall fernsehen dürfe. Vielleicht wäre die Tante weniger rabiat aufgetreten, wenn ich anstatt vor dem Fernsehgerät zu sitzen, in einem Buch gelesen hätte. Wahrscheinlich, so hatte ich mir das Auftreten der Tante damals erklärt, hatte die Tante betreffend dem Fernsehen die gleiche Einstellung, wie die Mutter. Ich glaube, die Mutter hatte Angst davor, dass ich vom Fernsehen süchtig werden könnte und in absolutes Nichtstun verfallen könnte.

Den Befehlen der rabiaten Tante habe ich mich nicht widersetzt. Ich hatte die zwei Wochen durchgearbeitet und auf meine zwei freien Nachmittage verzichtet. Allerdings habe ich nach diesen Ferien nicht wieder auf der Hütte gearbeitet. Mit der Mutter konnte ich über die Arbeit und die Tante auf der Hütte nicht sprechen. Ich war mir sicher gewesen, dass sie im Austausch mit der Tante stand. Hätte ich versucht mit ihr über die Tante zu sprechen, wäre bei diesem Gespräch nichts anderes als die mir bereits bekannte Haltung der Mutter erneut zu Tage getreten, denn sicherlich war sie bereits über mein Verhalten aus Quelle und Sicht der Tante informiert gewesen. Die Vorstellung, mit den Eltern über das Auftreten der Tante auf der Hütte zu sprechen, war mir unmöglich. In meinem Kopf fand ich Angst davor, dass meine Haltung in so einem Gespräch vermutlich Befürchtungen der Eltern bestätigen könnte, dass mir eine, gemessen an den Tugenden der Eltern taugliche Einstellung zu Arbeit und Geldverdienen nach wie vor fehlt. Dass mich die Tante gerade an einem Ort an dem ich mich zum Zwecke der Arbeit aufhielt, ausgerechnet vor dem Fernsehgerät erwischt hatte, war für die Eltern sicherlich schlimm genug gewesen. Ich glaube, das hatte Befürchtungen der Eltern bestätigt. Es hatte bestätigt, dass ich nach wie vor hochgradig gefährdet war. Ich war gefährdet Vergnügen und Faulheit, Dreistigkeit und Frechheit, Ungeheuerlichkeit und Unverschämtheit ausgerechnet an einem Ort zu fronen, wo Tugenden wie Fleiß, Unterwürfigkeit, Dankbarkeit und die Bereitschaft Opfer zu bringen, indem man auf eine Pause zugunsten engagierter, beinahe selbstloser Arbeit verzichtet, bedingungslos notwendig gewesen wären. Denn an diesem Ort, auf Tante Gretels Hütte, war ich nicht zu meinem Vergnügen gewesen, sondern ich war dort oben gewesen, um das zu erlernen, was für die Eltern den Lebensmittelpunkt darstellt: Arbeit.

Den Wagen von Martina steuere ich mit mäßiger Geschwindigkeit Richtung Gebirgsort. Links am Straßenrand sehe ich eine beschilderte Abzweigung Richtung See. Dort habe ich bis vor wenigen Tagen im Bootshaus gearbeitet. Der Bootshausbesitzer hatte zugesichert mir den letzten Teil meiner Bezahlung in den nächsten Tagen zu geben. Er wollte mich zu Hause anrufen, um mir zu sagen, wann ich das Geld abholen kann. Ab heute wird er mich zu Hause nicht mehr erreichen. Es wird also schwierig für den Chef, mir zu sagen wann ich das restliche Geld abholen kann. Ich setze den Blinker und biege langsam in die Straße zum See ab.

Auf dem Dachboden im Haus der Eltern gibt es eine riesige elektrische Modelleisenbahn. Der Vater hatte diese Anlage Jahre bevor ich in die Familie gekommen war gekauft. Nachdem mich die Eltern im Alter von dreizehn Jahren aufgenommen hatten, fand ich diese Anlage äußerst interessant. Sehr viele verregnete Wochenendnachmittage habe ich auf dem niedrigen Speicher an der Modelleisenbahn zugebracht. Im alter von fünfzehn und sechzehn Jahren war mir das Basteln an der Modellbahn zunehmend langweiliger geworden. Anstatt an der Modellbahn zu basteln hatte ich eines Nachmittags begonnen, mich auf dem Speicher genauer umzusehen. Allerhand altes Gerümpel das die Mutter dort lagerte, hatte ich dabei gefunden. Mein Interesse wurde von einem alten, tragbaren Schwarzweißfernsehgerät geweckt. Das Gerät kramte ich unter einem Berg von Kartons, Koffern und Plastiksäcken mit Kleidung hervor. Die Mutter hatte mir oft verboten nachmittags oder am Wochenende fernzusehen. Ich glaube, weil das Fernsehen in den Augen der Mutter ein grundsätzliches Übel ist, hatte sie es für richtig gehalten, dass ich abends wenn überhaupt, dann höchstens Nachrichten im Fernsehen sehe. Danach wurde das Gerät in der Regel ausgeschaltet.

Durch das gefundene alte Fernsehgerät auf dem Dachboden wurden für mich die Nachmittage bei der Modelleisenbahn wieder interessant. Ich versteckte das Gerät in einer Ecke neben einem kleinen Regal. Das Gerät funktionierte einwandfrei, der Empfang war allerdings schlecht. Während des Fernsehens ließ ich die Eisenbahn stets laufen. Ich dachte daran, dass die Mutter, unten an der Speichertreppe auf keinen Fall andere Geräusche hören darf, als das gewohnte Fahrgeräusch der Modellbahn. Es war dumm von mir gewesen, zu glauben, dass die Mutter nicht sehr schnell Verdacht schöpft. An den folgenden Wochenenden war ich lange Zeiten auf dem Speicher verschwunden. Zuvor war ich kaum mehr länger als eine Stunde auf dem Speicher bei der Eisenbahn geblieben. Vielleicht hatte die Mutter schon in früheren Zeiten hin und wieder die Speichertreppe hinauf geschaut, um sich davon zu überzeugen, dass ich an der Eisenbahn bastelte. Ich hätte ahnen können, dass sie schnell durchschauen würde, welchem Interesse ich auf dem Speicher nachging.

Jetzt lenke ich den grünen Wagen auf den gut gefüllten Parkplatz am See. Der Wächter am Parkplatz ist ein Mitschüler aus der Schule am Berg. Ich darf den Wagen kostenlos auf den Plätzen für Bedienstete abstellen. Länger als eine viertel Stunde werde ich nicht bleiben. Deshalb gibt mir der Mitschüler den Schlüssel für das Schrankenschloß. Beinahe routiniert lenke ich den Wagen auf den Parkplatz und rangiere ihn rückwärts in eine freie Lücke. Das alles wird von dem Mitschüler hinter der Glasscheibe sehr genau und mit vielleicht berechtigt sorgenvollem Blick verfolgt. Schließlich bin ich Fahranfänger. Ausgerechnet mich lässt er auf dem Mitarbeiterparkplatz herumkurven. Im Rückspiegel sehe ich den Mitschüler, wie er durch die Glasscheibe in seinem Kassenhäuschen über den vollen Parkplatz zu mir hinüber starrt. Das Auto habe ich ordentlich zwischen zwei andere Kleinwagen geparkt. Keine Schramme, keine Beule, nichts. Dem Mitschüler schiebe ich lächelnd den Schlüssel unter der Glasscheibe hindurch zurück. „Alles klar, merci dir.“ Das sage ich. Es bestätigt, dass der Mitschüler zwar seine Kompetenz überschritten hat, weil er mich hier parken lässt, das aber damit keinerlei Risiko für ihn verbunden ist. Ob der Mitschüler darüber genauso denkt wie ich, weiß ich nicht. Der Mitschüler nimmt den Schlüssel an sich, er lächelt und nickt. Ich gehe los in Richtung See. Ich laufe an Kiosken und Verkaufsständen vorbei, die mir von meinem Weg zur Arbeit im Bootshaus bekannt sind. Vor ihnen drängen sich Trauben von Touristen. Der heutige Geschäftstag ist gut.

Das Fernsehen auf dem Speicher muss für die Mutter eine meiner schlimmsten Missetaten gewesen sein. Mein Fehlverhalten war eine riesige Unverschämtheit. Ein Vertrauensbruch, der an Hinterlistigkeit nicht zu überbieten war. Das Haus hatte ich an diesem Nachmittag sofort zu verlassen. Die Eltern bestraften mich nicht mit Hausarrest. Ihre Strafe war das Gegenteil. Ich hatte hinauszugehen an die frische Luft. Die Stubenhockerei war schlecht für mich, deshalb schickten sie mich hinaus. Es hätte ihrer Grundauffassung widersprochen, mich in mein Zimmer zu verbannen. Ich sollte nach draußen gehen und dort irgendwo herumlaufen, das würde mir gut tun. Damit hatten die Eltern tatsächlich recht. Es war wesentlich gesünder und besser mich hinaus zu schicken, als mich zu Stubenarrest zu verdonnern. Im Wald war genügend Ruhe und Freiraum um bei frischer Luft über alles nachzudenken. Auf meinem Felsen im Wald überblickte ich die Dächer des Ortes und dachte über mein Fehlverhalten nach. Vor dem Abendessen brauchte ich mich, am Besten ausgerüstet mit einer ehrlich gemeinten, anständigen Entschuldigung, nicht wieder zu Hause blicken zu lassen. Ich glaube, die Mutter und der Vater hatten fürchterliche Angst davor, dass ich wegen des miserablen Fernsehprogramms zu verwahrlosen drohe. Ich kann mir das Auftreten der Eltern an dem Nachmittag nicht anders erklären. Die Mutter war fassungslos gewesen. Sofort hatte sie den Vater hinzugezogen. Der war genauso fassungslos gewesen. Das Gewicht der Schuld gegenüber den Eltern, wegen meines hinterlistigen Fernsehens auf dem Speicher schien mir an diesem Nachmittag so schwer, dass ich es kaum ertragen konnte allein auf dem Felsbrocken im Wald zu sitzen. Beide Eltern hatten mich, weil ich ihnen unentschuldbar in den Rücken gefallen war, ihres Hauses verwiesen. Beide Eltern erwarteten am Abend eine fundierte Entschuldigung für mein Fehlverhalten. Schließlich lief ich ziellos durch den Wald. Nach einer Viertelstunde saß ich wieder auf meinem Felsen. Dort hielt ich die Ruhe aber nicht lange aus. Nach wenigen Minuten lief ich durch den Wald zum Haus der Eltern zurück. Die Garagentür steht immer offen. Ich holte mein Fahrrad aus der Garage und fuhr zurück in den Wald. Ich fuhr den ganzen Nachmittag auf verschiedenen Bergstraßen auf und ab.

Zum Abendbrot hatte ich mich nicht nach Hause getraut, trotzdem war klar, dass ich irgendwie nach Hause kommen musste. Meine Fahrradstrecke auf den Bergstraßen habe ich an dem Nachmittag von Stunde zu Stunde immer näher an das Haus der Eltern verlegt. Das Haus der Eltern habe ich mit meinem Fahrrad mehrfach auf verschiedenen Straßen umrundet. Dabei habe ich die Entfernung der Straßen um das Haus immer geringer gewählt, bis ich schließlich dem Haus so nahe gekommen war, dass keine Straße mehr daran vorbei führte. Die letzte Straße, es war die Straße direkt vor dem Haus der Eltern, habe ich so gewählt, dass ich genau um fünf Minuten vor halb sieben Uhr abends auf sie einbog. Langsam rollte ich, die Pedale kaum mehr tretend, die am Hang verlaufende Straße Richtung Elternhaus entlang. Auf der Straße war nichts los. Die Nachbarskinder hatten an dem Nachmittag nicht auf der Straße gespielt. Das Regenwetter, das meine Kleidung im Lauf des Nachmittags durchweicht hatte, war Schuld. Das Leben auf der Straße, die Ballspiele, die Versteckspiele, die Laufspiele mit den Nachbarskindern an denen ich oft beteiligt gewesen war, das alles, und damit das ganze Leben schien an diesem Nachmittag für mich still zu stehen. Ich hatte ich einen Schuldigen gefunden. Es muss der Regen gewesen sein! Nur wegen ihm hatte ich nicht auf der Straße mit den Nachbarskindern gespielt. Wegen ihm war ich auf dem Speicher bei der Eisenbahn gesessen. Es war das scheußliche Regenwetter gewesen. Das hatte mich dazu verleitet, auf den Dachboden hinauf zu steigen und dort das Vertrauen der Eltern wieder auf das Tiefste zu missbrauchen. Der Regen hatte den ganzen Tag versaut. Er hatte dafür gesorgt, dass ich auf dem Dachboden gewesen war, dass ich dort fern gesehen hatte, dass ich schließlich ein schlechtes Gewissen wegen meines Vertrauensbruches gegenüber den Eltern bekommen hatte, dass ich durchnässt durch den Wald gerannt war, dass ich verfroren aufs Fahrrad gestiegen war und Stunden lang durch die Gegend gekurvt war, um schließlich mit immer noch schlechtem Gewissen abends kurz vor halb sieben Uhr wieder zu Hause anzukommen. Meine Antwort für die Mutter war der Regen. Meine Entschuldigung war nicht ich und mein schlimmes Verhalten. Ich war es nicht gewesen. Nicht ich war schuld. Der Regen war es.

Pünktlich um halb sieben Uhr war ich zu Hause angekommen. Das war die Uhrzeit zu der täglich zu Abend gegessen wurde. Um nicht noch mehr Schaden anzurichten war ich absolut pünktlich gekommen. Mein Gewissen gegenüber den Eltern war sehr schwer belastet. Ich entschuldigte mich für mein unverschämtes Verhalten vom Nachmittag. Ich versuchte das so ehrlich, wie es mir möglich war. Erst im Treppenhaus hatte ich es geschafft, meine Gedanken an die Schuld des Regens abzudrängen. In meinem Kopf zerrte ich mein schlimmes Verhalten vom Nachmittag hervor. Das was ich dem Regen zuvor an Schuld in die Schuhe geschoben hatte, ordnete ich auf dem Absatz zum Esszimmer im Kopf endlich mir selbst zu. Damit hatten die Eltern erreicht, was sie wollten. Ich sah, wenn auch spät, meine tiefe Schuld ein. Mein niederträchtiges Verhalten war an allem schuld gewesen. In meinen Worten erklärte ich den Eltern, dass ich einsehe, welche Schuld ich auf mich geladen hatte. Ich versprach, dass es nie wieder vorkommen werde, dass ich die Eltern nie wieder so niederträchtig hintergehen werde. Es war nie wieder vorgekommen. Abends im Wohnzimmer der Eltern habe ich auch nach diesem Nachmittag weiterhin immer dann ferngesehen, wenn sie ins Konzert, oder ins Theater gefahren waren. Die Eltern hatten das immer gewusst. Die Mutter hätte den Fernsehschrank versperren können. Das hatte sie nicht getan.

Das von der Mutter so gehasste und auch nach meiner Meinung sehr schlechte Fernsehprogramm, war für mich weiterhin erreichbar geblieben. Dass ich abends fernsah, wenn die Eltern außer Haus waren, war niemals in der Familie besprochen worden. Die Eltern hatten diese Tatsache stillschweigend hingenommen. Vielleicht war das eine Taktik der Mutter gewesen? Für mich war diese Taktik undurchschaubar geblieben. Während verschwiegen wurde, was alle gewusst hatten, dass ich fernsehe wenn die Eltern abends weg waren, bestand ein unausgesprochenes Verbot, dann fernzusehen, wenn abends alle zu Hause waren. Um das Medium Fernsehen hatte ein jahrelanger Kampf zwischen den Eltern und mir stattgefunden. Vielleicht konnte das deshalb geschehen, weil wir nie gemeinsam fernsahen. Vielleicht wäre das alles ganz anders verlaufen, wenn zu Hause über die Inhalte, die das Fernsehen zeigte nicht geschwiegen worden wäre.

Langsam laufend arbeite ich mich durch Menschenmassen an den See heran. Aus den Küchen der Hotels und Restaurants am Straßenrand rieche ich, dass es nahe der Mittagszeit ist. Ich habe keine günstige Uhrzeit gewählt um den Besitzer des Bootshauses aufzusuchen. Zwischen elf und dreizehn Uhr war er an der Kasse immer von seinem Sohn vertreten worden. Weil das auch heute so ist, treffe ich dort den Sohn an. Ich hinterlasse meine neue Adresse in der großen Kreisstadt. Ich bitte darum, dass der Chef mir das Geld dorthin schicken möge. Der Sohn sichert zu, dass sein Vater das bestimmt tun werde. So laufe ich entgegen dem Touristenstrom zurück Richtung Parkplatz.

Niemals habe ich im Geschäft der Eltern mitgearbeitet. Nur einmal, kurz nachdem ich bei den Eltern eingezogen war, hatte ich dem Vater in einem kleinen Lager, dass er damals nahe dem Bahnhof angemietet hat, beim Einlagern von Kisten geholfen. Es war darum gegangen angelieferte Ware in dem Lager zu verstauen und bestimmte Waren, die der Vater im Geschäft benötigte, auszupacken. Das war das einzige Mal gewesen, dass ich dem Vater bei seiner Arbeit geholfen hatte. Vielleicht war es nur einmal dazu gekommen, weil es mir lieber gewesen war, wo anders einen Ferienjob zu machen, um der Kontrolle der Eltern zu entgehen.

12. Mittagszeit im Gebirgsort

Ich steuere den Wagen vom Parkplatz am See zurück auf die Straße, die inzwischen bis zur Parkplatzzufahrt dicht an dicht mit Autos zugeparkt ist. Langsam fahre zwischen den gedrängt parkenden Autos zurück zur breiten Hauptstraße. Die Tankanzeige bewegt sich nicht. Sie zeigt, egal ob Gefälle oder Steigung, stets voll an. Auf der breiten Straße erreiche ich das Ortsschild. Ich biege rechts ab. Die Hauptstraße durch den Ort führt vorbei am Rathaus, der Kirche, dem Marktplatz und dem Geschäft der Eltern. Ich fahre langsam, denn ich sehe viele Touristen auf den Gehsteigen. Ich rechne jederzeit damit, dass einer von ihnen unvermutet auf die Straße vor den Wagen springt. Auf meiner Armbanduhr sehe ich, dass es viertel vor ein Uhr Mittags ist. Die meisten Geschäfte, auch das der Eltern sind bis zwei oder halb drei Uhr geschlossen. Jetzt fahre ich langsam am geschlossenen Laden der Eltern vorbei. Das Geschäft öffnet um vierzehn Uhr wieder. Das war jahrelang genau die Uhrzeit gewesen, zu der ich von Bahnhof und Schulbus nach Hause angekommen war. Weil die Eltern jetzt nicht in ihrem Geschäft stehen, denn sie sitzen zu Hause beim Mittagessen, möchte ich noch nicht nach Hause fahren, um meine Sachen aus der Garage in das Auto einzuladen. Ich könnte das tun, aber ich glaube nicht, dass es besonders geschickt von mir wäre.

Als ich heute Morgen das Haus der Eltern verlassen habe, um in die große Kreisstadt zu fahren, war ich im Treppenhaus der Mutter begegnet. “Wirf deinen Schlüssel in den Briefkasten”, hatte sie mir nachgerufen. Das war der Abschied zwischen uns beiden. Der Abschied war schon lange Zeit eingeleitet. In den vergangenen Wochen und Monaten waren wir uns kaum mehr begegnet. Heute Morgen haben wir uns nicht die Hände geschüttelt, um uns von einander zu verabschieden. Wir waren bereits verabschiedet.

Die Mutter hatte den Briefkasten erwähnt. Das bedeutet, dass sie davon ausgeht, mich heute nicht wieder zu sehen. Warum sonst hätte sie mich bitten sollen, den Schlüssel einzuwerfen? Wollte sie mich heute noch einmal sehen, wollte sie sich von mir verabschieden, und meine Schlüsselrückgabe für den Abschied nutzen, dann hätte sie heute morgen nicht so gesprochen. Die Mutter will mich heute nicht mehr sehen. Gleiches gilt für den Vater. Den habe ich heute noch nicht gesehen. Zwischen den Eltern und mir sind der Worte genug gewechselt. In den letzten Monaten waren es vor allem Worte des Kampfes zwischen uns. Meine unqualifizierten Worte mit denen ich den Eltern vor fünf Jahren begegnet war, hatten von Beginn an den heutigen Abschied eingeleitet. Jetzt, wo ich im Wagen auf der Straße hinauf zum Haus der Eltern unterwegs bin, glaube ich, dass sich von Beginn an entwickelt hatte, was heute wahr wird. Meine Zeit bei den Eltern läuft mit dem heutigen Tag ab.

Mein Abschied am heutigen Tag ist so gesehen perfekt vorbereitet. Wegen seiner jahrelangen Geschichte ist der heutige Abschied eindeutig klar. Der Abschied ist so eindeutig klar, dass heute keine Worte des Abschieds zwischen uns notwendig sind. Kann das sein? So frage ich, während ich Gas gebe um mit dem Wagen die Steigung auf der Pflasterstraße zu nehmen, die jahrelang ein Teil meines täglichen Schulweges zum Bahnhof gewesen war.

Mit dem Auto sind es jetzt nur noch wenige Sekunden, bis die Straße zum Haus der Eltern nach rechts abgeht. Mit dem Wagen kann ich hier nirgendwo stehen bleiben, um noch mehr Zeit für meine Überlegungen, für die Frage zu haben, ob sein kann, was ich gerade denke. Nur Sekunden bleiben, in denen ich entscheiden muss, ob ich abbiegen sollte, um in die Straße der Eltern zu gelangen, um mich jetzt von ihnen zu verabschieden. Kann es sein, dass Abschied nach so langen Jahren nicht nötig ist? Ist das ein Abschied?

Wer soll sich von wem verabschieden? Wahrscheinlich sollte ich mich verabschieden, denn ich war Gast im Haus dieser Eltern gewesen. Ich bin derjenige, der heute wieder weg geht, auch wenn klar ist, dass ich gehe, weil ich im Haus der Eltern nicht länger geduldet werde. Wahrscheinlich sollte ich mich nicht nur ordentlich verabschieden, sondern ich sollte mich auch herzlichst bedanken, für alles, was ich in den vergangenen Jahren von den Eltern erhalten habe. Schließlich habe ich von den Jahren profitiert. Schließlich sind die Eltern es gewesen, wegen denen ich die Schule geschafft habe und mit hoher Wahrscheinlichkeit eines Tages einen Beruf haben werde und auf eigenen Beinen stehen werde. Ihnen habe ich zu verdanken, dass ich nicht weiterhin dumm auf der alten Schule geblieben war. Vielleicht habe ich den Eltern zu verdanken, dass ich nicht so dumm bin, wie Michael, der mich heute einige Meter in seinem Wagen mitgenommen hat, so dass ich erleben musste, dass Michael heute wohl nicht viel gescheiter ist, als er es früher gewesen war. Vielleicht wäre ich ohne diese Eltern weiter zum Opfer der Gewalt von dummen Mitschülern und Erwachsenen geworden. Vielleicht wäre auch ich inzwischen zu einem dummen Gewalttäter geworden. Ich weiß es nicht.

Ich weiß nur, dass ich mich eigentlich verabschieden und bedanken sollte, denn ich habe Grund genug dies zu tun. Trotzdem fahre ich an der Straße der Eltern vorbei. Ich fahre weiter den steilen Berg hinauf. Ich bin nicht in die Straße der Eltern eingebogen. Würde ich jetzt schon meine wenigen Kisten, den Schreibtisch und die Schrankbretter aus der Garage der Eltern einladen, müsste ich noch ein letztes Mal hinauf ins Haus gehen. Dort müsste ich mich verabschieden und bedanken. Dabei würde ich mir heute aber heuchlerisch vorkommen. Tue ich es nicht, ist das eine weitere Unverschämtheit von mir.

Ich traue mich nicht heute einfach Aufwidersehen zu den Eltern zu sagen und ihnen die Hand zu reichen nach den langen Jahren. Heute habe ich wieder ein sehr schlechtes Gewissen gegenüber den Eltern. Ich habe Angst, die Eltern würden mein Auftreten, jetzt zur Mittagsstunde in ihrem Haus, als letzte Provokation empfinden. Ich glaube, dass es für die Mutter unmöglich wäre, etwas Gutes daran zu finden. Würde ich jetzt in einem von Freunden geliehenen Wagen vorfahren, um einzuladen und Abschied zu nehmen, die Eltern fänden abermals bestätigt, dass ich keinerlei Anstand besitze. Die Mutter würde glauben, dass es mir heute nicht schlecht dabei geht, ihr Haus zu verlassen. Deshalb fahre ich mit dem Wagen zunächst an der Straße der Eltern vorbei! Oben auf dem kleinen Berg biege ich in eine Nebenstraße. Dort bleibe ich am Waldrand im Schatten stehen. Ich bleibe minutenlang im Wagen sitzen. Draußen sehe ich im Wind wippende Äste riesiger Laubbäume. Ich entschließe mich auszusteigen und ein bisschen auf dem Waldweg entlang zu laufen. Es ist ein Weg, den ich schon oft gelaufen oder mit dem Fahrrad gefahren war.

Die Mutter soll nicht den Eindruck gewinnen, dass es mir heute gut geht. Es geht mir nicht gut. Es geht mir aber auch nicht schlecht. Ich tue heute was lange klar geworden war. Ich verlasse das Haus der Eltern, ohne dabei viele Worte loszuwerden, weil alles zwischen uns bereits gesagt worden war. Zumindest scheint aus heutiger Sicht alles gesagt. Ob das was heute geschieht gut oder schlecht für meine Zukunft ist, werde ich merken. Vielleicht spüre ich es morgen schon, vielleicht in Tagen, vielleicht Wochen, Monaten. Es kann sogar sein, dass es Jahre dauern wird, bis ich entscheiden kann, ob es mir im Zusammenhang mit den Jahren bei den Eltern mit dem heutigen Ende gut oder schlecht geht. Deshalb wäre es völlig falsch, wenn die Mutter heute glauben würde, es ginge mir gut dabei zu gehen.

Ich glaube, auch die Eltern werden erst in Jahren merken, ob es sich gelohnt hat, in mich zu investieren. Auch für sie wird meine Anwesenheit in ihrem Hause verblassen. Vielleicht wird das Gewicht der Verletzungen die ich ihnen wegen meines Fehlverhaltens zugefügt habe, im Laufe der Jahre sogar abnehmen. Vielleicht wird die Mutter eines Tages nicht mehr so erbost sein, wenn sie sich daran zurück erinnert, welches Unglück ich in ihr Haus gebracht habe. Hoffentlich werden die Eltern eines Tages sehen, dass aus mir kein schlimmer, gewissenloser Verbrecher geworden ist, obwohl ich nicht zu dem geworden bin, den sie sich gewünscht hatten.

Ich stehe vor dem Wagen, wenige hundert Meter oberhalb es Hauses der Eltern. Noch ist der Tag an dem ich sie verlasse nicht vorüber, und ich denke schon darüber nach, wie die Eltern und ich all das was geschehen ist in vielen Jahren vielleicht einmal sehen werden. Ich denke daran, dass wohl sehr viele Jahre vergehen müssen, bis meine Entwicklung, mein Scheitern in diesem Elternhaus für uns alle überwunden sein wird. Heute schon, wo ich die Eltern nicht einmal richtig verlassen habe denke ich daran, dass viele Jahre vergehen müssen, bis ich dieses Haus vielleicht wieder betreten werde.

Der Waldweg führt zunächst leicht, später steil bergab. Auf Höhe des Elternhauses quert er einen andern Waldweg, den ich morgens immer ein Stück in den Wald hinein gelaufen war, um zum Busbahnhof zu gelangen. Ich laufe langsam. Dabei sehe ich mir den Weg an. Ich kenne jeden winzigen, abzweigenden Pfad genau. Immer steiler werdend führt der Waldweg hinunter in den Ort. Er endet an einer steilen Teerpiste. Nach mehreren hundert Metern führt die nahe dem Marktplatz auf die gepflasterte Fußgängerzone.

Dort gibt es eine Gaststätte, in der ich in den Osterferien vor zweieinhalb Jahren den ersten Ferienjob meines Lebens angetreten hatte. In der Küche hatte ich zwei wochenlang alles gemacht, was mir vom Küchenchef aufgetragen wurde. Morgens um neun Uhr ging es meist mit Kartoffelschälen, Gemüseputzen und Salatwaschen los. Nachmittags um drei Uhr durfte ich nach dem Abspülen und Abtrocknen für drei Stunden nach Hause gehen. Von sechs Uhr abends bis neun Uhr ging es wieder ans Abspülen und Trocknen. Meine Klamotten hatten abends entsetzlich nach Hotelküche gestunken. Zum Lüften habe ich sie in den Nachmittagsstunden und über Nacht auf den Balkon gehängt. Die Arbeit hatte mir Spaß gemacht, obwohl sie anstrengend war. Während der Nachmittagspause hatte ich immer geschlafen. Abends war ich täglich um halb zehn Uhr nach Hause gekommen. Todmüde vom Gemüse putzen und Geschirr spülen war ich immer schnell im Bett verschwunden. In meiner Erinnerung hatte es während dieser zwei Wochen keine Probleme zwischen den Eltern und mir gegeben. Wahrscheinlich war ich von der Arbeit so müde gewesen, dass ein Aufbäumen, welcher Art auch immer, gar nicht mehr möglich war.

Vielleicht wäre es zwischen den Eltern und mir besser gegangen, wenn ich damals eine Ausbildung angefangen hätte. In einer Lehrstelle hätte ich täglich lange und schwer zu arbeiten gehabt. Die Zeit um zu Hause Streitereien und Konflikte auszutragen, etwa nachmittags die Lernzeit mit der Mutter, hätte es nicht gegeben. Ich wäre beschäftigt mit der Arbeit gewesen. Es hätte weniger Berührungspunkte mit der Mutter wegen der Schule gegeben. Ich hätte andere gleichaltrige Freunde gehabt. Ob das am Kontakt und der Beziehung zu den Eltern wirklich etwas verbessert hätte ist nicht sicher. Ich weiß, dass die Eltern sehr viel arbeiten. Ob aber ein arbeitender Auszubildender in die Familie gepasst hätte, das weiß ich nicht.

Weil ich glaube, dass zwischen dem Vater und mir unsere unterschiedliche Sprache vieles gar nicht möglich gemacht hatte, wäre eine Lehre vielleicht wenig hilfreich gewesen. Durch die Schule hatte ich schnell die Möglichkeit eine bessere Sprache zu erlernen. Für das Gespräch zwischen mir und dem Vater reicht das allerdings bis heute noch nicht. Die Anstrengungen einer Lehre hätten vielleicht dazu geführt, dass ich meine Mithilfe im Haushalt, in der Küche, das Rasenmähen, das Kehren des Gartenweges, das Aufräumen der Garage oder das Schneeräumen im Winter eingeschränkt hätte. Das hätte für die Mutter schlimmes bedeutet, wo sie ohnehin schon gesagt hatte, dass ich mich wie in einem Hotel verhalten habe. Wäre ich täglich einer Lehre nachgegangen, wäre ich noch weniger zu Hause gewesen. Wahrscheinlich wäre ich, genauso wie es in der Schule gewesen war, während der Woche allein am Frühstückstisch gesessen. Mittags wäre ich nicht nach Hause gekommen. Abends wäre ich müde gewesen und hätte wohl kaum mehr zu Hause bei der Hausarbeit mit geholfen. Vielleicht hätte ich mich weniger in der Jugendgruppe aufgehalten. Wegen der anstrengenden Lehre, wäre ich dort sicherlich nicht mehr oft hingegangen. Das wäre es vielleicht gewesen! Hätte ich eine Lehre begonnen, anstatt der neuen Schule, wären die Ideen, auf die ich wegen der Jugendgruppe gekommen war, ganz sicher wesentlich weniger einflussreich für mich gewesen. Die Jugendgruppe, der Ort, der mir unter Gleichaltrigen viel Sicherheit vermittelt hatte, wäre vielleicht beinahe ausgefallen. Kräfte, die ich dort gesammelt hatte, hätte ich nicht mit nach Hause zu den Eltern gebracht. Eine Entwicklung, die ich in der Gruppe gemacht hatte, wäre ausgefallen. Vielleicht wäre das gut gewesen, denn die Gruppe hatte großen Einfluss auf mich. Meine besten Freunde habe ich dort kennen gelernt. Weniger oder gar keine Zeit für diese Gruppe hätte ganz sicher eine andere Entwicklung für mich und wahrscheinlich für die Beziehung zu den Eltern bedeutet.

13. In der Straße der Eltern

Erst um viertel nach zwei Uhr steige ich wieder in den Wagen und wende ihn umsichtig. Ich fahre im zweiten Gang die steil abfallende Straße langsam hinunter. Gleich nach einer Baustelle für einen großen Hotelkomplex biege ich nach links in die Straße ein, in der ich fünf Jahre lang im Haus der Eltern gelebt habe.

Der Rohbau auf der Baustelle für das mehrstöckige Hotel ist bereits fertig. Der Dachstuhl ist fertiggestellt, oben erkenne ich einen winzigen Baum, das Richtfest war bereits gefeiert worden. Früher war hier eine schöne Wiese mit einem alten großen Baum. Auf dieser Wiese hatte ich vor fünf Jahren die ersten Kinder in meiner Straße bei den Eltern kennen gelernt. Von den Nachbarskindern war ich schnell in ihr Spiel aufgenommen worden. Im ersten Sommer, den ich hier gewohnt hatte, waren wir schwer damit beschäftigt gewesen, auf der hohen Buche am Rand des Grundstücks eine Baumhütte zu bauen. Die alte Buche suche ich jetzt vergeblich. Sie musste dem Neubau weichen. Auf diesem Grundstück hatten wir im Sommer jeden Nachmittag Verstecken und Fangen gespielt. Über die wenig befahrene Straße hatten wir ein altes Seil gespannt und Ballspiele gemacht. Das Grundstück war mehrere Jahre lang der tägliche Treffpunkt für die Kinder in der Straße gewesen. Dort habe ich nachmittags immer Nachbarskinder zum Spielen gefunden. Den Nachbarskindern war es egal, ob es zu Hause mit den Eltern gut oder schlecht lief. Was zu Hause war, war hier kein Thema. Hier ging es um Toben, Rennen, Schreien, Spielen, Gewinnen oder Verlieren. Ob zu Hause Streit war, spielte auf dem Spielplatz Straße und auf dieser Wiese keine Rolle. Mich fragte keiner wie es geht, sondern nur, ob ich mitspiele. Ich habe immer mitgespielt.

Heute Nachmittag ist hier kein Kind unterwegs. Von der Baustelle dröhnt der Lärm der Betonmischer. Auch der Baum an dem wir unsere Schnur befestigt hatten fehlt. Dort führt nun eine geteerte Einfahrt hinunter in eine Tiefgarage für die künftigen Hotelgäste. Der Ort ist vom Tourismus geprägt. Unsere alte Spielstraße bleibt davon nicht verschont.

Schon in den vergangenen zwei Jahren, ich war dem Alter für die Spiele auf der Straße längst entwachsen, hatte ich auf der Straße kaum mehr Kinder gesehen. Das Spielen auf der Straße und auf diesem Grundstück hatte ich mit fünfzehn Jahren aufgegeben. Ich hatte andere Interessen. Auch bei den früheren Spielgefährten, sie waren alle in meinem Alter, war das so gewesen. Die Nachmittage auf der Straße waren, ohne dass wir das geplant hätten eines Tages vorbei, als wären sie einfach eingeschlafen. Hin und wieder hatte ich die Nachbarskinder später noch getroffen. Ich sah sie im Ort beim Einkaufen, oder ich grüßte sie auf dem Schulweg nach Hause beiläufig. Die Interessen der Nachbarskinder haben sich anders entwickelt. Das Spiel auf der Straße war vorbei und keines der Nachbarskinder habe ich in der Jugendgruppe wieder getroffen. Dort habe ich neue, andere Jugendliche kennen gelernt. Ich weiß nicht, wie die Nachbarskinder ihre Freizeit verbracht haben, nachdem das Spiel auf der Straße vorbei gewesen war.

In der Straße der Eltern ist es heute Nachmittag ruhig. Kein Mensch ist unterwegs um diese Zeit. Langsam fahre ich an den bekannten Häusern meiner früheren Spielgefährten vorbei. Ich sehe niemanden auf dem Gehsteig. Auch in den Hauseingängen oder in den Fenstern sehe ich niemanden. Die Straße wirkt wie ausgestorben. Am Ende der Straße, es ist eine Sackgasse, erreiche ich das Haus der Eltern. Das Haus liegt einige Meter oberhalb der Straße. Man erreicht es über Treppenstufen und einen ansteigenden Weg. Ich steuere den Wagen am Straßenrand vor die offene Garage. Die Garage ist in einen kleinen Hang eingemauert, auf dem das Haus der Eltern steht. Sie ist stets offen, denn es gibt hier keine Diebe. Meine wenigen Kisten finde ich genauso vor, wie ich sie gestern an der Wand in die Garage gestapelt habe.

Ich lade die Kisten in den Kofferraum und auf die Rückbank des Autos. Die Bretter von meinem Kleiderschrank lade ich auf den Dachträger. Das schwerste Stück ist mein kleiner Schreibtisch. Mit Mühe schaffe ich es, auch ihn auf das Autodach zu wuchten. Ihn und die Bretter schnüre ich mit Gurten fest die mir Martina mitgegeben hat. Das Auto sieht schwer beladen aus. Der Schreibtisch auf dem Dach macht einen etwas riskanten Eindruck. Seine Füße ragen in den blauen Himmel. Vor dem Hintergrund der Bergketten und dem strahlend blauen Himmel darüber, betrachte ich sekundenlang diesen beladenen, kleinen, grünen Wagen. Das wäre ein hübsches Foto vom Ende meiner Zeit hier. Die Gurte ziehe ich gut fest, sie sind für schwere Lasten geeignet. Trotzdem macht die Ladung auf dem Dach einen wenig gesicherten Eindruck. Der Stuhl muss noch auf den Beifahrersitz. Also lade ich die dortigen Kisten noch mal aus. Zuerst den Stuhl auf den Sitz, dann zwei Kisten zwischen die aufragenden Stuhlbeine. Die dritte Kiste muss irgendwie noch in den Kofferraum. Der lässt sich jetzt nicht mehr ganz schließen, ich binde ihn mit einer Schnur fest. Endlich habe ich alles verstaut. Der Wagen sieht aus, als sei er mit einer Fuhre Gerümpel für den Sperrmüll beladen. Dass dies mein Umzug sein soll, finde ich einen Moment lang lächerlich. Das ist mein Umzug. Ich habe alles eingeladen. Ein kleines, altes Auto reicht für meinen spärlichen Besitz. Kritisch rüttle ich an den Schrankbrettern. Vorne ragen sie über Windschutzscheibe und Motorhaube heraus. Die Fahrt geht los.

Behutsam steuere ich den Wagen durch die Kurven hinunter zur Hauptstraße. Ich bin froh, dass ich nicht mitten durch den Ort vorbei am Geschäft der Eltern fahren muss. Mein Umzugsvehikel sieht auffällig aus. Sicherlich würden die Menschen an der Hauptstraße im Ort einen neugierigen Blick auf den Fahrer werfen, der mit so einer Gerümpelfuhre unterwegs ist. Ich glaube, einige neugierige Menschen auf der Straße könnten erkennen, dass ich es bin, der hier eine Ladung Sperrmüll abtransportiert. Ich fahre nach rechts Richtung Ortsausgang. Dort beschleunige ich behutsam.

14. Umzugsfahrt

Obwohl ich nach dem Ortsendeschild schneller fahren dürfte, bewegt sich die Tachonadel zwischen sechzig und siebzig Kilometern. Mit der Ladung auf dem Dach will ich nichts riskieren. An der ersten Bushaltestelle bleibe ich stehen und kontrolliere die Ladung und die Gurte. Nichts hat sich verschoben, die Gurte sind fest.

Mit sechzig Stundenkilometern fahre ich durch verschiedene kleine Orte, die ich alle kenne. Langsam kriecht der Wagen den Berg hinauf zu den Bahngleisen, die am Bahnübergang über die Straße führen. Hier fahre ich auf den Seitenstreifen, um eine lange Autoschlange vorbei zu lassen, die sich hinter mir gebildet hat. Erst als kein Fahrzeug mehr kommt fahre ich langsam in die erste Kurve. Die Straße fällt steil ab. Im zweiten Gang halte ich das Auto auf niedriger Geschwindigkeit. Die Bremse benutze ich deshalb kaum. Im Rückspiegel sehe ich einen Reisebus. Dicht fährt der Bus auf. Vor jeder Kurve höre ich seine Bremse laut quietschen. Ich versuche mich davon nicht irritieren zu lassen. Ich will dass meine Ladung auf dem Dach bleibt und nicht in einer Kurve über die Leitplanken und die Felsen stürzt. Deshalb fahre ich gleichmäßig langsam, ohne unnötige Bremsmanöver vor den Kurven.

Kaum habe ich das Tal erreicht, in dem die kurvenreiche Bergstrecke in einer langen Geraden ausläuft, unternimmt der Busfahrer hinter mir sein geplantes Überholmanöver. Um nicht länger ein Verkehrshindernis zu sein, und weil ich die Nerven der Fahrer in der langen Autoschlange, die ich im Rückspiegel sehe nicht länger strapazieren möchte, setze ich frühzeitig den Blinker nach rechts und fahre an einer Bushaltestelle am Ende der Geraden auf die Seite. Wieder kontrolliere ich meine Ladung auf dem Dach. Dort ist alles in Ordnung.

An der kleinen Kreisstadt führt eine Umgehungsstraße vorbei. Ich fahre auf eine Nebenstrecke, die weniger befahren ist. Dort biege ich in Richtung große Kreisstadt ab. Der leere Tank fällt mir wieder ein. Kurz vor der Abzweigung auf die Nebenstraße finde ich eine Tankstelle. Das Benzin ist hier billiger als in meinem Gebirgsort. Den Wagen tanke ich nicht voll, das wäre mir immer noch zu teuer und für die Entfernung, die ich vor mir habe auch übertrieben.

Die Nebenstrecke kenne ich, weil die Mutter mit mir in einem Landgasthof auf dieser Strecke einen Kaffee getrunken hatte und wir eine Kleinigkeit gegessen hatten. Es war der Nachmittag gewesen, als wir das neue Zimmer besichtigt hatten. Weil weder die Mutter noch ich an diesem Tag etwas zu Mittag gegessen hatten, war die Mutter auf die Idee gekommen auf die Nebenstrecke abzubiegen um in dem Landgasthof eine kurze Pause einzulegen. Die Mutter äußerte sich über Frau Stößer sehr angetan. Sie war der Meinung, dass ich in deren Hause gut untergebracht sein werde. Die Miete für das Zimmer sei angemessen und das Haus sei in sehr ordentlichem Zustand. Es sei wirklich Glück, dass gleich das erste Angebot so vertrauenswürdig ist. Das spare uns viel Zeit und weitere Mühe. Der Meinung der Mutter habe ich mich in allen Punkten angeschlossen.

Frau Stößer hatte auch auf mich einen guten, irgendwie bürgerlichen, reichen, strebsamen und geschäftstüchtigen Eindruck gemacht. Dass ich mir eine lockerere Vermieterin gewünscht hätte und dass ich auch mit einem alten Haus, anstatt eines Neubaus, sehr zufrieden gewesen wäre, wollte ich der Mutter an dem Nachmittag nicht sagen. Es hätte wenig Sinn gehabt mit der Mutter über Frau Stößer, das Haus und das Zimmer zu diskutieren. Es wäre überhaupt nicht sinnvoll gewesen an dem Nachmittag im Landgasthof einen ehrlichen Austausch mit der Mutter über das neue Zimmer zu suchen. Auch wenn ich überzeugt war, das dies das richtige Zimmer für mich ist, wären kritische Worte von mir über Frau Stößer und ihr Haus nicht gut gewesen. Ich glaube, das hätte einen unnötigen Streit zwischen der Mutter und mir gegeben. Wenn ich der Mutter im Landgasthof geantwortet hätte, dass ich die Zukunft zwischen Frau Stößer und mir in einem neutralen Mietverhältnis sehe und es mir deshalb vollkommen egal ist, ob Frau Stößer auf die Mutter einen guten Eindruck gemacht hat, das wäre sehr schlimm gewesen. Stattdessen war mir der Eindruck der Mutter wichtig. Es war wichtig und richtig, dass ich bei Frau Stößer gut aufgehoben sein werde. Es war gut, dass die Mutter diesen Eindruck gewonnen hatte und dass ich mich sofort auf das Mietangebot eingelassen hatte. Für mich ist es wichtig, dass Frau Stößer dieses Zimmer an mich vermietet und wir miteinander als Mieter und Vermieter zu Rechtkommen. Gerne hätte ich mit der Mutter darüber diskutiert, was an Frau Stößer den vertrauenswürdigen Eindruck bei der Mutter ausgelöst hatte. Weil so eine Frage und Diskussion für die Mutter reine Provokation gewesen wäre, habe ich das unterlassen. Stattdessen habe ich ihr zugestimmt. Die Zeit der Auseinandersetzung mit den Eltern war abgelaufen. Weil meine Zukunft ohne die Eltern greifbar nahe gerückt war, habe ich seit einigen Wochen in den Gesprächen mit den Eltern immer eine zustimmende Haltung eingenommen.

Anstatt mich weiter mit den Eltern und dem Zuhause auseinander zu setzen, war ich mehr und mehr mit mir selbst beschäftigt. Immer stärker hörte ich in mir die Frage, wie ich den bevorstehenden Bruch zwischen den Eltern und mir überstehen werde. Seit der Besichtigung des Zimmers, habe ich begonnen dem stärker nach zu spüren. Jeden Abend dachte ich vor dem Einschlafen daran, dass sehr bald ganz andere Dinge als die bisherige Auseinandersetzung zwischen den Eltern und mir wichtig werden. Heute, wo ich langsam in meinem Umzugswagen diese Nebenstraße Richtung große Kreisstadt entlang fahre, beginnt die Auseinandersetzung mit mir selbst. Kampf findet ab heute nicht mehr zwischen den Eltern und mir statt. Ich selbst bin es, mit dem ich ab heute zu kämpfen habe. Heute geht dieser Kampf los. Gedanken in meinem Kopf gelten ab heute meiner Zukunft an der die Eltern nicht beteiligt sind. Jetzt geht der Kampf schon los. Ich muss weiter kommen, ohne die Eltern. Ich muss mich durchkämpfen, ohne die Eltern. Ich muss einen Weg finden, ohne die Eltern. Ab morgen werde ich alleine leben. Ab morgen wird alles, was in den vergangenen Jahren zwischen den Eltern und mir nicht richtig funktioniert hatte, alles was zwischen uns zu Streit geführt hat, all meine Fehlleistungen der letzen fünf Jahre, das alles wird mir in einem völlig andern Licht erscheinen, weil ich ab morgen mit mir selbst zu kämpfen habe.

In meinem täglichen Alltag wird all das was zwischen den Eltern und mir gewesen war nicht mehr sichtbar sein. Es wird vorbei sein. Es ist aus. Es ist abgelaufen. Vielleicht ist es auch irgendwie überstanden. Was bleibt ist nicht erkennbar. Ich kann es nur mit Mühe beschreiben. Obwohl es nicht mehr da ist, ist es schwer. Das schwere habe ich überall mit dabei. Ich trage es mit mir. Ich kann es aber eigentlich nirgendwo gebrauchen. Trotzdem muss ich es mit mir tragen. Ich muss die Kraft aufwenden das zu behalten. Es ist meines, deshalb kann ich das nicht an irgendeiner Ecke abladen. Ich trage also etwas schweres überall hin mit mir herum, mit dem ich in dem Moment, in dem ich es dabei habe eigentlich nichts anfangen kann. Ich kann es auch nicht herzeigen. Das geht nicht, denn eigentlich habe ich es gar nicht mehr. Es ist einfach vorbei. Es ist nichts, das ich herzeigen kann. Trotzdem muss ich es weiter tragen. Es gehört zu meinem Leben. Das kann ich nie abgeben. Ich kann mir das nicht erklären. Es ist all das, was von dem bei mir bleibt, das zwischen den Eltern und mir jahrelang entstanden und gewesen war. Ich glaube ab morgen wird es für mich wichtig werden, dass ich lerne mein neues Leben irgendwie gut zu meistern.

15. Die Ankunft

Die Nebenstraße führt durch mehrere Täler in denen sie kleinere Ansiedlungen und Ortschaften durchquert. Ich fahre nicht schneller als sechzig Kilometer. Wieder bleibe ich stehen, um Schreibtisch und die Schrankbretter auf sicheren Halt zu überprüfen. Was ich hier transportiere ist alles, was ich besitze. Rechts am Straßenrand fahre ich an einem Hinweisschild vorbei. Bis zur großen Kreisstadt sind es noch sechs Kilometer. An einer Abzweigung steht ein Mann mit einem Fahrrad. Der Mann hält den Daumen raus. Ich bleibe stehen, obwohl mein Wagen schon voll beladen ist. Der Mann, jetzt erkenne ich, dass er jung ist, er dürfte in meinem Alter sein, kommt an mein geöffnetes Fahrertürfenster.

“Wo soll’s denn hin gehen?” So frage ich. “Nur drei Kilometer in diese Richtung”, der Mann zeigt Richtung der großen Kreisstadt, “und dann noch einen Kilometer nach links ab, wenn’s recht ist.” So spricht er und lacht. Lächelnd läuft er eine Runde um mein Vehikel. Kritisch begutachtet er meine Ladung. Dabei lacht er. Er lehnt sich an mein geöffnetes Fenster. “Das dürfte doch wohl kein Problem sein. Im Wagen ist doch noch reichlich Platz.” Während er so spricht, zeigt er auf den von Holzstuhl und Kisten beladenen Beifahrersitz. Erwartungsvoll lächelt er mich an. “Na dann wollen wir mal einladen”, sage ich und steige dabei aus. “Hervorragend”, ruft der Tramper. Er reicht mir seine Hand, die ich ergreife und schüttle. „Manfred heiß ich, stamme nicht aus diesem herrlichen Bayernland, lebe aber schon seit Jahren hier, fühle mich dabei noch immer wohl, komme grad aus der Werkstatt und hab nen Platten am Rad’l. Freu mich weil ich nun bald, vielleicht sogar noch vor dem Regen trockenen Fußes zuhause bin.“ Weil Manfred mich mit so einem überschwänglichen Redeschwall begrüßt, antworte ich darauf: „Bert mein Name, stamme auch nicht aus dieser Gegend, komme gerade eben von den Bergen, mache heute meinen Umzug und plane mich ab sofort in der großen Kreisstadt niederzulassen.“ Während wir ausladen und wieder einladen erfahre ich, dass Manfred eine Schreinerlehre macht und vor zehn Minuten an der Abzweigung auf seinem Heimweg von der Arbeit, mit seinem Uraltfahrrad in einen winzigen nach oben stehenden Nagel gefahren war.

Wir brauchen die Zeit einer knappen halben Stunde, um auszutüfteln wie wir die beiden Umzugskisten in den vollen Kofferraum laden und den Stuhl zusammen mit Manfreds großem, schwarzen Opafahrrad auf das Dach zwischen die Tischbeine meines Schreibtisch schnallen. Manfred ist ein höchst geduldiger Mensch. Meine Umzugskisten passt er, wie es vielleicht nur ein geübter Handwerker schaffen kann, in den voll beladenen, kleinen Kofferraum. Natürlich funktioniert das nur, weil Manfred den Kofferraum zunächst ganz leer räumt. Die Hälfte meines Umzugsgutes sehe ich minutenlang am Straßenrand der einsamen Nebenstraße stehen. Der Himmel über uns ist inzwischen düster geworden. Meine wenigen Kisten lehnen gestapelt an einem Straßenbegrenzungspfosten. In diesen Sekunden wird mir wieder klar, wie wenig das ist. Meinen spärlichen Besitz räumt Manfred in aller Ruhe, nachdem er die Größe jeder einzelnen Kiste mit seinen Augen vermessen hat, sorgfältig in den Kofferraum. Der Kofferraum lässt sich genauso wie zuvor nicht schließen, aber er sieht nicht voller aus als zuvor, obwohl Manfred zwei Kisten mehr darin verstaut. Sorgfältig wie die Kisten im Kofferraum bringt Manfred den Holzstuhl samt seinem Fahrrad zwischen den Schreibtischbeinen auf dem Dach unter.

Manfred wohnt nur wenige Fahrminuten entfernt. Ein kleiner, holperiger Feldweg führt links von der Nebenstraße hinauf zu einem Gehöft. Über den Holperweg erreichen wir ein altes Bauernhaus. Es ist das Haus seiner Eltern. In dem Augenblick, als wir auf einen kleinen Hof vor dem Haus fahren öffnet der Himmel seine Schleusen. Manfred springt schnell aus dem Wagen. Er läuft zu der riesigen Scheune gegenüber dem Haus. Er schiebt ein hohes Rolltor auf und winkt mich heran. Mit dem beladenen Auto fahre ich durch das Tor in die Scheune.

Es gießt in Strömen. Es Blitz und kracht sofort. Ein gewaltiges Gewitter entlädt sich in unmittelbarer Nähe. Manfred lädt mich ins Haus ein. Wir laufen durch dichte Regenfaden zwischen Pfützen, die sich schnell gebildet haben von der Scheune zum Haus. Vor dem Hauseingang erkenne ich im Regen allerlei hohe Krüge, Schalen, Blumenübertöpfe und andere Gefäße aus Ton. Es scheint keine Rolle zu spielen, dass diese Dinge vom schweren Regen getroffen werden. Manfred lotst mich durch eine niedrige Eingangstüre. Entlang einem finsteren Korridor folge ich Manfred in die Küche. Dort bietet mir Manfred auf einer Eckbank an einem großen, runden Holztisch einen Platz an. Wir trinken kalten Tee.

Manfreds Eltern betreiben hinter der Scheune eine Töpferei. Während Manfred den Tee einschenkt erzählt er. Seine Eltern bieten Töpferwaren in einigen Geschäften in der großen Kreisstadt und auf den Wochenmärkten der umliegenden kleineren Gemeinden an. Obwohl ich Manfred erst vor Minuten am Straßenrand kennen gelernt habe erzählt er von seinem zu Hause, als würde er mich schon lange Zeit kennen. Dass er den Fahrer des Wagens, der ihn die wenigen Kilometer mit nach Hause genommen hat, in der Küche zum Tee einlädt, scheint für Manfred normal zu sein. Ich bin froh, die Unterstellmöglichkeit in der hohen Scheune für das Auto zu haben. Ich habe nicht daran gedacht, dass der Nachmittag ein Sommergewitter bringen könnte. Während der Autofahrt habe ich nicht darauf geachtet, dass sich da etwas zusammengebraut hatte. Niemals hätte mir die Zeit gereicht, das Autodach bei Frau Stößer so schnell leer zu räumen. Schreibtisch und Schrankbretter wären nicht trocken geblieben.

Manfred interessiert sich dafür, wo ich in der großen Kreisstadt ein Zimmer gemietet habe. Er will auch wissen, welche Schule ich dort besuchen werde. Er kennt die Stadt gut. Er erklärt mir, welche Einkaufsmöglichkeiten er von meinem künftigen Zimmer aus kennt und welche Kneipen er für gut hält. Beinahe zwei Stunden lang unterhalte ich mich mit Manfred am Küchentisch seiner Eltern. Als wir in der Scheune Manfreds Fahrrad abladen hat der Regen schon lange aufgehört.

Manfreds Eltern kommen in die Scheune. Dort lagern diverse frisch gebrannte Töpferwaren auf Holzbrettern. Manfred stellt mich seinen Eltern vor. Lachend nennt er mich einen Einwanderer in diesen Landkreis und die große Kreisstadt. Ich sei heute auf einer strapaziösen Umzugsreise auf ihn getroffen. Er habe mich an der Straßenkreuzung kennen gelernt, weil ich der einzig gewesen sei, der vorbeigekommen war. Nur mir habe er zu verdanken, dass er trotz Plattfuß an seinem Fahrrad, trockenen Fußes nach Hause gekommen sei. Während er seinen Eltern so Bericht erstattet, lächeln die und er scherzhaft. Manfred entschließt sich spontan, mit mir zusammen in die große Kreisstadt zu fahren. Dort habe er ohnehin noch einiges zu erledigen. Weil sein Fahrrad außer Betrieb ist, wolle er gerne die Mitfahrgelegenheit in Anspruch nehmen. Eine viertel Stunde später fahre ich zusammen mit Manfred vor dem Haus meiner Vermieterin hinter der Bahnlinie vor. An der Klingel finde ich einen weißen Briefumschlag. In dem steckt der Schlüssel für die Haustüre. Auf dem Briefumschlag schreibt Frau Stößer, dass sie erst spät abends nach Hause kommen wird. Sie wünscht mir einen schönen ersten Tag in meinem neuen Zimmer. Diese Art der Begrüßung finden Manfred und ich sehr nett. Frau Stößer scheint keine Bedenken zu haben, dass so ein Schlüssel in einem Umschlag an der Wohnungstür von einer Person auch missbräuchlich genutzt werden könnte.

Manfred findet mein Zimmer klein, aber gemütlich. Das Haus von Frau Stößer hält er für ein „architektonisches Verbrechen“, weil es ein typischer Neubau unserer Zeit sei. Die große Doppelgarage, das hohe, schmiedeeiserne Tor, die hohen, umzäunten Hecken, den fein geschnittenen Rasen, den Springbrunnen im Garten, das alles hält Manfred für das Ambiente neureicher Menschen. Manfred vermutet, dass die entweder von einer Erbschaft leben, oder durch gewinnbringende Geschäfte schnelles Geld gemacht haben. Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Wie meine Vermieterin ihr Geld verdient weiß ich nicht. So kann ich Manfreds Vermutungen nicht bestätigen, aber auch nicht entkräften. Dass Frau Stößer für mich den Haustürschlüssel im Umschlag an ihre Klingel klebt, passt jedenfalls nicht zu ihrem Haus. Das finde ich gut. Es passt auch nicht zu ihrem Garten, den großen Autos, die in der Doppelgarage parken und auch nicht zu ihrem Auftreten in dem Gespräch, als ich mit der Mutter das Zimmer besichtigt habe. Das finde ich auch gut.

Wir laden zunächst das Dach des Wagens ab und tragen alles vorsichtig hinauf in mein Zimmer. Weil die Treppe sehr eng ist, sind wir besonders aufmerksam mit den Schrankbrettern und dem Schreibtisch. Auf keinen Fall möchte ich riskieren, mit meinem Zeug ein Bild von der Wand im Treppenhaus zu stoßen, oder einen Streifen an der Wand zu hinterlassen. Manfreds Hilfe ist Gold wert. Ohne ihn hätte ich den Schreibtisch niemals über die enge Treppe in den ersten Stock hinauf tragen können. Deshalb lade ich ihn, nachdem wir alles hinauf geschafft haben, zu einem Tee ein. Den trinken wir in meinem, von meinem gesamten Besitz gefüllten, aber trotzdem noch leeren Zimmer. Weil mein Mobiliar nicht ausreicht, setzen wir uns auf den Fußboden. Aus einer Kiste krame ich meine zwei Tassen und den einzigen Topf den ich habe hervor. In der kleinen Küche koche ich das Teewasser. Aus einer Kiste ziehe ich die Teebeutel.

Manfred findet mein beinahe leeres Zimmer gemütlich. Ich schaue mich um und bemühe mich das auch zu tun. Das einzige Mobiliar sind Schreibtisch und Stuhl. Als Bett habe ich in einer Kiste eine Isoliermatte und einen Schlafsack. So werde ich die erste Zeit hier leben. Das denke ich und schenke Manfred noch einen Schluck Tee in seinen Becher. Manfred verabschiedet sich. Er gibt mir seine Telefonnummer und er schreibt sich die Rufnummer von Frau Stößer auf. Ich bedanke mich für seine Umzugshilfe. Manfred erklärt mir eine Abkürzung vom Haus hinunter durch den Wald in die große Kreisstadt. Dort wird er jetzt hinunter laufen. Wir verabreden, dass wir uns kommende Woche wieder sehen werden.

16. Im neuen Zimmer

Jetzt sitze ich allein in meinem neuen Zimmer. Ich höre die Züge, die nur wenige Meter vor meinem Fenster am Haus vorbei rauschen. Die Strecke ist sehr befahren. Viertelstündig, manchmal bereits nach zehn Minuten rauscht der nächste Zug vorbei. Ich schraube den Schrank zusammen und schiebe ihn in eine Zimmerecke. Dann sitze ich auf meinem Stuhl. Ich höre die neuen Geräusche in meinem neuen Zimmer. Wenn kein Zug fährt, scheint es vollkommen still im Haus zu sein.

Aus dem Fenster sehe ich auf die Straße vor dem Haus. Die Straße liegt zwischen Haus und Bahnlinie. Nichts ist dort los. Kein Wagen fährt vorbei. Kein Fußgänger ist unterwegs. Wenn kein Zug vorbei fährt scheint auch draußen völlige Ruhe zu herrschen. Minutenlang bleibe ich am Fenster stehen. Ich weiß, dass dies der neue Ausblick ist, den ich ab heute täglich haben werde, wenn ich an meinem Schreibtisch sitze um für die Schule zu arbeiten. Weil mir mein neues Zimmer und der Blick aus dem Fenster fremd vorkommen, glaube ich sekundenlang nicht daran, dass dies meine neue Realität sein soll. Deshalb verlasse ich das Zimmer. Ich gehe über den breiten Flur. Dort liegt heller Parkettboden. Durch schräge Dachfenster fällt abendliches Sonnenlicht. Ich sehe durch die offene Tür ins Badezimmer. Über das helle Parkett im Flur gehe ich weiter und betrete einen großen Raum. Ich darf diesen großen Raum betreten, weil dort die kleine Küchenzeile ist, die ich benutzen darf. Aber nicht deshalb betrete ich jetzt diesen hellen, großen Raum. Ich betrete ihn, um durch die breite Fensterfront, sie weist hinaus Richtung Stadt, einen Blick zu werfen. Von hier aus sehe ich den gepflegten Rasen mit dem Springbrunnen in Frau Stößers Garten. Manfred hält den Garten und den Springbrunnen für übertrieben und neureich. Hinter der gepflegten Hecke, die den Garten begrenzt, fällt der Hang steil ab. Dort bietet sich ein traumhafter Ausblick hinunter auf die Stadt. Die Abendsonne beleuchtet die Stadt. Ich sehe rot getränkte Häuser. Ein breiter Fluss schlängelt sich durch die Stadt. Im Hintergrund sehe ich entfernte, rot scheinenden Bergketten. Da hinten, in fünfzig, sechzig Kilometer Entfernung wähne ich meinen Gebirgsort, der bis vor wenigen Stunden mein Heimatort gewesen war.

Der weite Ausblick über die Stadt bis zu den entfernten Bergen wäre mir viel lieber, als die Aussicht aus meinem Zimmerfenster auf Straße und Bahnlinie. Weil Frau Stößer nicht im Hause ist, wage ich es die große Balkontüre zu öffnen. Verbotener Weise trete ich einige Schritte hinaus auf den Balkon. Dort stütze ich mich an der Holzbrüstung auf, und genieße die warme Luft und den Ausblick an diesem herrlichen Sommerabend.

Minutenlang bleibe ich einfach stehen. Meine Augen kleben an den entfernten Bergen. Dann wende ich meinen Blick nach links. Dort erkenne ich das Nachbarhaus. Es scheint mir, als sei es im gleichen Stil wie das von Frau Stößer erbaut. Dort sehe ich eine ältere Dame. Sie steht dort, genauso wie ich im ersten Stock auf dem Balkon. Ich glaube, die Dame hat mich schon länger beobachtet. Jetzt, wo ich meinen Blick nicht mehr auf die Berge sondern auf sie richte, treffen sich unsere Blicke. Sofort kommt der Gedanke, dass ich hier eigentlich nicht stehen darf. Dieses große Zimmer habe ich nicht gemietet. Ich darf nur die kleine Küchenzeile auf der anderen Seite an der Wand benutzen. Vor allem habe ich nicht diesen Balkon gemietet. Ich denke sofort, wie ich oft über die Mutter gedacht habe. Ich denke an Kontrolle. Vielleicht hat Frau Stößer diese Nachbarin beauftragt. Vielleicht hat die alte Dame, diese Nachbarin von Frau Stößer den Auftrag, heute Abend einen genaueren Blick auf das Nachbaranwesen zu werfen. Weil ich heute hier einziehe und weil Frau Stößer den Abend lang nicht da ist, soll die alte Dame ein Auge auf Vorgänge im und am Haus haben. Weil ich das jetzt denke und dabei immer noch tue, was ich nicht tun dürfte, winke ich der alten Frau einfach lächelnd zu. Freundlich lächle ich zu der Dame auf dem Nachbarbalkon hinüber und rufe ihr zu: “Ein herrlicher Sommerabend heute!” Grüßend winkt die Frau nun auch mir zu. Meine Worte bestätigt sie nickend, und dabei lächelt auch sie. Noch einmal hebt sie die Hand. Das scheint ihr Abschiedsgruß zu sein, denn sie verlässt den Balkon. Sie verschwindet im Haus. Auch ich verlasse jetzt den Balkon und gehe zurück in mein gemietetes Zimmer.

Dort stehe ich wieder am Fenster. Vielleicht ist es dumm von mir, mich gleich am ersten Abend zu verhalten, wie ich es gerade getan habe. Hoffentlich war diese Frau nicht tatsächlich von Frau Stößer beauftragt worden, deren Haus zu beobachten. Ich sollte mich vorsichtiger verhalten. Ich sollte nicht noch einmal etwas riskieren. Vielleicht würde für Frau Stößer das was ich gerade getan habe bereits ausreichen, um den Mietvertrag zwischen ihr und mir wieder zu lösen. Künftig werde ich mich also bemühen absolut nichts zu tun, was Frau Stößer Anlass zu so einem Schritt sein könnte. Der heutige Ausrutscher, der Ausblick auf die entfernten Berge vom Balkon, den ich nicht gemietet habe, muss der einzige bleiben.

Vor dem Fenster donnert ein Zug vorbei. Es ist ein langer Personenzug. Er ist leiser, als die langen, schweren Güterzüge. Mein Fehlverhalten bei den Eltern muss insgesamt schwerwiegend gewesen sein, sonst wäre ich jetzt nicht hier in diesem fremden Haus, in diesem fremden Zimmer. Hoffentlich, so denke ich, als draußen schon wieder ein Zug vorbei donnert, ich glaube, es ist ein Intercity denn er kommt mir schneller vor als der vorhergehende Personenzug. Hoffentlich bin ich kein Mensch der grundsätzlich überall Ärger bekommt, weil er überall wo er sich aufhält, wegen seines Fehlverhaltens sofort auffällt. Vielleicht ist die Tatsache, dass ich vor Minuten in dem mir noch fremden Haus schon auf einem mir verbotenen Balkon stand, ein deutlicher Hinweis, dass der Ärger der Eltern über mich immer berechtigt gewesen war. Viel Ärger habe ich über die langen Jahre bei ihnen angerichtet. Heute lande ich hier in diesem fremden Haus. Seit nicht einmal drei Stunden bin ich hier. Schon habe ich die erste Grenze überschritten und den Ausblick auf die rot erleuchtete Stadt und die fernen Berge von einem verbotenen Balkon aus genossen.

Ich sehe mich in meinem Zimmer um. In der Ecke steht mein schäbiger Kleiderschrank. Er besteht aus weiß lackierten Press-Spanplatten. Vor dem Fenster, ich sitze auf dem Fensterbrett, sehe ich meinen zerkratzten Schreibtisch stehen. Vor fünf Jahren, im Alter von dreizehn Jahren habe ich den Schreibtisch in meinem winzigen Zimmer bei meinen Eltern vorgefunden. Damals war ich bei den Eltern eingezogen. In meinem Zimmer dort hatte ich diesen Schreibtisch und ich hatte diesen Schrank. Beides habe ich seit heute von den Eltern geschenkt bekommen. Das Bett konnte ich nicht haben denn es war in dem kleinen Zimmer bei den Eltern fest eingebaut. Vor dem Schreibtisch steht mein roter Holzstuhl. Auf dem grauen Linoleumfußboden sehe ich sechs Kisten. In denen befindet sich mein Besitz, den ich heute in einem geliehenen Wagen hier her transportiert habe. Manfred findet mein neues Zimmer gemütlich. Weil ich die Jahre bei meinen Eltern gelebt hatte, kommt es heute dazu, dass ich jetzt in diesem gemütlichen, kleinen Zimmer auf der Fensterbank sitze.

Draußen lärmt wieder ein Zur vorbei. Deshalb schaue ich zum Fenster hinaus. Diesmal ist es ein langer Güterzug. Die Waggons rollen langsam vorüber. Vielleicht ist es das gleiche Fehlverhalten, das ich vor Minuten hier im Haus von Frau Stößer an den Tag gelegt habe, das meine Eltern über die Jahre so sehr geärgert hatte. Vielleicht ist es ein und dasselbe Fehlverhalten, das ich immer und überall an den Tag lege. Ständig neige ich dazu Grenzen zu überschreiten. Ständig nutzte ich Menschen und Situationen für meine Interessen aus. Ständig bin ich auf der Suche nach meinem Vorteil. Ohne nachzudenken nehme ich, was ich kriegen kann. Ohne Dank nutze ich, was mir gar nicht zusteht. Der Blick vom verbotenen Balkon steht mir nicht zu. Den habe ich nicht mit diesem Zimmer gemietet. Trotzdem habe ich ihn mir verschafft. Vielleicht muss wegen diesem Verhalten heute der Schlussstich bei den Eltern gezogen werden.

Mein Schlussstrich endet heute in der Einsamkeit des fremden Hauses, des fremden Zimmers mit Blick auf die Bahnlinie. Auf ihr rollen ständig Züge vorüber. Die Züge sind unterwegs in weit entfernte Orte. Es sind viele Züge mit fremdländisch anmutenden Waggons. Fahrgäste in diesen Zügen sind unterwegs in eine mir fremde Ferne. Heute bin ich nur fünfzig oder sechzig Kilometer weit gereist. Trotzdem bin ich mit meinem Umzugsgut an einem Ort angekommen, der mir sehr weit entfernt von meiner bisherigen Heimat scheint. Ich bin einer, der sehr weit gereist ist. Ich bin einer, der eine lange Reise heute beendet. Die weite Reise zu den Eltern ist heute hier beendet. Das Ende findet heute Abend an diesem fremden Ort in diesem fremden Haus statt. Wegen der Fremdheit in diesem neuen Zimmer wirkt das für mich plötzlich so, als habe es die Jahre bei den Eltern gar nicht gegeben. Jetzt schon scheinen die Eltern für mich weit weg, weil ich in einem fremden Raum gelandet bin. Das Bild in meinem Kopf vom Leben bei den Eltern, von der langen Zeit im Gebirgsort verschwimmt plötzlich in meinem Kopf. Übrig bleibt ein Gewirr von Fäden, die ich nicht greifen kann.

17. Musik und Schuhplattler

Der grüne Wagen von Martina steht leer geräumt vor der Haustür. Weil ich ihn durch das Fenster unten auf der Straße sehe, schaue ich auf meine Armbanduhr. Es ist noch zu früh, um wieder in den Wagen zu steigen und zurück zu fahren.

Ich sitze auf dem Stuhl an meinem Schreibtisch. Wohin fahre ich, wenn ich später wieder zurückfahre? Dort wo Martina lebt, der Gebirgsort, in den ich ihr den Wagen zurückbringen werde, das ist ab heute nicht mehr meine Heimat. Meine neue Heimat ist ab heute hier. Ab heute bin ich auf mich selbst gestellt. Ab heute ist meine Heimat dort wo ich sie wähle, dort wo ich meine Zelte aufschlage, wo ich mit meinem spärlichen Besitz auftauche. Heute bin ich hier, in diesem Zimmer in der großen Kreisstadt. Hier tauchte ich vor wenigen Stunden auf um das Zimmer zu beziehen, um meine neue Heimat hier aufzubauen. Ob ich mich hier eines Tages beheimatet fühlen werde, ob ich es schaffen werde mich hier irgendwie und irgendwann zu Hause zu fühlen, das weiß ich jetzt noch nicht.

Um mich zu beschäftigen, vielleicht auch um mich von diesen Gedanken abzulenken, packe ich Kisten aus. Ich verstaue meine Kleidung in dem Schrank. Ich schalte mein altes Radio ein, um mich von ihm eine wenig von meinen Gedanken weg bringen und ablenken zu lassen. Das funktioniert nicht. Trotz des Lärms aus dem Radio, trotz des Lärms der vorbei rauschenden Züge muss ich daran denken, dass ich hier in dieser Stadt ab heute zu Hause und allein bin.

Freunde aus dem Gebirgsort werde ich hier nicht treffen. Einen Treffpunkt, wie die Jugendgruppe, oder “Eriks – Kneipe”, die in den letzten Monaten mehr und mehr zum Treffpunkt geworden war, habe ich hier nicht. “Eriks – Kneipe” war im Gebirgsort zu einem Platz geworden, an dem ich ohne mich verabreden zu müssen immer auf Freunde und Bekannte traf. Die kleine Kneipe liegt am Rande meines ehemaligen Schulweges hinunter zum Busbahnhof. Erik, den Kneipenpächter kenne ich selbst nicht. Aber ich hatte von Freunden aus der Jugendgruppe gehört, dass er sich mit der Eröffnung dieser Kneipe einen Traum erfüllt habe. Erik hatte den Wunsch, in dem kleinen Gebirgsort, zwischen den vielen Touristen-Gaststätten, ein anderes Lokal zu eröffnen. Erik hat das mit seiner winzigen Kneipe geschafft. Seine Kneipe ist zu einem Treffpunkt geworden. Die Preise in seiner Kneipe sind für den schmalen Geldbeutel geeignet. Seit Eröffnung von Eriks Kneipe hat sich ein gewichtiger Teil meines abendlichen Freizeitlebens vor allem an den Wochenenden dort hin verlagert. Die Jugendgruppe hat sich nicht nur weil ich und andere ihr entwachsen waren aufgelöst. Zu Gunsten des Feierabendvergnügens in Eriks Kneipe hatte sich die Auflösung der Jugendgruppe beschleunigt. So hatte der Konsum von Alkohol und Zigaretten vermehrt Einzug in das Leben meiner Freunde und in mein Leben gefunden.

Es war den Eltern nicht entgangen, dass ich im letzten Jahr mehr und mehr von meinem Taschengeld und das Geld, das ich durch die Jobs, wie dem Ruderbootverleih verdient hatte, in „Eriks – Kneipe“ ließ. Weil ich aber immer pünktlich zu Hause gewesen war, blieb den Eltern wenig Grundlage mein Verhalten zu kritisieren. Dass ich mehr und mehr zur Zigarette griff, war für die Eltern Anlass zu großer Besorgnis. Diese Sorge zeigte mir, dass die Eltern sich nicht nur wegen meines Verhaltens sorgten sondern, dass sie auch um meine Gesundheit Sorge hatten. Mein Gewissen gegenüber den Eltern war deswegen noch schlechter geworden. Das Rauchen hatte ich nicht aufgegeben. Für die Sorge der Eltern war ich voll von Verständnis. Den Eltern war an meiner Gesundheit gelegen. Diese Sorge der Eltern war frei von Werten, Normen und Bewertungen. Dass ich meine Gesundheit achten und pflegen sollte, habe ich als allgemein gültige und wertfreie Auffassung der Eltern betrachtet. Diese Sorge der Eltern habe ich als vollkommen berechtigt gesehen. Trotzdem war ich weiterhin Raucher geblieben. Auch das Trinken von Alkohol war den Eltern ein Dorn im Auge. Weil ich aber niemals betrunken nach Hause kam, gab es keinen Anlass zu befürchten, dass ich wegen Alkoholkonsum gefährdet wäre. In “Eriks – Kneipe” trank ich wenig Alkohol. Oft habe ich nur alkoholfreie Getränke getrunken, obwohl die Abende dort am Wochenende manchmal sehr lang geworden waren.

Meinen Freundeskreis habe ich in dieser Kneipe erheblich erweitert. Weil ich mir im vorletzten Jahr bei den Eltern das Gitarrespiel beigebracht hatte, war ich an Kontakt zu Kneipengästen interessiert, die auch Musik machten. Solche Leute traf ich in „Eriks – Kneipe“. Die Eltern hatten meine musikalischen Interessen nie gefördert. Sie hatten in den vergangenen fünf Jahren keine Instrumente gespielt, wenngleich sie dazu in der Lage gewesen wären. In der Jugendgruppe hatte ich mehrere Gitarristen kennen gelernt. Durch sie war meine Idee entstanden, dieses Instrument zu lernen.

Vom Geld meines ersten Jobs, es war der Job in der Küche einer Kneipe, hatte ich mir in der kleinen Kreisstadt eine billige, aber angeblich gute Gitarre gekauft. Um die Gitarre zu kaufen war ich in die kleine Kreisstadt gefahren, weil im Gebirgsort die Preise wegen der Touristen sehr überteuert sind. In „Eriks – Kneipe“ habe ich die „Musikszene“ für Jugendliche kennen gelernt. Das waren Jugendliche, die vor allem Blues- und Rockmusik spielten. Sie spielten und traten nicht nur für Touristen öffentlich auf. Für Touristen gab es im Ort eine eigene Volksmusikszene. Es gab Bühnen auf denen Volksmusik gespielt wurde und die örtlichen Vereine, die Schuhplattler – Darbietungen und Volksstücke aufführten. In „Eriks – Kneipe“ habe ich einen Musiker kennen gelernt, der in der kleinen Kreisstadt in einem Musikalienladen arbeitet. Bei ihm habe ich meine erste Gitarre gekauft.

Das Gitarrenspiel habe ich mir geduldig in meinem Zimmer bei den Eltern beigebracht. Die Eltern haben mein Spiel zwar nicht direkt unterstützt, aber sie hatten es für gut geheißen. Ich glaube, es war für sie eine gewisse Überraschung gewesen, dass ich mein Geld und Zeit in das Gitarrespiel investierte. Nach einem Jahr regelmäßigen Übens erkannte ich, dass mir Thomas, der Musikwarenverkäufer eine sehr schlechte Gitarre verkauft hatte.

“Eriks – Kneipe” war der Treffpunkt gewesen, in dem ich Thomas näher kennen gelernt hatte. Zu seinem Verkauf an mich, konnte ich ihm dort meine Meinung sagen. Thomas hatte in “Eriks – Kneipe” den “MOB”, die “Musiker – Organisation – Bergdorf” gegründet. Der „MOB“ ist eigentlich ein zusammengewürfelter Haufen von Gästen aus “Eriks – Kneipe”. Die Mitglieder machen entweder selbst Musik oder sie sind zumindest an Musik interessiert. Im vergangenen Jahr hatte Thomas mehrere Musikveranstaltungen für die Jugend des Ortes mit Hilfe des „MOB“ organisiert. Der “MOB” ist nicht daran interessiert, durch die Musikveranstaltungen Geld zu verdienen. Die Geschäftstüchtigkeit, die Thomas in seiner Arbeit im Musikalienladen zeigte, lag ihm beim „MOB“ fern. Die jugendlichen Besucher der „MOB – Konzerte“ hatten alle einen sehr kleinen Geldbeutel in ihren Taschen. Der „MOB“ hat die Aufgabe übernommen, dass im Ort mehr für junge Leute geboten wird. Das alltägliche Freizeitangebot im Gebirgsort ist auf Touristen zugeschnitten. Im „MOB“ hatten sich Jugendliche zusammengeschlossen, die für andere Jugendliche etwas bieten wollten. Das gab es bislang im Gebirgsort nicht.

Im „MOB“ war ich ein Mitläufer. Ich hatte keine tragende Rolle, weil ich musikalisch ein Anfänger gewesen war. Mein Gedudel, die paar Akkorde, die ich mir auf der Gitarre beigebracht hatte, waren bei Weitem nicht genug, um in einer Band mitzuspielen. Trotzdem war ich im „MOB“ aktiv. Ich fand es gut, dass es im Gebirgsort auch nach dem Ende der Jugendgruppe Leute und Aktivitäten gab, denen ich mich anschließen konnte.

Die Eltern hatten zu solchen Aktivitäten immer geschwiegen. Vielleicht hatten sie Angst davor, dass zuviel Jugend an einem Platz versammelt auch Aufregung und Unruhe im Ort bedeuten könnte. Vielleicht hatten sie Bedenken, dass durch meine Beteiligung an derlei harmloser Organisation ein schlechtes Licht auf sie fallen könnte. Vielleicht hatten sie Sorge, dass ihr Geschäft in Mitleidenschaft gezogen würde. Jedenfalls haben sie mich nicht darin unterstützt, dabei mitzuhelfen, laute Jugendaktivitäten im Gebirgsort zu organisieren.

Bevor des den „MOB“ gab, hatte ich mich neben der Jugendgruppe noch in einer Gruppe betätigt, die sich im Ort für die Gründung eines Jugendzentrums engagierte. Über das Ziel dieser Gruppe hatte ich in den vergangenen Jahren zwei Mal mit dem Vater gesprochen. Die Interessengruppe hatte viele Jahre lang für ein Jugendzentrum gekämpft. Schließlich hatte der Gemeinderat den Beschluss gefasst, tatsächlich ein Jugendzentrum zu eröffnen. Vor zwei Jahren war es soweit. Allerdings hatte die Gemeinde nicht im Sinne der Interessengruppe gehandelt. Die Satzung des neuen Jugendzentrums sah vor, dass nur Jugendliche dieses Haus betreten durften, die in den örtlichen Vereinen, wie den Schuhplattlern, der Jugendfeuerwehr, dem Trachtenverein und anderen Gruppen organisiert waren. Die Gemeindeverwaltung nannte das Ganze nicht Jugendzentrum, sondern Jugendheim. Für mich und viele andere Jugendliche gab es dort keinen Platz. Die Satzung hatte uns den Zutritt verwehrt, weil wir keinem der vorgesehenen Verein angeschlossen waren. Ich hatte zweimal mit dem Vater darüber gesprochen, weil der im Gemeinderat saß. Der Vater hatte zwar verstanden, was mich am „Jugendheim“ gestört hatte, aber verändern konnte und wollte er die Satzung des Hauses nicht.

Für mich und die Freunde aus dem “MOB” war klar, dass es eine Frage der Zeit sein wird, bis die Gemeinde die Satzung des Jugendheims abändern wird. Die Zeit wird kommen. Gestern habe ich in der regionalen Zeitung gelesen, dass ab dem kommenden Monat alle jungen Leute zu den Öffnungszeiten ins „Jugendheim“ kommen dürfen. Allerdings nur, sofern sie noch nicht volljährig sind. Für die Interessengruppe des Jugendzentrums und für den “MOB” kommt das zu spät. So wie ich es heute werde, sind alle Mitglieder inzwischen volljährig geworden. Ich glaube in den nächsten Jahren wird “Eriks – Kneipe” im Gebirgsort weiter der wichtigste Treffpunkt zumindest für meine Altersgruppe bleiben. Irgendwann wird auch das vorbei sein.

Ich sitze auf dem Stuhl vor meinem Schreibtisch. Mein Kopf liegt auf meinen Armen auf der Schreibtischplatte. In meinen Gedanken an “Eriks – Kneipe” und den “MOB” war ich für kurze Zeit eingedöst. Draußen rauscht ein Güterzug vorbei. Seine Stahlreifen schlagen rhythmisch und hart gegen die Schwellen der Gleise. Das Schlagen holt mich zurück in mein neues Zimmer. Draußen ist es dunkel geworden. Ich gehe zum Fenster und öffne es. Unten auf der Straße ist es finster, abgesehen von einer Straßenlaterne. Ich gehe zur Zimmertüre und betätige dort den Lichtschalter. Es geschieht nichts. Ich habe noch keine Lampe an der Decke angebracht. Eine Zimmerlampe muss ich mir erst noch kaufen.

Weil kein Licht im Zimmer ist, ich aber noch einige Dinge einpacken muss, öffne ich die Zimmertür und schalte im Gang das Licht ein. Im Schimmer des Lichtes vom Flur, packe ich eine kleine Tasche mit meiner Zahnbürste und einigen Kleidungsstücken, sowie meinem Schlafsack zusammen. Ich gehe die Treppe hinunter, lösche das Licht und verlasse das Haus. Die Haustür sperre ich zweifach zu. Ich möchte, dass Frau Stößer den Eindruck gewinnt, dass mir an Sicherheit für ihr Haus gelegen ist. Draußen ist es angenehm warm. Es ist eine der seltenen warmen Sommernächte. Auch das schmiedeeiserne Tor sperre ich ordentlich ab. Ich setze mich in den kleinen grünen Peugeot starte den Motor, schalte das Licht ein und fahre langsam los.

18. Rückweg

Gemächlich steuere ich den Wagen auf der kleinen Straße parallel der Bahnlinie entlang. Etwa zweihundert Meter von Frau Stößers Haus entfernt führt rechts eine steil abfallende, schmale Straße hinunter Richtung Stadtmitte. In diese Straße biege ich ein. Weil ich mich in der Stadt noch nicht auskenne, fahre ich ab der Kreuzung der blauen Beschilderung in Richtung Autobahn. Zur Autobahn sind es nur wenige Kilometer. Auf der Autobahn fahre ich etwa zwanzig Kilometer Richtung Süden. Danach fahre ich etwa die gleiche Entfernung auf einer breiten Umgehungsstraße. Sie führt mich an der kleinen Kreisstadt vorbei. Später folge ich einer kurvenreichen Straße, die auf und ab nahe an die Bergketten heran führt. Irgendwann wird der Berg von der kurvige Straße einfach durchschnitte.

An einer Bushaltestelle, kurz bevor der kurvenreiche Abschnitt beginnt, sehe ich einen Anhalter stehen. Natürlich bleibe ich stehen und nehme ihn mit. Der Mensch dort könnte auch ich sein. Ich habe kein Auto. Ich sitze in einem geliehenen Wagen. Es stellt sich heraus, dass der Anhalter das gleiche Ziel hat, wie ich. Er möchte in den Gebirgsort mitgenommen werden. Nach einigen Gesprächsminuten stellt sich heraus, dass auch er den heutigen Abend in “Eriks – Kneipe” verbringen möchte. Dort, so erzählt mir der Tramper, der aus der kleinen Kreisstadt stammt, habe eine Gruppe junger Leute, die sich “MOB” nenne, für den heutigen Abend einen Auftritt einer Band organisiert. Er sei sehr gespannt auf das, was die heute Abend bei Erik bieten. Der Tramper kennt einige Mitglieder der Band. Es seien Lehrer von Schulen aus der Umgebung. Die haben sich vor Jahren zu dieser Formation zusammengeschlossen. Das sei eine richtige “Rentnerband”. Sie würde sich “Second-Spring” nennen. Was der redefreudige, unbekannte Tramper erzählt, weiß ich bereits. Trotzdem lasse ich ihn erzählen und in dem Glauben, davon keine Ahnung zu haben. Ich zeige mich interessiert. Dass der Tramper den Abend bei Erik verbringen möchte finde ich gut. Ich sage ihm, dass auch ich genau dorthin unterwegs bin.

Aus der “Rentner-Band”, wie sie der Tramper nennt, kenne auch ich einen Musiker. Der spielt eher ein unbedeutendes Instrument und er spielt nicht bei jeder Nummer mit. Es ist der Mann, der bei den Bluesnummern die Mundharmonika spielt. Er ist Lehrer an der Schule, die ich bis vor wenigen Wochen besucht hatte. Er unterrichtet das Fach Deutsch. Was er im Unterricht sagte, hatte er immer deutlich, aber mit einer gewissen Zurückhaltung gesagt. So hatte er den Schülern Freiräume gelassen, die notwendig sind, um das vom Lehrer gesagte mit eigenen Gedanken zum Thema zu verbinden. Die Art, wie er in dieser “Rentner-Band” auftritt hat gewisse Ähnlichkeit mit seiner Art den Schulunterricht zu gestalten. Immer wieder tritt er in den Hintergrund, um die anderen Musiker zum Zuge kommen zu lassen. Ist er aber mit seinem Solo an der Reihe, steht dieses deutlich im Vordergrund. Wenn ein anderer auf der Bühne mit ihm musikalisch spricht, räumt er den Platz dafür ein. Ähnlich gestaltet er auch seinen Unterricht. Jedem Schüler gibt er die Möglichkeit mit ihm zu kommunizieren und seinen Unterricht mit zu gestalten.

Den grünen Wagen steuere ich sehr vorsichtig die dunkle Straße hinauf. Die engen Kurven nehme ich langsam. Im zweiten Gang kriecht das Auto beinahe. Die Beleuchtung ist schlecht. Ich möchte nichts riskieren, fahre deshalb langsam, denn ich merke, dass mir die Fahrpraxis fehlt. Der Tramper neben mir ist jetzt still geworden. Ich fürchte, dass er mich auf meinen Fahrstil ansprechen könnte. Um ihn von meinem Fahren abzulenken habe ich ihm eine Zigarette angeboten, die er sich gerade anzündet.

Vor Jahren, es war als ich noch nicht bei den Eltern gelebt hatte, war ich in der Schule im Gebirgsort von einer Lehrerin unterrichtet worden. Sie hatte großes Interesse an meiner Herkunft und meiner Lebenssituation. Sie unterrichtete ein Nebenfach, so dass ich sie nur zwei Mal in der Woche gesehen habe. Später hat sich herausgestellt, dass sie mit dem Lehrer zusammenlebte, der mich in der Schule auf dem Berg im Fach Deutsch unterrichtete.

Irgendwann habe ich herausgefunden, dass diese beiden Lehrer versucht hatten, mich in ihrem Haushalt aufzunehmen. Niemals hatten die beiden mich darauf angesprochen. Ich kann mich nicht erinnern, wie ich herausgefunden habe, dass die beiden versucht hatten mich aus dem Kinderheim heraus bei sich aufzunehmen. Die beiden Lehrer waren damals zu Jung gewesen. Die zuständige Behörde hatte das Gesuch dieser beiden jungen Lehrer abgelehnt. Sie seien zu jung und nicht lang genug verheiratet, deshalb sei ihnen nicht zuzumuten, einen Dreizehnjährigen bei sich aufzunehmen. Das Risiko sei zu hoch. Ein Dreizehnjähriger braucht mehr Führung und Erziehung als junge Lehrer dies bieten können.

Anstatt dieser jungen Lehrer hatten mich meine neuen Eltern aufgenommen. Ich glaube, das zuständige Amt hatte sich für sie entschieden, weil sie noch nicht zu alt und auch nicht zu jung gewesen waren und weil sie seit vielen Jahren in dem Ort in soliden Verhältnissen gelebt hatten. Die beiden jungen Lehrer waren erst wenige Jahre im Ort. Sie waren aus Norddeutschland gekommen und hatten sich im Gebirgsort niedergelassen, weil hier damals einige Stellen an den örtlichen Schulen zu besetzen waren. Das zuständige Amt hatte sich für meine neuen Eltern entschieden, obwohl wir uns damals nicht gekannt hatten.

Ich steuere den Wagen jetzt durch die letzte Kurve vor dem Bahnübergang. Der Übergang ist spärlich beleuchtet. Ratternd passiere ich ihn. Danach geht es geradeaus weiter, deshalb gebe ich nun wieder mehr Gas und schalte in den dritten Gang. Es geht wieder bergab. Der Tramper neben mir schweigt.

Ich glaube, entscheidend war, dass meine neuen Eltern seit vielen Jahren ordentliche Verhältnisse, auch in materieller Hinsicht vorweisen konnten. Die Behörde muss ihnen mehr zugetraut haben. Die Eltern waren in der Lage, sich um einen Dreizehnjährigen zu kümmern.

Jetzt fahre ich parallel zu dem breiten Fluss, der den Gebirgsort durchquert.

Die Eltern haben es geschafft. Sie haben sich ausreichend um mich gekümmert. Bis zum heutigen Tag haben sie alles versucht, was in ihren Möglichkeiten steht. Bei den Eltern bin ich nicht abgestürzt. Im Gegenteil. Ich habe eine beachtliche Entwicklung gemacht. Das wird mir für mein Leben sehr von Nutzen sein. Die Entscheidung der Behörde ist sicherlich nicht falsch gewesen.

Jetzt passiere ich das gelbe Ortsschild. Nach einer langgezogenen Kurve fahre ich auf einen kleinen Parkplatz. Der Parkplatz liegt oberhalb des Schotterweges. Er führt hinunter Richtung Bahnhof zu “Eriks – Kneipe”.

19. Der Geburtstagsabend

Von dem Tramper verabschiede ich mich am Wagen. Er will sich in einem Fastfood – Restaurant, das es seit kurzer Zeit im Ort gibt, mit einigen Dingen versorgen. Also laufe ich alleine den Schotterweg hinunter. Meine kleine Tasche und meinem Schlafsack habe ich unter dem Arm. Noch vor der Kneipe höre ich schon die Musik der “Rentner-Band”. Ich betrete die Kneipe. Dichte Rauchschwaden von Zigarettenqualm kommen mir entgegen. Die Kneipe ist übervoll. Das Publikum ist von der Musik begeistert. Es applaudiert und singt mit. Mühsam dränge ich mich durch die dicht stehenden Menschen bis zum Tresen. Bis dorthin habe ich etwa zehn Gäste beiläufig begrüßt, die ich kenne. Martina und ihr Freund stehen hinter dem Tresen. Sie bedienen die Gäste. Ich begrüße Martina, gebe ihr den Wagenschlüssel zurück, und bitte sie meine Tasche und den Schlafsack irgendwo unter dem Tresen abzulegen. Weil der Lärm ohrenbetäubend ist, muss ich Martina beinahe anschreien. Martina schenkt mir ein Bier ein. Mit meinem Bier arbeite ich mich durch die Menge Richtung Bühne.

Die Übernachtung

Ich liege auf kaltem Steinfußboden. Es ist in meinem ehemaligen Jugendgruppenraum. Jörg hat mir den Schlüssel für diesen Raum in „Eriks – Kneipe“ für eine Übernachtung gegeben. Meinen Schlafsack habe ich ausgebreitet und mich in ihm verkrochen. Es ist späte Nacht. Ich kann nicht einschlafen. Ich muss weiter über mein Leben nachdenken, das mit dem heutigen Tag und der heutigen Nacht hier zu Ende geht.

Ich war ein auffälliges, schwieriges Kind gewesen. Ich war ein nervöses, unruhiges Bürschchen gewesen. Ich hatte ständig an meinen Fingernägeln herumgekaut. Gegenüber Erwachsenen war ich ängstlich gewesen. Um diese Ängste zu überspielen hatte ich mich hin und wieder respektlos und vorlaut verhalten. Ich hatte eine Sprache gesprochen, die manchmal giftig und herablassend gewesen war. Meine Sprache hatte der Verteidigung und Abwehr gegenüber Erwachsenen, auch gegenüber den Eltern gedient.

Im Haus meiner neuen Eltern war ich eine Provokation gewesen. Vielleicht war ich das gewesen, weil die Eltern selbst keine eigenen Kinder gehabt hatten. Vielleicht war ich auch deshalb so eine Provokation für sie gewesen, weil sie es nicht gewohnt gewesen waren, wie man mit einem Dreizehnjährigen unter einem Dach zusammenlebt. Ich glaube, die Eltern hatten keine Ahnung davon gehabt, was auf sie zukommt. Sie hatten keinerlei Unterstützung gehabt, sich darauf vorzubereiten. Sie hatten keinerlei Begleitung gehabt, um sich während der Zeit, als ich bei ihnen gelebt hatte, beraten zu lassen. Deshalb glaube ich, dass die Eltern eigentlich eine Aufgabe angenommen haben, die nicht zu bewältigen war. Vielleicht bin ich deshalb im Leben der Eltern bis zum heutigen Tag zu einer großen Herausforderung geworden, die sich zu einer der großen Enttäuschung für sie entwickelt hat.

Ich hatte mich sehr schnell an den Wechsel zu den neuen Eltern gewöhnt. Es war für mich keine Frage gewesen, dass ich bei ihnen bleiben würde. Eine Rückkehr war für mich ausgeschlossen. Der Lebensalltag in meiner neuen Familie hatte sich in der Hauptsache um die viele Arbeit in dem Fachgeschäft der Eltern gedreht. Weitere Arbeit hatte der Vater abends zu Hause im Arbeitszimmer für das Geschäft zu leisten. Und noch weitere Arbeit hatte er stets über das Wochenende für sein Geschäft geleistet. Meine Mutter hatte täglich mindestens genauso viel gearbeitet, wie der Vater. Auch sie war täglich in dem Fachgeschäft hinter dem Verkaufstresen gestanden. Zusätzlich hatte sie die Rolle der kochenden, waschenden und für Sauberkeit und Ordnung im Haushalt sorgenden Hausfrau. Dafür dass ich, der dreizehn Jahre alte Bengel einen einigermaßen vernünftigen Weg einschlage, war in der Hauptsache meine Mutter zuständig gewesen.

In ihrer Freizeit hatten meine neuen Eltern die Kontakte zu guten Kunden des Geschäftes gepflegt. Sonntagmittags waren wir sehr oft zum Mittagessen zu guten Kunden gefahren.

Meine neuen Eltern, vor allem meine neue Mutter waren besten Willens gewesen, für mich eine gute Entwicklung zu gewährleisten. Nach einiger Zeit war mir klar geworden, dass die neuen Eltern von mir, für all das Gute was sie mir angedeihen ließen Dank, Respekt und Anerkennung erwarteten. Diese Erwartung hatte ich nie ausreichend erfüllt. Vielleicht hatten die Schwierigkeiten zwischen den Eltern und mir etwas damit zu tun, dass ich viel zu spät bemerkt habe, dass die Eltern so viel Gutes für mich taten. Dafür zeigte ich viel zu wenig Dankbarkeit.

Die Eltern sind in der Lage anderen Menschen zu helfen. Weil sie materiell in jeder Hinsicht bestens versorgt sind, hatten sie damals die Möglichkeit mich ohne weiteres in ihren Haushalt aufzunehmen. Dass dieses ein riesiger Glückstreffer für mich gewesen war, hatte ich nicht schnell genug verstanden. Anstatt dankbarer zu sein, war ich im Laufe des letzten Jahres bei den Eltern zunehmend auf Abstand zu den Eltern bedacht. Keineswegs war ich dabei glücklich gewesen. Aber in der Familie war mehr Ruhe eingekehrt. Weil ich gespürt hatte, dass ich die Erwartung der Eltern nicht erfüllen kann, dass ich nicht dankbarer sein kann, als ich es bereits die ganze Zeit über gewesen war, war mein Gewissen gegenüber den Eltern bald so schlecht geworden, dass ich dauerhaft versuchte, ihnen aus dem Weg zu gehen. Die Eltern haben in mir einen Weg in Gang gesetzt, der mich dazu zwang, mich immer weiter von ihnen zu entfernen. Weil ich mich immer weiter von ihnen weg bewegt hatte, konnte ich immer weniger Dankbarkeit zeigen.

Ein Mensch, der von anderen immer weiter weggeht, kann diesen Menschen gegenüber keinen Dank ausdrücken. Weil ich immer weniger fähig gewesen war, der Mutter und dem Vater dankbar zu sein, hatte der Vorwurf der Eltern mehr und mehr an Richtigkeit gewonnen. In den letzten Wochen im Haus der Eltern, hatte ich das Gefühl, dass zwischen uns genau das entstanden war, was sie mir immer vorgeworfen hatten. Weil der Abstand zu den Eltern riesig groß geworden war, hatte ich kaum mehr mit ihnen gesprochen. Ich hatte mich nur noch zu Hause aufgehalten, wenn es ausdrücklich erwünscht war. So war ich zu einem geworden, der nicht mehr dankbar war und der bei den Eltern ein- und ausging, als lebte er in einem fremden Hotel. Was die Mutter mir schon lange vorgeworfen hatte, war in den letzten Wochen tatsächlich geschehen.

All das, was die Eltern im Laufe der Jahre zwischen uns gesehen hatten, schien in den letzten Wochen tatsächlich in Erfüllung gegangen zu sein. Ich war zu einem regelmäßigen Kneipenbesucher geworden. Ich habe meine Schule nur noch nebenbei auf die Reihe gebracht. Ich habe also einen völlig unangemessenen Weg betreten. Ich lebe über meine Verhältnisse. Ich gebe mein Geld für Kneipe und Zigaretten aus. Ich habe die Vorstellungen der Eltern von Familienleben nicht erfüllt.

Weil meine Gedanken noch nicht enden wollen, wälze ich mich auf dem Fußboden im Jugendraum in meinem Schlafsack hin und her. Ich kann noch nicht einschlafen, weil ich immer noch an die vergangene Zeit denken muss. Was ab morgen werden wird, daran werde ich wohl erst ab morgen denken.

Weil ich Unruhe ins Haus der Eltern gebracht hatte, und es mir nicht gelungen war diese Unruhe auf das von den Eltern geforderte Maß zu begrenzen und weil die Eltern mit ihrem Maß bei mir nicht angekommen waren, ist der heutige Abschiedstag gekommen. Die Eltern haben ein Recht darauf, heute denjenigen gehen zu lassen, der noch nie bei ihnen leben wollte. Dass für mich die Frage niemals offen gewesen war, ob ich bei ihnen leben wollte, spielt heute genauso wenig eine Rolle, wie sie in der Vergangenheit eine Rolle gespielt hatte. Für mich hatte es nie eine Alternative gegeben. Ich hatte mich mit dem unwahrscheinlichen Glück abzufinden, dass ich überhaupt Eltern haben durfte. Für dieses Glück bin ich dankbar. Ohne dieses Glück wäre ich nicht wer ich heute bin.

Ich glaube solche späte Erkenntnis wäre den Eltern nicht genügend Dank. Ich glaube diese Art Dankbarkeit ist für die Eltern keine vollständige Dankbarkeit. Dieser Erkenntnis fehlt die absolute Anerkennung dessen, was die Eltern auf sich genommen hatten, um mich zu einem verantwortungsvollen Menschen zu machen. In den letzten Tagen bei den Eltern war mir klar geworden, dass der Dank den sie erwarten, ein absoluter Dank sein muss. Ich glaube für die Mutter war mein Dank nie ehrlich genug gewesen. Weil ich erkenne, dass ich keine andere Wahl gehabt hatte, fehlt meine Fähigkeit zu absolutem, bedingungslosem, unterwürfigem Dank. Das was da fehlt bedeutet den Eltern aber sehr viel. Würde ich versuchen, meine Art Dank zu erklären, würde das die Eltern schon wieder enttäuschen.

Nach dem Einzug bei den Eltern schien es keine Rolle mehr zu spielen, woher und warum ich zu ihnen gekommen war. Mein altes Leben schien zusammengebrochen zu sein. Es war unauffindbar verschwunden. Die Eltern hatten mich darauf nie angesprochen. Ich habe sie darauf nie angesprochen, weil ich froh gewesen war, dass ich bei ihnen ein neues zu Hause gefunden hatte. Vielleicht war das der Anfang vom Ende gewesen. Vielleicht konnte das gar nicht funktionieren. Vielleicht kann kein Mensch einen gewichtigen Teil seines Lebens von heute auf Morgen auslöschen, indem er und die Menschen in seiner Umgebung darüber überhaupt nicht mehr sprechen. Es könnte sein, dass ich mich deshalb zu einem undankbaren Bewohner im Haus der Eltern entwickelt hatte. Vielleicht hätte ich den Eltern dankbarer sein können, wenn die mit mir über mein Leben vor dem Leben in der Familie gesprochen hätten. Vielleicht wäre Vertrauen gewachsen, wenn mein Leben das vor den Eltern gewesen war bei den Eltern eine Rolle gespielt hätte.

Ein letztes Mal wälze ich mich in meinem Schlafsack hin und her. Jetzt nehme ich mir fest vor, gleich einzuschlafen. In meinem Kopf wirbeln noch ein paar letzte Fetzen derjenigen Dinge, die ich heute im Laufe meines Geburtstages durchdacht habe herum. Morgen wird wieder ein neues Leben für mich beginnen. Das alte Leben bei den Eltern ist heute abgeschlossen. Morgen werde ich genügend Zeit haben, über mein altes und meine neues Leben weiter nachzudenken.

In meinem warmen Schlafsack, auf dem kalten Steinfußboden meines ehemaligen Jugendgruppenraumes, tauchen die letzten Bilder an die ich heute gedacht habe noch einmal mal wie winzige Lichtblitze in meinem Kopf auf. Ich spüre, dass mich die schwere meiner Müdigkeit wie ein Stein immer tiefer in den Schlaf zieht.

Es war ein privates Busunternehmen das uns in Ausflugs- und Reisebussen täglich die steile Bergstraße hinauf zu unserer Schule gefahren hatte. An der Gepäckablage über den Sitzen hatte ich mich stets gut festgehalten, denn die Straße auf den Berg ist kurvenreich. Beinahe täglich war mir während der Busfahrt schlecht geworden. Niemals hatte ich mich im Bus übergeben. Das hatte ich nach der Busfahrt fast jeden Morgen vor Unterrichtsbeginn auf der Schultoilette getan. Damals war ich in jeder Hinsicht kontrolliert und angepasst gewesen. Meine Kontrolle war so weit gegangen, dass ich, obwohl mir im Bus bereits nach wenigen Kurven schlecht geworden war, dem Brechreiz erst freien Lauf ließ, als ich um viertel vor acht Uhr die Schultoilette erreicht hatte. Im Schulbus war täglich Vorsicht vor den älteren Mitschülern geboten. Es herrschte die Ordnung des Stärkeren. Ich glaube hauptsächlich während der täglichen Zeit im engen, überfüllten Schulbus hatte ich damals gelernt meine Rolle unter Gleichaltrigen zu finden. Die Rolle habe ich gehasst. Trotzdem habe ich mich angepasst. Stets hatte ich versucht, mich unauffällig und zurückhaltend zu verhalten. In Schlägereien und Streitereien hatte ich mich nie eingemischt. Im Schulbus und in der Schule hätte ich mich gerne öfter eingemischt. Gerne hätte ich manchem schwächeren, der in meinen Augen grundlos verprügelt worden war, geholfen. Dieses Eingreifen war stets mein Wunschtraum geblieben. Im Schulunterricht hatte ich manchmal zu gut verstanden, was den Lehrern wichtig gewesen war. Im mündlichen Unterricht hatte ich mir deshalb eine zurückhaltende Art angewöhnt, denn von manchen Mitschülern hatte ich Groll und Wut gegen mich gespürt. Wegen diesen Mitschülern war es mir stets wichtig gewesen, nur ein Mittelmaß zu erreichen, um von ihnen nicht als “Streber” abgestempelt zu werden. Trotz meiner Anpassungsfähigkeit war ich auch in der neuen Schule auf dem Berg ein Außenseiter geblieben. Vielleicht hatte das mit meiner Herkunft zu tun. Weil ich nicht aus dem Ort stamme, weil ich keine normale Familie hatte, war ich von Beginn an auffällig gewesen, weil ich anders gewesen war. Schon wegen meiner Sprache war ich unter den gleichaltrigen Mitschülern anders gewesen. Auch bei den Eltern war meine Sprache ein Problem gewesen. Deshalb war es gut, dass ich gelernt habe, mich stets zurückzuhalten. Toleranz gegenüber mir, dem Fremden konnte nur entstehen, weil meine Anpassung so stark geworden war, dass ich beinahe nicht mehr aufgefallen war.

Die Rückkehr – Erzählung

Die Rückkehr – Erzählung von Bernd Thümmmel

1995 kommt Bernado zurück nach Berchtesgaden. Dort arbeitet er täglich in einer kleinen Produktionsfirma. Nach Tagen erscheint ihm das seltsam. Nach Wochen wird ihm klar, dass ihn seine Kindheit im Kinderheim Salzberg auf dem Obersalzberg zurück geführt hat. Er beginnt damit, seine Erinnerungen jeden Morgen noch vor Beginn der monotonen Fabrikarbeit in seine Schreibmaschine zu hämmern.

1. April

Aus meinem Zimmerfenster habe ich morgens um sechs Uhr, bevor der kalte Aprilregen einsetzt, eine herrliche Aussicht. Draußen sehe ich grüne gebirgige Landschaft. Nebelbänke ziehen gemächlich durch das enge Tal. Für einen kurzen Moment strahlt die Sonne durch ein Wolkenloch. Ihre Strahlen hüllen die hohen Berggipfel rings um meine kleine Wohnung in rote Farbe. Spätestens um Viertel vor Sieben stehe ich jeden Morgen im Badezimmer. Ich rasiere mich und putze die Zähne. Dabei beobachte ich durch das Badfenster, wie sich draußen die Wolkendecke verdichtet. Langsam schieben sich dunkle Wolken an den Berggipfeln herab. Obwohl der Tag erst beginnt, wird es draußen dunkler. Um sieben Uhr beginnt es täglich zu regnen.

Seit wenigen Tagen bewohne ich eine Dreizimmerwohnung mit Aussicht auf das wunderschöne Tal. Vor der Wohnung liegt eine gepflasterte Straße. Es ist die Hochsteinstraße. Sie führt steil auf den Hochstein hinauf. Von den drei Zimmern in der Wohnung bewohne ich ein Durchgangszimmer mit einem kleinen Balkon hinaus Richtung Hochsteinstraße und ein Schlafzimmer. Das dritte Zimmer ist unbewohnt. Die Wohnung stellt mir der Chef kostenlos zur Verfügung. In dessen Fabrik arbeite ich seit meiner Rückkehr nach Berchtesgaden.

In der kleinen Fabrik, hinten in dem wunderschönen Tal, produziert der Chef Körperpflegemittel. Heute weiß ich noch nicht, ob es sich lohnt, meine sichere Stellung in der Stadt aufzugeben. Ich weiß noch nicht so recht, ob mir die Arbeit Spaß macht. Spaß während der Arbeit, egal welcher, hatte ich in meinem Leben bislang eigentlich noch nie gespürt. Im Grunde hatte ich mich bei keinem meiner vorherigen Arbeitsplätze gefragt, ob Spaß dabei wäre. Hauptsächlich war es um die Frage gegangen, ob die Arbeit erträglich ist. Auch hier in Berchtesgaden geht es also um diese Frage. Es ist meine Aufgabe, mir ernsthaft zu überlegen, ob ich meinen sicheren Schreibtisch in München aufgeben möchte, um in diesem herrlichen Gebirgstal zu leben. Leider ist der April eiskalt und verregnet. Doch das nasskalte Wetter soll meine Entscheidung nicht beeinflussen.

Mein neuer Arbeitsplatz liegt in einem winzigen Industriegebiet. In meinen Augen ist das, wie ich ein Industriegebiet eigentlich nicht nennen sollte; romantisch. Jeden Morgen finde ich es mitten im Grünen. Es liegt eingekeilt zwischen hoch aufragenden Bergen. Neben dem Industriegebiet fließt ein wilder, romantischer Fluss.

Die Arche ist zu einem braunen, reißenden Strom angeschwollen. Sie führt das eiskalte Wasser von zwei wunderschönen Gebirgsseen mit sich. Dem Hintersee und dem Königsee. Am Industriegebiet fließen die Wässer beider Seen vorbei, um sich in Österreich in die Salzach zu verdünnen und in Salzburg für einen momentan sehr hohen Wasserstand zu sorgen. Parallel der reißenden Arche führt eine breite Landstraße nach Salzburg. Über die Straße fahre ich täglich zur Arbeit.

An den ersten Tagen habe ich durch die hohen Fenster täglich die reißende Arche und die Natur rund um das Industriegebiet beobachtet. Ich richtete meine Aufmerksamkeit auf die grünen, dicht bewaldeten Bergfüße. Morgens sah ich draußen die hohen, von Nebel umhüllten Berge. Tagelang habe ich mich an der grünen Natur und der wilden Landschaft erfreut. Die viel befahrene Straße hinter den dicht wachsenden Bäumen an der Arche sieht im Frühling und Sommer nur, wer sie sehen möchte. In den ersten Tagen wollte ich Berge, Bäume und Gräser sehen, denn ich komme aus der Stadt.

Jeden Morgen um sieben Uhr stehe ich unter meinem schwarzen Regenschirm vor dem gelb gestrichenen Berchtesgadener Finanzamt in der Nonnenstraße. Das Amt liegt nur wenige Schritte unterhalb der Hochsteinstraße. Ich stehe auf dem Bürgersteig und warte. Auf der gegenüber liegenden Straßenseite beobachte ich das Altenheim. Es ist ein rustikales Gebäude mit dunkelbraunen Holzbalkonen.

Täglich bleibt mir nichts anderes, als am Straßenrand zu stehen und das bisschen, was sich um die frühe Stunde tut, zu beobachten. Jeden Morgen stehe ich zwar nur wenige Minuten vor dem Finanzamt, doch ich genieße jede Sekunde unter meinem Regenschirm, denn ich brauche die Zeit der Stille, bevor ich im Wagen neben dem Chef sitzen muss, um zu meinem neuen Arbeitsplatz zu gelangen. Ich warte und sauge die Ruhe konzentriert in mich auf. Ich höre den Regen, wie er auf meinen Regenschirm herniederprasselt. Ich denke daran, wie schön es wäre, in einem Zelt zu liegen, das Geräusch des Regens zu genießen und einen ruhigen Urlaubstag auf einem verregneten Zeltplatz ohne Aufgabe ohne Vorhaben für den Tag, vor mir zu haben. Ich genieße den Gedanken so sehr, dass ich das Gefühl habe, den Geruch der Zeltwand, auf die der kalte Regen nun heftig nieder schlägt, in der Nase zu haben. Ich rieche den modrigen Geruch von Feuchtigkeit, der entsteht, weil das alte Zelt den Winter über im Kellerschrank lag.

Der Chef hat mir angeboten, mich morgens in seinem Auto mitzunehmen. Er hat es sehr gut gemeint mit diesem Angebot. Weil er ohnehin jeden Morgen nahe dieser Straße unterwegs sei, mache es für ihn nur einen winzigen Umweg, mich am Finanzamt einzuladen. Es sei egal, ob er morgens dort vorbeifahre oder auf der breiten Straße an der Arche bleibe. Das freundliche Angebot des Chefs konnte ich nicht abschlagen. Das hätte mir große Schwierigkeiten bereitet. Nachvollziehbare Argumente, nicht auf das gut gemeinte Angebot einzugehen, gab es nicht. Begeistert, wie der Chef mir die Arbeit in seiner Fabrik erklärt hat, bietet er den winzigen täglichen Umweg an.

Durch die Fenster im Finanzamt sehe ich drei Beamte. Sie sitzen hinter leuchtenden Computermonitoren. Zwei andere fahren in weißen Kleinwagen auf dem Gehsteig vor. Schwarze Aktentaschen werden über zwei Fensterbänke im Erdgeschoss gehoben. Die Männer steigen aus ihren Dienstfahrzeugen. Sie holen die Taschen und verstauen sie in den kleinen Kofferräumen. Den Vorgang beobachte ich täglich nicht allein. Drei alte Damen stehen hinter den Fenstern ihrer Zimmer. Ich sehe deren Umrisse hinter weißen Vorhängen. Um besser beobachten zu können, schieben sie die Vorhänge ein winziges Stück beiseite. Die Frauen stellen fest, dass rund um das Finanzamt täglich alles beim Alten bleibt. Die Beamten steigen immer pünktlich in ihre Kleinwagen und fahren los.

Weil ich seit einer Woche hier stehe, bin ich ein bisschen Alltag der alten Damen geworden. Ich gehöre noch nicht richtig dazu, so wie die Finanzbeamten, die schon seit vielen Jahren da sind, aber ich mische mich in ein alltägliches Bild. Ich warte geduldig im Regen. Ich bleibe so lange stehen, bis der Wagen des Chefs das leichte Gefälle vor dem Amt herunter rollt. Die drei alten Frauen verliere ich dann kurz aus den Augen. Stattdessen sehe ich den beiden Wagen der Finanzbeamten nach, wie sie tosend die Steigung der Hochsteinstraße nehmen. In der Mitte der Steigung begegnen beide dem Wagen des Chefs. Dessen schwere Limousine rollt sehr schnell heran, kommt am Straßenrand zum Stehen, damit ich einsteigen kann. Die alten Frauen sind kurz wieder in meinem Blickfeld. Ich sehe eine Dame im ersten Stock, während ich die Wagentür öffne. Sie zieht den Vorhang zu. Jetzt bücke ich mich, um in den Wagen zu steigen, die Dame im zweiten Stock zieht den Vorhang zu. Die dritte Dame sehe ich noch für Sekunden durch das Fahrerfenster, während ich dem Chef die Hand schüttle.

Weil ich gegenüber dem Chef keinen Eindruck von Müdigkeit entstehen lassen will, setze ich mich schwungvoll neben ihn in das schwarze Leder. Ich denke nicht an den herannahenden Arbeitstag in dessen kleiner Firma. Ich denke nicht an den Chef. Meine Gedanken sind noch bei den alten Frauen. Was tun sie den ganzen Tag, während ich hinter monoton lärmenden Abfüllanlagen und Verpackungsmaschinen stehe? Wie sieht deren Alltag im Altenheim gegenüber dem gelben Finanzamt aus? Steigen die dichten Wolkenmassen an den Bergen empor und geben mittags endlich den Blick hinüber zum Obersalzberg frei, damit die Damen eine schöne Aussicht genießen können? Werden die Damen heute im Ort spazieren, um etwas einzukaufen oder in einem Café zu sitzen? Ist ihr Leben in diesem schönen Ort interessant, vielleicht sogar schön?

Auf dem Weg zur Arbeit spüre ich, dass ich zu so früher Tageszeit sehr ungern spreche. Ich spüre, dass ich die Minuten morgens zwischen meinem gemieteten Zimmer, dem Finanzamt und meiner neuen Arbeitsstätte am liebsten überspringen würde. Ich wünsche, sie wären nicht da, denn ich darf nicht allein sein auf dem Weg zur täglichen Arbeit. In der Stadt war ich diesen Weg immer allein gegangen. An jedem vorherigen Arbeitsplatz war ich morgens allein auf dem Weg. Es war noch nie anders. In Berchtesgaden ist es jetzt anders, ganz anders.

Ich sitze schweigend neben dem Chef und suche Gründe für mein Denken. Es sind Minuten der täglichen Besinnung und Beschaulichkeit. Minuten, in denen ich an einem neuen Tag einen ersten Blick in mich selbst wage. Es könnten heute die einzigen Minuten sein, in denen ich noch allein bin. Noch keine Routinegespräche zwischen Vorgesetzten, Kollegen, Lieferanten und anderen Arbeitskräften. Deshalb sind es wichtige Minuten. Es könnten meine ruhigsten Minuten des Tages sein, denen mich der Chef beraubt.

Der Arbeitsalltag presst mein Gehirn in maschinelle, monotone Denkschemen. Mein Körper, meine Konzentration, mein Denken, all das zwingt der Arbeitsalltag in diese Firma. Schnelle Produktion, beste Qualität, hohe Maschinenleistung und Erfolg sind die Kriterien, an die zu denken ist, die zu realisieren sind. Deshalb brauche ich die freien Minuten am Morgen! Das sind Minuten der klaren Gedanken. In ihnen ist ungezügeltes Denken noch möglich. Der Kopf ist noch frei. Er ist noch nicht von der täglichen Arbeit gemartert und beschnitten. Weil ich abends nach dem langen Arbeitstag immer müde bin, dass ich meist schnell einschlafe, sind es die letzten Minuten des Tages, in denen mein Kopf noch klar ist und mein Denken noch frei. Sie verstreichen im Wagen neben dem Chef.

Vielleicht deshalb mein Schweigen am Morgen. Morgens im Wagen neben dem Chef erreiche ich nach wenigen Sekunden einen Tiefpunkt. Vielleicht ist das ein Zeichen dafür, dass an dieser Situation morgens im Wagen des Chefs etwas nicht stimmt. Vielleicht ist es sogar ein Anzeichen dafür, dass an meiner gesamten Situation, meiner Rückkehr in diesen Ort und meiner Arbeitsaufnahme in dieser Firma etwas nicht stimmt. Seit Tagen versuche ich herauszufinden, was hier nicht stimmt. Bislang erfolglos.

Ich darf mit dem Chef in seinem Wagen in seine Fabrik fahren. Jeden Tag habe ich das Gefühl, dass der Chef für mich am wenigsten geeignet ist für ein Gespräch. Weil seine kleine Fabrik so nah ist, vergeht die Autofahrt schnell. Mir fällt kein Gesprächsthema ein. Auch heute Morgen nicht. Ich weiß nicht, was zu der Situation in seinem Wagen um diese Uhrzeit passt. Ich weiß nicht, was ich mit ihm zu besprechen hätte, das zu dem angesteuerten Ziel passt. Deshalb spreche ich in seinem Wagen nur das Nötigste. Deshalb denke ich jeden Morgen zunächst an die Finanzbeamten und die alten Damen, die ich vorher gesehen habe.

Ich weiß noch nicht, wohin mein Denken mich führen wird. Im Moment habe ich Urlaub. Von meiner Dienststelle in der Stadt bin ich beurlaubt, um hier in dieser Fabrik zu arbeiten. Am fünften Arbeitstag meines geopferten Urlaubs im April denke ich nur noch wenige Sekunden an die alten Frauen hinter den Vorhängen. Die Finanzbeamten vergesse ich völlig. Auch über den Chef denke ich nicht nach. Die fünf Minuten Fahrzeit neben dem Chef nutzte ich fast vollständig, um an mich zu denken.

Ich bin in diesen Ort zurückgekommen, um zu arbeiten. Jeder Mensch in meinem Alter hat zu arbeiten, wenn er nicht krank ist. So begründe ich heute meine Anwesenheit hier in diesem Ort. Es geht um meinen Lebensunterhalt. Den bekomme ich nicht umsonst. Ich bin nicht zurückgekommen, um die Landschaft zu genießen. Ich bin nicht hier, um die Menschen in Finanzamt und Altenheim morgens um sieben Uhr zu beobachten und über deren Alltag nachzudenken. Bin ich gekommen, um über etwas anderes nachzudenken? Bin ich wirklich nur zurückgekommen, um in dieser Fabrik zu arbeiten? Ich weiß es noch nicht.

Ich komme aus der Stadt. Dennoch bin ich kein Außenstehender in diesem Touristenort. Ich tauche wieder ein in das Alltagsleben dieser bayerischen Menschen. Ich tue das, weil ich arbeiten und Geld verdienen muss. So begründe ich das heute. Ich wohne zwischen beliebten bayerischen Gebirgsgipfeln mit Ausblick hinüber zum Obersalzberg. So schön kann ich in der Wohnung des Chefs wohnen! Er stellt sie mir zur Verfügung, damit ich in seiner Fabrik arbeiten kann. Ich lebe und arbeite in einem Ort, von dem vielleicht mancher Mensch aus norddeutschen Industriestädten träumt, wegen der schönen Natur. Diese Landschaft diente so manchem erfolgreichen Heimatfilm als Kulisse. Ich opfere meinen Urlaub, um mitten in dieser idyllischen Landschaft zu arbeiten. Während ich so denke, gibt der Chef im Wagen kräftig Gas.

Ich glaube, dass ich in der Hauptsache zurückgekommen bin, um zu arbeiten. So denke ich am sechsten Arbeitstag und so denke ich immer noch am siebten. Vielleicht wähle ich diesen schönen Ort, weil ich insgeheim hoffe, mit dieser Wahl mein zwiespältiges Verhältnis zu Arbeit jeder Art zu ordnen? Vielleicht möchte ich in der Schönheit dieser Landschaft meine Einstellung zur Arbeit sogar verbessern? Daran denke ich am Morgen des achten Arbeitstages. Vielleicht hoffe ich insgeheim darauf, dass mir dies in der hübschen, reizvollen Kulisse gelingt?

Ich komme nicht als Tourist, das ist von Beginn an sicher. Der Ort ist sehr touristisch. Er liegt unterhalb des unrühmlich geschichtsträchtigen Obersalzberges. Er liegt eingekeilt zwischen Untersberg und Hohem Göll. Oder hat mein Zurückkommen doch mit Tourismus und Landschaft zu tun? Ich komme nicht als Saisonarbeiter. Ich wähle diesen Ort nicht als vorübergehendes Sommerquartier. Ich will hier nicht nur einige Monate einen finanziellen Reibach machen. Ich will überhaupt keinen Reibach machen, sondern geplant ist hier zu arbeiten und zu leben.

Ich erhoffe ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Arbeit und Leben. Deshalb stehe ich um sieben Uhr morgens vor dem Finanzamt, warte auf den Wagen des Chefs und lasse mich dabei voll regnen. So denke ich schließlich am letzten Arbeitstag im April. Ich hoffe auf die Realisierung einer persönlichen Philosophie, einer Utopie. Ein ausgewogenes und positives Verhältnis zwischen beidem erwarte ich ausgerechnet in diesem Ort! Ein schönes Leben in herrlichster Landschaft mit guter Luft. Dazu die notwendige Arbeit. Das habe ich hier gefunden, so denke ich heute am letzten Tag meines geopferten Urlaubs.

2. Sommer

Monate später, morgens im warmen Juli, sitze ich wieder im Wagen neben dem Chef. Wie er es seit Jahren täglich tut, steuert er das Auto in Richtung Königseer Arche. Glaube ich tatsächlich an ein ausgewogenes Leben und Arbeit in diesem schönen Ort, ohne dass meine Vergangenheit, die ich in dieser schönen Landschaft erlebt habe, eine Rolle einnimmt? Lasse ich mich blenden von diesem Ort, der auf den ersten Blick wie ein von den Problemen der Welt abgeschirmtes Paradies wirkt? Zweifel flammen erst auf, als es in Berchtesgaden sommerlich warm ist. Ich habe meine sichere Anstellung in der Stadt endgültig aufgegeben.

Nach wenigen Sekunden im Wagen des Chefs frage ich mich: Was sollte mein Träumen vor dem Finanzamt im April? Warum mein träumerisches Beobachten der trügerischen Idylle zwischen Finanzamt und Altenheim? Ich weiß es nicht. Im warmen Juli merke ich, dass ich die Zeit in dem Ort brauche, denn ich möchte genau das herausfinden, was ich nicht weiß.

Nach drei Tagen kenne ich die kleine Firma wie im April. Ich kenne die Menschen, die in ihr arbeiteten, und die Maschinen, an die ich mich herantraue.
“Das alles ist keine Hexerei”, sagt der Chef mehrmals am Tag zu mir.

Ich habe das Gefühl, seit April nicht weg gewesen zu sein. Könnte das Hexerei sein? Warum fühle ich schon nach drei Tagen wieder die gleiche Langeweile? Ich muss mich sogar bemühen, dass mein gespieltes Interesse an der Fabrikarbeit nicht als klares Desinteresse entlarvt wird. Ich sehe mich schon nach drei Tagen auf einem Weg, den ich seit vielen Jahren aus der Stadt kenne. Dort bemühte ich mich täglich um das Schauspiel der Arbeit. Das Spiel besteht in der täglichen Übung, auf der Bühne etwas täuschend echt aussehen zu lassen, etwas perfekt vorzutäuschen, so gut, dass keiner auch nur daran denkt, dass ich ein Schauspieler bin.

Seit Jahren täusche ich Interesse daran vor, täglich die nahezu gleiche Arbeit zu verrichten: Ich finde sie immer noch interessant, obwohl ich sie kenne und eindeutigen Widerwillen in mir spüre. Bloß nichts anmerken lassen von dieser Langeweile! Ich bin engagiert und interessiert. Jeden Tag laufe ich mit wachen Augen durch meine Arbeitsstätte, mit täuschend echten Blitzen in den Augen, die ausstrahlen, dass ich ein zuverlässiger leistungsstarker Mitarbeiter bin. Mein perfektioniertes Spiel funktioniert. Es verschafft mir beste Zeugnisse und einen sehr guten Ruf. Mein Abschied von meinem Arbeitsplatz in der Stadt wurde von allen Kollegen und den Chefs tief bedauert. Leistungsträger kommen und gehen. Wann ihre Zeit um ist, wissen sie selbst am besten. Auch das vorzutäuschen gehört zum Spiel.

Warum sollte die Arbeit in dieser Fabrik Hexerei sein? Täglich füllen die Maschinen monoton und laut ratternd ihre weiße oder bräunliche Masse in Cremedosen. Warum muss der Chef, der darauf hofft, dass ich in seiner Fabrik eine neue Heimat finde oder meine alte Heimat wieder finde, betonen, dass Arbeit keine Hexerei ist? Sieht man mir an, wie ich über Arbeit denke? Bisher hatte ich nicht an Hexerei gedacht. Wie arbeitet ein Mensch, der so etwas denkt? Arbeitet er wie ich? Schnell, sauber, zuverlässig. Ein angepasster Stil, der Erwartungen nicht enttäuscht.

An Hexerei denke ich nie bei der Arbeit, vielmehr denke ich oft über den Sinn dieser Arbeit nach. Wo bleibt der sinnstiftende Moment? Wo bleibt das, wovon ich täglich in den Zeitungen lese? Millionen von arbeitslosen Menschen, die keinen Sinn mehr sehen, weil sie keine Arbeit haben. So lese ich um sechs Uhr morgens vor meiner dampfenden Kaffeetasse. Welchen Sinn haben diese Millionen verloren? Einen Sinn, den ich nicht einmal erkenne, obwohl ich in der Fabrik Arbeit habe! Mit der Suche nach Sinn bin ich überfordert, vielleicht bin ich mit der gesamten Arbeit in dieser Fabrik überfordert.

Was aber ist daran anders als an meinem Arbeitsplatz in der Stadt? Vielleicht hängt meine Überforderung gar nicht mit der täglichen monotonen Arbeit zusammen, sondern mit der Frage, warum ich ausgerechnet in diesen Ort zurückgekommen bin, um zu arbeiten?

Draußen sehe ich treibende Nebelschwaden. Dichte, aufeinander geschichtete Nebelbänke. Sie treiben gemächlich vom Grünstein, dem grünen Berg am Fuße des Watzmanns, durch den Berchtesgadener Talkessel. Über der kalten, vom anhaltenden Regen im Monat zuvor vollen Arche treiben sie hinweg. Aus deren Wasser steigt er auf und verbindet sich mit den oben treibenden Schwaden. Die Nebelmassen treiben am Obersalzberg vorbei. Die undurchsichtige Menge nimmt ihren Weg durch das breiter werdende Tal Richtung Salzburg. Sie treibt meinem Arbeitsplatz entgegen.

Ich beobachte das Nebeltreiben vor meinem Zimmerfenster. Wie ein Kind denke ich jetzt daran, mich mit treiben zu lassen. Ich träume von der Schönheit des Landes aus dem Blickwinkel dieser langsam treibenden Nebelbänke. Unten stelle ich mir blumenreiche Wiesen zwischen den steil aufragenden, bewaldeten Berghängen vor. Ich erkenne da unten Kühe, wie sie auf den Wiesen grasen. Plötzlich sehe ich auch die breite Straße nach Salzburg. Ich schiebe etwas Nebel beiseite, um besser sehen zu können. Ich erkenne den geraden, grauen Strich mitten in den grünen Wiesen. Es ist die Straße. Bunte Autos flitzen dort hin und her. Laut dröhnt deren Lärm in meine Nebelbank herauf. Ich rieche eine stinkende Mischung aus feuchtem Nebel und den scharfen Abgasen. Ich lehne mich deshalb schnell zurück in meine Nebelbank und ziehe dichten Nebel vor mich. So träume ich einige Minuten lang und bedauere später sogar noch, dass ich nicht wirklich in einer Nebelwolke als Beobachter von oben sitzen kann.

Ich schalte das Radio ein. Es meldet sich der Deutschlandfunk. “Viertel nach sechs, guten Morgen”, verkündet der Sprecher. Unglaublich in diesem Gebirgstal den Deutschlandfunk zu hören. Das hatte es früher in den Siebzigerjahren, selbst Anfang der achtziger hier nicht gegeben. Damals konnte ich nicht einmal das dritte Programm des Bayerischen Rundfunks empfangen. Seit einigen Jahren gibt es in dem Tal alles zu empfangen, was die Menschen wollen. Den Grund dafür sehe ich täglich um Viertel nach sechs Uhr. Dann nämlich, wenn die Nebelschwaden im unteren Teil des Obersalzberges kurzfristig ein Loch bieten. Für Minuten habe ich dann freie Sicht auf die Mitte des Berges. Da oben erkenne ich einen riesigen Betonpfeiler. Ich frage Mitbewohner im Haus nach der Bedeutung dieses Betonriesen. “Des is zwengs am Radio und am Fernseher und wegen unserm Funktelefon.” Ich freue mich, dass man die Welt nun auch in Berchtesgaden empfangen kann. Der Betonpfeiler auf halber Höhe des grünen Obersalzberges garantiert es. Er ist die Garantie, dass dieser Ort und der Berg kein abgeschirmtes Paradies sind.

Die erste Meldung des Deutschlandfunks ist, dass in Sebrenica ein Massaker an Zivilisten stattgefunden habe. Die UN habe das Morden trotz ihrer Präsenz nicht verhindern können. Details der Gräueltat seien noch unbekannt.

Krieg und Morden sind mitten in Europa jederzeit möglich. Ich lenke mich mit dieser Horrornachricht von meiner Aufgabe, derentwegen ich nach Berchtesgaden komme, ab. Ich stelle mir das unvorstellbare Leid der Menschen vor, die nur wenige Hundert Kilometer südlich von hier leben. Dort habe ich in den Siebzigerjahren als Kind die Ferien verbracht. Daran habe ich schöne Erinnerungen. Die Wochen am Meer in Istrien waren unbeschwert. Das Kinderheim, nein, diejenigen Kinder, wie ich, die nicht nach Hause zu ihren Eltern fahren konnten, wurden für zwei warme Wochen von Berchtesgaden nach Jugoslawien ans Meer gebracht.

3. Arbeit

Am Ende des Fließbandes krachen die verschlossenen Cremedosen aus der Maschine. Scheppernd knallen sie auf einen weißen Tisch. Ihr Aluminiumverschluss ist noch handwarm. Frauen in weißen Kitteln stehen um den Tisch. Sie leisten Akkordarbeit. Sie verschrauben eilig die Dosen mit weißen Plastikdeckeln. Vorher prüfen sie durch Handdruck, ob der verschweißte Aluminiumverschluss dichthält. Die verschlossenen Dosen stapeln sie zu hohen Säulen. Andere Frauen verpacken die Dosentürmchen in Pappschachteln. Sind die Schachteln voll, stapeln sie die zu Kartonbergen auf bereitstehende Paletten.

Die Arbeiterinnen unterhalten sich während dieser Arbeit. Sie sprechen schnell und laut miteinander. Den lauten und monotonen Maschinenlärm in der Produktionshalle müssen sie mit ihren Stimmen übertönen. Durch die Halle rufen sie sich bayerische Sätze und Fragen zu, die ich nur in Bruchstücken verstehe. Das ist ihre Heimatsprache. Die Akkordarbeiterinnen leben und arbeiten in dieser Sprache. Mir kommt deren Sprache wochenlang fremd vor, bis ich verstehe, dass ich der Einzige in der Fabrik bin, dem es so geht. Ich bin der Fremde, der in deren Heimat kommt und sprachlich nicht mithalten kann.

Täglich stehe ich stundenlang an Maschinen und drücke auf bunte Knöpfe. Die Arbeiterinnen kennen die Knöpfe, deren Funktion und die Maschinen seit Jahren. Obwohl ich die Maschinen kaum kenne, drücke ich schon nach wenigen Tagen Knöpfe. Warum kein Ärger darüber, dass ein Städter in das Industriegebiet im Tal zwischen den idyllischen Bergen kommt und schon nach wenigen Tagen Verantwortung für die Maschinen übernimmt?

Ich bin überzeugt, dass die Akkordarbeiterinnen seit Jahren genau wissen, welche Knöpfe an den Maschinen zu drücken sind. Das Problem ist nicht ihre fehlende Kenntnis. Ich glaube, sie wissen alles, doch sie bedienen die Maschinen nicht, weil sie nicht dafür eingestellt worden sind. Sie sind für Akkordarbeit vorgesehen und nicht für das Knöpfedrücken an den Maschinen. Sie leisten das, wofür sie vorgesehen sind. Sie tun das, wofür der Chef sie eingestellt hatte. Sie respektierten, dass ein fremder Städter in ihr Tal kommt und Knöpfe drückt.

Ich habe das Bedienen der Maschinen nicht gelernt. Ich habe einen anderen Beruf. Trotzdem stellt mich der Chef zum Knöpfedrücken an. Ware zu verpacken und Dosen zu verschrauben ist nicht meine Aufgabe. Ich tue es nur, wenn in der Produktion jede freie Hand benötigt wird.

Die Frauen tun ihre Akkordarbeit jeden Tag. Sie sind glücklich, wenn sie nicht jeden Tag das Gleiche verpacken. Das sagen sie zumindest. Ob das stimmt oder ob sie das sagen, um es sich mit dem Chef nicht zu verderben, weiß ich nicht. Sie verpacken Dosen und dann Tuben. Sie packen in Kisten und Schachteln. Sie stellen Parfümfläschchen von einem Fließband auf ein anderes, sie schrauben Verschlüsse zu und stecken Kappen auf. Sie tragen verpackte Ware von einer Ecke einer Halle in die andere. Sie leisten schwere Fabrikarbeit wie Millionen Menschen.

Ich stehe morgens vor dem Finanzamt und denke an meine idyllischen Vorstellungen von Arbeit. Vielleicht deshalb der Spruch des Chefs. Auf den Chef wirke ich so, dass er mich darüber aufklären muss, dass Arbeit keine Hexerei sei. Wenn er mich sieht, ob vor dem Finanzamt oder an der scheppernden, ratternden Produktionsmaschine, glaubt der Chef, dass ich Arbeit für Hexerei halten könnte. Deshalb informiert er mich darüber, dass ich falschliege.

Es ist eine weiße, große Limousine. Sie sieht sehr schwer aus. Obwohl sie sich schnell nähert, scheint sie mit dem dunklen Belag der Straße fest verhaftet. Jede Unebenheit des Straßenbelages gleicht der Wagen geschmeidig aus, ohne dabei vom Boden abzuheben. Der Chef sitzt am Steuer, die linke Hand fest am schwarzen Lederlenkrad, die rechte auf seinem rechten Knie gelagert. Er sitzt aufrecht mit geradem Rücken, die Bodenunebenheiten scheint er im Wageninneren nicht zu spüren. Spätestens um fünf nach sieben Uhr rollt der Wagen die Straße zwischen Finanzamt und Altenheim herunter. Das Tempo der Limousine reduziert der Chef, nachdem die Leichtmetallfelgen die schwere Karosserie über die Straßenkuppe gleiten lassen, welche den steilen Anstieg hinauf auf den Hochstein markiert.

Auch heute steige ich wieder aufgeweckt, beinahe hastig zu, lasse mich in dem schwarzen Ledersitz nieder. Ich mag es nicht, morgens um diese Uhrzeit im schwarzen Ledersitz im schweren Wagen neben dem Chef zu sitzen. Ob er das merkt? Er spricht mich nicht darauf an. Im Wagen herrscht Schweigen. Der Chef sagt nicht: “Ich weiß das Sitzen in meinem Wagen im schwarzen Ledersitz, um diese Uhrzeit ist kein Vergnügen!”

Der Chef merkt mir nicht an, dass ich darüber nachdenke, wohin ich in seinem schweren Wagen sitzend, gemütlich zurücklehnend, um diese Uhrzeit fahren könnte. Der Chef bemerkt nicht, dass ich darüber nachdenke, wie das Sitzen in seinem Wagen für mich zu einem Vergnügen werden könnte. Er erkennt nicht, dass ich daran denke, in seinem Wagen nach Salzburg zu fahren. Ich will vorbei am Industriegebiet, am liebsten Richtung Meer, am besten gleich bis nach Griechenland. Mit diesem Ziel vor meinen Augen würde die Fahrt für mich zu einem Vergnügen werden. Ich stelle mir den schweren, gepflegten Wagen des Chefs auf einem sandigen Griechischen Campingplatz direkt am Strand vor. Ich berechne, bis wo hin ich in dem schweren Wagen komme, wenn ich morgens um sieben Uhr vor dem Berchtesgadener Finanzamt einsteige. Das Meer wäre leicht bis zum frühen Nachmittag erreichbar. Nicht das Griechische, sicherlich aber das Italienische. Der Chef sagt zu meinem Denken nichts.

Die Gedanken sind frei“. Das ist der Liedtext, der mir dazu einfällt. „Wer kann sie erraten?“ Das ist die kurze Strophe, die ich als Kind in Berchtesgaden zu singen lernte. Tatsächlich begann ich damals, meine Gedanken in Freiheit zu trainieren. Ich stellte mir oft schöne bunte Wiesen vor, malte in Gedanken Bilder vom Sonnenuntergang oder wähnte mich hoch oben in den Wolken schwebend über dem Berchtesgadener Talkessel. In meinen Gedanken floh ich vor dem Leben, das ich in dem engen Tal und auf dem Obersalzberg erlebt habe. Wo für mich keine Sonne mehr schien, weil ich in mein Zimmer zum Stubenarrest geschickt wurde, malten meine Gedanken die Freiheit einer weiten bunten Landschaft.

Über was soll ich früh morgens reden, als sein Beifahrer auf den wenigen Kilometern, die sein Wagen eiligst verschlingt? Ich weiß es nicht. Ich sehe nach rechts durch das Wagenfenster hinaus. Dort sehe ich den wolkenumhüllten Obersalzberg, wie er vorbei fliegt. Unten sehe ich die reißende Arche. Braun und aufgewühlt vom vielen Regen rauscht sie unter der schweren Limousine mit den schwarzen Ledersitzen hindurch. Die Wischblätter gleiten langsam und regelmäßig über die Windschutzscheibe. Geräuschlos entfernen sie die Regentropfen. Die getönte Windschutzscheibe sieht makellos aus. Dicke Tropfen knallen auf das Glas wie tausend durchsichtige kleine Spiegeleier. Aus den tief hängenden, grauen Wolken stürzen sie herab, schlagen auf der Scheibe dieses makellosen Wagens auf. Sofort werden sie von dem riesigen Wischblatt beiseitegeschoben. Der Fahrtwind verteilt sie in schmalen Bahnen auf den Türen des schnellen Autos. Im Wageninneren spüre ich eine unwirkliche Makellosigkeit. Schnell wäre es mit dieser Sauberkeit und dem teuren Lederambiente vorbei, wenn ich am Industriegebiet vorbei führe, um eine wochenlange Reise nach Südeuropa anzutreten.

Leise surren Klimaanlage und Heizung. Draußen fliegt grüne Landschaft vorbei. Sie wird von der breiten, nass glänzenden Straße zerschnitten. Spritzwasser von den Breitreifen des Wagens verschmutzen die kleinen Gräser am Straßenrand. Ich stelle mir dieses unschöne Geschehen vor. Ich denke an kleine Blümchen und Grashalme stelle sie mir vom dreckigen Wasser aus Öl, Reifenabrieb und Bremsbelag besudelt vor.

Dunkle Regenwolken hängen tief über dem engen Tal. Die Sonne strahlt über den Wolken. Oben nahe der schwarzen Wolken, überfliegen viele Menschen das Tal. Ich stelle sie mir angeschnallt in ihren Sitzen vor. Sie lächeln, denn sie sind auf dem Weg in den Urlaub am Meer. Der Chef steuert den Wagen schwungvoll um die Kurve auf seinen Parkplatz vor der Fabrik. Über den Wolken wird ein Fluggast jetzt von einer Dame gefragt: “Do you want Coffe or Tee?”

Mich fragt der Chef nichts. Er weiß nicht, was ich denke. Er fährt jeden Morgen sehr schnell. Er will pünktlich in seiner Fabrik sein.

Plötzlich spricht er über die Reifen seines Wagens. Ich bin überrascht, fühle mich aber nicht angesprochen. Er spricht mit dem Reifenmonteur und dessen Chef. Beide sitzen aber nicht im Wagen. Der Chef ärgert sich über diese beiden und über die breiten Reifen an seinem Wagen, weil die laut surren. Die Reifen sind falsch montiert und sie haben viel Geld gekostet. Das ist ärgerlich und deshalb genügend Grund für den Chef, morgens um kurz vor halb acht darüber zu berichten.

Ich hasse die engen Umkleidekabinen. Dort stinkt es nach Schweißfüßen und Körpergeruch. Auch heute habe ich wieder kein frisches T-Shirt dabei. Deshalb ziehe ich das vom Vortag noch mal über. Es ist braun verschmiert von einer Tönungsgesichtscreme, die ich am Vortag in große Behälter abgefüllt hatte. Auch der Chef kleidet sich in der engen Kabine um. Täglich hat er ein neues, frisch gewaschenes, weißes T-Shirt. Er nimmt es von seinem Stapel auf einem Blechschrank. Ich glaube, dass der Chef seine Wäsche nicht selbst wäscht.

Vom Chef habe ich jeden Morgen mehrere Bilder in meinem Kopf. Sie entstehen, ohne dass ich beabsichtige, sie entstehen zu lassen. In seiner Fabrik arbeitet der Chef mit, wie jeder seiner Mitarbeiter. Er packt in der Produktion an und macht sich dabei Hände und Kleidung schmutzig wie jeder seiner Arbeiter. Aber, so zeigt es das Bild in meinem Kopf, zu Hause tut er das nicht. Dort sind die Rollen klarer verteilt. Seine Frau ist für die Wäsche und die Küche zuständig. Wegen meines Kopfes und den Bildern, die ich darin vom Chef finde, bin ich morgens von Tag zu Tag mehr und mehr verunsichert. Der Chef packt überall in der Fabrik mit an. Er reinigt die verdreckten Container und Tonnen von Resten der Cremes und Salben, mit nacktem Oberkörper bedient er den Hochdruckreiniger. Er steht in einem mannshohen Aluminiumbehälter und schrubbt. Deshalb entsteht in meinem Kopf viel Unklarheit über dessen Rolle in seiner Fabrik. Vielleicht will der Chef die Unklarheit? Ich glaube, er will kein Chef hinter einem großen Schreibtisch sein, wie jeder andere Chef. Er will zeigen, dass er die Dreckarbeit in seiner Fabrik kennt und nicht scheut.

Die Verwaltung seiner Firma erledigt er nebenbei, am Wochenende und abends. Tagsüber steht er in der Produktion und bedient Maschinen. So hat der Chef seine Produktion unter Kontrolle. So erkennt er täglich die Arbeitsleistung seiner Mitarbeiter und kann sie kontrollieren. Vermutlich deshalb fällt ihm bei meinem Anblick in der Produktion der Satz mit der Hexerei ein.

Der Chef arbeitet und kontrolliert. Ich glaube, der Chef denkt, dass dieser Stil ein kluger, moderner Zug von ihm ist. Er will nicht, dass ein Mitarbeiter seiner Fabrik glaubt, dass der Chef in seiner Firma etwas Besonderes ist. Doch dem Chef gelingt das nicht. Ein Blick auf mein Bild in meinem Kopf zeigt mir sofort, dass der Chef mit diesem Verhalten etwas zu verrücken versucht, was nicht zu verrücken ist: Er ist der Chef und damit ist er etwas Besonderes.

Weil er der Chef ist, nimmt er es sich in der Produktion heraus, jeden Facharbeiter an den Maschinen so zu unterstützen, wie er es für richtig hält. Er unterbreitet Vorschläge, die er am liebsten selbst umsetzt. Er fragt den Maschinenführer nicht, warum etwas nicht funktioniert, sondern er begründet, warum etwas gar nicht funktionieren kann. Er erklärt, dass etwas aus den und den Gründen und mit Sicherheit auch noch wegen der Tatsache, dass, … überhaupt nicht funktionieren kann. Der Chef greift zu Schraubenzieher und Schraubenschlüssel. Er greift in die Maschinen, er schraubt und dreht. Seine Hände sind mit Maschinenöl verschmiert. Der Chef kennt jede Maschine genau, schließlich hat er alle irgendwann beschafft. Was seine Mitarbeiter können, kann der Chef auch. Mit jeder Maschine hat er sich lange und intensiv befasst. Er bearbeitet seine Maschinen am Wochenende. Das tut er, damit montags die Produktion auf Hochtouren beginnen kann.

Der Chef führt einen Familienbetrieb und er ist begeistert davon. Seine Frau nennt die Firma sein Hobby, aber mein Bild in meinem Kopf zeigt mir deutlich: Die Firma ist sein Leben. Es begeistert den Chef zu sehen und zu hören, wie die Maschinen rattern und knattern und Hunderte gefüllte Dosen oder Tuben oder Pröbchen auswerfen. Den Inhalt, die Cremes und Salben mischt der Chef am Wochenende in riesigen Mixern. Manche Creme entspringt seiner eigenen Rezeptur. Der Chef hat viele Ideen. Es sind Tonnen, die nach jedem Wochenende auf ihre Abfüllung in Tübchen und Döschen warten.

Vor Jahren war das vielleicht tatsächlich eine Spielerei, sein Hobby, dem er an kleinen Maschinen zu Hause im Keller nachging. Inzwischen hat er eine Fabrik daraus gemacht, in der er Arbeitsplätze schafft. Das kann kein Hobby, keine Spielerei mehr sein. Mein Bild vom Chef wird langsam fertig: Es ist ein großer Verdienst! Eine riesige Sache, vielleicht sogar das wichtigste im Leben. Es ist etwas, das nur ich nicht kapiere. Arbeiten! Dazu braucht man Arbeitsplätze, wie sie der Chef in seiner Fabrik schafft. Arbeitsplätze, die ein Chef wie er auf seine Weise kontrolliert. Mein Bild ist endlich fertig: Der Chef gibt den Menschen in diesem Tal Arbeit und Brot, auch mir! Das wichtigste im Leben kommt vom Chef. Deshalb muss ich lernen zu denken: Nimm das endlich ernst! Konzentriere dich endlich darauf, hier in dieser Fabrik gut zu arbeiten! Denke nicht immer an was anderes, wenn es an die Arbeit geht! Das zu denken versuche ich heute in der Fabrik. Ich hämmere es in meinen Schädel. Es fällt mir schwer, denn es ist ein Denken, das nicht hinein will. Die Gedanken sind frei, doch während der Arbeit sind sie in der Fabrik, der Chef gibt sie vor. Arbeit ist keine Hexerei, wenn die Gedanken, die der Chef hat, dabei sind.

4. Bilder

Der nächste Tag ist der erste Tag im Juli. Es ist der Tag, an dem ich die Arbeit in der kleinen Produktionsfabrik “für immer” beginne. So ist es mit dem Chef ausgemacht. Die Wochen im April, meinen geopferten Urlaub, nenne ich heute gegenüber dem Chef “positiv”. Ich kann mir gut vorstellen, in seiner Fabrik zu arbeiten. Nicht nur dies, ich erkläre dem Chef, ich wolle sogar gerne und langfristig bei ihm arbeiten. Das freut den Chef. Eigentlich ist es selbstverständlich, dass ich die lebensnotwendige Arbeit und das Geld vom Chef nicht ausschlage. Der Chef strahlt mich an, obwohl ich ihm anstatt selbstverständlichen Dank nur mein “positiv” anbiete.

Für immer bleiben“ heißt bleiben, so lange das Arbeitsleben anhält. Ich kann mir das nicht wirklich vorstellen, obwohl ich es dem Chef zusichere. In meiner Kindheit gab es „für immer bleiben“ auf dem Obersalzberg in Berchtesgaden. Dort kamen Kinder aus deutschen Jugendämtern an. Sie wurden, wie ich, mit dem Ziel empfangen „für immer“ bleiben zu dürfen. Meine Kindheit war für mich, wie für jeden Menschen keine Zeit, die „für immer“ blieb. Doch damals begriff ich das noch nicht.

Wegen des verregneten Frühlings erwarte ich in diesem Jahr keinen Sommer. Durch die riesigen Fabrikfenster strahlt die Julisonne. Im ersten Stock der kleinen Firma wird es heiß.

Die Akkordarbeiterinnen stehen in weißen Kitteln an Transportbändern und schwitzen. Rechteckige, hellblaue Glasfläschchen kommen auf einem Förderband vorbei. Nicht einmal ein zehn Milliliter Rasierwasser werden von den Frauen schnell und geübt vom Fließband genommen. Auf den Sprühkopf der Fläschchen drücken sie kraftvoll einen goldfarbenen, dicken Plastikknopf. Die Fläschchen stellen sie in kleine Kisten, die sie mit Paketklebeband zukleben und auf einer Palette stapeln. Diese Tätigkeit beginnen die Frauen morgens um halb acht Uhr und beenden sie nachmittags um fünf.

Jahrelang hatte ich so getan, als wüsste ich nicht, dass in Deutschland noch so gearbeitet wird. Ich glaube, dass geringe Stückzahl und hoher Preis der Parfums und Rasierwasser, Cremes und Salben diese maschinenunterstützte Handarbeit möglich machen. Ich denke an Frauen in teuren Pelzmänteln. Adrett gekleidete Verkäuferinnen. In hell erleuchteten Parfümerien in der Münchner Innenstadt verkaufen sie die Fläschchen. Edle Fläschchen mit glänzenden Plastikköpfen finden in den Boutiquen gegenüber der Münchner Residenz reißenden Absatz. Sie glänzen in weißen Marmorbädern, sie finden weltweit auf großzügigen Ablagen in Badezimmern von Hotels platz.

“Das schafft Arbeitsplätze, deshalb ist es wichtig!”

Diese Überschrift nagle ich als Titel über mein Bild von der Tätigkeit des Chefs in meinen Kopf. Doch die Nägel halten nicht! Sie springen von selbst wieder heraus! Sie springen heraus, wie sich das ein Handwerker bei Abrissarbeiten auf einer Baustelle wünschen würde. Die Nägel hüpfen heraus, als wären sie schon alt und rostig. Sie fallen klirrend verbogen und unbrauchbar zu Boden. Das riesengroße und schwere Brett mit der Aufschrift: “… schafft Arbeitsplätze … wichtig!” kracht in meinem Kopf mit Getöse zu Boden und zerbricht. Warum?

Weil ich das nicht weiß, malt mein Kopf weiter. Er malt an einem neuen Bild. In dem Bild geht es um die Frage: Wieso genau dieser Arbeitsablauf in der Fabrik von Morgens bis Abends? Es entsteht ein Bild zu der Frage: Welchen Sinn sehe ich in dieser Arbeit? Ein riesiger Pinsel in meinem Kopf pinselt nervös und hastig an diesem Bild herum.

Der Chef erklärt mir alles. Er erklärt es, ohne dass ich ihn nach dem Sinn des Arbeitsvorganges, den die Akkordarbeiterinnen acht Stunden täglich zu verrichten haben, frage.

Die Arbeiterinnen stehen links am Fließband. Dort machen sie das: Einen Karton von der Palette heben, auf die linke Seite der Maschine tragen, den Karton mit dem Rasiermesser aufschlitzen, drei leere Fläschchen pro Hand herausheben und nebeneinander auf das Transportband stellen. Rechts am Fließband stehen andere Frauen. Sie machen das: Ein gefülltes Fläschchen vom Band nehmen, einen Plastikdeckel mit der linken Hand greifen und auf die Flasche aufsetzen, fest aufdrücken, danach Fläschchen in die Kiste neben dem Band stellen.

Der Chef erklärt den Sinn durch seine Begeisterung, wenn die Stückzahlen stimmen. Wenn die Maschinen reibungslos auswerfen, was verlangt ist und die Arbeiterinnen reibungslos drei Fläschchen vorne aufs Band stellen und die gefüllten Fläschchen hinten vorsichtig und flink zu stöpseln, dann lächelt der Chef. Er pfeift ein Liedchen. Er ist zufrieden. Das ist der Sinn! Das ist die Antwort auf meine Fragen in meinem Kopf! So sollte ich in meinem Kopf die Bilder malen! Wenn die Zahlen stimmen und die verpackten Kisten auf den Paletten bis zur Decke wachsen, ist für den Chef die Welt nicht nur in Ordnung, sondern dann ist sie richtig gut. Der Produktionstag ist sinnvoll und gut! Ich weiß es! Endlich kann ich aufhören zu denken!

Über das fertige Bild kommt die endgültige Überschrift auf einem großen Holzbrett: “Guter Produktionstag, gute Arbeitswelt!” Gerade als ich den letzten Nagel fein säuberlich in das schwere Holzbrett über meinem Bild in meinem Kopf schlage, beginnt der unterste Nagel schon wieder mit nervösen Drehbewegungen. Und obwohl ich noch mal fest auf den letzten Nagel einschlage, klirren die Nägel einer nach dem anderen wieder unbrauchbar zu Boden. Das Bild “Guter Produktionstag, gute Arbeitswelt” kann ich in meinem Kopf nicht fertig malen! Ich kann das Bild nicht mit seinem Titel versehen und in meinem Kopf einfach hängen lassen. Genauso wie die anderen Bilder bleibt es nicht an seinem Platz hängen, sondern stürzt zu Boden und zerbricht!

Weil das Bildermalen in meinem Kopf unerträglich zu werden droht, denn kein einziges der Bilder von der Fabrikarbeit gelingt mir, bekomme ich Angst. Tagelang geht es mir deshalb schlecht. Wie soll ich das Leben und die Arbeit beim Chef leben, ohne Bilder in meinem Kopf malen zu können, deren Titel passen und die hängen bleiben? Ich verschwende viel Energie für das Malen von Bildern, die nicht fertig werden können. Meine Kraft schwindet mehr und mehr, deshalb fühle ich mich krank. Deshalb glaube ich, dass ich mit dem Malen im Kopf aufhören muss. Es droht mich aufzuzehren. Ich versuche mich abzulenken, um nicht mehr an die unfertigen Bilder in meinem Kopf zu denken.

Die Ablenkung versuche ich, indem ich morgens beginne, mir die Landschaft vor meinem Fenster genauer anzusehen. Ich versuche die unfertigen Bilder in meinem Kopf durch die vorhandene Landschaft vor meinen Augen zu überpinseln.

Jeden Tag sehe ich sehr genau hinüber zum Betonpfeiler am Obersalzberg, gegenüber vom Hochstein, an dem ich wohne. Vom Frühstückstisch sehe ich den Obersalzberg mächtig auf der anderen Seite des Tals zum Himmel hinauf ragen. Der auffällige Betonpfeiler befindet sich etwa auf halber Höhe des Berges. Durch mein Fernglas erkenne ich, dass der Wald dort auf einem erheblichen Stück gerodet ist und ein eigener Zufahrtsweg zu dem Betonmasten führt.

Die Nebelschwaden ziehen auch im Juli morgens durch das Tal, sie sind aber viel dünner als im April und lösen sich, vom Watzmann kommend, kurz vor dem Obersalzberg auf. So habe ich täglich klare Sicht hinüber. Tatsächlich zeigt mein Ablenkungsversuch Wirkung. Schon nach zwei Tagen male ich in meinem Kopf keine unvollendbaren Bilder mehr vom Chef und der Arbeit in der Fabrik.

Nach einer Woche, jeden Morgen habe ich diesen Berg vor meinen Augen, glaube ich daran, dass es der Berg sein könnte, den ich wiedersehen wollte. Mein Denken über die Fabrikarbeit, das Finanzamt, das Altenheim, die Fahrt im Wagen des Chefs, mein Schweigen neben dem Chef: Alles reine Ablenkung von diesem Berg, von diesem Ort, von meiner Vergangenheit hier.

Am achten Morgen im Juli, um zwanzig Minuten nach sechs Uhr, denke ich, dass es kein Zufall sein kann, der mich in diesen Ort zurückführt, und dass es vielleicht auch kein Zufall ist, dass ich ausgerechnet so wohne, dass ich jeden Morgen ab sechs Uhr aufgefordert bin, weil ich keine unvollendbaren Bilder mehr im Kopf malen will, an meine Vergangenheit auf diesem Berg und in diesem Ort zurückzudenken.

Am neunten Morgen im Juli denke ich überhaupt nicht mehr an den bevorstehenden Arbeitstag. Die Arbeit ist so langweilig und eintönig, dass sie meine Gedanken nicht weiter beschäftigt. Ich habe meine sichere Stellung in der Stadt aufgegeben, für eine Arbeit, die mich schon am neunten Morgen nicht mehr beschäftigt? Eigentlich Wahnsinn, aber darüber denke ich am neunten Julimorgen nicht länger nach. Was in der Fabrik auf mich zukommt, jeden Tag, weiß ich genau. Es ist nicht spannend, nicht interessant, sondern langweilig, aber sehr anstrengend.

Abends schmerzen mir Füße und Rücken. Wäre ich wegen der monotonen Arbeit abends nicht so abgearbeitet und müde, so denke ich am neunten Morgen, könnte ich mit dem Schreiben abends beginnen. Doch das ist wegen der anstrengenden Fabrikarbeit nicht möglich. Vielleicht können andere Menschen nach einem Tag monotoner Fabrikarbeit abends noch geistig arbeiten, ich kann es nicht. An manchem Abend bin ich so müde, dass ich schon um halb sechs Uhr auf dem grauen Sofa mit Blick hinüber zum Obersalzberg einschlafe. Meine Augen fallen zu, die Zigarette fällt mir aus den Fingern und brennt ein Loch in den gemieteten Teppich. Das ist mein Leben an den Tagen nach lautem eintönigem Maschinenlärm. Es ist meine Unfähigkeit, nach einem langen Fabriktag noch wach zu bleiben und zu denken.

Es gibt einen Grund für meine Rückkehr in diesen Ort, aber wegen der anstrengenden Fabrikarbeit kann ich abends, wenn Zeit dazu ist, nicht weiter über meine Rückkehr in dieses Tal und meinen täglichen Blick auf den Berg nachdenken. Über diesen Sinn der Fabrikarbeit ärgere ich mich nach dem zehnten Arbeitstag. Ich ärgere mich über Logik in meinem Alltag. Nach einem monotonen, anstrengenden Arbeitstag tue und denke ich nicht mehr viel. Das finde ich am Abend des zehnten Arbeitstages gemein.

Ich sitze auf dem grauen Sofa. Ich spüre, dass mein Kopf nicht mehr denken kann. Selbst mit starkem Kaffee gelingt es nicht. Ich bleibe zwar wach, aber ich kann nicht vernünftig denken. Eigentlich will ich wieder einschlafen, wie an den vergangenen Abenden nach der Arbeit. Doch das verhindert nun der starke Kaffee.

Jetzt beginnt mein Kopf wieder Bilder zu malen. Ein Titel heißt: “Nach einem guten Produktionstag: Dumm sein und schlafen!” Das schwere Brett mit diesem Titel bleibt hängen. Es kracht nicht wie seine Vorgänger herunter. Die Nägel für diesen Bildertitel halten. Endlich ein vollendetes Bild in meinem Kopf.

Am zehnten Abend, auf dem grauen Sofa im Zimmer an der Hochsteinstraße bleibe ich wach. Wegen einer starken Tasse Kaffee male ich in meinem Kopf ein fertiges Bild. Ich verstehe, dass ich nach Berchtesgaden nicht nur wegen der Fabrikarbeit und des Chefs zurückkomme. In beeindruckender Klarheit sehe ich täglich den Obersalzberg vor meinem Fenster. Der Grund für meine Rückkehr liegt an diesem Berg in diesem Ort. Hier habe ich noch etwas zu erledigen.

Ich bin Fabrikarbeiter. Täglich wird mein Denken von der Monotonie und Langeweile dieser Arbeit behindert. Das Bild von diesem Berg, von diesem Ort thront vor den Augen des Fabrikarbeiters. Dieses Bild schüttelt den müden Fabrikarbeiter wach. Es beflügelt sein Denken, es rüttelt ihn auf. Das Bild führt einen Kampf zwischen willen- und mutlos machender, monotoner Fabrikarbeit und dem verschütteten Willen des Fabrikarbeiters. Dessen Wille möchte unbedingt eine verborgene Erinnerung hervorkramen.

5. Ausflug

Am Morgen des zehnten Arbeitstages sitze ich schon um fünf Uhr am Frühstückstisch. Das tue ich, weil ich glaube, dass es die Stunde ist, in der ich am klarsten denken kann. Ich bin zwar noch sehr müde, aber ich bin noch nicht aufgearbeitet vom monotonen Fabriktag.

Ich will mich auf ein Experiment einlassen, denn ich bin überzeugt, dass ich gefunden habe, was mich hierher zurückgeführt hat. Etwas von meinem Leben, das vor Jahren an diesem Berg geschehen war, soll durch meinen Kopf wandern. Diesen Teil meines Lebens hält mein Kopf tief unten verborgen. Das soll jetzt ausgegraben werden. Es muss jetzt geschehen, bevor die Jahre meine Erinnerung mit neuen Erlebnissen derart überlagern, dass es mir unmöglich wird, die Erinnerungen festzuhalten.

Was verbindet mich mit diesem Berg und diesen Ort? Ich stamme nicht aus dieser Gegend, ich bin nicht einmal ein Bayer. Trotzdem verbringe ich viele Jahre hier im Ort und auf diesem Berg. Es ist in den Siebzigerjahren. Ich bin Zwangsgast in den zwei Häusern am Oberlehen, oben auf dem Obersalzberg. Dort verbringe ich meine Kindheit. Auf unbestimmte Zeit lebe ich dort. Vielleicht bleibe ich bis zur Volljährigkeit, so sagt es mir die alte Heimleiterin.

Das Kinderheim am Oberlehen liegt etwa auf halber Höhe des Berges. Es besteht aus zwei alten Häusern und einen sauber gerechten Hof mit einer riesigen Eiche. Hinter dem Oberlehen gibt es steile Hänge und Wiesen und oben den Wald, unseren riesigen Spielplatz. Das Oberlehen besteht aus zwei einstöckigen Gebäuden, dem Haupthaus und dem Nebenhaus. Große Teile meiner Kindheit lebe ich in diesen beiden Häusern. Heute gibt es die beiden alten Häuser nicht mehr. Stattdessen stehen dort zwei Neubauten.

Ich erreiche das neue Oberlehen über die steile Bergstraße. An der Station Erika lenke ich den Wagen nach rechts und fahre über die kleine Brücke, unter der die Rodelbahn hindurch führt. Ich erkenne die Gegend, doch alles sieht verändert aus. Nicht nur die Straße ist neu geteert, auch die wenigen alten Häuser am Straßenrand muss ich aufmerksamen Blickes suchen. Die Pension finde ich versteckt zwischen vielen Neubauten.

Die graue Mauer am Straßenrand ist noch da. Immer noch hält sie den Berg davon ab, auf die Straße zu stürzen. Am Ende der Mauer biege ich links ab. Jetzt sehe ich die beiden neuen Häuser, das neue Oberlehen. Ich fahre nicht bis vor das erste Haus. Den Wagen wende ich in einiger Entfernung der beiden Gebäude.

In diesem Moment verspüre ich Lust, den Wagen direkt auf dem Vorplatz am ersten Haus abzustellen, tue es aber nicht. Ich erinnere mich an mein Spiel vor etwa zwanzig Jahren auf diesem Vorplatz vor dem alten Haupthaus. Dort hatte der Buchhalter den weißen Porsche und der Heimleiter seinen grünen Opel Rekord geparkt. Damals hatte ich sehr oft auf diesem Vorplatz zwischen deren Autos gespielt.

Ich bin elf oder zwölf Jahre alt. Ich sitze in einem roten Kettcar. In meiner Fantasie ist ein Kettcar ein echtes Auto. Mit meinem Fantasieauto fahre ich vor meinem Kinderheim vor. Ich fahre rasant mit laut brummendem Auspuff. Ich fahre, wie es der Buchhalter Büchtler, er ist Stellvertreter des Heimleiters, jeden Morgen tut. Meinen Sportwagen, das Kettcar, parke ich zwischen den Wagen des Heimleiters Hennings und den des Buchhalters Büchtler. In meinem Fantasiespiel komme ich als Besucher in das Oberlehen. Ich wohne nicht dort, sondern ich reise aus der Stadt hinauf in das Kinderheim am Obersalzberg. Dort besuche ich meinen Sohn. Das ist selbstverständlich. Ich komme am Wochenende und in den Ferien, um meinen Sohn zu sehen.

In meinem Spiel tue ich das sehr oft, mindestens wöchentlich. Es ist selbstverständlich, dass ich meinen Sohn da oben wöchentlich besuche, denn damals weiß ich, dass er “für immer” dort leben soll, weil er bei mir nicht mehr leben kann. Ich besuche ihn, um zu erfahren, wie es ihm geht, um sicherzustellen, dass es ihm gut geht. Wenn ich sehe, dass es ihm schlecht geht, spreche ich mit dem Leiter und dem Buchhalter darüber. Hennings und Büchtler haben mir in meinem Fantasiespiel nichts zu befehlen, denn ich bin erwachsen. Deshalb grüße ich die beiden nur beiläufig. Ich sage: “Grüß Gott, die Herren!”

Dann betrete ich in das Haupthaus, gehe hinauf in das Zimmer meines Sohnes. Der freut sich und lacht, weil ich schon wieder zu Besuch komme. Er zieht seine Jacke über, wir beide gehen die Treppe hinunter und verlassen das Haus. Wir steigen in mein Fantasieauto. Den Wagen wende ich schwungvoll und laut dröhnend. So wie Büchtler es jeden Tag mit seinem Porsche tut, donnere ich in meinem Fantasiespiel im Kettcar zusammen mit meinem Sohn die abfallende Bergstraße hinunter. Mit meinem Sohn unternehme ich einen Ausflug in den Markt Berchtesgaden, anschließend gehen wir zusammen in die Berge.

In Berchtesgaden scheint es mir stets wichtig, zunächst genau zu suchen, ob nicht am Rand eines Grundstücks der Hinweis auf ein Privatgelände steht, der das Betreten verbietet. Ich bleibe deshalb im Wagen vor dem neuen Oberlehen sitzen. Durch die Windschutzscheibe sehe ich den Vorplatz meines ehemaligen Zuhauses. Ich suche ein Verbotsschild und finde keines. Deshalb steige ich aus. Ich gehe langsam einige Schritte, nähere mich dem Vorplatz am neuen Oberlehen. Auf dem geteerten Platz bleibe ich stehen. Ich betrachte die beiden neuen Häuser und die Wiesen hinter ihnen.

Der steile Hang hinter den beiden Häusern sieht nahezu unverändert aus. Es ist die Wiese, auf der wir täglich gespielt haben und im Winter Schlitten fuhren. Sie ist noch nicht mit neuen Häusern verbaut. Die beiden neuen Häuser interessieren mich nicht, denn es sind nicht mehr die, in denen wir Kinder gelebt haben. Deshalb liegt mein Blick nur kurz bei ihnen. Sie sind modern und hässlich. Moderne bayerische Rustikalität. Es ist die Bauweise der neunziger Jahre in Berchtesgaden. Das neue Haupthaus wirkt verschachtelt, vielleicht um keine Langeweile beim Anblick entstehen zu lassen. Die Fensterrahmen sind aus Aluminium.

Am Hang hinter dem Haupthaus steht die Holzhütte, in der die Ponys des Heimleiters standen. Sie wurde neu errichtet, an der selben Stelle auf der Wiese wie damals. Jetzt gehe ich einige Schritte in die Wiese. Ich halte an der Stelle, wo wir früher im Sandkasten gespielt haben. Von hier aus sehe ich oberhalb auf der Wiese die kleine Bretterhütte. Es ist noch der gleiche Bretterverschlag, der uns vor zwanzig Jahren als Ranch der Cowboys gedient hatte. Damals wurde der Verschlag regelmäßig von den Indianern überfallen.

Das Gehege an dem steilen Hang, in dem der Heimleiter Rehe gehalten hatte, ist verschwunden. Beide Häuser beherbergen heute Berchtesgadener Familien. Ein Fenster öffnet sich. Eine Frau lehnt sich heraus. Sie ruft:
“Wos woins denn hier?”
Weil ich nicht recht weiß, was ich will, fällt mir nur der schöne Ausblick ein. Es ist die herrliche Sicht hinüber zum Untersberg, die ich aus meiner Kindheit kenne. Deshalb sage ich:
“Eigentlich gar nichts, es ist nur der wunderschöne Ausblick von hier oben!”
Mit meiner Antwort ist die Frau nicht zufrieden. Sie ignoriert sie einfach und fragt:
“Wen suachans denn?”
Ich verstehe, dass die Frau nicht versteht, dass ich nur den Ausblick genieße. Deshalb antworte ich:
“Ich suche niemanden, ich hab mich verfahren. Ich finde schon wieder runter nach Berchtesgaden. Danke schön auf Wiedersehen!”

Weil ich einer fremden Frau nicht erklären möchte, dass ich mein ehemaliges zu Hause suche, laufe ich schnell die wenigen Schritte zurück zum Wagen. Ich steige ein, starte den Motor und rolle langsam an den Neubausiedlungen vorbei, bis zur steilen Straße, die mich hinunter in den Markt führt.

Am nächsten Morgen sitze ich um fünf Uhr auf dem Stuhl vor meiner alten Schreibmaschine. Ich tippe meinen Besuch beim neuen Oberlehen. Die Erinnerung an das alte Oberlehen fällt mir dabei schwer. Ich hatte gehofft, durch meinen Besuch am neuen Oberlehen meine Erinnerung an mein Leben im alten Oberlehen zu beflügeln. Deshalb war ich abends nach dem elften Arbeitstag ungeachtet meiner Müdigkeit der steilen Straße hinauf auf den Obersalzberg gefolgt. Auf die bayerische Frau, die das neue Aluminiumfenster geöffnet hat, war ich nicht vorbereitet. Jetzt denke ich, dass es nur verständlich war, dass ich diese Frau dort traf. Sie sei die Besitzerin, hatte sie noch gerufen, als ich in den Wagen stieg. Und dass das Betreten der Wiese verboten sei, weil es Privatgelände wäre.

Was habe ich anderes erwartet in Berchtesgaden? Hoffe ich, die Kinder wieder zu treffen, mit denen ich da oben gelebt habe? Da hätte ich zwanzig Jahre früher kommen müssen. Mit einer bayerischen Hausbesitzerin in einem Aluminiumfensterrahmen habe ich nicht gerechnet. Ganz schön naiv. Ich bin in der Stimmung, mich auf meine Erinnerung einzulassen. In mein Bild davon passt keine Berchtesgadener Neubaubesitzerin.

6. Alltag

Die Fabrikarbeit interessiert mich am zwölften Arbeitstag überhaupt nicht mehr. Ich arbeite an einer Abfüllmaschine. Die Maschine füllt ein grün gefärbtes Duschbad in lange Plastikflaschen. Der Chef arbeitet wenige Meter entfernt an einer anderen Maschine. Seine Maschine füllt in milchfarbige Glasfläschchen durchsichtiges Parfum das eine Münchner Firma für viel Geld an die Frau und den Mann bringt. Wie jeden Tag stehen die Akkordarbeiterinnen in ihren weißen Kitteln am Ende der Transportbänder. Sie nehmen die befüllten Fläschchen vom Förderband und stecken goldfarbene Plastikstopfen auf die Sprühköpfe. Die Fläschchen verpacken sie in Pappschachteln, die sie auf bereitstehende Paletten stapeln. An meiner Maschine stehen andere Frauen. Sie verschrauben die befüllten Duschbadflaschen. Sie leisten ihre alltägliche Akkordarbeit. Die Frauen arbeiten sehr genau. Schon ein minimaler Fehlgriff hat sehr unangenehme Auswirkungen. Kippt nur eine Flasche auf dem Band um, verschmiert die Flüssigkeit das Förderband und alle anderen Flaschen. Die Produktion muss gestoppt werden, das gesetzte Tagesziel wird unerreichbar. Der Chef arbeitet an der Maschine nebenan. Er sagt nichts aber beobachtet alles.

Mich interessiert das heute nicht mehr. Ich denke weder an Hexerei noch an den Sinn dieser Arbeit. Ich hebe große aber leichte Pappkisten von einem hohen Stapel. Ich schneide sie mit einem scharfen Messer auf, nehme vier längliche Plastikflaschen auf einmal heraus und stelle sie auf das Förderband. Wirft eine Akkordarbeiterin versehentlich eine gefüllte Flasche um, drücke ich sofort den roten Knopf. Das Förderband und die Abfüllmaschine stehen dann still. An diese Arbeit denke ich nicht. Ich tue sie von morgens um halb acht bis nachmittags um fünf Uhr. Ich denke an das Oberlehen in halber Höhe am Obersalzberg. In meinem Kopf sehe ich es unterhalb des neuen Betonpfeilers, der heute für guten Empfang im Tal sorgt.

Am zwölften Fabriktag bin ich endgültig überzeugt, dass ich nicht wegen der monotonen Arbeit im idyllischen Tal bin. Ich komme nicht, um mir meiner utopischen Vorstellungen über Arbeit und Leben bewusst zu werden. Ich bin hier, um ein winziges Stück meines Lebens am Oberlehen auf dem Obersalzberg, wie ich es vor beinahe zwanzig Jahren erlebt habe, nicht verloren gehen zu lassen. Die Fabrik ist der Vorwand dafür, dass ich mich in diesem Ort aufhalte.

Morgens um fünf Uhr, vor meiner alten Schreibmaschine, weiß ich am zwölften Tag, dass es notwendig ist, dass ich zwischen fünf und sechs Uhr morgens aufschreibe, was ich noch zurückholen kann. Ich muss versuchen, die Tageszeit der Klarheit am Morgen zu nutzen, um festzuhalten, was sich in meinem Gedächtnis noch findet. Ich kenne mein Gedächtnis und weiß, dass mir die genaue Erinnerung an lange Vergangenes immer schwerer fällt, je mehr Jahre vergehen. Deshalb bin ich heute hier. Zwanzig Jahre sind vergangen, mehr Zeit soll nicht verstreichen.

Ein Sinn dieser Fabrikarbeit ist es, tagsüber zu arbeiten, um beschäftigt zu sein. So kann ich eine einleuchtende Antwort auf die Frage geben, warum ich an diesem Ort anwesend bin und was ich den Tag lang tue. Werde ich auf der Straße im Ort von alten Bekannten gefragt, was ich in Berchtesgaden tue, so arbeite ich in dieser Fabrik. Tagsüber bin ich mit Arbeit beschäftigt, das verstehen die alten Bekannten. Deshalb bin ich gekommen. Arbeit ist die beste Begründung, denn sie ist ein Muss. Von meinem Schreiben, morgens zwischen fünf und sechs Uhr, erzähle ich keinem meiner alten Bekannten auf der Straße:

“Ich bin zurückgekommen, um zu arbeiten. In der Fabrik, im Industriegebiet Richtung Salzburg, gibt es viel zu tun. Deshalb bin ich hier. Vielleicht werde ich bleiben und mich hier niederlassen.”

Das ist eine sehr gute Erklärung. Damit ernte ich zufriedene Blicke. Meine Sprache verstehen die alten Bekannten im Markt Berchtesgaden. Würde ich erklären, dass ich hier sei, um an das Oberlehen zu denken und alles aufzuschreiben, was mir dazu heute, beinahe zwanzig Jahre später noch einfällt, wäre deren Verwirrung perfekt. Ich würde höchstens ein mitleidiges Lächeln ernten.

Das alte Oberlehen interessiert die fragenden Bekannten auf der Straße nicht. Es ist vergangen, viel zu lange ist alles schon her, um noch irgendjemanden zu interessieren. Und außerdem, so kommt es mir heute Morgen, ich verlasse gerade das Haus an der Hochsteinstraße und laufe die steil abfallende Pflastersteinstraße langsam hinunter, es ist ja nur meine Vergangenheit. Warum sollte jemand in dem Ort verstehen, dass ich deshalb zurück komme?

Von der steilen Hochsteinstraße aus, sehe ich leuchtenden Schnee auf dem fernen Gipfel des Watzmanns. Zwei kleine Schäfchenwolken treiben sich in der Nähe des Gipfels herum. Ein sommerlicher, klarer Julitag in Berchtesgaden steht bevor. Ich sehe noch einmal hinauf zum Watzmann, bevor ich die Kehre unten, an der Hochsteinstraße zur Nonnenstraße erreiche. Dort drossele ich meinen Schritt, um Autos mit Berchtesgadener Nummernschildern vorbeifahren zu lassen. Ich warte einige Minuten, denn eine lange Autoschlange fährt morgens, um kurz vor sieben Uhr, auf der engen Straße durch das Nonntal. Nach einem roten Kleinwagen und vor einer, vom Rathaus herannahenden, weißen Limousine laufe ich schnell über die Straße. Heute ist es ein schneller Stechschritt, in dem ich dem gelben Finanzamt entgegen strebe. In diesem Tal, so denke ich während ich schneller und schneller werde, ist es nicht besonders sinnvoll, die Fragen der Bekannten nach dem Grund meiner Rückkehr mit dem Satz: “Ich beschäftige mich mit meiner Vergangenheit in diesem Ort”, zu beantworten.

Viel wichtiger ist es, auf die Fragen alter Bekannter zu antworten, dass ich mich mit den Dingen der Gegenwart, wie der täglichen Fabrikarbeit, beschäftige. Arbeit brauche ich täglich, um zu leben. Wegen meines schnellen Stechschrittes und wegen meiner Gedanken, laufe ich auf dem Gehsteig Richtung Finanzamt einfach weiter. Ich frage mich gerade: Warum will ich an meine Vergangenheit denken und nicht an das tägliche Geld und Brot, das ich brauche? Da erkenne ich den lächelnden Chef am Steuer des Wagens neben mir. Ich verliere den Gedanken und steige zu.

Das gelbe Finanzamt fliegt rechts an mir vorbei. Der Tacho zeigt schnell fünfzig Kilometer an. Im Altenheim gegenüber dem Finanzamt sind die Vorhänge alle schon zugezogen. Ich glaube Tätigkeiten, die als Begründung für meine Anwesenheit in diesem Ort dienen, müssen einfach gegenwartsbezogen sein, um bei den alten Bekannten aus meiner Schulklasse und auch beim Chef auf Verständnis zu stoßen.

Ich lehne mich neben dem Chef ins Leder. Der Wagen rollt den Nonntalberg hinunter. Unten an der Kreuzung, gegenüber der schnell fließenden Arche, biegt der Wagen schwungvoll nach links Richtung Salzburg ab. Die Sonne geht gerade ganz hinten in dem langen, engen Tal über Markt Schellenberg auf. Ich denke kurz daran mit dem Chef über mein Thema zu sprechen. Das tue ich nicht.

Wir sprechen über das wunderbare Wetter. Minuten später, der Chef setzt den Blinker nach links und überquert die Arche hinüber zum Industriegebiet, ist es mir unangenehm überhaupt daran gedacht zu haben, den Chef in meine Art zu Denken, in mein Thema, in mein Projekt, über meine Vergangenheit am Oberlehen zu schreiben, einzuweihen. Für den Chef, so erlebe ich es täglich, ist das wichtigste im Leben die tägliche Arbeit. Die tägliche Gegenwart ist es, so denke ich, während ich dessen Firma betrete, die den Chef in erster Linie interessiert. Nur dessen tägliche Arbeit in der Gegenwart bringt den Chef soweit, zu produzieren und Mitarbeiter in Geld und Brot zu bringen.

Die tägliche Gegenwart kann ich gegenüber dem Chef jederzeit ansprechen. In sie lohnt es, Arbeitszeit und Kraft zu investieren. Was ich täglich zwischen fünf und sechs Uhr morgens tue, hat, gemessen an den Maßstäben der täglichen Arbeit in der Firma des Chefs, keinen Wert. Das erkenne ich heute Morgen, während ich in der engen, stinkenden Umkleidekabine ein frisches T-Shirt über ziehe. Weil der Chef sein Leben und das anderer Menschen an der täglichen Arbeit misst, kann ich mein Thema unmöglich mit ihm besprechen.

Ich arbeite in der Hitze im ersten Stock an einer lärmenden Abfüllmaschine und denke, dass mein Thema unproduktiv ist, denn es ist lange vergangen und spielt deshalb heute für niemanden eine Rolle, außer für mich.

7. Amerikaner

Meine Geschichte, an der ich von diesem Morgen an, täglich um fünf Uhr schreibe, hat mit der jüngsten historischen Rolle des Obersalzbergs nichts zu tun. Trotzdem fällt mir zuerst diese unrühmliche Rolle ein. Die Vergangenheit dieses Berges ist für mich nicht zuerst wegen meiner eigenen Vergangenheit unrühmlich, sondern wegen der Nazis, die sich den Berg nahezu vollständig angeeignet hatten, die auf ihm residierten, hohe Politiker empfangen hatten, und von ihm aus Massenmord, Krieg und Vernichtung betrieben.

Daran denke ich, denn dieser Tage erreichen mich mehr und mehr die Berichte des Krieges aus dem zerfallenden Jugoslawien. In ihm werden grauenvolle Tötungen verübt, Folter und Vergewaltigung als demoralisierende Kriegsverbrechen gezielt eingesetzt, die von der UN nicht verhindert werden können. Das Grauen erinnert mich daran, dass meine Geschichte eine harmlose ist, und es nährt den Gedanken, dass ich sie weiter verharmlosen könnte. Doch das gelingt mir nicht, denn sie drängt sich auf, weil es meine Vergangenheit ist, die ich nicht abspalten und ruhen lassen kann. Meine Geschichte am Oberlehen auf dem Obersalzberg beginnt fünfundzwanzig Jahre nachdem britische Bomber am 25. April 1945 den Obersalzberg erfolgreich bombardiert hatten, sie beginnt im Jahr 1970.

Das Oberlehen liegt etwa vierhundert Höhenmeter unterhalb des, von den Amerikanern renovierten und jahrelang als Hotel genutzten, ehemaligen Platterhofes. Es ist die Präsenz der Amerikaner an diesem Berg, weshalb ich seine Nazivergangenheit in meinem Bericht, morgens zwischen fünf und sieben Uhr, nicht unerwähnt lassen will.

Die Amerikaner erleben wir Kinder damals täglich. Riesige amerikanische Limousinen, Kleinbusse, Transporter und amerikanische Pendelbusse fahren täglich zwischen den US-Einrichtungen im Tal und dem General – Walker – Hotel am Obersalzberg, hin und her. Als kleiner Junge und noch als Jugendlicher finde ich den Anblick dieser riesigen Wagen toll. Ich interessiere mich für Autos. Ich spiele jeden Tag mit Matchboxautos auf dem Teppichboden im Aufenthaltsraum und draußen im Sandkasten. Amerikanische Modelle sind in den siebziger Jahren für mich sehr schwer zu kriegen. Deshalb ist es ein großes Erlebnis, die US-Wagen auf der Straße am Obersalzberg täglich zu sehen.

Im Fernsehen gibt es noch kein großes Angebot an amerikanischen Filmen, in denen solche Autos vorkommen. Das glaube ich zumindest, weil ich als zehnjähriges Kind im Kinderheim am Oberlehen wenige amerikanische Filme und Serien im Fernsehen sehe. Vielleicht gibt es die Filme und ich weiß das nur nicht. Abends auf der Mattscheibe sehen wir damals Hitparade oder Disco. Wir sehen die Stars, die Ilja Richter und Dieter Thomas Heck vorstellen. Das lenkt mich von meinem Kinderheimalltag ab. Amerikanische Wagen sehe ich nicht auf der Mattscheibe, sondern ich sehe sie täglich auf der Straße.

Heute, beinahe zwanzig Jahre später, morgens um sechs Uhr in der Wohnung an der Hochsteinstraße, wird mir klar, dass die Amerikaner eine gute Erinnerung an mein Leben am Oberlehen sind. Kurz bevor ich von meiner braunen Schreibmaschine aufstehe, um fünf nach sechs Uhr, fällt mir wieder ein, dass es mich damals immer gefreut hatte, wenn mir die Amerikaner aus ihren Limousinen zuwinkten und zulächelten.

Samstagmittags, kurz vor zwölf Uhr, überqueren die Kinderheimkinder vom Oberlehen auf der Schießstättbrücke die Arche in Berchtesgaden. Die Bergstraße führt kurz nach der Brücke um eine enge Kurve. Die Steigung ist am Straßenrand mit 24 Prozent angegeben. Wir marschieren auf der linken Straßenseite auf der Salzbergstraße hoch auf den Obersalzberg. Unser Ziel ist unser Zuhause, nahe der Bushaltestelle Station Erika.

Wir grüßen alle entgegenkommenden amerikanischen Fahrzeuglenker mit dem Victory – Zeichen. Deshalb lachen und winken die Fahrzeuglenker. Ich grüße mit diesem Zeichen, obwohl ich dessen Bedeutung nicht kenne. Ich mach es den älteren Heimkindern einfach nach. Auf unserem steilen Fußweg winken uns die Menschen aus ihren riesigen amerikanischen Autos jahrelang zu. Ich grüße die Fahrer mit diesem Zeichen, weil ich mich über deren Lachen freue und darüber, dass es viele erwachsene Männer sind, die uns hinter ihren Windschutzscheiben täglich so freundlich zulächeln. Ich glaube, alle Heimkinder tun das, wegen des freundlichen Winkens und Lächelns der Männer.

Wegen der lächelnden winkenden Amerikaner, und der täglichen Kinder aus dem Oberlehen, die nachmittags von der Schule hinauf laufen, und die Amerikaner in ihren großen Wagen freundlich grüßen, gibt es eines Tages ein Kinderfest, zu dem die Amerikaner eine Gruppe aus dem Oberlehen, in das General – Walker – Hotel auf dem Obersalzberg einladen.

Heute Morgen sitze ich schon wieder zu lange vor meiner Schreibmaschine. Es ist bereits Viertel nach sechs Uhr, als ich meinen Bericht beende. Morgens schalte ich das Radio nicht mehr ein. Ich will die schrecklichen Berichte aus dem Krieg im zerfallenden Jugoslawien nicht hören. Stattdessen denke ich während des Frühstücks über meine Erinnerungen nach. Ob es gute Kontakte gewesen waren, die sich zwischen dem Oberlehen und den Amerikanern entwickelt hatten? Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich nur an eine einzige Einladung der Amerikaner.

Der Chef ist heute Morgen gut gelaunt, wie jeden Tag. Im Auto spricht er von einem “Traumsommer”. Ich stimme zu. Der Himmel ist jeden Tag strahlend blau. Die Sicht auf die Berge um das Tal ist täglich klar. Wälder und Wiesen stehen in sattem Grün vom Regen des Frühjahres.

In der kleinen Fabrik steht die Hitze. Mit Hochdruck arbeiten wir an großen Aufträgen von Parfümherstellern mit internationalem Bekanntheitsgrad. Seit Tagen leisten wir Überstunden, welche die Mitarbeiter selbstverständlich freiwillig leisteten. Morgens trägt sich auf einer Liste ein, wer Abends länger bleiben kann. Auch ich trage mich ein, denn ich will, dass Kollegen und Chef wissen, dass auch ich tatkräftig anpacke, wenn es gefragt ist. Ich arbeite daran, das Bild von der Hexerei zu zerstören. Die anstrengende Arbeit spüre ich täglich in meinem Rücken. Wegen der langen Arbeitstage schlafe ich nachts wie ein Stein.

Morgens wird das Aufstehen von Tag zu Tag schwerer. Mein Wecker läutet um Viertel vor fünf. Wie ein Brett liege ich matt im Bett. Ich bleibe nach dem Weckerläuten liegen, schlafe wieder ein und wache nur durch einen Zufall um kurz vor sieben Uhr auf. Der Chef sieht mir meine Müdigkeit nicht an. Eines Morgens sitze ich unrasiert neben ihm im Wagen. Ich wache um zehn vor sieben Uhr auf, stehe aber pünktlich um sieben Uhr vor dem Finanzamt und steige in den Wagen.

Eine Gruppe Kinder ist zu einem amerikanischen Kinderfest eingeladen. Im General – Walker – Hotel, oben an der breiten Höhenringstraße, gibt es an diesem Nachmittag jede Menge Süßigkeiten. Es sind Süßigkeiten, die ich noch nie gesehen habe. Orangen, rosa, grüne, blaue und bunte Torten. Kleine gefärbte Cremetörtchen und natürlich die klassischen Amerikaner.

“Alles total amerikanisch, echt super die Amis!”
So plärrt mein Freund Peter auf dem ersten und einzigen dieser Feste, an das ich mich erinnere. Wir sitzen gemeinsam mit anderen Kindern vom Oberlehen und vielen amerikanischen Kindern um einen riesigen Tisch mit weiß-blauer Papiertischdecke. Heute lernen wir die Kinder der lächelnden und winkenden amerikanischen Autofahrer kennen. Sie plappern laut und schnell. Sie schreien sich, über den großen, weiß-blau dekorierten Tisch hinweg, amerikanische Worte und Sätze zu, von denen wir nichts verstehen. Sie lachen permanent, beinahe hysterisch. Was sie sich zu erzählen haben, muss unvorstellbar lustig sein, denn noch nie habe ich so viel Kinderlachen an nur einem Nachmittag erlebt.

Peter sitzt neben mir. Er lädt sich einen Berg rosa Törtchen auf seinen Teller. Die Törtchen liegen auf kleinen bunten Hügeln in der Mitte des Tisches. Peter greift lachend zu den dort stehenden Coca-Cola-Flaschen. Er sieht mich an und brüllt:
“Echt einsame Spitze die Amis!”
Für mich sind seine Worte ein Startsignal. Ich mache einfach alles nach, was er tut. Was Peter gut findet, kann nicht schlecht sein. Er ist erfahren und sich seiner Sache immer sicher. An ihm orientiere ich mich seit langer Zeit. Ich greife also auch zur Cola-Flasche und lade meinen Teller kräftig mit bunten Leckereien voll.
“Echt toll die Amis!”
So plärre auch ich. Genauso wie Peter schiebe ich ein Törtchen nach dem anderen in meinen Mund.

Es ist ein traumhafter Nachmittag bei den Amerikanern. Im Kinderheim gibt es nie ein Fest, an dem es so viele süße Sachen und bunte Leckereien zu Essen gibt. Im Oberlehen gibt es auch Kinderfeste, aber nicht in solchen Dimensionen. Deshalb sind Peter und ich schwer begeistert. Noch Wochen nach dem Fest schwärmen wir gegenüber anderen Heimkindern, die nicht dabei waren, wie toll wir das fanden. Die süßen amerikanischen Törtchenberge werden von Erzählung zu Erzählung höher. Die amerikanischen Kinder sind die tollsten Kinder der Welt. Amerikanische Kinder erzählen ständig von den tollsten, spannendsten und gefährlichsten Abenteuern, die man sich nur vorstellen kann. Selbst im Kino gibt es keine so tollen Geschichten. Peter und ich erfinden ständig neue Abenteuer, welche wir in unseren Erzählungen über diesen Nachmittag, den amerikanischen Kindern in den Mund legen.

Die amerikanischen Kinder springen munter von ihren Plätzen auf, sie stopfen ihre Münder noch voller mit Cremetörtchen und Sahne, als Peter und ich das schaffen. Deren Zügellosigkeit beeindruckt Peter und mich. Sie stopfen so viel in sich hinein, wie nur geht und sie spülen mit Cola nach, wie mit Wasser. Mit voll gestopften Mündern rennen sie herum, sie klettern auf ihre Stühle und plärren amerikanisch von oben herunter.

Alle Kinder im Oberlehen wissen, dass man erstens nicht mit vollgestopftem Mund spricht, zweitens stopft man den Mund nicht so voll, drittens steigt man nicht auf seinen Stuhl, viertens plärrt man nicht so laut, als sei man ein zu laut aufgedrehtes Radio, dessen Empfang schlecht eingestellt ist und fünftens gibt es im Oberlehen nicht so viel buntes Zeug, das man hinein stopfen darf, bis man fast zerplatzt. Im Oberlehen geht es während Kinderfesten diszipliniert zu.

Im Kinderheim lernen wir Regeln, Disziplin und Zurückhaltung. Wir wissen deshalb genau, was wir nicht tun dürfen. Im Oberlehen ist klar, was geschehen wird, wenn wir tun was wir nicht dürfen. Amerikanische Kinder tun all das, was wir während solcher Feste niemals tun dürfen. Disziplinlosigkeit und Ausgelassenheit sorgen für laute Stimmung und viel amerikanischen Spaß. Animation, wie sie im Kinderheim die alte Heimleiterin auf ihrer Gitarre täglich bietet und Kinderspiele sind an dem amerikanischen Nachmittag überflüssig. Die amerikanischen Kinder vergnügen sich prächtig, sie feiern, wie sie es wollen. Freilich sehr ungesund, sehr süß und klebrig. Das nehmen Peter und ich staunend zur Kenntnis.

“Wahnsinnig toll! Das ist alles echt amerikanisch!”, plärrt mir Peter immer wieder ins Ohr. Nach einer Stunde auf dem Kinderfest finde ich, dass seine Stimme plötzlich genauso klingt, wie die der amerikanischen Kinder. Seine Worte aber bleiben deutsch. Peter versteht die Sprache der hüpfenden, herum tollenden amerikanischen Kinder genauso wenig wie ich. Trotzdem finden wir deren Sprache und den Klang dieser Sprache toll. Wir kennen sie von Popsongs, deren Texte wir nicht verstehen, aber gut finden, weil uns ihr Klang gefällt und weil sie nicht deutsch sind.

Englische und amerikanische Musik hören wir im Oberlehen häufig in Peters Radio. Sie begeistert Peter und mich. Für uns ist sie eine Gegenbewegung zu den deutschsprachigen Volksliedern, Schnulzen und Schlagern, die im deutschen Fernsehen präsentiert werden. Ich hasse die deutschsprachige Musik, weil ich deren Texte verstehe und peinlich finde. Abends verlasse ich deshalb oft den Aufenthaltsraum im Haupthaus des Kinderheims und gehe freiwillig frühzeitig ins Bett. Mich regen die romantischen Titel wie “Ich liebe Dich”, “Ich hab noch Sand in den Schuhen aus Hawaii” oder “Der Junge mit der Mundharmonika” auf. Ich finde die aufgedonnerten Sängerinnen und Sänger abstoßend und nervig. Mich regt die Welt auf, die durch die deutsche Samstagabendunterhaltung über das Fernsehen in den Aufenthaltsraum unseres Kinderheimes gebracht wird.

Manchmal fühle ich deshalb Aggression und Hass in mir aufsteigen, weil ich eine Welt auf der Mattscheibe sehe und höre, die ich im Kinderheim nicht sehe, die es für mich nicht gibt. Ich bin deshalb wütend auf die Darsteller auf dem Bildschirm und ich bin wütend auf das Kinderheim und den Heimleiter, weil die Welt, die ich am Oberlehen täglich erlebe, keine der Schönheiten bietet, die von den Stars in Glitzerkleidung besungen werden.

Ich glaube, dass Buchhalter und Heimleiter den Alltag im Oberlehen absichtlich niederträchtig gestalteten, um uns die schöne, bunte Welt vorzuenthalten. Ich weiß noch nicht, dass die schöne bunte Fernsehwelt, mit der Realität außerhalb unseres Oberlehens nichts zu tun hat. Ich weiß noch nicht, dass das bunte Fernsehprogramm dieser Zeit, vermutlich für viele Menschen genau einen Zweck hat: Von deren Alltag abzulenken. Ich weiß auch noch nichts davon, dass insgesamt das tägliche Fernsehprogramm dieser Zeit, den Charakter einer billigen Feierabendunterhaltung hat und gewissermaßen auf die Anspruchslosigkeit der Menschen abzielt. Ich glaube deshalb, dass es die schöne bunte Welt, in der die Menschen glücklich sind, und permanent lächeln, wie die Sänger und die Moderatoren im Fernsehen irgendwo geben muss. Warum sonst wird sie von den schönen Menschen auf dem Bildschirm Samstag für Samstag besungen? Irgendwo könnte eine schöne Welt sein. Mein „Irgendwo“ wird im Oberlehen zu meinem kindlicher Traum von meinem Zuhause, dass ich eines Tages zu finden hoffe.

Meine Kinderwelt im Oberlehen ist gewalttätig und laut. Es ist keine bunte Kinderwelt, sondern sie ist grau, dunkel und voll von Gebrüll erwachsener Männer. Ich hasse Buchhalter und Heimleiter, weil sie uns nicht vernünftig anleiten, sondern weil sie uns rücksichtslos regieren. Sie zwingen uns zu blindem Gehorsam. Kinder im Oberlehen haben grundsätzlich zu tun, was die beiden Männer sagen. Das ist noch nicht schlimm, aber weil sie das tun, ohne ihr Tun zu begründen, ist es schlimm. Was die Männer wollen, fordern sie, und sie bekommen es. Sie fordern in lautem Befehlston.

Der Heimleiter Hennings ist nicht sehr groß aber kräftig. Er brüllt: “Du gehst heute ohne Abendessen ins Bett, du Armleuchter!” Büchtler, der Buchhalter ist groß, schmaler als Hennings aber sehr kräftig. Er ist sportlich und hat leicht behaarte, schmale Hände. Morgens fährt Büchtler vor dem Haupthaus am Oberlehen in seinem weißen Porsche vor. Was Büchtler tut, wirkt mächtig und stark. Das Auto ist ihm sehr wichtig. Es ist schnell und laut. Büchtler erzählt gerne, wie schnell er den Berg hinauf fährt und wie viele rote Ampeln er von seiner Wohnung unten im Tal, bis hinauf ins Kinderheim überfährt.

Büchtlers Macht resultiert nicht nur aus dessen Stärke und Größe sondern auch daraus, dass er Buchhalter ist und unser Taschengeld verwaltet. Büchtler verteilt jeden Samstagvormittag das Taschengeld im Berchtesgadener Hallenbad. Die Taschengeldausgabe zelebriert Büchtler, sie wirkt, wie ein Ritual seiner Überlegenheit. Wer nicht tut, was Büchtler erwartet, wer im Verlauf der Woche Fehler begeht, bekommt nichts oder weniger Taschengeld am Samstag. Büchtler legt die Höhe des Taschengeldes, das uns zusteht, fest. Er benutzt es, um Abneigung und Überlegenheit gegenüber Kindern zu zeigen.

Büchtlers Bestrafungen sind nicht begründet. Ich spüre, dass seine Schläge von der Loyalität abhängen, die ein Kind gegenüber seiner Person zeigt, oder nicht zeigt. Ich zeige keine Loyalität gegenüber diesem Mann. Meinen Hass gegen diesen Mann und seinen Heimleiter kann ich kaum verbergen. Deshalb laufe ich dem Mann oft in die Faust und schneide auch beim Taschengeld schlecht ab.

Hennings und Büchtler missbrauchen ihre Macht, weil es beiden Männern nicht darum geht, zu klären, welches Kind die Salatschüssel auf den Boden geworfen hat und ob es absichtlich geschehen war oder ein Versehen. Anstatt Ereignissen genauer auf den Grund zu gehen, treffen sie schnelle Entscheidungen, die sie mit einfachen Mitteln, wirkungsvoll durchsetzen. Wen sie für schuldig erklären, ist schuldig. Einmal getroffene Entscheidungen setzen sie mit Fäusten und Schlägen durch.

8. Fernsehen

Ich verlasse die heiße Fabrikhalle. Die schwere Stahltür fällt hinter mir zu. Der ohrenbetäubende Lärm ist deshalb nur noch ein leises, entferntes, monotones Schlagen. Langsam steige ich die schwarze Steintreppe hinunter. Auf dem unteren Treppenabsatz im Erdgeschoss bleibe ich kurz stehen. Ich sehe hinauf zu einem großen Fenster. Der Himmel ist blau, ich sehe keine Wolken. Am Rand des Fensters sehe ich das Felsmassiv des Untersberges. Meine Hand liegt schon auf dem weißen Plastikgriff der Stahltür. Ich bleibe noch einige Sekunden stehen, denn ich spüre, dass sich in meinem Kopf etwas tut. Die steile Steintreppe erinnert mich an etwas. Ich sehe noch einmal zurück auf die steinerne Treppe zwischen Erdgeschoss und erstem Stock in der Fabrik.

Nachmittags werde ich blutüberströmt in unser Zimmer ins Nebenhaus getragen. Wegen eines Faustschlages fliege ich durch die dünne Milchglasscheibe der Tür. Ich stolpere über den hölzernen Türrahmen, der das milchige weiße Glas hält. Weil meine Hände nirgendwo an dem Türrahmen Halt finden, stürze ich die schwarze, steinerne Kellertreppe hinunter in den Schuhputzkeller. Unten bleibe ich auf dem dunklen Steinboden, vor der langen Reihe gelber Regenjacken liegen. Schmerzen von meinen Verletzungen spüre ich nicht. Sie kommen erst später, als ich im Nebenhaus im Zimmer auf meinem Bett liege.

Hennings verpasst mir nachmittags einen kräftigen Faustschlag. Ich muss irgendetwas zu Hennings gesagt haben, was der Auslöser war. Anfangs, nachdem Hennings und der Buchhalter die Leitung am Oberlehen von der alten Heimleiterin übernehmen, fresse ich meine Wut noch nicht in mich hinein. Deshalb schlägt Hennings auf mich ein. Meine Wut brülle ich an diesem Nachmittag einfach heraus.

Jahrelang lerne ich deren Sprache zu verstehen. Es sind laute Worte, verbunden mit heftigen Schlägen. Ich bin dumm, klein und schwach. Ich habe nichts zu sagen oder zu fordern. Ich kann nicht herausfinden, ob es draußen eine schönere Welt gibt, in der Menschen leben, die nicht unter Männern wie Hennings und Büchtler leiden. Deren Verhalten ist mein normaler Alltag, ist meine Kindheit. Ich spüre mehr und mehr Hass auf die beiden.

Der deutsche Schlager, das deutsche Volkslied besingen jeden Samstagabend, im deutschen Fernsehen eine schöne Welt. Sonnabends sitzen Heimleiter Hennings und dessen Kinderheimkinder im großen Aufenthaltsraum vor der Glotze. Er ist korpulent und klein. Seine Gesichtshaut ist leicht gebräunt und faltig. Die Haare sind schwarz, gewellt, fettig, stets gekämmt. An der Stirn hat er eine leichte Locke. Hennings erhebt sich schwer von der braunen Holzbank. Behäbig tritt er an das Fernsehgerät. Er trägt eine braune Lederhose, einen roten Wollpullover, nein, es ist ein Pullunder. Darunter trägt er ein weißes Hemd und über dem Pullunder eine grüne, bayerische Wolljacke mit silbernen Knöpfen.

Vor den niedrigen Fenstern im Aufenthaltsraum sind die grünen Vorhänge zu gezogen. Ich höre gedämpfte Kinderstimmen. Ich höre Tuscheln, Piepsen, Flüstern, Lachen, Husten. An der Wand sind braune Holzbänke angebracht. Ich erkenne Stühle, alte Sessel, den Fußboden mit gemusterten Teppich, dessen Muster unseren Matchboxwagen als Straßen dient, der gesamte Raum voll mit Kindern. Die Stimmung im Raum ist erwartungsvoll. Kein Kind ist jetzt laut. Kein Kind drückt die gespannte Vorfreude auf das Fernsehereignis durch geräuschvolles Lachen, Johlen oder Herumhüpfen aus. Kein Kind will jetzt auffallen und damit riskieren, kurz vor Beginn der Sendung von Hennings ins Bett geschickt zu werden.

Hennings schaltet das Gerät ein. Sofort endet das gedämpfte Tuscheln der vierzig im Aufenthaltsraum. Sekundenlang herrscht gebanntes Schweigen. Achtzig glänzende Kinderaugen sind auf die noch dunkle Mattscheibe gerichtet, gebannt warten sie auf den Beginn der Sendung. Die Mattscheibe wird hell und bunt. Ein dünner Mann in weißem Hemd und dunklem Sakko hüpft durch einen großen Raum. Zu dessen Füßen sitzen Fans, die alle Perücken von Frisuren tragen, die sich nur in der Farbe voneinander unterscheiden. Der dürre Mensch lächelt vierzig Kindern aus dem Fernsehgerät entgegen. Vor seinem Mund winkt unruhig ein orangenfarbenes Mikrophon hin und her. Der magere Mann wartet bis das Klatschen der Fernsehstudiogäste zu seinen Füßen endet. Weil deren Begrüßungsklatschen nicht enden will, versucht er die Studiogäste zu beschwichtigen. Beide Hände, dabei in der rechten das orange Mikrophon, bewegt er auf ab. Er lächelt ausdauernd aus dem Fernsehgerät. Das Klatschen ebbt endlich ab. Jetzt begrüßt er uns Fernsehzuschauer und seine Gäste im Studio.

Zwischen den vierzig Kinderköpfen vor dem Fernsehgerät ragen auch die Gesichter von Peter und mir hervor. Wir sitzen nebeneinander auf dem Teppichboden. Von meinem Platz sehe ich oben links Hennings. Er lässt sich langsam und schwer auf der Holzbank, neben der weißen Milchglastüre zum Speisesaal nieder. Neben ihm sehe ich ein junges Mädchen mit blondem Haar. Jetzt höre ich die Stimme von Ilja Richter. Sie tönt laut aus dem Fernsehgerät. Ich kenne dessen Stimme gut, denn ich höre sie alle zwei Wochen am Samstagabend. Er plärrt schnell, beinahe hysterisch aus dem Gerät:
“Deshalb ist es mir wieder einmal ein besonderes Vergnügen, heute als ersten Gast, hier in der Disco ankündigen zu dürfen: Bernd Klüver mit seinem beliebten Titel und weltbekannten Hit: Der Junge mit der Mundharmonika”!
Auf der Mattscheibe erscheint ein Mann mit dunklem Haar und einer glitzernden Hose. Er trägt ein weißes, geöffnetes Hemd mit riesigem Kragen. Langsam wandelt er durch sitzendes und stehendes Publikum. In der rechten Hand hält er ein silbernes Mikrophon. Sein Gesang geht jetzt los.

Ich wende meinen Kinderblick vom Bildschirm ab. Ich sehe hinauf nach links. Dort sehe ich Hennings. Er sitzt neben dem blonden Mädchen. Seine schwere gebräunte Hand lastet auf der Schulter des Mädchens. Jetzt erkenne ich das Mädchen: Es ist Sofia. Sie sieht hübsch aus. Die ist Italienerin. Ich sehe das faltige Gesicht von Hennings dicht bei Sofias hübschen braunen Augen. Hennings lächelt. Ich kenne sein Lächeln seit vielen Jahren. Seine Augen glänzen, wenn er so lächelt. Ich folge seinem Blick, vorbei an Kinderaugen, zum Fernsehgerät. Dort tänzelt der glitzernde Sänger.

Das Oberlehen liegt in herrlicher Traumlandschaft. Die Aussicht tröstet mich aber nicht. Wie ich im Heim regiert werde, gefällt mir trotz des paradiesischen Ausblicks nicht. Anstatt die herrliche Sicht über das Tal zu genießen, sammle ich Hass und Wut an. Aber ich bleibe immer beherrscht und diszipliniert.

Samstags, nach zwanzig Minuten der Sendung “Disco” oder “Hitparade” stehen Peter und ich gleichzeitig auf. Wir gehen in unser Zimmer. Dort legen wir uns ins Bett. Peter schaltet sein Radio ein. Peter stellt seinen Kassettenrecorder auf Aufnahme sobald ein englischer Popsong gespielt wird. Wir verstehen kein einziges Wort. Aber wir sind glücklich, dass es diesen einen Sender zu empfangen gibt, denn er sendet keine deutsche Schnulze und kein deutsches Liebeslied. Peter ärgert sich über die amerikanischen Ansager, deren Tonfall er zwar liebt, aber sie blenden jeden Song zu früh aus. Sie plärren hektisch und schnell in seine Kassettenaufnahme. Er nennt deren Sprache “amerikanischen Släng”.

Während des amerikanischen Kinderfestes warte ich den ganzen Nachmittag darauf, dass die Kinder endlich genauso los singen, wie die amerikanischen und englischen Popstars in Peters Radio, denn sie sprechen ja die gleiche Sprache. Die amerikanischen Kinder beginnen aber nicht zu singen. Stattdessen plärren, schreien und lachen sie. Sie stopfen den ganzen Nachmittag bunte Törtchen und Cola in sich hinein.

Später sind die Kinder satt. Deshalb beschmieren sie sich mit der orange, gelben, blauen und roten Sahne der Törtchen. Ich beobachte einen kleinen blonden Jungen. In seiner rechten Hand liegt ein rosafarbenes Törtchen. Er schleicht sich an ein kleineres, schwarzhaariges Mädchen heran. Sie steht am Fenster und blickt hinaus. Von hinten drückt er ihr ein Törtchen ins Gesicht. Das Mädchen schreit. Sie wehrt sich sofort. Sie greift in einen Törtchenberg auf dem Tisch, erwischt ein Stück roten Sahnekuchen. Der Junge rennt in Richtung Ausgangstür. Das Mädchen holt zum Wurf aus. Sie wirft und trifft. Die rote Sahne hängt am Hinterkopf des blonden Jungen und läuft über dessen Rücken hinunter. Die amerikanischen Kinder lachen und johlen. Jetzt beginnt zwischen dem Jungen und dem Mädchen eine wilde Verfolgungsjagd um die Tische.

Am Oberlehen erlebe ich derartige Szenen nie. Kein Kind im Oberlehen schmiert einem anderen einen Kuchen oder anders Essbares in die Haare. Im Oberlehen essen wir sehr schnell. Nur wer am schnellsten fertig ist, kann noch etwas bekommen. Nur wer seine Brotscheibe gegessen hat, darf sich eine weitere aus dem Korb nehmen. Eine zweite Scheibe schon vorher auf dem Teller zu sichern, ist verboten.

Abends in unserem Zimmer zweifle ich daran, dass der hektische Ansager vom amerikanischen Sender von irgendeinem Menschen auf der Welt verstanden wird. Ich glaube daran, dass alle Zuhörer genauso wie wir, dessen Tonfall gut finden.Erst die amerikanischen Kinder auf dem Kinderfest räumen mit meinem Glauben auf. Wegen ihnen beginne ich abends neben Peters Radio, darüber nachzudenken, was die Ansager den amerikanischen Menschen wohl sagen.

Eines Abends habe ich das Gefühl, dass die amerikanischen Ansager das gleiche erzählen, wie die deutschen Radioansager. Peter findet diese Vermutung absurd. Er sagt:
“Oh no! Das glaube ich nie und nimmer! Schon die Musik ist ganz anders als die deutschen Schlager. Sie ist schneller und besser, also reden die auch was anderes!” Was Peter sagt, glaube ich ihm. Ich glaube es, obwohl auch er nicht versteht, was die amerikanischen Radioansager erzählen.

Nach dem amerikanischen Kinderfest ist mir schlecht. Ich weiß jetzt, wie gut es den Kindern der amerikanischen Männer geht, die ich täglich in großen Wagen die steile Straße den Obersalzberg hinunter rollen sehe. Weil es den amerikanischen Kindern so gut geht, grüße ich deren Eltern, hinter den Lenkrädern weiterhin mit dem Victory – Zeichen, denn ich möchte, dass sie uns weiterhin anlächeln und uns zu winken. Das tue ich viele Jahre lang. Ich möchte, dass sie uns wieder einladen. Das tun sie nicht.

9. Witwe Bolte

In der kleinen Küche in der Hochsteinstraße gibt es ein Fenster. Morgens um halb sieben Uhr stehe ich dort und sehe hinüber zum Obersalzberg. In der Küchenschublade finde ich mehrere karierte Küchenhandtücher. Während ich mein Frühstücksgeschirr spüle, liegt das Abtrockenhandtuch auf meiner Schulter.

Das ordentliche Abspülen und anschließende Geschirrtrocknen habe ich im Oberlehen gelernt. Es ist selbstverständlich, dass ich in der gemieteten Küche, morgens um kurz vor sieben Uhr, die Ordnung wieder herstelle, bevor ich mich auf den Weg zur kleinen Fabrik mache. Es bereitet mir keine Schwierigkeiten in den Küchen, in denen ich lebe, Ordnung zu halten. Alles benutzte Geschirr landet nach Gebrauch und Reinigung wieder sauber an seinem Platz. Es ist nicht meine Art, Geschirrberge in der Küche aufzuhäufen. In früheren Studenten-Wohngemeinschaften musste ich erst lernen, dass das Aufräumen in der Küche nicht selbstverständlich zum Akt des Kochens gehört. Ich musste lernen, dass Aufräumen eine unangenehme Arbeit ist, die mancher Mitbewohner regelmäßig vor sich her schob. Im Kochunterricht in der Berchtesgadener Hauptschule und später auf der Realschule musste mir das Ordnunghalten in der Küche nicht beigebracht werden. Diese Aufgabe hatte die Köchin im Oberlehen erledigt.

Eine dicke Frau in großem weißem Kittel kocht täglich für uns. Ihre braunen Haare sind zu einem großen Dutt auf dem Kopf zusammengesteckt. Auf ihrer weißen breiten Schulter liegt ein kariertes Küchenhandtuch. In der großen Küche kocht sie, was der Kühldienst “Witwe Bolte” täglich auf dem Hof vor dem Haupthaus auslädt. Die Kinder vom Küchendienst tragen viele Pappkisten eine steile Außentreppe am Haupthaus hinunter in den Keller. In zwei Kellerräumen, neben dem Schuhputzkeller, wird alles sorgfältig, nach Anweisung der dicken Köchin in Gefrierschränken verstaut.

Der Küchendienst ist kein beliebter Dienst. Er ist untrennbar mit der rabiaten Köchin und deren Kommandos verbunden. Sie scheucht uns um den großen Ofen, plärrt Kinder an, die zu dumm sind, Teller und Besteck vernünftig zu trocknen. Kommt es besonders schlimm, spüren die schlechten Abtrockner einen schnellen kräftigen Schlag ihres feuchten, blaukarierten Küchentuches.
“Pass auf Bub! So geht’s need!”
Blitzschnell zischt das feuchte Küchentuch von deren Schulter. Den nächsten Plastikteller muss ich sehr gut abtrocknen, denn sonst dreht sie fest an meinem Ohr und mein Kopf wird durch die kräftige dicke Hand der Frau auf den feuchten Plastikteller gedrückt, bis meine Nasenspitze die feuchte Telleroberfläche spürt.

Im Erdgeschoss, neben der großen Küche, liegt der Speisesaal mit hellblauem Linoleumboden. An den Decken hängen quadratische Leuchten mit Neonlicht. Eine Woche lang verteilt der Küchendienst morgens, mittags und abends, unter Aufsicht der Köchin weiße Plastikteller und rote Plastikbecher auf den Holztischen im Speisesaal.

10. Seife

Das Oberlehen ist ursprünglich ein Erholungsheim, in das Kinder aus verschiedenen Orten in Westdeutschland für einige Wochen zur Erholung in die herrliche Berglandschaft oberhalb Berchtesgadens geschickt werden. Anfang 1970 wird es für Kinder wie Peter, Hartmut und mich zu unserem neuen Zuhause. Wir sollen, im Gegensatz zu den Erholungskindern, „für immer“ die frische Luft auf dem Obersalzberg einatmen. Uns schicken deutsche Jugendämter dort hin. In unseren Familien gibt es unterschiedliche, Probleme, weshalb wir nicht bei unseren Eltern leben dürfen. Deshalb werden wir im Oberlehen bei Heimleiter Hennings und dem Buchhalter Büchtler untergebracht.

Von den Problemen in meiner Familie weiß ich damals nichts. Ich bin 1970 gerade mal sechs Jahre alt. Deshalb interessiere ich mich nicht für Probleme. Ich interessiere mich dafür, wie es mir dort geht, wohin mich mein Jugendamt bringt. Noch bevor ich 1971 in der Bacheifeldschule in Berchtesgaden eingeschult werde, lerne ich, dass die zwei Männer, die sich am Oberlehen meiner Erziehung annehmen, sehr ungehobelte Kerle sind. Beide mögen Kinder nicht besonders. Ihre Haltung können die beiden nicht verbergen. Ich habe das Gefühl, dass die beiden, Kinder nicht nur nicht mögen, sondern sie scheinen sie zu hassen, warum sonst schlagen sie so oft auf mich und die anderen Kinder im Oberlehen ein?

In Berchtesgaden beginnt der August. Die ersten Tage sind heiß und trocken. Die Hitze in der kleinen Fabrik ist beinahe unerträglich. Die Arbeit läuft, wegen der umfangreichen Aufträge von Herstellern edler Parfüms auf Hochtouren. Mehrarbeit ist täglich notwendig. In der Wohnung an der Hochsteinstraße wohne ich seit ein paar Tagen nicht mehr allein. Herbert, ein Student, ist eingezogen. Er wohnt im Zimmer neben den beiden Räumen, die ich seit Wochen bewohne. Herbert kommt aus Norddeutschland. Er absolviert im Rahmen seines Wirtschaftsstudiums ein Praktikum in der kleinen Firma.

Auf Herberts Ankunft bin ich nicht vorbereitet. Sie wird vom Chef und dessen Frau frühzeitig angemeldet, und es wird mit mir vereinbart, dass Herbert in das freie Zimmer zieht. Trotzdem spüre ich, als er ankommt, dass ich nicht darauf eingestellt bin. Eine fremde Person benutzt Wohnung, Bad, Küche und Toilette mit. Eine Wohnung, die ich allein bewohne, bewohne ich anders, als eine Wohnung, die ich mit einem fremden Mitbewohner teile.

In Studentenwohngemeinschaften hatte ich keinerlei Probleme. Ordnung ist für mich kein Problem. Deshalb findet Herbert in Bad und Küche genügend Platz für sich. Auf den Ablagen und Regalflächen breitet er sich aus. Er verteilt Cremes und Körperpflegemittel. Ich lerne, dass ein gepflegter Mensch davon unvorstellbar viel benötigt.

Am Tag seiner Ankunft stellt Herbert mir seine Freundin und sich selbst vor. Beide sind sehr gepflegt und dick geschminkt. Als ich den beiden gegenüberstehe und deren feine Hände schüttle, habe ich das Gefühl schmutzig und ungepflegt zu sein. Die tägliche Dusche scheint mir plötzlich zu wenig. Mein Stück Seife und mein Haarwaschmittel auf der Ablage im Bad, mit dem ich bislang meinen Körperreinigungsbedarf gedeckt sah, scheint mir nicht mehr ausreichend.

Herbert ist Sportler. Mehrere Fahrräder lädt er aus einem Transporter und stellt sie unter dem Vordach zur Wohnung ab. Täglich ist er nachmittags ab halb sechs Uhr im engen, gelben Trikot auf den Bergstraßen unterwegs. Herberts umfangreiche Reinigungsbatterien im Badezimmer erkläre ich mit seinem höheren Bedarf wegen des Fahrradsports, und mit einem gewissen Wettbewerb, dem er sich aussetzt, weil ihn eine stets perfekt gepflegte Freundin begleitet. Deshalb denke ich nach drei Tagen, dass meine Seife und mein Haarwaschmittel weiterhin für mich reichen. Weil Herbert und ich nicht nur aus optischen Gründen nicht zusammenpassen, er eine Sache die ich für die menschliche Fortbewegung als sinnvoll und geeignet betrachte als Extremsport betreibt, aber vor allem, weil wir keine gemeinsamen Themen haben, außer unserem gleichzeitigen Aufenthalt in einer Wohnung, lebt Herbert in seinem Zimmer und ich in meinen beiden.

Herbert ist täglich mit Fahrradfahren, seiner Freundin und der Körperpflege genug beschäftigt, um sich nicht um mich zu kümmern oder zu interessieren. Trotzdem sehe ich heute Morgen, nachdem Herbert die erste Nacht in der Wohnung übernachtet hat, mein Projekt gefährdet. Ich sitze nicht vor meiner kleinen, alten Schreibmaschine. Es hat sich etwas verändert. Meine Gedanken an das alte Oberlehen, an mein Leben auf dem Obersalzberg, kann ich heute Morgen um fünf Uhr nicht sammeln. In der Wohnung lebt ein Mensch, der mich jederzeit fragen kann, wer ich bin, woher ich komme, was ich in diesem Ort zu tun habe. Zu guter letzt merkt Herbert vielleicht sogar, dass ich täglich morgens auf der Schreibmaschine tippe und will wissen, was ich da tue.

Ich möchte, was ich tue, was ich schreibe, warum ich zurück komme an diesen Ort, keinem fremden Menschen mitteilen. Ich sehe Herbert, der mit seinem Praktikum in der Fabrik ein klares Ziel vor Augen hat. Es ist sein Studium, dazu gehört dieses Praktikum. Welche Antwort könnte ich dem fremden Mitbewohner geben, sollte er mich auf meine Ziele in Berchtesgaden, in der Fabrik ansprechen? Und der Chef? Welchen Kontakt hat Herbert zum Chef, dem Fabrik und Wohnung gehören, in der nun auch Herbert arbeitet und wohnt? Diese Fragen sehe ich heute Morgen, wegen ihnen tauchen meine Erinnerungen an das Oberlehen nicht auf.

Es rumort in meinem Kopf. Wegen Herbert verschwindet das Oberlehen. Meinen momentanen Alltag in dieser Wohnung, und die Fabrikarbeit, habe ich mir als Legitimation für tägliche Erinnerungsversuche gesucht. Morgens die frühe Stunde vor der Schreibmaschine in meiner Vergangenheit, danach die Fahrt im Wagen des Chefs, täglich die stundenlange Fabrikarbeit und abends meine Müdigkeit auf dem braunen Sofa in meinem Zimmer mit Blick zum Obersalzberg. Das ist eine wunderbare Konstruktion, um die Erinnerungen an mein Leben im Oberlehen vor zwanzig Jahren zu wecken, einzuordnen und abzuschließen. Heute Morgen sehe ich die Konstruktion gefährdet. Ich lebe in Berchtesgaden einen unwirklichen Alltag. Ich blende die Realität um mich herum aus, genauso wie die täglichen Meldungen des Deutschlandfunks über das Morden im zerfallenden Jugoslawien. Mein Alltag scheint plötzlich fern der Realität zu liegen.

Für das Erinnern, Zusammentragen und Aufschreiben der Bruchstücke meiner Vergangenheit reserviere ich die geringste Zeit des Tages. Gewiss habe ich herausgefunden, um welche Zeit ich am besten daran arbeiten kann, welche Zeit des Tages die wertvollste für diese Arbeit ist. er größte Zeitfresser des Tages bleibt die anstrengende Fabrikarbeit. Sie frisst meine Kräfte, macht mich müde. Die Fabrik passt nicht zu meinem Denken und sie passt nicht zu der Aufgabe, die ich jeden Morgen für eine Stunde angehe. Das ärgert mich mehr und mehr.

Wie ein marodes Gebäude bricht heute Morgen mein Alltag in meinem Kopf zusammen. Widersprüche der Fabrikarbeit, das Erinnern und Aufschreiben, mein tägliches Tun und Denken prallen in meinem Kopf aufeinander. Am Frühstückstisch sehe ich meine Erinnerungsarbeit in einer dicken Staubwolke verschwinden. Sie ist undurchschaubar. Das alte Oberlehen finde ich heute Morgen nicht.

Ich laufe dem gelben Finanzamt entgegen. In meinem Kopf finde ich Gedanken der Angst um mein Projekt. Wegen der Widersprüche habe ich Zweifel am Sinn der Erinnerungsarbeit. Hastig tapse ich die gepflasterte Hochsteinstraße hinunter, bis zur Nonnenstraße. Der Watzmanngipfel ist heute Morgen von Wolken umhüllt. Ich lasse, wie jeden Morgen, eine Autoschlange passieren. Sie durchquert täglich um diese Uhrzeit über die Nonnenstraße den Ort in Richtung Salzburg. Der weiße Wagen rollt an mir vorbei. Ich bin wieder zu spät dran. Jetzt renne ich. In Sekunden bin ich beim Wagen des Chefs.

Mein Laufen verändert mein Denken; Ich werde mein Projekt in diesem Ort zu Ende führen. Morgen früh werde ich meinen Rhythmus des täglichen Schreibens und Erinnerns wieder aufnehmen. Zweifel und Ängste, wegen meines Alltags, wegen meiner Zukunft ohne Arbeit in der Stadt, werde ich zurück drängen. Von meinem neuen Mitbewohner Herbert werde ich mich nicht aus meinem Konzept bringen lassen. Den Zweck meiner Rückkehr habe ich geklärt. Den Alltag in diesem Ort brauche ich, um meine Erinnerung zu beflügeln. Die Konsequenzen aus der Zeit, die ich in diesem Ort brauche, sollen mich erst später beschäftigen. Ich werde in der Fabrik weiterarbeiten. Das Aufschreiben der Vergangenheit kann nur jetzt und hier geschehen. Sinn oder Unsinn in meiner Aufgabe gibt es nicht. Sie muss getan werden!
Ich lasse mich schwungvoll, wie jeden Morgen, im schwarzen Ledersitz im Wagen neben dem Chef nieder.

Um halb fünf Uhr läutet mein Wecker. Draußen dämmert es. Vor dem Obersalzberg hängen Nebelschwaden. Unter der Dusche denke ich an den gestrigen Morgen. Ich denke an Herbert, der mein Denken erschüttert und Zweifel auslöst. Er kommt mir morgens in der Wohnung nicht in die Quere. Er steht später auf. Ich weiß nicht, ob er überhaupt frühstückt. Er verlässt die Wohnung lange vor mir. Er fährt mit dem Fahrrad in die Fabrik. Ich hole Kaffee aus der Küche. Ich setze mich vor meine Schreibmaschine. Draußen steigen die Nebelschwaden schnell am Obersalzberg hinauf. In meinem Kopf zwinge ich mich zurück ins alte Oberlehen.

11. Sommer

Hennings und Büchtler übernehmen die Leitung des Oberlehens von einer alten Frau, die jahrelang das Erholungsheim geleitet hatte. Mit dem Eintreffen der beiden Männer werden wir vom Haupthaus ins Nebenhaus verlegt. Das Nebenhaus liegt über einen Hof mit feinem Kies und einer riesigen uralten Eiche, etwa zwanzig Meter vom Haupthaus entfernt. Mit Hartmut und Peter beziehe ich ein Zimmer. Es liegt im ersten Stock des zweistöckigen Gebäudes. Das Haus besitzt keinen Speicher mehr, weil dieser mit einem Duschraum und Toiletten, Büchtlers Büroraum, unserem Aufenthaltsraum und einer winzigen Bastelwerkstatt ausgebaut ist. Unser Zimmer ist etwas besonderes, denn es ist direkt von draußen aus dem Freien erreichbar.

Über eine hölzerne Außentreppe am Nebenhaus erreiche ich die Eingangstür zum ersten Stock. Ich gehe an ihr vorbei. So komme ich zu einer milchfarbigen Glastür. Das ist unsere Zimmertür. Ich betrete das Zimmer. Links steht ein hoher Kleiderschrank, gegenüber steht ein hölzernes Stockbett. Dort schlafe ich oben. Das Bett unter mir bleibt leer. Rechts der Tür steht ein zweites Stockbett. Oben schläft Peter, darunter Hartmut. In der rechten Ecke, auch das ist etwas besonderes, gibt es ein Waschbecken. Vor dem Fenster, das dem Obersalzberg zugewandt liegt steht unser Tisch mit drei Stühlen. Auf ihnen liegen nachts unsere Kleider.

Ich verlasse unser Zimmer. Draußen gehe ich die hölzerne Brüstung entlang, bis zur Glastür, die in den Waschraum und ersten Stock führt. Unten im Hof sehe ich Kinder, die den Kies im Hof mit Harke und Rechen bearbeiteten. Die riesige Eiche ist hell grün. Es ist also Frühling oder schon Sommer. Der Steinplattenweg zu Hellings Wohnungstür, sie liegt unter der Holzbrüstung, wird von zwei Kindern gefegt. Das sind Hartmut und Peter. Weil ich beide erkenne, lehne ich mich über die Brüstung. Minuten lang sehe ich ihnen beim Kehren zu.

Peter schlägt den Besen schwungvoll über die Steinplatten. Dabei wirbelt er Staub und Schmutz auf. Hartmut, er ist mit einer kurzen Lederhose und einem orangenfarbenen Wollpullover mit grünem Bündchen bekleidet, trägt Handfeger und Kehrschaufel zu einem kleinen Häufchen. Peter schiebt das Häufchen mit seinem Besen auf Hartmuts Kehrschaufel. Der größte Teil des Schmutzes fällt dabei daneben.

Unmittelbar unter mir höre ich plötzlich lautes Quietschen. Es ist eine Tür, die sich öffnet. Das muss die schwere Eingangstür in Hellings Wohnung sein. Sie liegt direkt unter mir, im Erdgeschoss. Von der Brüstung blicke jetzt vorsichtig nach unten. Dort sehe ich zwei Köpfe. Von oben erkenne ich auf dem einen Kopf einen hellen, kurzen Haarschnitt, mit dünnem, glattem Haar und eine gewellte, dunkle Frisur. Das sind die Köpfe von Büchtler und Hennings! Ich merke, wie mein Herz schnell zu rasen beginnt. Beide kommen aus der Wohnung von Hennings. Weil ich von den beiden nicht gesehen werden will, wende ich mich um zur Glastür hinter mir. Schnell öffne ich sie, trete ein und schließe sie leise. Ich stehe im Durchgangswaschraum des Nebenhauses. Ich bewege mich sehr langsam weiter, obwohl ich Angst spüre, von Hennings oder Büchtler verfolgt zu werden. Ich weiß nicht, welcher Tag heute ist und was mir bevor steht. Ich merke aber, dass etwas kommen wird, den meine Hände zittern.

Rechts und links an der Wand reihen sich unsere Waschbecken. Morgens und abends stehen wir hier dicht gedrängt nebeneinander und waschen uns. Ich gehe sehr langsam, weil ich mir alles genau ansehen will. Ich will sehen, wo ich hier wohne. In mir spüre ich Angst vor den beiden Heimleitern, die ich vor Sekunden unten an Hellings Wohnungstüre sah. Ich habe heute etwas getan, was beide bestrafen wollen. Deshalb sind meine Beine ganz wackelig. Gemächlich durch unseren Waschraum und durch das Treppenhaus des Nebenhauses laufen? Plötzlich, auf der Schwelle zwischen Waschraum und Treppenhaus, fällt es mir ein: Beim Abendbrot hat mich Büchtler aus dem Speisesaal gejagt.
“Sofort in dein Zimmer und ab ins Bett, du Armleuchter!”
Büchtlers Fußtritt traf mich an der Türschwelle zum Speisesaals. Deshalb Unruhe und Angst, deshalb zitternden Hände und wackelige Beine. Deshalb der Schmerz am rechten Unterschenkel. Büchtlers Fußtritt traf mich brutal, das wird kräftig anschwellen. Ich müsste längst im Bett liegen. Trotzdem laufe ich weiter. Irgend etwas beunruhigt so sehr, dass ich es wage, trotz Büchtlers brutlem Fußtritt und klarem Befehl, nicht in meinem Zimmer und Bett zu sein. Was ist heute für ein Tag, was ist heute noch passiert, wovor habe ich solche Angst? Ich gehe weiter.

Im rechten Zimmer wohnen Meiko, sein Bruder und noch drei andere Jungs. Ich gehe an den Toiletten vorbei. Meikos Zimmer ist hell. Ein Fenster liegt Richtung Berchtesgaden. Durch das sehe ich hinüber zum Untersberg. Die tief stehende Sonne scheint herein. Sie wird gleich hinter dem Untersberg verschwinden.

Das Abendbrot ist vorüber, sonst wären Hartmut und Peter nicht im Hof und würden kehren, auch Hennings und Büchtler wären nicht aus Hellings Wohnung gekommen. Alle, außer mir, der seine Strafe zu verbüßen hat, säßen sonst noch am Abendbrottisch im Haupthaus. Was ist heute nur los mit mir? Warum laufe ich noch im Haus herum, statt Büchtlers Befehl zu folgen und im Bett zu sein?

Meiko sitzt rechts neben der Tür auf seinem Bett. Daneben steht sein Aquarium, das ihn mit Stolz erfüllt. Von seinem Taschengeld kauft er samstags Fische. Die sucht er vorher aus Büchern aus, die er ebenfalls vom Taschengeld kauft. Seine Fische sind ihm sehr wichtig. Wöchentlich reinigt er penibel sein Aquarium. Regelmäßig kauft er Futter für die Tiere. Mir kommt es nicht in den Sinn, samstags nach dem Hallenbad, mein Taschengeld für so etwas sinnvolles auszugeben. Stets verpulvere ich mein Geld für Süßigkeiten und Donald-Duck-Heftchen.

Meiko sitzt mit dem Rücken an die Wand gelehnt. Seine Hände liegen auf seinem Radiokassettenrecorder, der auf seinen Knien steht. Ich gehe auf Meiko zu, weil ich ihn etwas fragen möchte. Vielleicht bekomme ich einen Tipp von ihm, um mich an den heutigen Sommertag im Oberlehen zu erinnern und heraus zu finden, warum ich so ängstlich durchs Haus laufe, statt meine Strafe zu verbüßen. Meiko stoppt mich sofort. Er zischt:
“Psst, psst, Mann, hör dir mal diesen super Song an, den ich gerade aufnehme!”
Ich bleibe vor Meikos Bett stehen. Ich lausche der Musik aus seinem Radio. Es ist die Gruppe Sailor mit dem Titel “Glas of Champagne”. Der Titel gefällt mir und dass Meiko ihn auf Kassette aufnimmt, finde ich sehr gut. Bei ihm im Zimmer kann ich dieses Lied künftig öfter hören. Jetzt fällt mir ein, dass mein Kassettenrekorder seit Monaten kaputt ist, weil er mir aus dem Stockbett gefallen war. Deshalb komme ich öfter bei Meiko vorbei, denn er lässt mich sein Aquarium ansehen und er lässt dazu seine aufgenommenen Musikkassetten laufen.

Ich gehe drei Schritte zum Fenster neben Meikos Bett und schaue auf den Hof hinunter. Dort stehen Hennings und Peter. Er hat Peter den Besen abgenommen. Er zeigt ihm, wie er den Weg kehren soll. Ich gehe zurück zur Türe, spüre Eile, weil ich jetzt am ganzen Körper zittere, wegen meiner Angst. Ich verlasse Meikos Zimmer, vergesse ihn zu fragen, was ich fragen wollte.

Was war mir in Meikos Zimmer gerade aufgefallen? Ich stehe in der Tür zum Waschraum, auf dem hellgrauen Linoleumboden. Ich bin klein, nicht einmal elf Jahre alt. Meine Haare sind fast noch blond. Ich sehe aus, als denke ich nach. Das Zittern hat aufgehört. Ich trage den beigefarbenen Nickipullover mit dem roten Bündchen, den ich vor Monaten aus einem Altkleiderberg gezogen habe. Regelmäßig liegen solche Berge nach dem Abendessen auf dem Fußboden im Haupthaus. Sie stammen von Kleiderspenden, die für uns abgegeben werden. Immer noch verweile ich im Gang zwischen Durchgangswaschraum und Toiletten. Endlich fällt es mir ein! Ich gehe zurück zu Meikos Zimmer. Ich betrete es nicht noch einmal, sondern stecke meinen Kopf durch den Türrahmen.

Ich möchte Meiko nichts fragen. Ich möchte etwas sehen. Ich schaue auf seine Hände. Das ist es. Der Radiorekorder! Das gleiche Radio von Grundig sehe ich Jahre später auf dem Fensterbrett im Esszimmer der Wohnung meiner neuen Eltern. Ich erinnere mich deshalb jeden Morgen an Meiko, wie er auf seinem Bett neben dem Aquarium sitzt und Musik hört. Ich bin sechzehn Jahre alt, sitze täglich um kurz vor sechs Uhr morgens am Frühstückstisch, schalte das Radio ein, um Nachrichten zu hören.

Ich drehe mich um und gehe zurück zum Durchgangswaschraum. Plötzlich höre ich lautes Trampeln von der Holztreppe draußen. Sofort beginnt mein Herz zu rasen, mir wird heiß. Der Lärm muss mit mir zu tun haben. Ich renne den Gang des Hauses entlang, vorbei an den Zimmern der anderen Kinder. Ich stürme die Holztreppe hinauf in den zweiten Stock. Oben renne ich durch den Duschraum und sperre mich in einer Toilette ein. Ich öffne das winzige Toilettenfenster und schaue hinunter auf die Holzbalustrade. Unten erkenne ich Michael, den Berliner.

Jetzt weiß ich welcher Tag heute ist. Es ist der Sommertag im Oberlehen, an dem nicht nur Büchtler mich bestraft, sondern auch der Berliner ist hinter mir her. Er sucht mich in meinem Zimmer, in meinem Bett. Weil er mich dort nicht findet, knallt er wütend die Glastür zu. Wegen ihm liege ich nicht im Bett, wie Büchtler es befohlen hatte. Direkt unter mir sehe ich ihn. Schnaubend vor Wut reißt er die Eingangstür ins Nebenhaus auf. Er knallt sie hinter sich zu.

Er will mich verprügeln. Er und alle anderen Heimkinder wissen, dass ich nicht mutig genug bin, eine Anweisung und die Strafe von Büchtler einfach zu ignorieren. Umso wütender ist Michael jetzt, weil er mich nicht in meinem Zimmer findet. Heute ist meine Angst vor ihm größer als die vor Büchtler. Ich bin nicht im Bett, doch das hat nichts mit Mut zu

Michael handelt im Oberlehen mit gestohlenen Fahrrädern und anderem. Er verleiht sie und kassiert Miete. Weil er mein ganzes Wochentaschengeld für die Miete eines Fahrrads in der Vorwoche kassiert hat, bin ich immer noch sauer auf ihn. Ich verstehe seine teuren Preise und seine Art zu rechnen nicht. Ich kapiere immer noch nicht, warum letzte Woche mein gesamtes Taschengeld dafür drauf gegangen war. Nach meiner Rechnung wäre es nur die Hälfte gewesen. Trotzdem hat Michael alles von mir verlangt und bekommen.

Heute Nachmittag habe ich meiner Wut auf ihn freien Lauf gelassen. Ich habe mich an diesem Kerl gerächt. Auf der Terrasse am Oberlehen habe ich mich unbeobachtet gefühlt. Blitzschnell packte ich eines von Michaels frisch lackierten Fahrrädern. Mehrere standen an der Brüstung der Terasse, um dort in der Sonne zu trocknen. Er lackiert die gestohlenen Fahrräder, damit sie von ihren Besitzern nicht wiedererkannt werden. Ich schleuderte ein rotes Fahrrad in hohem Bogen über die Brüstung die steile Wiese vor dem Nebenhaus hinunter. Das war eine tolle Sache. Ich war erleichtert. Endlich dem brutalen Kerl einen Schaden zufügen. Mein Herz raste vor Aufregung. Ich war sicher, von niemandem beobachtet worden zu sein. Ich rannte die steile Wiese hinter dem Haus, hinauf in den Wald. Dort setzte ich mich in unser Versteck. Ich freute mich sehr, über den gelungenen Racheakt.

Michael hat mich beobachtet. Er stand in seinem Zimmer am Fenster Richtung Untersberg. Von dort sieht er wunderbar auf die Terrasse. Doch er konnte nicht sofort einschreiten. Büchtler war genau in dem Augenblick, als er sah, wie ich das Fahrrad über die Brüstung warf, in Michaels Zimmer gekommen. Er sprach mit Michael über die Fahrräder, wollte genau wissen, woher er die hatte und wie viel er dafür bezahlt hat. Büchtler und Hennings ist es sehr wichtig, dass es keinen Ärger gibt, der außerhalb des Heims Wogen schlägt. Büchtler hatte den Verdacht, dass Michael Fahrräder stiehlt, deshalb ließ er sich von dem genau vorrechnen, was die Räder gekostet haben und wovon er die bezahlt hat. Für Michael kein Problem, aber ein ganz schlechter Zeitpunkt.

Abends kam ich heute ganz pünktlich zum Schuhe putzen aus dem Wald zurück. Das überwacht Hennings täglich im Schuhputzkeller. Michael fand keine unbeobachtete Gelegenheit, mich zu verprügeln. Deshalb versucht er es jetzt.

Das Erdgeschoss ist finster. Die Fenster sind sehr klein, die Räume sind niedrig, wie in einem alten Bauernhaus. Hier hat Hennings seine Privatwohnung. Die Lage des Oberlehens in der ländlichen Idylle am Obersalzberg, mit Ausblick auf die wunderschönen Berge, unterstreicht Hennings durch die Gestaltung seiner Wohnung.

Ich betrete sie. Überall an den Wänden auch über dem Eingang hängen Hirschgeweihe. Neben ihnen sehe ich Felle von erlegten Rehen und Hirschen. Der Fußboden in Hellings Wohnzimmer, das ich über einen finsteren Korridor mit roten Steinkacheln erreiche, liegt voll von Fellen erlegter Tiere. In der Wohnung steht altes Bauernmobiliar, teilweise ist es bemalt. Durch die winzigen Fenster sehe ich draußen die wunderbare Gebirgskulisse des Untersberges mit vorgelagerter Kneifelspitze.

Hennings ist Hobbyjäger. Er ist ein Mann, der bewaffnet durch die Wälder oberhalb Berchtesgadens streift. Dort erlegt er Hirsche. Deren Felle und Geweihe stellt er in seiner Wohnung im Kinderheim als Trophäen aus. Ich weiß davon nichts, sondern glaube einfach, dass alles was ich an Decken und Wänden in der Wohnung hängen sehe, und alle Felle, die auf dem Boden liegen, von Hennings gekauft wurden.

In meinen Augen ist er Heimleiter und kein Jäger. Beides passt für mich nicht zusammen. Ich stehe auf der Türschwelle zu Hellings Wohnzimmer. Obwohl ich viele Gewehre an der Wand hängen sehe, kommt mir kein Gedanke, dass Hennings die Waffen benutzt.

Für mich lebt ein Jäger im Wald in einer ruhigen, einsamen Blockhütte, die in Mitten einer von Sonnenlicht durchfluteten grünen Lichtung steht. Von dort macht er sich täglich mit seiner alten Schrotflinte auf den Weg, um Hasen zu erlegen, die er sich als Mittagessen vor seiner Hütte auf einem lodernden Feuer zubereitet. Zum Mittagessen besucht ihn der Förster, der in einer grünen Jacke steckt. Beide sitzen nebeneinander auf einer sonnigen Bank vor der Jägerhütte. Sie sprechen miteinander und essen gemeinsam. Nach dem Essen geht der Förster munter pfeifend wieder zurück in seinen Wald, während der Jäger mit der schwarzen Schrotflinte noch einmal das Unterholz durchkämmt, um einen weiteren Hasen für den Abend zu jagen. Die Schrotflinte hängt in meiner Vorstellung auch in dessen Haus. Sie hängt an der Wand, über dem Bett.

Ich öffne die Tür, meine Knie zittern, ich soll mich bei Hennings melden, das hat er befohlen. Der Fernsehapparat im Wohnzimmer ist eingeschaltet. Zwei Mädchen sitzen auf den Fellen am Fußboden. Sie sehen zur bunten Mattscheibe. Sie interessieren sich nicht für mich. Es sind Heimbewohnerinnen. Eine der beiden ist Sofia, die andere erkenne ich nicht. Jetzt sieht mich Hennings in der geöffneten Wohnzimmertür. Schwerfällig erhebt er sich aus einem großen Ohrensessel. Behäbig kommt auf mich zu. Ich springe ein kurzes Stück zurück in den dunklen Korridor. Plötzlich kommt Hennings aber sehr schnell an mich heran. Ich versuche ihm auszuweichen. Hennings greift schnell und zielsicher nach meinem rechten Ohr. Ich will weg springen, da zieht er fest an meinem Ohr. Er schreit mich an. Ich bekomme eine Woche Hausarrest. Er schleift mich über den dunklen Korridor zur Haustür hinaus. Dort lässt er endlich los. Ich flitze zur Holztreppe, trample sie hastig hinauf, stolpere, schlage mir die Knie auf renne an der Holzbalustrade entlang und verschwinde hinter der Milchglastür im Zimmer.

Der Berliner erwischt mich zuvor oben auf der Toilette. Mit mehreren kräftigen Fausthieben schlägt er mir die Nase blutig. Hennings hört mein Geschrei, es hallt durchs ganze Haus. Deshalb beauftragt er ein Mädchen aus seinem Wohnzimmer, das neben Sofia vor seinem Fernseher am Boden sitzt. Sie rennt die Treppe hinauf, reißt oben die Klotür auf. Dort schlägt der Berliner auf meinen Kopf ein, den er in die Kloschüssel hält. Das Mädchen brüllt:
“Du sollst sofort runter zu Hennings kommen und mit dem Geschrei aufhören!”
Sie schlägt die Türe zu, rennt schnell die Treppe hinunter, zurück in Hellings Wohnzimmer. Sie möchte nichts von dem Film versäumen, der im Fernseher läuft.

12. Dauergäste

Mit den Fellen, Geweihen und den Gewehren an der Wand im Wohnzimmer von Hennings kann ich nichts anfangen. Meine Jägervorstellung entstammt dem romantischen Kinder- und Volksliedersingsang, der mir vom täglichen Gesang der alten Heimleiterin im Ohr liegt.

Ich liebe die alte Heimleiterin. Sie ist eine groß gewachsene Frau. Ich sehe ihr braun gebranntes Gesicht. Sie ist schwarzhaarig und trägt eine große, dunkle Sonnenbrille. Sie spielt Gitarre und sie singt so laut, dass sie auch das am lautesten falsch singende Kind nicht verleitet, eine Melodie falsch zu singen. Im Sommer sitzt sie täglich abends mit uns und den erholungsbedürftigen Kindern im Hof, zwischen den beiden Häusern. Wir sitzen in einem großen Stuhlkreis um die riesige Eiche. Sie singt täglich das gleiche Programm an Volks- und Kinderliedern. Die Lieder hasse ich noch nicht. Sie passen zu der Frau und deren Stil. Jäger und Wandersleute, grüne Wiesen und hohe, gelben Wagen, Müller und Schornsteinfeger, Vögel, Hühner und Kühe, die in den Liedern vorkommen, passen zum Leben bei der Heimleiterin im Oberlehen.

Die Frau zeigt uns und den Erholungskindern die Natur rund um unser Heim und sie weist uns auf die herrliche Landschaft hin. Sie wandert mit uns durch die Wälder, über Wiesen und Flüsse und auf die Berge, die sie genau erklärt und abends besingt. Anstatt abends vor dem Fernsehapparat zu sitzen, verbringen wir viele Abende im Stuhlkreis draußen um die riesige Eiche, wo wir singen und spielen. Die Frau singt deutsch und mir gefällt das, auch Peter macht es Spaß. Im Stuhlkreis ist es lustig, laut und deutsch. Alle Kinder plärren begeistert mit.

Weil wir monatelang das gleiche Liedgut von der alten Heimleiterin erleben und die Erholungskinder im Stuhlkreis alle vier bis sechs Wochen andere sind, können wir mit deren, immer wieder neuen Begeisterung bald nicht mehr mithalten. Die Lieder am Abend unter der Eiche fangen an, Peter und mich zu nerven. Nicht wegen der deutschen Sprache oder wegen Widersprüchen zu unserem Heimleben mit der Heimleiterin. Das alles passt gut zusammen. Es ist einfach langweilig, jeden Abend die gleichen Lieder zu singen, weil wir das Programm auswendig kennen.

Die Heimleiterin bemerkt und versteht unsere Langeweile. Nach drei Monaten kennen wir alle Lieder. Deshalb brauchen abends nicht mehr zu singen. Es genügt der Leiterin, wenn wir neben ihr sitzen und ihre Melodien summen. Das aber müssen wir tun. Darauf achtet sie genau. Sie hört, obwohl sie selbst laut singt und auf ihre Gitarre einschlägt, ob wir neben ihr mit summen oder nicht.

Die Erholungskinder wechseln permanent, fast täglich reisen neue Kinder an und alte ab. Die Heimleiterin aber bleibt. Zwischen ihr und mir entsteht deshalb ein Verhältnis von Abhängigkeit. Ich verhalte mich brav und angepasst, wie nie zuvor und niemals mehr danach. Ich habe keinen Grund, mich zu ärgern, frech zu sein oder gar, wie ich es bei Hennings und Büchtler mache, Wut aufzustauen. Ich tue alles, was die Heimleiterin sagt. Es macht mir Spaß das zu tun, und ich tue es freiwillig. Ich denke nie darüber nach, warum ich alles tue, was sie von mir verlangt. Sie verlangt es freundlich aber bestimmt. Welche Konsequenzen Verweigerung oder Trotz hätten, erfahre ich nicht, weil ich nie aus der Reihe tanze.

Peter und ich putzen und schrubben das Haus, wenn sie es will, wir ziehen die Betten in Zimmern von Erholungskindern ab, die abgereist sind, und wir bereiten die Zimmer für Neuankömmlinge vor. Wir helfen überall im Heim mit. Wir trocknen in der Küche Geschirr, schrubben den Keller und die Toiletten. Die Heimleiterin weiß immer, wo ich bin, was ich tue. Sie kann sich hundertprozentig darauf verlassen, dass ich stets befolge, was sie aufträgt und dass ich niemals aufsässig bin oder gar freche Antworten gebe.

Die alte Heimleiterin arbeitet mit meiner Angst. So lange die Situation, vor der ich Angst habe, nicht eintritt, bereitet mir das keine Schmerzen. Auf die Wirkung meiner Angst verlässt sich die Heimleiterin. Die Wirkung ist mein absoluter Gehorsam. Ich habe Angst davor, dass eines Tages auch die Leiterin abreist, wie ich es täglich mit den Erholungskindern erlebe. Peter hat die gleiche Angst, denn auch er befolgt alles. Wir arbeiten an der Organisation des Alltags der Erholungskinder mit. Erst als Hennings und Büchtler die neuen Leiter sind, werden wir unzufriedener und aufsässiger.

Ich habe nicht das Gefühl, mit der Heimleiterin in einem familiären Verhältnis verbunden zu sein. Sie fordert Gehorsam, Disziplin und Mithilfe, dafür gibt sie Zuneigung, die sie genau dosiert. Es entsteht keine vertrauliche Bindung. Stattdessen gibt es Regeln der Gleichheit, die sie aufstellt. Alle Kinder in ihrem Oberlehen sind grundsätzlich gleich. Auch Peter und ich, obwohl wir “für immer” bleiben sollen. Wir sind also eindeutig nicht gleich.

Mit der Regelung, dass grundsätzlich alle Kinder gleich sind, schafft sie den Raum, Peter und mir hin und wieder winzige “Zuckerl” zukommen zu lassen. Damit hält sie uns gehorsam, und sie umgeht eine emotionale Beziehung zwischen ihr und uns aufzubauen. An winzigen Punkten dürfen wir anders sein, obwohl alle Kinder gleich sind. So dürfen wir im großen Stuhlkreis auf dem Hof zu ihren Volksliedern summen. Wir müssen nicht mitsingen, während sie genau darauf achtet, dass alle anderen Kinder singen, und so ihre Lieder lernen.

Wegen solcher Kleinigkeiten, die für Peter und mich wichtig und groß sind, entsteht das Gefühl, dass sie mich gern hat. Weil Peter und ich nicht gleich sind, wo alle anderen Kinder am Oberlehen gleich sind, ist die Leiterin für mich sehr wichtig. Und sie ist wichtig, weil sie nicht einfach weggeht, wie die Erholungskinder.

Hennings, der neue Heimleiter und dessen mitgebrachter Buchhalter, Büchtler, sprechen stundenlang mit der alten Leiterin. Peter erzählt mir in der Pause in der Schule, dass die beiden der “Ersatz” für die Leiterin seien. Das glaube ich nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es “Ersatz” für die Leiterin geben kann. Der neue Leiter und sein Buchhalter interessieren sich zunächst nicht für uns.

Die letzten Erholungskinder sind noch nicht abgereist. Ich glaube, die beiden wissen deshalb noch nicht, wer Peter und ich sind, und dass wir als die ersten Dauergäste im Oberlehen bleiben. Die alte Leiterin mit ihrer Gitarre und ihren Erholungskindern verschwindet, ohne sich von mir zu verabschieden. Der Tag an dem sie geht ist schrecklich.

13. Keine Regeln

Tagelang ist es ruhig im Oberlehen. Ruhe, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Im Hof unter der Eiche rührt sich nichts. Abends ist der Hof leer, kein Stuhlkreis, kein lautes Mittag- und Abendessen im Freien mehr.

Die letzten dreißig Erholungskinder holt ein Reisebus ab. Ihre Zimmer bleiben leer, kein neuer Reisebus mit neuen, erholungsbedürftigen Kindern kommt den Berg hinauf gefahren. Ich fühle mich einsam. Ich glaube, ich spüre das zum ersten Mal in meinem Leben. Obwohl Peter da ist, spüre ich die Einsamkeit. Wir sprechen in diesen Tagen wenig miteinander. Ich glaube immer noch nicht daran, dass Hennings und Büchtler die neuen Herren sind, die uns von nun an sagen, was wir zu tun oder lassen haben. Die Veränderung kann und will ich mir nicht vorstellen.

An einem Abend erklärt mir Peter, dass er und ich die “Vorhut” sind, von vielen anderen Kindern, die auch “für immer” im Oberlehen wohnen sollen und dass das Oberlehen als Erholungsheim ausgedient hat. Es ist der Abend an dem Peter mit einem gestohlenen, kleinen Kofferradio aus Berchtesgaden hinauf ins Oberlehen kommt. Peter hat wie ich große Probleme mit der plötzlichen Ruhe. Sein neues Kofferradio dreht er in unserem Zimmer auf, um die Ruhe im Oberlehen zu unterbrechen.

Wir sprechen an dem Nachmittag nicht über unsere Situation. Wir sprechen über dieses geklaute Radio. Ein Diebstahl, den Peter wegen seiner Verzweiflung am Nachmittag ausgeführt hatte. Im Geschäft wurde er nicht erwischt, aber er hat Angst, dass der Diebstahl im Heim herauskommen könnte. Wegen unseres Gesprächs über das Radio, wegen unserer Überlegungen, wie wir den Diebstahl verbergen können, werden wir uns unserer Situation gewahr. Wir wissen, dass der Diebstahl niemandem auffallen wird, dass niemand bemerken wird, dass Peter dieses Radio erst seit diesem Nachmittag hat.

In der Ruhe des Abends spüren wir, dass wir nichts zu verlieren haben. Alle bisherigen Regeln sind nämlich außer Kraft gesetzt. Der Mensch, die alte Heimleiterin, von der die Regeln bisher festgelegt und überwacht worden waren, ist endgültig nicht mehr da. Weil die Heimleiterin verschwunden ist, endet die Beziehung zwischen ihr und uns abrupt. Deshalb diese unerträgliche Ruhe. Sie ist das eindeutige Zeichen für die Veränderung. Ich spüre, dass es in meiner Nähe niemanden mehr gibt, den es ernsthaft interessiert, was ich tue. Es gibt niemanden, den es interessiert, wie es den Kindern am Oberlehen geht. Es gibt niemanden der ein Auge darauf hat, dass wir nicht tun, was wir nicht tun dürften. Ich spüre, dass mit dem Weggang der alten Heimleiterin, die einzige Person verschwunden ist, die immer an uns gedacht hatte. Die Person, an der ich mich orientiert habe, an deren Urteil ich dachte, wenn ich in Gedanken die Idee entwickelte, gegen eine Regel zu verstoßen, ist verschwunden.

Den Gedanken des Verlustes kann ich nicht zulassen. Deshalb träume ich nachts und denke tagsüber, dass sie nur, wie sie es früher oft getan hat, in ihrem Wagen hinunter in den Ort gefahren war. Die alte Heimleiterin sehe ich nie wieder.

Eine neue Idee kommt, wegen der spürbaren Einsamkeit und der Ruhe, durch die ein Loch entsteht, das die verschwundene Leiterin und deren fehlende Regeln und Gesetze auf reißt. Gut an Peters Diebstahl ist, dass es ein Radio ist. Wir benutzen es, um zu konsumieren was gesendet wird. Aber es hat noch eine andere Funktion. Peters Radio unterbricht das unerträgliche Schweigen, die Ruhe in unserem Heim. Es stopft das Loch, das nicht gestopft werden kann wenigstens ein bisschen. Niemals zuvor hat Peter etwas gestohlen.

Es gibt keine Regeln mehr, die Kinder und die Leiterin sind plötzlich weg, Peter und ich wissen deshalb nicht mehr, wie wir uns zu verhalten haben, was wir zu denken und zu sprechen haben, was wir zu tun haben. Natürlich gehen wir täglich weiter in die Schule. Dort gelten weiter die bisherigen Regeln, die Lehrerin bleibt, auch die Schüler bleiben.

Nachmittags sitzen wir im Aufenthaltsraum im Oberlehen. Eine neue Erzieherin kommt. Sie betreut uns bei den Hausaufgaben. Morgens weckt sie uns, macht Frühstück, mittags und abends kocht sie.

Eine Woche später kommen die ersten neuen Kinder. Die Erzieherin erklärt, dass die wie wir “für immer” im Oberlehen wohnen. Hennings und Büchtler sind von nun an täglich im Oberlehen. Die Erzieherin verschwindet eines Tages plötzlich. Neue Erzieher kommen, bleiben für einige Monate und verschwinden. Hennings und Büchtler verschwinden nicht, sie bleiben „für immer“.

14. Wettschwimmen

Unter den neuen Ankömmlingen ist Hartmut. Hennings und Büchtler verteilen die neuen Kinder auf deren Zimmer. Hartmut schicken sie zu uns. Hartmut ist Bettnässer. Ein Problem, das er ins Oberlehen mitbringt, ein Problem, das sich erst dort für ihn zu einem wirklichen Problem entwickelt.

Schnell gewöhnen sich Peter und ich an die Neuankömmlinge nicht aber an den Umgangsstil der Heimleiter. Hennings und der Buchhalter Büchtler strahlen Brutalität und Gewalt aus. Für beide sind Schläge mit der Faust ins Gesicht oder die Magengrube alltägliche Erziehungstechniken.

Von nun an besteht eine neue Ordnung am Oberlehen. Gewalt gegen Kinder und Beschimpfungen wie: Du Armleuchter! Du Volltrottel! Du Arsch mit Ohren!. Du hirnamputierter Depp! Du Pisser! Hennings und Büchtler bringen Orientierung, sie verschaffen sich Respekt durch tägliche Demonstration von Muskelkraft und erniedrigenden Worten, mit denen sie uns betiteln. Deren Überlegenheit und ihre Macht stärken beide täglich indem sie sich Respekt verschaffen mit regelmäßigen Kopfnüsse, Ohrfeigen, Faustschlägen. Innerhalb weniger Wochen krempeln beide das Oberlehen um.

Hennings, ein kleiner, korpulenter, kräftiger Mann, bringt uns schnell bei, ihn zu fürchten Er ist unberechenbar. Dessen Schläge kommen oft im Affekt. Der Faustschlag, der mich durch die Glastür schleudert und die Kellertreppe hinunter stürzt, kommt völlig überraschend. Hennings schlägt in Momenten zu, in denen ich nicht mit solcher Gewalt rechne. Es sind seine Überraschungsangriffe und Übergriffe, die ich fürchte. Wenn er den Aufenthaltsraum betritt, schrecke ich innerlich zusammen. Ich denke sofort darüber nach, welchen Anlass ich ihm gegeben haben könnte, um wieder unvermittelt zuzuschlagen.

Auch wenn Hennings kein Wörtchen sagt, wenn er seine Hand nicht zum Schlag erhebt, spüre ich Angst vor dem Mann. Er hat Macht durch Kräfte, die er benutzt, um mich ganz klein zu kriegen. Obwohl ich schon ganz klein geworden bin, schlägt er weiterhin auf mich ein. Offenbar bin ich einer, der für Hennings eine permanete Herausforderung ist. Es kann sein, dass er mich nochmal schlägt, für etwas das er bereits vor Tagen bestraft hat. Obwohl er mich schon am Ohr durch den Flur geschleift hat, mir eine Woche Stubenarrest gegeben hat, wegen meines Geschrei im Klo des Nebenhauses, als Michael mich in die Kloschüssel drückt, kann es sein, dass er mich deshalb im Vorbeigehen, Tage später nochmal kräftig ohrfeigt. Ich bin einer, auf den Hennings immer wieder einprügelt. Ich bin ein Kind.

Weil Hartmut Bettnässer ist, nennt ihn der Heimleiter “Pisser”. Hennings betitelt alle Kinder mit Spitznamen. Dessen Spitznamen werden zu unseren neuen Namen. Mit ihnen rufen wir uns gegenseitig. Hartmut wird seinen Spitznamen „Pisser“ am Oberlehen nicht mehr los. Kein Kind entkommt der Rolle, die Hennings durch einen Spitznamen zuweist. Hennings merkt nicht, dass Hartmut nach Jahren längst aufgehört hat, einzunässen.

Manche Erzieherinnen verheimlichen vor Hennings, wenn sie morgens feststellen, dass Kinder im Oberlehen einnässen. Sie verhindern, dass Hennings diese Kinder auch mit solchen Spitznamen wie Hartmut beschimpft. Sie helfen den Kindern dabei, morgens ihre nasse Bettwäsche heimlich in die Waschküche zu schaffen. So schützen sie uns vor Hellings Hass, Wut und dessen Unberechenbarkeit. Doch keine Erzieherin schafft es, uns wirklich zu helfen, denn Hennings und Büchtler schicken sie stets nach Monaten wieder davon und holen neue Erzieherinnen.

Hellings Regeln und dessen Worte akzeptieren wir am Oberlehen sofort. Dem Respekt vor Hellings Schlägen entkommt kein Kind. Widerstand ist zwecklos. Hennings und Büchtler geben uns keine Chance. Sie überwachen alles. Irgendwann glaube ich sogar, dass beide Männer alles wissen. Sie scheinen zu wissen, was ich denke.

Eines Tages lässt mich Büchtler in seinem Büro antreten. Ich ahne nicht warum. Dann spricht er von einem neuen Kassettenrecorder, den ich mir vom Taschengeld kaufen möchte. Ich weiß nicht, wie er auf diese Idee kommt. Aber ich habe daran tatsächlich gedacht, denn mein alter Rekorder ist schon lange Zeit kaputt. Büchtler muss wissen, was ich denke, was ich will. Er erklärt, dass ich keine Chance habe, auf einen neuen Rekorder zu sparen, denn ich müsse noch lange Zeit für die Glasscheibe bezahlen, die ich kaputtgemacht habe, als Hennings mich mit einem kräftigen Hieb durch sie gestoßen hat.

Ich verstehe, das es um das Siegen geht und dass Sieger nur derjenige sein kann, der die entsprechende Kraft und Macht hat. Buchhalter und Heimleiter sagen: Was zählt in diesem Leben, ist Kraft und Stärke. Entscheidend ist, wer der Stärkere ist. Siegen wird stets der Mächtigere.

Schläge der Heimleiter Hennings und Büchtler bedeuten Knochenbrüche, Prellungen, blaue Augen und solche Dinge. Das schlimmste aber ist, dass keine Auflehnung, keine Solidarität unter uns entsteht. Stattdessen regiert mich meine Angst vor den beiden.

Heimleiter und Stellvertreter entwickeln und unterstützen unsere kindliche Brutalität. Wir sind “Schlappschwänze, Halbstarke oder Sandkastenrocker”. Muskelkraft ist die wichtigste Sache im Leben. Gewalt und Brutalität unter uns sind beste Maßstäbe, um voran zu kommen. Im Oberlehen geht es Kindern am besten, die, wie der Berliner Michael, die Kraft haben, ein System von Fahrraddiebstahl und Abkassieren schlagkräftig durchzusetzen. Wie Hennings und Büchtler, setzen Kinder im Oberlehen die eigenen Interessen wirkungsvoll mit Gewalt durch. Der Lebensstil von zwei Männern ergreift uns, und lässt uns nicht mehr los.

Kinder bekämpfen sich gegenseitig. Courage, Mut oder gar Widerstand gibt es nicht. Aufstacheln und Ärgern anderer Kinder sind gute Taten. Schwäche zeigen ist verboten, denn das provoziert Gewaltausbrüche andere Kinder. Uns regieren Hass und Ablehnung. Wir brüllen uns gehässig an und verprügeln uns. Hennings und Büchtler finden das gut. Beide behalten uns damit im Griff.

Hennings legt sich mit meinem Freund Peter an. Es geht um die jungen Mädchen, die im Heim wohnen. An die macht sich Hennings abends vor dem Fernseher heran. Die nimmt er in seinem grünen Opel Rekord mit, um irgendwo hinzufahren. Mit ihnen verschwindet er in seine Wohnung im Erdgeschoss des Nebenhauses.

Morgens sehe ich Hennings, die Sonne ist gerade aufgegangen, wie er zusammen mit einer jugendlichen Heimbewohnerin hinter dem Haus die Wiese herunter läuft. Am Vorabend fand oben am Berg ein Lagerfeuer statt. Ich bin gerade auf dem Weg zur Toilette. Draußen, vor meinem Zimmer, verstecke ich mich um halb sechs Uhr für Sekunden unter der Holzbrüstung. Von dort sehe ich, wie Hennings mit dem Mädchen in seiner Wohnung verschwindet. Über meine Beobachtungen mache ich mir keine weiteren Gedanken, denn ich bin froh, dass Hennings mich nicht sieht. Das wäre Anlass für ihn mir wieder Schläge und kräftige Kopfnüsse zu geben.

Hennings weiß, wessen Eifersucht er herausfordert, wen er ärgert, wem er seine Überlegenheit und Macht demonstriert, indem er vorführt, dass er sich ein Mädchen aus der Heimgruppe einfach nehmen kann. Es ist mein Freund Peter, den er damit ärgert. Was Hennings mit den Mädchen in seiner Wohnung macht, weiß ich nicht. Samstags sehe ich ihn, wie er abends vor dem Fernseher seinen schweren Arm auf die Schultern von Heimbewohnerinnen legt.

Weil Hennings sehr unsportlich, klein und korpulent ist, verliert er beim Wettschwimmern im Hallenbad immer. Wir sind gut trainiert, denn wöchentlich gehen wir mit der Schulklasse ins Schwimmbad. Jeder von uns hat verschiedene Schwimmabzeichen. Hennings verliert das Wettschwimmen, zu dem er uns heraus fordert. Er ist beleidigt wie ein Kind. Weil er kein Kind ist, sondern der erwachsene Heimleiter, fordert er keine Revanche.

Er wartet, bis Peter, gegen den er das Wettschwimmen an diesem Samstag verliert, vom tiefen Wasser in das seichte kommt. Im seichten Wasser spielen wir im Stehen mit Wasserbällen. Peter denkt nicht mehr an das Wettschwimmen, sondern konzentriert sich auf das Ballspiel. Hennings nutzt die Gelegenheit. Er schleicht sich von hinten heran und packt Peter. Ein typischer Überraschungsangriff, der zu Hellings Unberechenbarkeit gehört. Er rächt sich, wenn man nicht damit rechnet, weil man an das, wofür er sich rächt, nicht mehr denkt. Hennings erträgt es nicht, wenn er einem untergebenen Kind im Wettstreit unterliegt. Er ist nachtragend und er ist das älteste und stärkste Kind unter uns. Ihm sind wir ausgeliefert.

Er presst Peter in den “Schwitzkasten”. Peters Kopf wird von Hellings kräftigem Oberkörper zur Seite gedrückt. Dann reißt Hennings den Kopf kräftig unter Wasser. Ich sehe Hellings zynisches Lächeln, es spielt immer rund um seine Lippen, wenn er der Sieger ist. Hellings leicht eingefallenes Gesicht wirkt durch dessen zynisches Lächeln noch faltiger.

Peters Kopf bleibt so lange unter Wasser des Berchtesgadener Hallenbads, bis irgendetwas in dessen Trommelfell passiert. Nachdem Heimleiter Hennings von Peter ablässt, platscht Peter benommen ins seichte Wasser. Er verliert kurz den Gleichgewichtssinn. Er liegt im Wasser und scheint langsam unterzugehen. Obwohl er mit den Füßen den Boden berührt, sinkt Peters Körper. Hennings dreht sich weg. Er klettert an der Treppe aus dem Wasserbecken. Jetzt watet ein anderer Junge durch das Wasser zu Peter. Er zieht dessen Kopf aus dem Wasser. Tagelang klagt Peter über starke Kopfschmerzen und Schmerzen in einem Ohr. Nach knapp einer Woche wird er im Berchtesgadener Krankenhaus wegen eines Badeunfalls behandelt.

Im Oberlehen ist nicht mehr die Gruppe im Stuhlkreis wichtig, in der sich die Kinder abends erzählen, was sie tagsüber erlebt haben. Es werden keine Lieder zu singen gelernt. Wichtig ist nun, wer der stärkste und schnellste ist und wer vom Heimleiter und seinem Stellvertreter am wenigsten mit Schimpfworten, Kraftausdrücken, Spitznamen und Schlägen belegt wird. Wichtig ist, unverletzt davon zu kommen. Menschen, wie die alte Heimleiterin, die Abends Gitarre spielt und singt, sind Schwachköpfe, die Hennings und Büchtler „bescheuert“ nennen, wie Kinder.

15. Sandkasten

Ich wache auf. Auf dem grauen Teppichboden erkenne ich ein Trinkglas. Es liegt neben dem braunen Fuß des kleinen Wohnzimmertisches. Bevor ich einschlief, habe ich ein Glas Wasser getrunken. Ich liege auf dem Teppichboden in der Wohnung in der Hochsteinstraße. Ich höre Verkehrslärm, der heute besonders laut ist, weil es stark regnet. Ein schweres Gewitter liegt seit Stunden über Berchtesgaden. Der kurze Fußweg von der Kreuzung unten am Ende des Nonntals hat gereicht, um mich komplett zu durchnässen. Ein Angebot eines Kollegen, mit dem ich täglich nach der Arbeit zurück nach Berchtesgaden fahre, habe ich ausgeschlagen. Kaum war ich aus dem Wagen gestiegen fielen schon die ersten dicken Regentropfen. In der Wohnung zog ich mir trockene Klamotten an. Ich schaltete die Kaffeemaschine ein und setzte mich, mit einem Glas Wasser in der Hand, auf das graue Sofa. An den Kaffee erinnere ich mich nicht. Er muss noch auf der Maschine in der Küche stehen. Die Müdigkeit wegen der Fabrikarbeit hat mich derart ergriffen, dass ich sitzend einschlief. Auf dem Sofa kippte ich zur Seite, das Glas fiel aus meiner Hand, rollte auf den Boden.

Draußen ist es dunkel. Ich habe etwa zwei Stunden geschlafen. Der Lärm einer Feuerwehrkolonne hat mich geweckt. Sie donnerte vor Minuten vom Rathaus, der Feuerwehrstation, die Nonntalstraße hinunter Richtung Salzbergwerk.

Ich stehe auf und gehe in die Küche. Herbert ist offenbar trotz des schweren Regens mit seinem Sportfahrrad unterwegs. In der Küche hängt starker Kaffeegeruch. Den Kaffee kippe ich ins Spülbecken. Durch das Küchenfenster sehe ich ein trübes Bild. Berchtesgadener Straßen und Häuser bei regnerischem Wetter. Trotz der schlechten Sicht ins Tal, erkenne ich links im Fenster eine von Scheinwerferlicht hell erleuchtete Großbaustelle. Dort wird bis spät abends auf Hochtouren gearbeitet. Das Berchtesgadener Hallenbad wurde kürzlich abgerissen, an dessen Stelle entsteht auf der Baustelle das neue Berchtesgadener Erlebnisbad.

Büchtler bezahlt uns jeden Samstagvormittag, nach dem Schwimmen im Hallenbad, unser Taschengeld. Kurz vor meiner Ankunft und Arbeitsaufnahme in der kleinen Fabrik im April wird das alte Hallenbad abgerissen. Die Wohnungsnachbarn erklären, dass es einem neuen Hallenbad zu weichen habe, von dem sich der Ort weniger Verluste erwarte. Der marode Platten- und Betonbau, in dem Hennings jeden Samstag die Wettschwimmen gegen Jugendliche aus dem Oberlehen verliert, sei heute nicht mehr rentabel. Eine Ortsbesichtigung, um meine Erinnerung zu beflügeln, ist nicht mehr möglich. Ich bin nicht, wie bei meinem Besuch am neuen Oberlehen, um Jahre zu spät dran. Nur um Monate habe ich mich verspätet.

Am nächsten Tag nehme ich Urlaub von der Fabrikarbeit. Ich habe Formalitäten wie meine Anmeldung auf der Gemeinde zu erledigen. Wenn ich einen Tag frei nehme, muss ich das gut begründen. Es geht nicht so einfach, wie es an meiner Dienststelle in der Stadt ging. In der kleinen Fabrik geht es persönlicher zu. Mein Gefühl sagt mir, wo es persönlicher zugeht, brauchen solche Dinge Gründe, die gesagt werden sollten. Ich überzeuge den Chef und die Sekretärin im Büro, dass es berechtigt ist, wenn ich einen freien Tag bekomme, nicht weil ich erholungsbedürftig bin, sondern wegen der zwingenden Formalitäten, die nur tagsüber erledigt werden können.

So laufe ich gegen zehn Uhr bei herrlichem, klarem Sommerwetter die Nonntalstraße in Richtung Berchtesgadener Schloss zum Rathaus hinauf. Auf dem kurzen Fußweg dort hin kommt mir ein Gedanke, der sich im Rathaus, auf dem Einwohnermeldeamt verstärkt. Das liegt an Martina, die ich nicht gleich wiedererkenne. Martina sitzt an einem Holztisch auf dem eine grüne Arbeitsunterlage und ein Formular liegen. Sie bearbeitet das Formular. Ich betrete den Arbeitsraum und ziehe die Tür langsam hinter mir zu. Martina legt ihren Kugelschreiber auf das Formular. Sie erhebt sich und bewegt sich langsam auf mich zu. Ich stehe vor dem dunkelbraunen Tresen, sage selbstverständlich “Grüß Gott” und warte. Ich erwarte nicht, dass mich jemand kennt. Sie streckt ihre weiße Hand über den Tresen und sagt:
“Grüß dich Bernado, wie geht’s?”
Ich bin überrascht, weil mich erkennt, wen ich nicht erkenne. Deshalb schaue ich Martina verwirrt an. Martina bemerkt meine Verwirrung und stellt sich namentlich vor. Jetzt erinnere ich mich an eine Klassenkameradin in der Grundschule. Sie war in der Schule stets unauffällig, so unauffällig, dass meine Erinnerung an sie nur bis in mein Fotoalbum reicht. Dort habe ich ein Foto der zweiten Grundschulklasse. Eine der etwas dicklichen Mädchen auf dem Foto hat im Gesicht Ähnlichkeit mit dieser Frau. Wegen Martina, die offensichtlich in meiner Grundschulklasse in diesem Ort gewesen war, festigt sich mein Gedanke, meine alte Schule aufzusuchen.

Das Schulgebäude hat sich von außen kaum verändert. Der Neubau sieht inzwischen auch alt aus. Er war damals, als ich die Grundschule besuchte, noch nicht ganz fertiggestellt. Das Gebäude betrete ich nicht. Ich habe dort nichts zu suchen. Was soll ein Mensch wie ich nach so langer Zeit noch in seiner alten Schule finden? Weil ich das denke, gehe ich nach einer Umrundung des Schulhauses wieder zurück in die Wohnung.

An diesem Nachmittag sitze ich vor der alten Schreibmaschine, ohne zu fürchten, dass Herbert die Wohnung betritt und an meiner Zimmertür klopft. Das kann einige Stunden lang nicht passieren. Meine Angst, er könnte mich fragen, was ich täglich in die Maschine tippe, ist nicht da. Herbert arbeitet in der Fabrik, und ich habe einen Tag Urlaub. Ein freier Nachmittag an dem ich meinen Kopf von Gedanken an meinen Mitbewohner frei habe und meiner Erinnerung an mein Leben in diesem Ort freien Lauf lasse.

Im Rechenunterricht kann ich mich nicht konzentrieren. Mein Klassenzimmer liegt im zweiten Stock des Altbaus. Durch das Fenster sehe ich hinunter auf den Schulhof mit dem hellen Kies. Dahinter führt eine stillgelegte Bahnlinie nach Salzburg. Ich sehe den Fußweg über die Bahnlinie hinüber Richtung Schießstättbrücke, den wir Kinder immer gehen, nachdem wir samstags unser Taschengeld im Ort ausgeben.

Heute trainiert mein Lehrer mit uns das Kopfrechnen. Wir stehen vor unseren Tischen, jeder Schüler, der zum dritten Mal die richtige Lösung der Rechenaufgaben am schnellsten heraus brüllt, darf sich setzen. Ich stehe als letzter immer noch da. Ich kann mich auf das Rechnen nicht einlassen, denn ich denke an anderes. In allen Schulfächern ist das so. Meine Schulnoten sind deshalb sehr schlecht.

Ich denke vormittags in der Schule daran, was nachmittags oben im Oberlehen geschehen wird. Ich überlege, wie ich Hennings und Büchtler am schnellsten aus dem Weg gehen kann. Im Schulunterricht denke ich nicht an die Schule. Der Unterricht prallt an mir ab. Die Zeit in der Schule, die Ruhe, weil Hennings und Büchtler nicht dort sind, nutze ich, um zu überlegen, was ich nachmittags tun kann, um beiden zu entkommen. Wenn ich in der Schule nicht an Hennings und Büchtler denke, träume ich von einem schönen Leben mit Peter und anderen Kindern. Ich träume davon, mit Peter in unserer Baumhütte oben im Wald oberhalb vom Oberlehen zu wohnen. Ich träume davon, mit den beiden Heimleitern nichts mehr zu tun zu haben. Die Lehrer in der Schule erreichen mich deshalb nicht. Mein Kopf ist voll mit meinem Denken und Träumen, für Rechenaufgaben ist kein Platz mehr.

Nach Unterrichtsschluss fahren wir täglich im orangenfarbenen Schulbus auf den Obersalzberg bis zur Station Erika. Wir laufen ein kurzes Stück auf der Rodelbahn und biegen rechts ab, zum nahen Oberlehen. Nachmittags reche und fege ich mit Peter den Hof und die Wege rund um die beiden Häuser. Unser Dienst nennt sich “Sauberkeit ums Haus”, er ist bei den Heimkindern nicht besonders beliebt, weil er immer mit viel Arbeit verbunden ist.

Zwischen den beiden Häusern muss Ordnung gehalten werden. Der feine Kies soll täglich gerecht werden und sämtliche Papierschnipsel, Glasscherben und ähnliches müssen aufgehoben werden. Der gepflasterte Weg zwischen den Häusern muss täglich gekehrt sein, genauso wie die Betonterrasse. Büchtler läuft die Strecken mehrmals täglich ab. Er scheut sich nicht davor, mich abends aus dem Waschraum oder meinem Bett zu holen, wenn noch Kieselsteine, Papierschnipsel oder anderes auf den Pflastersteinen liegen.

Diese Woche haben Peter und ich zusammen diesen verhassten Dienst. Ich hasse den Dienst, weil ich ihn von Büchtler verpasst bekomme. Und ich hasse ihn, weil Kinder mit denen ich gerade zerstritten bin, die Gelegenheit nutzen, um Abfall rund um die beiden Häuser zu verteilen. Es ist eine einfache Möglichkeit, sich an mir zu rächen. Freudig stacheln sich manche Kinder gegenseitig dazu auf, den Hof und das Gelände zu verschmutzen.

An diesem Nachmittag spielt sich eine “Aufwieglerszene” ab, von der Büchtler abends spricht, mit der er sein Eingreifen beim Abendessen rechtfertigt. Nach dem Kehren und Rechen im Hof spiele ich mit Peter im Sandkasten. Das hat für uns, obwohl wir schon zwölf Jahre alt sind, immer noch großen Reiz. Mit unseren Matchboxautos, die unter den Sandkörnchen leiden, kurven wir auf Sandpisten die Berchtesgadener Berge auf und ab. Unsere Phantasiereise im bunten Matchboxflitzer führt uns an diesem Nachmittag hinauf auf die Höhenstraße eines hohen Sandberges. Wir nennen unseren Sandkastenberg den Obersalzberg. Von der Höhenstraße an unserem Obersalzberg fahren unsere Matchboxflitzer weiter hinauf zum Kehlsteinhaus. Von ganz oben rauschen wir durch zwei Sandtunnels hinunter. Unterwegs besuchen wir Kinder, die im General – Walker – Hotel, am Obersalzberg bei der Höhenstraße bei den Amerikanern wohnen. Die Kinder sprechen kein Deutsch. Peter erklärt, dass sie in „amerikanischer Sprache“ unterrichtet werden. Unsere Matchboxautos parken wir auf dem sandigen Parkplatz. Gegenüber liegt ein faustgroßer Felsbrocken. Im Sandkasten ist er das General – Walker – Hotel. Dort begrüßen uns freundliche, amerikanische Erwachsene und deren Kinder. Sie laden uns zu Limonade, Cola und Sahnetörtchen ein. Wir feiern, essen und lachen mit den Amerikanern. Nachdem wir alles gegessen haben, verabschieden wir uns mit den Worten: “Yea ok, ok allreit bei, bei tschau, tschau!”

In unseren Matchboxflitzern rasen wir weiter den steilen Berg hinunter. Auf etwa halber Höhe unseres Sandkastenobersalzberges biegen wir nach links ab. Wir fahren auf einen Parkplatz, der von Kindern sauber gefegt wird. Wir begrüßen diese Kinder freundlich. Sie schütteln uns die Hände und werfen sofort ihre Besen in die Ecke, denn sie freuen sich stets über Besuch.

Sie leben im Kinderheim. Selten kommen Fremde vorbei, die sie fragen, wie es ihnen geht. Peter und ich steigen aus unseren Matchboxwagen und fragen, wie es geht. Deshalb versammeln sich viele Kinder um unsere Autos im Sandkasten am Oberlehen. Die Kinder sehen nicht so fröhlich aus wie die Amerikaner, die wir zuvor gesprochen hatten. Sie laden uns nicht zu bunten Sahnetörtchen ein, stattdessen klagen sie uns ihr Leid. Peter und ich erkennen, dass es diesen Kindern schlecht geht.

Sie Kinder erzählen uns, dass sie von zwei erwachsenen Männern am Oberlehen nicht wie Kinder behandelt werden. Die würden sie schlagen und herumtreiben. Das finden Peter und ich interessant. Wir wollen mit diesen Kindern weiter sprechen, auch wenn es nichts Süßes bei ihnen gibt. Peter und ich steigen aus. Wir lehnen uns lässig an unseren Matchboxwagen an und hören den Kindern zu.

Die jammern und erzählen, begründen und fluchen. Ihr Fluchen verändert sich nach einigen Minuten. Es geht über in Ärger und Wut auf diese “gemeinen Männer”. Peter erzählt, dass wir erst Minuten zuvor, weiter oben am Berg fröhliche amerikanische Kinder besucht haben. Wir fragen, warum es den Kindern am Oberlehen nicht auch so gut geht. Die Antworten der Kinder wollen Peter und ich nicht glauben. Sie sagen, die beiden Männer würden dafür sorgen, dass es ihnen richtig schlecht gehe. Es wäre deren Meinung, dass es den Kindern am Oberlehen schlecht gehen müsse, nur wenn es schlecht ginge, wären sie auch brav. Peter und ich staunen ungläubig. Die Kinder erzählen mehr und mehr, und sie werden dabei wütender und wütender. Erst durch unseren Besuch erfahren sie, dass es anderen Kindern viel besser geht und dass diese Kinder trotzdem brav sind. Schließlich brüllen und schimpfen die Kinder ihre Wut ungezügelt aus sich heraus. Sie schimpfen die beiden Männer “Schweine” und “Arschlöcher”. Schnell steigen Peter und ich deshalb wieder in unsere Matchboxautos. Wir fahren die steile Bergstraße hinunter zur Schießstättbrücke. Dort parken wir unsere Matchboxwagen auf einem sandigen Parkplatz neben der Brücke. Wir ruhen uns ein wenig aus. Wir setzen uns an die schnell fließende Arche und werfen Steine ins Wasser. Dabei beruhigen wir uns. Die Wut der Heimkinder, oben an unserem Sandkastenobersalzberg, hat uns angesteckt. Wir verstehen deren Wut.

Büchtler verfolgt unser Phantasiespiel. Er steht einige Zeit hinter der Garage, neben dem Sandkasten. Er beobachtet uns und er hört zu. Auch neue Heimkinder, die vor wenigen Tagen angekommen waren, sitzen im Sandkasten und verfolgen aufmerksam mein Spiel mit Peter. Die meisten wütenden Worte stammen von mir. Je stärker ich mich in meine Phantasie steigere, desto lauter und wütender wird mein Schimpfen gegen Büchtler und Hennings. Meine Wut führt mich vom Parkplatz an der Arche noch mal laut plärrend mit meinem roten Matchboxsportwagen die steile Bergstraße am Sandkastenobersalzberg hinauf zum Kinderheim. Dort schreien die wütenden Heimkinder noch mal laut ihre Wut heraus.

Gegenüber den neuen Heimkindern spüre ich eine gewisse Verantwortung. Deshalb ist mein Spiel an dem Nachmittag so laut und ausgelassen. Es ist meine Wut über die Zustände in meinem Heim. Ich will, dass die Neuankömmlinge gleich einen ersten Eindruck vom Oberlehen gewinnen, ich will sie vor Hennings und Büchtler warnen.

Das Phantasiespiel mit Peter erleichtert mir mein alltägliches Kinderheimleben. Auch Kinderspiele im Wald, oberhalb des Oberlehens sind für mich entlastend vom täglichen Heimalltag. Die Gruppen, in denen wir durch den Wald streifen, in denen wir uns gegenseitig verfolgen und jagen, haben immer das Ziel, die Bösen zu besiegen. Unter der Gruppe der Bösen sind stets Hennings und Büchtler. Meist werden sie zum Schluss von mir und anderen Kindern hingerichtet. Hennings ist die dicke Tanne gegen die ich mein Taschenmesser schleudere. Büchtler ist die Birke neben der Tanne. Ihn bespuckte ich und traktierte ihn anschließend mit meinem Taschenmesser. Die gespitzten Pfeile unseres Indianerspiels schießen wir, im Anschluss nach einer aufregenden Verfolgungsjagd, auf die Birke Büchtler und die Tanne Hennings.

Weil mich die neu im Oberlehen angekommenen Kinder heute fragen, was für ein komisches Spiel ich im Sandkasten mit den Matchboxautos spiele, erkläre ich es ihnen so:
“Wenn du nicht sofort parierst, sobald die beiden Männer etwas von dir verlangen, wenn du ihre Befehle nicht sofort befolgst, kriegst eins in die Fresse! Büchtler schlägt brutal zu, deshalb Vorsicht! Wenn du ihn in deiner Nähe siehst: sofort das Maul halten! Auch Hennings ist brutal! Er braucht nur etwas länger, bis er zuschlägt. In deinen Hintern wollen dir Hennings und Büchtler treten. Das ist ein beliebter Spaß von denen, du wirst ihn kennen lernen. Wenn du nicht sofort verschwindest, treten sie kräftig zu. Am besten kommste hier durch, wenn du deine Klappe hältst und alles, was hier los, ist hinnimmst und alles tust, was verlangt wird. Hier brauchst du nicht selbst zu denken. Wenn du anfängst zu denken oder versuchst, dich gegen die zwei zu wehren, haste schon verloren. Die machen dich fertig, wenn du was gegen die sagst oder tust!”

Büchtler springt rot vor Wut hinter dem Holzschuppen vor. Er richtet seinen eisernen Blick auf mich. Riesig steht er vor mir im Sandkasten. Er trampelt auf unserem Obersalzberg herum. Mein roter Matchboxwagen versinkt im Sand unter Büchtlers großem Schuh. Die Schießstättbrücke liegt zusammengebrochen neben Peters gelbem Sportwagen. Für Sekunden steht mir Büchtler übermächtig gegenüber. Es herrscht Schweigen.

Für mich sind es schlimme Sekunden, die ich kenne, aber mich nicht an sie gewöhne. Ich habe das schon oft erlebt. Büchtler löst das in einem gewaltigen Schlag gegen mich auf. Die anderen Kinder sind verschwunden, geflüchtet, auch Peter. Anspannung, Schweißausbruch, glühende Hitze um meinen Kopf. Beben und Zittern am Körper. Ich kenne das seit Jahren. Hautnahe Übermacht die in Ohnmacht mündet. Die ein oder zwei Sekunden des Schweigens versuche ich, zur Flucht zu nutzen. Ich habe das Gefühl, dass Büchtler immer schneller wird, denn die Sekunden werden immer kürzer.

Ich gehe leicht in die Hocke, versuche mir so Schwung zu geben, um nach rechts aus dem Sandkasten zu springen. Büchtler erkennt das, setzt deshalb sofort seinen linken Fuß vom zertretenen Obersalzberg auf den Sandparkplatz neben der zerstörten Schießstättbrücke. Ich vor Büchtler in die Knie im Sand, befinde mich im Absprung. Ich kann meine Körperbewegung nicht stoppen, sehe Büchtlers riesigen Fuß direkt vor meiner Sprungrichtung. Ich springe. Plötzlich wird es dunkel. Mein Absprungbein schlägt gegen etwas hartes, wahrscheinlich Büchtlers Knie. Ich spüre einen heftigen Aufschlag am Kopf. Ich lande nicht sofort im Sand. Büchtlers Faust rifft hart auf mein Auge. Ich keinen Schmerz, sondern ich spüre, wie meine Hände in den Sand greifen. Jetzt schlägt mein Kinn im Sand auf. Ich höre nichts, sehe nichts, spüre keine Schmerzen. Es ist vorbei.

Peter stützt mich hinauf in unser Zimmer. Mein rechtes Auge schwillt an und schmerzt. Ich lege mich in mein Bett. Peter reicht mir einen kalten Waschlappen. Mein Magen schmerzt fürchterlich, mir ist schlecht. Büchtlers Magenschwinger hat mich nicht ganz genau getroffen. Eine Rippe ist blau und schwillt an.

Heute ist Mittwoch. Inzwischen ist es Abend. Unsere Schuhe putzen wir um fünf Uhr im Schuhputzkeller. Mittwochabend gibt es “Strammer Max”. Eine Scheibe Brot mit Schinken und Spiegelei. Das beliebteste Abendessen, das ich im Kinderheim kenne. Alle Kinder finden sich pünktlich an ihren Sitzplätzen ein. Hennings leiert das täglich gleiche Gebet herunter.
“Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast.”
Hennings brüllt “Amen!”, sofort beginnt ohrenbetäubendes Messer und Gabelklappern. Der “Stramme Max” wird hastig auf den zerkratzten Plastiktellern zerteilt. Wer noch einen zweiten “Strammen Max” möchte, muss als erster fertig sein, denn es gibt nicht für jedes Kind einen zweiten.

Für mich und Peter gibt es heute nichts zu essen. Noch bevor Hennings seinen Platz vor der Milchglastür erreicht, von wo er täglich sein Gebet in den Raum ruft, kommt plötzlich Büchtler in den Speisesaal. Hennings faltet die Finger bereits zum Gebet. Büchtlers aufgebrachte Worte an Peter und mich wartet er noch ab. Im Speisesaal herrscht in diesen Sekunden wegen des “Strammen Max”, der auf unseren Plastiktellern dampfend auf Verzehr wartet, hungriges Schweigen.
“Ihr beiden bescheuerten Sandkastenrocker! Für euch gibt’s heute nichts! Verschwindet! Aber sofort! Vor morgen früh will ich euch hier nicht sehen. Der Hof ist nicht gescheit gerecht, gleich nochmal an die Arbeit und danach ins Bett, sonst trete ich euch in den Hintern!”
Strafe durch Essensentzug gehört neben Büchtlers Schlägen zum gewohnten Programm. Einerseits rechnen wir damit, dass Büchtler uns raus werfen wird, wegen dessen Gewalt vom Nachmittag, andererseits hoffen wir darauf, dass Büchtler es vergisst. Leider hat Büchtler abends nicht frei. Er ist da, obwohl sein Porsche nicht auf dem Hof vor dem Haupthaus parkt.

Peter und ich zucken zusammen. Ich rutsche schnell ein Stück von der Holzbank. Büchtlers eiserner Blick trifft mich. Er brüllt irgendwelche Sätze und kommt schnell auf mich zu. Peter springt von der Holzbank, läuft links an Büchtler vorbei. Er wartet an der Milchglastür neben dem Klavier auf mich. Für Peter und mich ist im Bruchteil von Sekunden klar, dass wir den Raum so schnell wie nur möglich zu verlassen haben. Es geht darum, geschickt an Büchtler vorbei zu rennen, den Ausgang des Saals zu erreichen, um hinaus auf den Hof zu gelangen. Peter ist schneller als ich. Er befreit sich schneller von seinem Sitzplatz. Ich bin noch zwischen Holzbank und Tisch eingekeilt. Ich renne erst Sekunden später los. An Büchtler komme ich nicht in ausreichendem Abstand vorbei. Büchtlers Hand erwischt mich. Sie packt mich fest an meinem linken Ohr. Büchtler zerrt mich die wenigen Meter zur Milchglastür. Peter rennt hinaus auf den Hof. Ich schreie, weil ich Büchtlers harten Griff spüre. An der Tür lässt er von mir ab. Weil mein rechtes Auge noch stark angeschwollen ist, spüre ich brennenden Schmerz wegen meiner Tränen. Den Hof und Peter erkenne ich kaum. Büchtler brüllt, als ich schon den Kies vom Hof unter meinen Schuhen knirschen höre:
“Jetzt winseln wie eine Ratte, aber sonst halbstark das Maul auf reißen und Lügen verbreiten! Raus hier, du Penner!”
Sein Fußtritt verfehlt mich, denn in dem Moment, als er von meinem Ohr ablässt, renne ich sofort los Richtung Nebenhaus, wo ich Peter erkenne. Leise höre ich aus dem Speisesaal die drei ersten Worte von Hellings Gebet, das alle Kinder laut mitsprechen. Die anderen Kinder am Tisch haben Grund zur Freude, denn sie dürfen den strammen Max von mir und Peter verspeisen.

16. Gute Aussicht

Peter glaubt, dass Büchtler für seine Aufgabe im Oberlehen der falsche Mann ist. Er sagt einfach:
“Wer so brutal wie Büchtler ist, kann kein guter Erwachsener sein.”
Auch von Hennings meint er, dass der mit Kindern nicht umgehen kann:
“Hennings kann mit Kindern, außer dass er uns beschimpft und unkontrolliert auf uns einschlägt, nichts anfangen.”
Peter hört am Oberlehen von älteren Jugendlichen, wie Meiko, dass beide aus einem Heim für sogenannte schwer erziehbare Jugendliche zu uns kommen. Deshalb sagt er:
“Die beiden haben sich ihren brutalen Stil wahrscheinlich bei den schweren Jungs angewöhnt. Dass wir keine schweren Jungs sind, sondern ganz normale Kinder, wollen die zwei nicht begreifen oder sie sind zu doof es zu begreifen. Vermutlich werden die das nie begreifen. Solang die zwei hier regieren, haben wir keine Chance!”

Ich versuche genau zuzuhören, wenn Peter in unserem Versteck, zwischen den Matratzen auf dem Speicher erzählt. Ich merke, dass er sehr viel mehr über die zwei Männer nachdenkt, als ich. Er hat weniger Angst vor den beiden. Beide haben ihn noch nicht so oft verprügelt, wie mich. Ich begreife nur langsam, was Peter über beide denkt und wovon er spricht. Mit “schwach anreden” meint Peter die alltägliche Wortwahl Hellings. Der diffamiert und demütigt uns. Er lacht zynisch. Er freut sich, wenn er Wut und Hilflosigkeit in unseren Gesichtern sieht, nachdem er uns als “Pisser”, “Maulaffe” oder “Hosenscheißer” beschimpft. Peter begreift das. Er spricht nicht mit den beiden, aber er scheint sie sehr genau zu beobachten. Er liest in deren Gesichtern, was beide denken, während sie auf Kinder einprügeln oder wütend auf uns sind.

Abends, wenn es dunkel in unserem Zimmer ist, und wir in unseren Stockbetten liegen, spricht Peter darüber, was tagsüber am Oberlehen los war. Er erklärt, wie er die Situation sieht. Hennings hat ein fieses Lächeln auf den Lippen, wenn er Hartmut “Pisser” nennt. So ein Lachen hat Peter einmal im Fernsehen gesehen, in einem Kriminalfilm. Der Mann mit dem Lächeln, war in dem Film ein Mörder, der mehrere Menschen umgebracht hat, immer bei Nacht und Nebel.

Ich liege in meinem Bett, höre Peter zu und bekomme Angst. Peters Vergleich ist schauderhaft. Was Hartmut denkt, weiß ich nicht. Er liegt unter Peter im Stockbett und sagt nichts, obwohl Peter von ihm spricht. Peter ist es egal, ob Hartmut ins Bett macht, oder nicht. Er scheint das zu kennen. Es scheint ihm aber wurscht zu sein. Ich finde Hartmuts Bettgepisse sehr unangenehm. Ich mag es nicht, dass morgens unser Zimmer stinkt, wie auf dem Klo. Ich hasse Hennings, der die Zimmertür aufreißt, laut brüllt wegen „dem Pisser“, Hartmut die Decke wegreißt, so dass es noch mehr stinkt, die Zimmertür offen lässt, so dass eisige Luft von draußen herein kommt.

Spricht Peter abends nicht über das, was er über Hennings und Büchtler denkt, dann beginnt er eine erfunden Gruselgeschichte zu erzählen. Das ist unser Spiel. Nach einigen Minuten muss Hartmut weiter erzählen, danach bin ich mit der Fortsetzung dran. Schon nach Peters ersten Sätzen liege ich zitternd im Bett. Peters Geschichten fangen fast immer mit Büchtler oder Hennings an. Ich liege in meinem Bett und kann mir gut vorstellen, dass einer der beiden unser Zimmer betritt, um einen von uns, vielleicht mich, umzubringen.

Eine von Peters Geschichten geht so:
Ein Kind liegt nachts in seinem Bett. Das Bett ist zu klein für das Kind, deshalb hängen die Füße des Buben hinten herunter. Bevor das Kind ins Bett geht, sieht es im Fernsehen einen Film. Der Film war nicht lustig, sondern sehr ernst. Er handelte von den Eltern eines Jungen, die schon gestorben sind. Der Film heißt „Die Nacht der reitenden Leichen“.

Hier stoppt Peter und Hartmut ist dran, der weiter erzählt:
Der Vater des Jungen in dem Film ist Hennings. Er ist schon tot, weil ihn ein Kind aus dem Oberlehen mit einer seiner Jagdgewehre erschossen hat, während er mit einem Mädchen in seiner Wohnung vor dem Fernseher saß. Seitdem ist Hennings auf dem Friedhof der „reitenden Leichen“ begraben. Heute Nacht kommt der Junge zum Friedhof, denn in der Stadt haben sie ihm gesagt, dass heute in der Vollmondnacht die Leichen auferstehen. Am Friedhof öffnet sich tatsächlich das Grab von Hennings. Er kommt blutig, wie er erschossen wurde, heraus. Der Junge möchte mit ihm reden, schließlich ist Hennings sein Vater. Hennings aber schlägt ihm mit dem Gewehrkolben ins Gesicht, so dass der Junge sofort tot ist. Dann reitet Hennings mit seinem Pony und dem Jagdgewehr zum Oberlehen, wo er das Ponny im Schuppen neben dem Sandkasten abstellt. Er schleicht sich in das Haus und das Zimmer des Jungen, dessen Bett zu klein ist. Hellig greift mit seinen riesigen, blutverschmierten Händen zu den Beinen des Jungen und zerrt ihn aus dem Bett.

Jetzt endet Hartmuts Fortsetzung und ich bin dran. Ich zittere in meinem Bett so vor Angst, dass ich kein Wort raus bringe und schweige.

Peter glaubt, dass der Schaden, den Hennings und Büchtler anrichten, unsichtbar bleibt. Nur manchmal sieht man ihn. Die geschwollenen Augen, Wunden und Blutspritzer, die man sieht, verschwinden aber wieder. Was Peter mit dem unsichtbaren Schaden meint, kann er mir nicht genau erklären. Er sagt, es wäre etwas, das in uns passiert. Angst und Hass wären schlimm für uns. Beides würde schaden, weil wir nicht wissen, ob es vorüber gehen wird. Peter glaubt, davon würde etwas in uns für immer bleiben und das wäre für unsere Zukunft schlecht.

Vom Oberlehen haben wir eine wunderbare Aussicht. Wir blicken hinunter auf das Berchtesgadener Tal. Wir sehen den Ort Berchtesgaden und auf der anderen Seite des Tals den Untersberg. Links sehen wir den meist leicht verschneiten Watzmann. Die schöne Aussicht genießen wir aber nicht. Im Gegenteil, manchmal hasse ich sie. Ich hasse sie, weil ich denke, sie sei mein Gefängnis. Ich denke, mit der Aussicht bezahle ich dafür, dass ich mit diesen beiden Männern am Oberlehen leben muss.

Im Markt Berchtesgaden gibt es viele Touristen. Sie wollen diese Aussicht genießen und bezahlen dafür. Wenn sie nicht mehr wollen, gehen sie wieder und bezahlen danach auch nicht mehr. Ich kann nicht gehen, muss bleiben und bezahle später. So denke ich. Die Aussicht ist wunderschön. Aber für gefangen gehaltene Kinder, ist der Blick auf die schönen Berge, wegen der Überwachung durch Büchtler und Hennings eine Gemeinheit.

Besucher am Oberlehen betört die Bergwelt. Deshalb bleiben deren Augen vor anderem verschlossen. Der Besucher sieht am Oberlehen Sauberkeit und Ruhe. Hennings und Büchtler verhalten sich freundlich und zurückhaltend. Sie stehen mit den Besuchern von deutschen Jugendämtern auf der Terrasse. Von dort genießen sie die Aussicht auf die wunderbare Bergwelt. Sie machen einen Rundgang durch die beiden aufgeräumten Häuser. Dann unterhalten sie sich bei einer Tasse Kaffee und blicken über die weißblauen Bergketten.

Ist ein Jugendamt zu Besuch im Oberlehen oder kommen Eltern zu Besuch, ist es friedlich im Heim. Die Begeisterung der Besucher von unserem schönen Heim, in der überwältigenden Panoramalage einer einzigartigen Bergwelt, steht in deren Gesichtern geschrieben. Peter glaubt, die Besucher kommen in unser Heim, um schönes zu sehen. Berchtesgaden kennen viele von Fotos, Postkarten, Zeitungsartikeln. Peter weiß, dass es ein beliebter Ausflugs- und Touristenort ist, an dem wir leben. Deshalb kommen sie gerne von weit entfernten Jugendämtern angereist. Sie wollen sehen in welch schöner Lanschaft und Luft wir leben.

Die Frauen und Herren von den Jugendämtern saugen die Ruhe des Tages am Obersalzberg in unserem schönen Heim in sich auf. Im Ruhrpott, von wo Hartmut stammt, stinkt es erbärmlich nach Abgasen. Sie kommen aber auch von einem Jugendamt aus Hessen oder Baden Württemberg, wo die Landschaft nicht gebirgig ist, wie in Berchtesgaden und die Luft nicht so klar. Auch aus Berlin kommen sie, von dort stammt Michael.

Peter meint, weil sie von so weit her kommen, wollen sie genießen, was es in ihren Städten nicht gibt: Die sonnige Aussicht vom Obersalzberg ist einmalig. Alles im Heim ist sehr gut auf den Besucher eingestellt und perfekt vorbereitet. Nur ein sehr aufmerksamer Besucher, der die Optik der Bergwelt außer acht lassen würde, könnte mit viel Mühe an unseren Gesichtern ablesen, wie wir von den beiden Männern geleitet werden. Zu solchen Beobachtungen kommt es nicht. Peter beobachtet jeden Besucher ganz aufmerksam. Er liest aus den Gesichtern der Mitarbeiter deutscher Jugendämter. Er sieht deren Begeisterung und Freude, weil sie endlich mal nach Berchtesgaden kommen dürfen, um hier atemberaubende Ruhe und Landschaft zu sehen. Ein Mensch, der hier unglücklich ist, kann nur ein sehr undankbares Kind sein.

Hennings und Büchtler beschäftigen den Jugendamtsbesuch von dessen Anreise bis zur Abreise. Sie holen ihn am Berchtesgadener Bahnhof ab und bringen ihn dort hin zurück. Die romantische Bergwelt und die freundlichen Worte der Heimleiter überzeugen. Den Kindern am Oberlehen muss es sehr gut gehen.

17. Müdigkeit

Peter ist ein paar Jahre älter als ich. Ich glaube, deshalb und wegen seiner Erfahrungen sieht und versteht er mehr. Von den beiden Männern, Büchtler und Hennings, fühlt er sich oft verletzt. Unser Leben am Oberlehen nennt er eines Tages „Terror“. Ihm fallen Worte für unser Kinderheimleben ein, die ich nicht kenne. Er sagt:
“Ich finde, wir sind Gefangene. Wir sind dem Terror dieser beiden Männer beinahe wehrlos ausgeliefert. Ich kenne das. So ein Leben habe ich vor Jahren bei meinem Vater kennen gelernt. Dort habe ich ein Jahr lang gelebt. Von ihm bin ich fortgegangen, weil er und die Frau, mit der er zusammenlebt, auch auf mich einschlugen und mich kontrollierten, beinahe so, wie Hennings und Büchtler es hier im Oberlehen tun. Ich und du, wir alle müssen versuchen, irgendwie mit diesem Terror zurechtzukommen. Ich glaube, es gibt keinen anderen Platz für uns, wo wir leben könnten. Wir müssen hier lernen, mit diesen Männern klar zu kommen, denn wahrscheinlich sind alle erwachsenen Männer ganz ähnlich.”

Ich liege in unserem finsteren Zimmer in meinem Stockbett. Ich höre Peter zu. Ich versuche mir vorzustellen, was Peter schon alles erlebt haben mag. Aber ich merke, dass ich das gar nicht so genau wissen möchte.

Was am Oberlehen passiert, finde auch ich schlecht. Ich weiß aber nicht genau, warum ich es so schlecht finde, und ich bin mir nicht sicher, ob es richtig ist, dass ich es schlecht finde. Peter ist sich sicher. Er weiß, dass es am Oberlehen schlecht ist, und er findet es richtig, das auch festzustellen. Das schlechte Leben kennt er von dem Jahr, das er bei seinem Vater verbracht hat. Davon erzählt er abends im Bett. Das vergleicht er mit unserem Leben bei Hennings und Büchtler am Oberlehen. Ich liege unter meiner warmen Bettdecke und höre Peter zu:
“Ich glaube, wir haben ein Recht zu leben. Ich glaube auch, dass wir ein Recht darauf haben, festzustellen, ob es uns hier im Oberlehen gut geht oder schlecht. Nur wenn wir das feststellen, können wir vielleicht etwas verändern. Ich kenne das, denn bei meinem Vater war mein Leben schlecht. Nur weil ich das festgestellt habe, konnte ich etwas verändern. Ich habe mich entschieden, ihn zu verlassen. Ich habe im Jugendamt erklärt, dass ich von ihm für immer fort gehen will. Dann bin ich drei mal ins Jugendamt in die Stadt geflüchtet. Erst nachdem sie mich zwei mal zurück gebracht haben, haben sie mich hier her gebracht. Das andere Heim, in dem ich einmal war, wollte mich nicht mehr haben. Von hier kann ich nicht mehr fortgehen, denn ich kenne keinen anderen Ort, wo ich leben könnte. Büchtler und Hennings sind lange nicht so schlimm, wie das Leben bei meinem Vater war. Den beiden können wir täglich aus dem Weg gehen. Wir können uns im Wald und auf dem Dachboden in unseren Verstecken vor ihnen verkriechen. Das war bei meinem Vater nicht möglich. Bei dem und seiner Frau war ich Tag und Nacht bedroht. Ich konnte mich nirgendwo verstecken. Die wussten immer wo ich war. Ich konnte mich nicht ausruhen.”

Ich verstehe Peter erst viele Jahre später. Trotzdem spricht er abends im Bett immer mehr davon. Manchmal höre ich ihm nicht genau zu. Die Gedanken von Peter machen mir Angst. Ich fürchte, das stimmt, was er erzählt. Peters Vorstellungen vermischen sich mit meiner Phantasie und meinen täglichen Erlebnissen. Beim Einschlafen entstehen Träume, aus denen ich nachts hoch schrecke. Die Träume enden oft mit der Vorstellung, unser Leben am Oberlehen könnte sich so schlecht weiterentwickeln, wie es bei Peters Vater gewesen sein muss. Wenn Hennings und Büchtler unsere Verstecke finden, oder wenn sie versuchen, uns nachts umzubringen, dann werden Peter und ich das Leben bei diesen beiden Männern nicht mehr aushalten.

Es gibt aber kein anderes Leben für uns. Mit solchen Gedanken wache ich nachts auf und kann nicht mehr einschlafen. Ich spüre, dass wir am Oberlehen schlecht behandelt werden, ich kann aber nicht genau erkennen, was konkret das schlechte ist. Vielleicht möchte ich es auch nicht erkennen. Manchmal spüre ich, dass ich mich einfach gehen lassen will. Eigentlich will ich über mein Leben am Oberlehen nicht nachdenken. Ich will täglich diesen beiden Männern aus dem Weg gehen und meine Ruhe vor deren Gewalt haben. Darauf versuche ich mich jeden Tag zu konzentrieren, dafür verwende ich all meine Kräfte.

Peter will auch Ruhe haben, aber gleichzeitig will er genauer nachdenken und erkennen, was am Oberlehen vor sich geht. Peters Schlussfolgerungen sind von Abend zu Abend radikaler. Mir fällt es mehr und mehr schwer, ihm zuzuhören, denn ich habe Angst. Er sagt:
“Eigentlich versuchen Hennings und Büchtler, uns zu töten. Sie wollen dich nicht töten, indem sie dein Leben beenden. Das ist ihnen zu wenig. Sie wollen töten, was in dir steckt. Deinen Willen wollen sie brechen. Sie wollen dein Denken brechen. Dann wollen sie, dass du denkst, was sie es befehlen. So darfst du dann weiterleben.”

Peters Gedanken kann ich mir nicht vorstellen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie so etwas funktionieren soll.

Plötzlich, an einem Abend, als Peter wieder so spricht, in unserem Zimmer, kommen meine Gedanken vom Sterbenwollen. Es ist der Abend nach meinem geschwollenen, blauen Auge im Sandkasten und dem von Büchtler gestrichenen “Strammen Max”. Ich bin sehr wütend auf Büchtler und jammere von meinem Stockbett zu Peter:
“Dieses Schwein Büchtler. Ich hasse ihn! Wenn ich ihn umbringen könnte, täte ich es! Leider geht das nicht!”
Ich komme auf eine Idee:
“Also bringe ich mich selbst um!”
Zu Peter:
“Komm Peter, wir machen’s gemeinsam. Dann haben wir alles hinter uns, und wir haben endlich unsere Ruhe!”

Meine Idee überrascht Peter nicht. Er versteht meine Wut sehr gut. Das aber kommt für ihn nicht in Frage. Wenn wir uns umbringen, erklärt er, dann haben die beiden Männer ihr Ziel erreicht. Sie haben zwar nicht unseren Willen gebrochen, aber sie wären doch die Sieger über uns.
“Hennings und Büchtler sind kein guter Grund, um zu sterben. Die beiden sind unseren Tod nicht wert! Ich weiß, was für ein fieses Spiel beide mit uns spielen.”

Peter erklärt das Spiel. Es sei dasselbe, das er auch bei seinem Vater erlebt habe. Peter glaubt, es ginge Hennings und Büchtler nur um den eigenen Vorteil. Sie wollten möglichst wenig mit uns zu tun haben, und es ginge ihnen um Macht. Auch die Ehre sei starken Männern wichtig. Sehen beide ihre Ehre gefährdet, würden sie sich wehren, als wären sie Tiere im Kampf ums Überleben. Solche Tiere schlagen unkontrolliert um sich. Grundsätzlich wollen sie aber ihre Ruhe haben. Würden wir sterben, hätten sie uns endlich los und damit Ruhe. Sie hätten was sie wollen.

Manchmal denke ich, dass ich noch viel zu klein bin, um das alles zu verstehen. Manchmal will ich zu klein sein, um es nicht zu verstehen. Ich will meine Welt am Oberlehen nicht so radikal zerstört sehen. Peter will das auch nicht, sondern er versucht alles zu erklären. Ich will die Kinderidylle an meinem Oberlehen behalten. Manchmal verstehe ich Peters Worte so wenig, wie die Worte meiner Lehrer in der Schule.

Peter geht mit seinem Denken ein Wagnis ein. Er lässt einen riskanten Kitzel zu, den ich nicht bis zum Ende zulassen kann. Irgendwann höre ich nicht mehr zu und verlasse ihn und sein Denken. Ich will niemanden provozieren, indem ich nachdenke und wie Peter herausfinde, was am Oberlehen los ist. Auch ich will in Ruhe gelassen werden. Ich glaube, ich kann am Leben im Oberlehen nichts verändern.

In der Wohnung in der Hochsteinstraße riecht es ein bisschen nach Moder. Im Winter muss es darin feucht und kühl sein. Heute ist wieder so ein klarer Morgen. Es ist halb fünf Uhr. Ich sitze vor meiner kleinen Schreibmaschine. Den langen, monotonen Arbeitstag in der kleinen Fabrik sehe ich jetzt noch nicht vor mir.

Stattdessen ist mein Kopf voll von den Gedanken meines Freundes Peter. Aber ich kann dessen Gesicht oder seinen Gang nicht erkennen. Ich sehe ihn zwar über den säuberlich gerechten Hof zwischen beiden Häusern, unter der Schatten spendenden Eiche hindurch laufen, aber so sehr ich mich auch anstrenge, ich kann mich nicht an sein Aussehen, seinen Gang oder seine Bewegungen erinnern.

Das Wichtigste erkenne ich. Es ist das, was Peter seit dem Tag, an dem die alte Leiterin mit ihrer Gitarre und der riesigen, dunklen Brille verschwunden war, für mich am Oberlehen bedeutet. Von diesem Tag an ist Peter für mich mein Freund, meine Orientierung. Mit ihm vereine ich mich. An ihm halte ich mich fest. Ich verstehe, dass ich die alte Leiterin geliebt habe, aber auch, dass sie mir nie wieder gegenüberstehen wird und nie wieder, ohne mit mir zu sprechen, wissen wird, wie es mir geht. Diese Rolle übernimmt Peter.

Ich sehe Peter im Bett in unserem Zimmer im Oberlehen. Ich erinnere mich an die langen, dunklen Abende in unseren Stockbetten. Das schimmernde Licht der Nacht fällt durch die Milchglastür herein. Ich liege oben, verkrieche mich, wie jeden Abend, tief bis zur Nase unter meiner Decke. Ich bin sehr müde, so dass ich manchmal schon nach wenigen Sätzen von Peter in ein Dösen verfalle. So höre ich Peter täglich in einer Art Halbschlaf von Hennings und Büchtler sprechen. Peter beschützt mich vor den zwei Männern, denn er weiß genau, das die tun und warum sie es tun. Er kann in deren Tun ablesen, was sie denken. Damit beschützt er mich, denn wenn Peter herausfindet, dass sie uns umbringen wollen, wird er rechtzeitig Bescheid geben, damit wir fliehen können.

Ich erkenne nicht, dass es ein “für immer” in diesem Kinderheim nicht geben wird. Im Oberlehen begreife ich noch nicht, dass meine Kindheit von vorübergehender Dauer ist und dass wir, wenn wir erwachsen sind, von Hennings und Büchtler befreit sein werden. Peter spricht in Zeitvorstellungen, die für mich unvorstellbar sind. Peter überrascht mich eines abends mit folgender Idee:
“In zwanzig Jahren werden wir uns nur noch dunkel an diese beiden Männer mit ihrer Hölle aus Macht und Gewalt erinnern. In dreißig Jahren haben wir die beiden wahrscheinlich sogar vergessen.”
Um fünf Uhr morgens sitze ich an meiner kleinen Schreibmaschine und denke nicht an den kommenden Arbeitstag in der Fabrik? Stattdessen denke ich an Hennings und Büchtler. Beinahe zwanzig Jahre sind seither vergangen. Die beiden Männer habe ich noch nicht vergessen.

Peter fügt seiner Idee, dass Hennings und Büchtler darauf warten, dass wir uns selbst töten noch etwas hinzu:
“Die beiden töten, indem sie nicht töten! Das ist eine Sache, die ich von meinem Vater kenne. Aber mein Vater hat es nicht geschafft, mich zu brechen. Ich habe seinen Versuch, dies zu tun, überlebt. Seitdem ich von Hennings die Worte gehört habe:
‘Dich werde ich schon weich kochen’, vergleiche ich die beiden Männer mit meinem Leben bei meinem Vater.”
Ist Peter in Fahrt, kann ihn nichts stoppen. Im dunklen Zimmer liegt er auf seiner Matratze, starrt zur Zimmerdecke und denkt über Begründungen und Entwicklungen nach:
“Ich finde, was Hennings und Büchtler wissen müssten, aber nicht wissen wollen, ist das Schlimmste an unserem Leben hier im Oberlehen: Es ist ein Schaden unter dem wir Kinder erst später zu leiden haben werden. Sie zerstören unsere Zukunft. Deren Terror macht uns müde und kaputt. Weil die beiden dumm sind, schicken sie uns nicht auf höhere Schulen. Weil sie uns schlagen und anbrüllen, verheizen sie unsere Kräfte. Weil wir täglich überlegen müssen, wie wir ihnen entkommen können, werden wir schwächer und schwächer. Kräfte, die wir heute dafür verbrauchen, fehlen uns als Erwachsene. Müde vom Terror unserer Kindheit kommen einige von uns als Erwachsene gar nicht richtig auf die Beine.”

18. Sauberkeit

Wieder bediene ich heute in der Fabrik eine Abfüllmaschine. In milchfarbene, längliche Plastikflaschen fülle ich eine grün gefärbte Flüssigkeit, es ist ein Duschbad. Mit einem orangenfarbenen Hubwagen gehe ich gemächlich durch das Lager. Den Hubwagen ziehe ich hinter mir her. Die eisernen Rollen des Wagens schlagen gleichmäßig gegen die Fugen zwischen den schwarz gefliesten Steinplatten auf dem Fußboden im Lagerraum. Ich schlendere den dunklen Gang entlang. Das gleichmäßige Rattern des Hubkarrens habe ich im Ohr.

Das spärlich beleuchtete Lager erinnert mich an unser Versteck auf dem Dachboden am Oberlehen. Dort liegt jede Menge Gerümpel herum. Zwischen alten Matratzen haben wir uns ein Versteck gebaut. Wenn wir den Dienst “Sauberkeit ums Haus” haben, müssen wir neben der Ordnung um das Oberlehen auch für genügend Toilettenpapier auf den Toiletten sorgen. Dieses lagert auf dem Speicher. Unseren täglichen Gang dort hinauf nutzen wir für eine halbe Stunde in unserem Matratzenversteck.

Im Lager des Chefs schiebe ich jetzt meinen Hubwagen etwas umständlich, weil mir die Übung diesen Hubkarren zu rangieren fehlt, in eine Lücke zwischen Paletten mit Parfümfläschchen. Ich denke nicht an die Arbeit in der Fabrik. Ich denke an das Matratzenlager auf dem Speicher und an unser Versteck im Oberlehen.
Plötzlich tritt Jo aus einer dunklen Ecke im Lager hervor. Ich erschrecke, denn innerlich bin ich nicht hier. Jo zerrt mein Denken abrupt zurück in das Lager des Chefs. Er ist ein kleiner und manchmal sehr lauter Mann. Er ist der Lagerist. Er wird vor allem dann laut, wenn Arbeiter und Maschinisten ihre Paletten einfach irgendwo abstellen, wo sie im Lager gerade Platz finden.

In Jos Lager herrscht Ordnung. Dessen Ordnung ist für mich aber nicht zu durchschauen, weil das Lager eigentlich immer bis unter die Decke voll gestopft ist. Platz muss man sich hier meist erst schaffen. Weil ich in der Fabrik einfacher Arbeiter bin und zu den “Nichtlageristen” gehöre, stelle auch ich meine Palette gerne dort ab, wo sie nicht hingehört, wo aber Platz ist.

Aus dem Mundwinkel von Jo hängt eine glimmende Zigarette. Ich weiß nicht wer von uns beiden schreckhafter ist. Ich überrasche Jo dort, wo er eigentlich nicht sein sollte, und bei einer Tätigkeit, die er im Lager nicht tun sollte. Ich habe sein Versteck entdeckt, weiß jetzt, wo er sich aufhält, wenn man ihn nicht findet, und wo er raucht.

Peter und ich bleiben auf dem Speicher im Oberlehen in unserem Versteck stets unauffindbar. Niemals werden wir dort beim Zigarettenrauchen überrascht. Hennings und Büchtler finden uns dort nicht, weil sie uns nie suchen. Sie lassen uns dann in Ruhe, wenn wir uns nicht in deren Blickfeld aufhalten. Am Oberlehen verhalten wir uns so unauffällig, dass es keinen Grund gibt, nach uns und unseren Verstecken zu suchen.

Nie kommen wir zu spät zu unseren Hausaufgaben, die wir täglich machen. Zum Schuhe putzen, um fünf Uhr nachmittags und zu allen Mahlzeiten erscheinen wir stets pünktlich. Weil wir so sind, haben Hennings und Büchtler keinen Grund nach uns zu suchen. Wir sind unauffällig. Wir finden wir uns mit unserer Kindheit am Oberlehen ab.

Wenn wir uns über Hennings und Büchtler aufregen und meckern, tun wir dies nicht, um beide zu provozieren. Wir meckern, wenn wir glauben, dass beide nicht in unserer Nähe sind. Im Sandkasten, oben im Wald, in unserem Versteck auf dem Dachboden muss unsere Wut auf die beiden einfach raus. An diesen Orten fühlen wir uns sicher und unbeobachtet. Dass der Sandkasten nicht sicher und nicht unbeobachtet ist, um meiner Wut freien Lauf zu lassen, habe ich gelernt. Dort meckere ich seit dem Tag, als Büchtler mich brutal schlug nicht mehr.

Die beiden Männer lassen uns die Chance, ihnen aus dem Weg zu gehen. Nachmittags sind wir oben im Wald. Wir können unbemerkt auf den Speicher gelangen, wir ziehen uns abends frühzeitig, während die anderen Kinder fernsehen, in unsere Betten zurück.

Dass wir im Oberlehen die Freiheit haben, uns zurückzuziehen, ist gut. Das denke ich jetzt, weil ich Jo im Lager in seinem Versteck überrasche. Der große Vorteil im Oberlehen ist, dass Peter und ich nicht permanent den beiden Männern ausgesetzt sind. Es ist gut, dass wir den beiden Männern in Wahrheit völlig egal sind. Wir versuchen so oft wie möglich aus deren Blickfeld zu verschwinden.

Peter übertreibt, wenn er von Terror spricht. Wir haben Erholungspausen von beiden Männern. Deren Terror hat Lücken, die wir für uns nutzen, denn wir können ausweichen. Weil wir Pausen nehmen, indem wir uns verstecken halten wir es so viele Jahre am Oberlehen aus. Peter hatte bei seinem Vater keine Pausen vor dessen Gewalt. Das war Terror. Deshalb ist er froh, am Oberlehen zu sein.

Hennings und Büchtler sind Ruhe und Ordnung sehr wichtig. Sobald Ruhe herrscht, ist deren Ziel erreicht. Ob wir nun im Versteck auf dem Speicher oder im Wald sind, oder eine Strafe im Zimmer absitzen. Beide wollen nichts mit uns zu tun haben, aber sie müssen. Es ist ihr Beruf. Deshalb schlagen sie uns, denn sie mögen uns nicht, sie hassen uns und sie hassen ihren Beruf, zu dem wir gehören.

Jo steht paffend, vor mir. Ich versuche zu tun, als habe ich nicht kapiert, dass ich Jo in seinem Versteck überrasche. Ich ignoriere, dass er aus einem Winkel im Lager erscheint, wo im Grunde nichts zu tun sein kann. Auch seine Zigarette ignoriere ich. Stattdessen frage ich ihn, und versuche mich dabei im alltäglichen Tonfall des Fabrikarbeiters:
“Ist der Platz hier richtig für das grüne Badezimmerzeug?”
Weil Jo sofort begreift, dass ich mit ihm nicht darüber reden will, warum er mit brennender Zigarette aus dem hintersten Winkel des Lagers vor mir erscheint, geht er sofort zur geschäftigen Routine des Fabrikalltags über. Er brummt mich routiniert an:
“Na, na aber wirklich need! Des Zeigl passt da need her! Aber des macht nix. I schaffs scho da hi, wos hi ghört.”
Das ist mir sehr recht, denn ich finde in dem Lager eh keinen Platz und spare mir dank Jo die Zeit nach Platz zu suchen. Die qualmende Zigarette schiebt Jo hektisch im Mundwinkel hin und her. Sie ist ihm lästig, denn er weiß, dass sie im Lager nicht in seinen Mund gehört. Da sie aber nun mal da ist und qualmt, ändert er nichts daran, sondern versucht, ihr Vorhandensein durch geschäftiges Agieren zu überspielen. Mit der rechten Hand winkt er in Richtung des Lagerkorridors, den ich gerade hinter mir habe. Er zeigt auf den Platz, wo er die Palette unterzubringen gedenkt. Mit der anderen Hand entreißt er mir den Griff des Wagens, dabei schiebt er mich sanft, aber bestimmt beiseite. So übernimmt er das Kommando in seinem Lager. Eilig läuft er durch die dunkle Lagerhalle, zerrt den Hubwagen mit meiner Palette ratternd hinter sich her.

Langsam schlendere ich entlang dem Lagerkorridor zurück in die Produktionshalle. Ich denke an den Dienst “Sauberkeit ums Haus”. Wir erledigen ihn stets nachmittags, nach den Hausaufgaben. Nach dem Abendessen holen wir das Toilettenpapier vom Dachboden. Die Sache mit den Haushaltsdiensten rund um das Oberlehen ist eigentlich nicht schlecht. Durch sie sind wir beschäftigt, wenn wir uns nicht verstecken dürfen. Wir lernen uns um alltägliche Hausarbeit zu kümmern. Wir lernen, dass Ordnung und Sauberkeit nicht selbstverständlich sind, sondern von uns geschaffen werden.

Ich rege mich trotzdem oft über die Dienste auf. Hennings und Büchtler machen eine Show daraus, sie jeden Freitagabend nach dem Abendessen zu verteilen. Die Show nutzen sie, um ihre Größe und Macht zu demonstrieren. Damit treffen sie aber nur die Kinder, die das auch bemerken. Peter merkt genau, warum sie eine Show daraus machen, die Dienste zu verteilen. Es ist deren wöchentliche Gelegenheit, Kommentare und Schimpfworte an uns zu richten. Damit treffen sie uns. Damit lösen sie Hass aus. Die gehässige Art, wie Hennings Hartmut „Pisser“ nennt, ihn bis zum Schluss warten lässt, um ihm dann den Dienst zu geben, den keiner machen möchte, verpasst Hartmut jeden Freitag einen neuen Schlag. Alle anderen Kinder nennen ihn weiter „den Pisser“. Hennings gibt „dem Pisser“ den verhassten Abspüldienst in der Küche. Das macht er mit der gehässigen Bemerkung „damit du mal was anderes zu tun hast“, und „Zischen ist besser als Pissen!“. So fordert er die anderen Kinder vom Küchendienst auf, sich dem zischenden Schlagen der Köchin mit feuchten Abtrockenhandtüchern jederzeit anzuschließen, damit Hartmut viel arbeitet und „parriert“. Beide Männer haben die Macht, uns während der Erledigung der Dienste zu kontrollieren. Das tun sie, indem sie uns aufeinander hetzen. Deren Ordnung nehmen wir an. Verstehen tun wir sie nicht.

Reicht den beiden ihre Hetze gegen Hartmut nicht. Zwingen sie ihn, den Hof nochmal zu rechen. Auch ich muss oft zusätzliche Aufgaben erfüllen. Sie werden mir spontan aufgetragen. Wenn ich einem der Beiden begegne, schicken sie mich nochmal in die Küche zum Abspülen oder in den Keller zum Aufräumen im Lager. Oft habe ich das Gefühl, dass sie mich zur Wiederholung einer Arbeit nicht wegen meiner schlechten Arbeitsergebnisse zwingen, sondern um deren Überlegenheit zu demonstrieren.

Während Hennings im Affekt handelt, ist Büchtler extrem launisch. Er ist besessen von der Idee so häufig wie möglich Macht zu demonstrieren. Fühlt er sich in seiner Ehre und seiner Machtposition als Buchhalter, stellvertretender Heimleiter und Mann durch ein Kind wie mich verletzt, schlägt er aus der Laune heraus zu. Fühlt er sich einmal provoziert, lässt er nicht mehr ab. Deshalb sind Peter und ich immer auf der Hut vor Büchtler. Er hat uns in der Hand hat. Das lässt er uns spüren. Er tut das, indem er Dienste beliebig oft wiederholen lässt, das Abendessen streicht, mich ins Zimmer schickt. Es ist sehr wichtig, Büchtler und Hennings immer dann aus dem Weg zu gehen, wenn keine unbedingte Pflicht besteht, ihnen unter die Augen zu treten. Das beste ist es, nachmittags und am Wochenende so schnell wie möglich in unsere Verstecke zu verschwinden.

Der Chef ist heute nicht in der Firma. Wegen Terminen mit Auftraggebern ist er unterwegs. Deshalb fühle ich mich unbeobachtet. Deshalb scheint mir heute die Atmosphäre in der überhitzten Produktionshalle angenehmer als sonst. Es stört nicht, dass ich zur Abfüllanlage mit leeren Händen zurückkomme. Wegen meiner Gedanken und Erinnerungsversuche vergesse ich die einfachsten Dinge in der Fabrik. Deshalb schlendere einfach zurück in das Lager zu Jo. Von ihm lasse ich mich mit einer Palette leerer Duschbadflaschen ausstatten. Gelangweilt schleiche ich mit dem Hubwagen an deckenhohen Stapeln von Kartons und Verpackungsmaterial vorbei, zurück zur Produktionshalle.

Ich bin wieder im Matratzenlager auf dem Speicher im Oberlehen. Ich liege dort oben neben Peter auf einer alten Matratze. Es ist Sommer. Es ist heiß. Es müffelt nach alten Matratzen und den uralten Balken des Dachstuhls. Durch das winzige Fenster im Dachgiebel, es liegt hinaus Richtung Untersberg und Markt Berchtesgaden, fallen feine Sonnenstrahlen. Sie durchleuchten den riesigen Speicher und malen gerade Striche in den Staub der Luft. Peter hat das Fenster gekippt. Er richtet sich auf der Matratze neben mir auf und pafft an einer Zigarette. Den Qualm bläst er durch den Fensterspalt nach draußen. Es gelingt ihm nicht, alles hinaus zu blasen. In den Sonnenstrahlen sehe ich Staub und Rauch langsam den langen Speicher entlang der links und rechts gestapelten Matratzen, durch den Raum ziehen. Peter bläst jetzt Rauchringe in die staubige Speicherluft. Er spricht heute sehr langsam, beinahe bedächtig.
“Du musst versuchen, deine Wut über Büchtler zu vergessen. Irgendwie musst du das schaffen! Ich rate es dir. Tu so, als hätte dir Büchtler das blaue Auge niemals geschlagen! Darüber wütend zu sein, nützt dir nichts! Es kostet dich nur sehr viel Energie. Die Energie, die du heute in deinen Ärger über die Macht dieser Männer steckst, ist verpulvert für nichts. Vergiss deshalb möglichst schnell alles, was hier täglich passiert. Du musst Energie sparen. Deine Energie brauchst du, wenn du hier entlassen wirst!”

Peters Logik kann ich nicht folgen. Ich kann ein angeschwollenes Auge in meinem Gesicht nicht einfach vergessen. Trotzdem nicke ich. Trotzdem stimme ich Peter zu. Ich will mehr von ihm hören. Peters Worte strahlen Kraft und Sicherheit aus. Sie helfen mir, über das brutale Zuschlagen von Büchtler hinweg zu kommen. Sie helfen mir, denn sie klingen vernünftig. Ich kenne das aus der Schule. Worte die vernünftig klingen, die ich aber nicht ganz verstehe, höre ich dort gerne. Mit Peters Worten ist es das gleiche. Weil Peter sie ernsthaft vertritt, weckt er mein Interesse und beruhigt mich. Ich nehme ihn ernst, wie meine Lehrerin und meinen Lehrer, aber ich verstehe eben nicht alles.

Peter durchschaut unser Kinderheim. Ich bin der einzige, den er daran beteiligt. Peter denkt an die Zukunft. Ein Wort, das ich aus seinem Mund zum ersten Mal höre. Er glaubt an seine Zukunft. Er ist überzeugt, dass es eine Zukunft ohne die beiden Männer Hennings und Büchtler gibt. Die Zukunft bereitet er in seinem Kinderkopf vor. Für seine Zukunft will Peter “Energie sparen”.

Mit meiner Palette von Kartons leerer Flaschen komme ich wieder an der Abfüllmaschine an. Erst heute, ich glaube es ist in dem Moment, als ich den grünen Startknopf der Abfüllanlage betätige, wird mir klar, dass Peters Denken im Oberlehen hilft, es dort auszuhalten. Durch ihn weiß ich, dass wir am Oberlehen jahrelang erwachsenen Männern unterworfen sind, die nicht vernünftig sind, wie es erwachsene Menschen sein sollten. Peter ist schockiert über diese Erkenntnis. Er erwartet von erwachsenen Menschen Vernunft und Köpfchen. Das ist Peters kindliche Vorstellung von Erwachsenen. Peters Vater und diese beiden Männer zerstören seine Vorstellung radikal. Erwachsene Männer am Oberlehen sind nicht vernünftig, sondern sie denken vor allem an sich selbst. Dass sie Verantwortung für Kinder übernommen haben, ist ihnen lästig. Peter begreift das. Kinder am Oberlehen können nichts von all dem begreifen. In meiner Kindheit ist es für mich an dem Ort, wo ich bin, einfach so wie es ist. Es ist am Oberlehen einfach so, wie es ist. Wir sind Kinder und diese Männer sind die Erwachsenen, mit denen wir leben müssen.

Genauso wie ich, spürt Peter jahrelang seinen Ärger über die beiden Männer. Aber dabei belässt er es nicht. Er geht einen Schritt weiter. Peter denkt über etwas nach, worüber Kinder nicht nachdenken. Er versucht zu begreifen, warum es am Oberlehen ist, wie es mit diesen beiden Männern ist. Weil ein Kind das nicht begreifen kann, nimmt Peter seine Erinnerung an das eine Jahr, das er bei seinem Vater erlebt hatte zur Hilfe. Das bringt ihn auf die Idee, wie das Oberlehen und diese beiden Männer zu begreifen sein könnten.

Sie tun einfach nur, was ihnen persönlich recht ist. Sie tun, was sie für richtig halten. Vor allem tun sie das, was ihre Bedürfnisse und Meinungen befriedigt. Auch wenn sie für Kinder am Oberlehen verantwortlich sind, tun sie nur das. Am nächsten ist ihnen, so zu sein und zu leben, wie sie sind: Brutal, Gewalttätig und dumm. Hennings und Büchtler verstehen ihre Aufgabe am Oberlehen anders als Peter und ich es uns wünschen. Auch Peters Vater war anderes näher gewesen, als sich um das Kind zu kümmern.

Nach den ersten drei Duschbadflaschen schlage ich kräftig auf den roten Knopf. Die Abfüllmaschine stoppt, das Förderband hält an. Die Akkordarbeiterinnen, in den weißen Kitteln, stehen wie jeden Tag am Ende des Bandes. Sie warten dort auf die gefüllten Flaschen. Jetzt sehen sie mich überrascht an. Ich habe mir von Jo die falschen Flaschen geholt. Sie sind zu klein. Die ersten drei abgefüllten Flaschen laufen deshalb über. Das Transportband ist verschmiert mit grünem Duschbad. Mein schneller Schlag auf den roten Notknopf kann das nicht verhindern. Die Produktion muss ruhen. Die Anlage muss gereinigt werden.

Heute ist nicht mein Tag. Zumindest nicht für die Fabrikarbeit. Der Chef ist aber nicht da, deshalb macht mir das nichts aus. Schnell schnappen sich die Frauen große, weiße Tücher. Damit wischen sie das Förderband ab. Das gleicht einer Sisyphusarbeit, weil das Plastiktransportband tausend kleine Ritzen hat, durch die grüne Brühe tropft. Während die Frauen putzten, ziehe ich erneut mit dem Hubwagen scheppernd über die Steinplatten Richtung Lagerhalle zu Jo.

Von Erwachsenen erhofft sich Peter Gerechtigkeit. Dass Erwachsene brutal wie Hennings und Büchtler auf Kinder einschlagen, weil ihnen ihre eigenen Interessen am nächsten sind, bleibt für Peter unbegreiflich. Deshalb sucht er fieberhaft nach Erklärungen. Weil er bei seinem Vater eine gewalttätige Welt kennen lernen musste, war er in das Oberlehen gekommen. Er hofft, dass der Umgang von Hennings und Büchtler mit Kindern nicht normal sein könnte. Auch die Gewalt seines Vaters begriff er als nicht normal:
“Wir müssen vernünftige Erwachsene werden, trotz Hennings und Büchtler. Wenn das hier alles vorüber ist, dann müssen wir noch Energie zum Leben haben.” Ich lausche Peters Worten, die klingen wie ein Resümee, das er aus dem Leben bei seinem Vater und unserem Leben am Oberlehen zieht. Er ist einer, der die Hoffnung nie aufgibt.

19. Schießstand

Hennings ist leidenschaftlicher Jäger. In der Nähe des Obersalzberges, wenige Kilometer entfernt in der Oberau, unterhält er ein privates Jagdgebiet. Dorthin fährt er regelmäßig mit dem roten Kleinbus des Kinderheimes. Dort erlegt er Hirsche und Rehe. Von dort stammen die Felle und Geweihe in seinem Wohnzimmer.

In einer Nacht, Jahre nachdem mich Michael der Berliner in der Toilette wegen seines frisch lackierten Fahrrades verprügelt hatte, liege ich oben in meinem Stockbett und schlafe. Plötzlich wache ich auf. Hartmut höre ich unten im Stockbett schnarchen. Von Peter höre ich nichts. Den Wasserhahn in der Ecke höre ich leise ins Waschbecken tropfen. Von draußen schimmert durch das milchige Türglas Licht herein. Es ist eine helle Mondnacht. Gegenüber an der Wand erkenne ich die Umrisse von Peters Stockbett. Oben schläft Peter, er liegt verkrochen unter seiner Bettdecke. Nichts rührt sich, ich höre keine Geräusche, nur das Schnarchen und den Wasserhahn. Die Uhrzeit kann ich nicht feststellen, ich besitze keine Uhr. Hartmut hat eine Uhr. Aber er steckt den Arm immer so unter sein Kissen, dass ich die Zeit an seiner Armbanduhr nicht ablesen kann. Ich weiß nicht, warum ich aufgewacht bin. An einen Traum erinnere ich mich nicht. Deshalb drehe ich mich zur Seite und versuche weiter zu schlafen.

Plötzlich höre ich Geräusche von draußen. Es sind Stimmen. Ich glaube, sie stammen von erwachsenen Männern, die sich laut unterhalten. Jetzt höre ich Gelächter. Ich hebe den Kopf, um besser hören zu können. Doch die Geräusche sind schon verstummt. Ich glaube, eine Tür war kurz geöffnet worden und ist nun wieder zugefallen. Den Lärm der Erwachsenen habe ich deshalb nur ganz kurz über den Hof bis in unser Zimmer gehört. Das denke ich und ich denke auch, dass sich im Haupthaus gegenüber etwas abspielt. Deshalb drehe ich mich um. Ich sitze und stütze mich auf meine Ellenbogen. Ich konzentriere mich auf weitere Geräusche. Nichts, nur der tropfende Wasserhahn und gleichmäßiges Schnarchen. Ich sehe hinüber zu Peter. Jetzt erkenne ich, dass auch er wach ist. Er sitzt wie ich in seinem Bett.
“Haste das gehört?”
Ich nicke und frage:
“Waren das Stimmen von drüben?”
“Glaub schon, da scheint irgendwas los zu sein.”
“Was kann da los sein? Welche Leute lachen und quatschen da drüben mitten in der Nacht so laut?”
“Keine Ahnung, wahrscheinlich veranstaltet Hennings wieder irgendeine Sauferei.”

Ich habe Hennings schon öfter nachts draußen im Hof laut und unkontrolliert herum brüllen gehört. Meist kommt Büchtler dazu und versucht Hennings zu beruhigen. Nur selten gelngt ihm das, weil er Hennings immer laut und vorwurfsvoll anbrüllt, wenn der besoffen ist, worauf Hennings stets mit noch lauterem Geschrei reagiert. Einmal, es war auch mitten in der Nacht, hatten Peter und ich einen Streit zwischen beiden ganz nah verfolgt. Hellings Stimme hörte sich unkontrolliert, tief und lallend an. Auf dem kalten Holzboden, vor unserer Zimmertüre kniend, versteckten wir uns unter der Holzbrüstung und hörten beiden zu. Plötzlich verpassten sie sich knallende Ohrfeigen. Wir wagten es nur einmal für Sekunden, über die Brüstung zu blicken. Ich sah, dass Hennings auf dem Kies im Hof am Boden lag. Büchtler stand vor ihm. Er sagte etwas, das ich nicht verstand. Schließlich verschwand Büchtler im Haupthaus. Hennings blieb im Hof liegen. Peter und ich schlichen leise zurück in unser Zimmer zurück. Am nächsten Morgen lag Hennings nicht mehr da.

“Sollen wir mal schauen, was da drüben los ist?”
Meine Frage meine ich nicht ernst, denn ich habe Angst.
“Meinst du das ernst oder soll das ein Witz sein?”
Peter kennt mich gut. Er weiß, dass ich ein Angsthase bin. Ich bin von mir selbst überrascht. So etwas Mutiges frage ich sonst nie. Wegen Peter glaube ich, dass der Sinn unseres Lebens am Oberlehen auch ist, zu lernen mutiger zu werden. Er ist mutiger als ich. Ich versuche, das zu übernehmen.
“Na klar ist das ernst gemeint. Wir sollten uns leise rüber schleichen und einfach mal sehen, was da drüben vor sich geht!”
“Ok!”
Das sagt Peter sofort.
“Aber Vorsicht, wir dürfen uns von niemandem erwischen lassen. Auf Prügel von Hennings und Büchtler bin ich heute nicht mehr scharf!”

Peter steigt langsam aus seinem Stockbett. Hartmut röchelt unten weiter. Auch ich steige aus meinem Bett. Mein Körper zittert, mir ist sehr heiß. Wir ziehen unsere Schlappen über. Peter hebt die Türklinke mit beiden Händen an, dann reißt er die Tür schnell auf. Deshalb quietscht sie nur kurz. Die Nacht ist sehr frisch. Mein Zittern und Schwitzen wegen meiner Angst, geht in ein Frösteln über. Drüben im Haupthaus sehe ich, dass hinter der gläsernen Eingangstür Licht schimmert. Wir bücken uns unter die hölzerne Brüstung. Peter zieht unsere Zimmertüre wieder zu. Beim Schließen quietscht sie nicht. Wir bleiben in der Hocke hinter der Brüstung. Peter geht voraus. Die Holztreppe arbeiten wir uns gebückt hinunter. Sie endet an der betonierten Terrasse neben dem Hof. Dort verharren wir gebückt hinter dem Treppengeländer.

Im Hof unter der Eiche sehen wir keinen Menschen. Die Nacht ist klar. Der Mond scheint so hell, dass ich ein paar Papierschnipsel auf dem Kies erkenne. Auf ein Startzeichen von Peter überqueren wir schnell den Hof. Mein Herz rast. Am Hals spüre ich das Blut in den Adern pulsieren. Mir ist wieder heiß, mein ganzer Körper zittert. Das ist Mut, denke ich. Wir wagen es zu schauen, was Hennings mitten in der Nacht für einen Lärm im Haupthaus macht! Noch bevor wir an der Milchglastür ankommen, hören wir das laute Lachen mehrerer Erwachsener. Ich zucke zusammen, mein Mut verschwindet sofort. Jetzt würde ich gerne über den Hof zurück rennen und oben in unserem Zimmer unter meiner Bettdecke verschwinden. Ich kenne das. Ich wünsche immer, nicht dabei zu sein. Am nächsten Tag, wenn alles gut überstanden ist, bin ich froh, mitgemacht zu haben.

Wir stehen vor der Milchglastür. Langsam öffnet Peter die Tür, das Licht im Eingang brennt. Links neben der Tür führt eine steile, dunkle Steintreppe hinunter in den Keller. Von dort tönen Stimmen und Lachen herauf. Ich erkenne die Stimme von Hennings.
“Pass auf, den knall ich ab!”
Ich glaube, er ist wieder betrunken, denn in seiner Stimme schwingt dieses tiefe Lallen. Zweimal hintereinander kracht es laut. Ich erschrecke und zucke zusammen. Auch Peter erschrickt. Er lässt die Glastür zufallen. Sie klappert ins Schloss. Genau in diesem Moment knallt es noch ein drittes mal aus dem Keller herauf.

“Sollen wir wirklich da runter schauen?”
Meine Stimme bebt vor Angst. Von unten höre ich Hennings lachen. Peter nickt, zieht die zugefallene Glastür langsam wieder auf. An der Kellertreppe sehe ich Rauchwolken heraufziehen. Es stinkt wie an Silvester. Auf meine Frage erhoffte ich von Peter ein klares “Nein”. Meine Knie zittern heftig. Ich weiß nicht, wie lange ich mich noch auf sie verlassen kann. Ich stehe neben Peter an der Treppe. Vorsichtig steige ich die ersten beiden Stufen hinunter. Weil ich auf den Stufen abrupt stehen bleibe, sieht Peter mich fragend an. Jetzt erkennt er die Angst in meinem Gesicht.
“Nein, lassen wir das Ganze lieber.”
Peter drückt entschlossen an meinem Arm. Er schiebt mich die beiden Stufen hinauf und durch die Tür hinaus auf den Hof. Aus dem Keller knallen zwei weitere Schüsse. Ich spüre Erleichterung. Schnell tapsen wir über den Kies zurück zur Holztreppe am Nebenhaus. Gebückt arbeiten wir uns hinter der Holzbalustrade die Treppe hinauf zu unserer Zimmertür. Wir sind noch nicht ganz an der Tür angelangt, da hören wir Hellings lallende Stimme. Er spricht mit einem Begleiter. Es ist nicht Büchtler, sondern es scheint einer seiner Jägerfreunde zu sein. Wie erstarrt knien Peter und ich hinter der Brüstung. Wir hören die Schritte der Männer im Kies. Sie laufen über den Hof. Sie kommen sehr schnell näher. Hoffentlich steigen sie nicht die Treppe hinauf. Jetzt stehen beide direkt unter, nahe der Eingangstür zu Hellings Wohnung.
“Der letzte war doch a besonders guater Schuss, oder?”
Ich höre die quietschende Wohnungstüre. Sie fällt laut ins Schloss. Im Hof ist es still. Gebückt tapsen wir unter der Holzbalustrade weiter bis zu unserer Zimmertüre. Peter drückt die Klinke langsam runter und öffnet leise die Tür. Schnell verkriechen wir uns in unsere Betten.

Ich atme tief durch, Ich bin sehr froh, dass Peter meine Angst auf der Kellertreppe erkannt hat und wir nicht weiter runter gegangen sind. Hennings hätte uns erwischt. Peter flüstert zu mir:
“Ich glaube, dass Hennings im Keller mit seinem Jägerfreund einen Schießstand aufgebaut hat. Morgen früh, wenn wir im Keller unsere Jacken und Schuhe anziehen, schauen wir uns das einfach mal genauer an. Wir haben mords Glück gehabt, dass wir schnell umgedreht sind, sonst wären wir jetzt erledigt.”

Was Peter meint ist klar, wir wären Hennings direkt in die Arme gelaufen, so schnell wie der plötzlich mit dem anderen Mann im Hof war. Was Peter morgen im Keller genauer anschauen will, kann ich mir nicht vorstellen, der Rauch da unten ist bis morgen doch längst verzogen.

20. Freiwild

Am nächsten Morgen, als Hennings uns weckt, ist es wie jeden Morgen. Hennings lässt nicht erkennen, dass er eine schwere Alkoholnacht mit Schießstand im Keller hinter sich hat. Um sechs Uhr reißt er unsere Zimmertüre auf.
“Aufstehen ihr Penner, is schon sechse!”
Er tritt vor Hartmuts Bett, reißt ihm die Bettdecke vom Leib.
“Hier stinkt es wieder wie die Sau! Raus aus der Kiste du Pisser!”
Hartmuts Decke wirft er wütend in der Mitte des Zimmers auf den Fußboden. Er verlässt unser Zimmer und knallt die Milchglastür hinter sich zu. Im Zimmer stinkt es unerträglich. Die Klingeldecke von Hartmut hat nachts versagt. Hartmut nässt nur noch selten ein. Er hat vergessen, sie am Vorabend einzuschalten. Sobald Hartmuts Bett feucht wird, geht ein lauter Heulton los. Der Ton ist so unangenehm, dass ich nachts davon aufschrecke. Deshalb ziehe ich mir meine Decke stets bis über die Ohren. So höre ich den Ton nicht ganz so laut. Peter stopft sich manchmal sogar Toilettenpapier in die Ohren.

Ich glaube Hartmut leidet immer noch sehr unter seiner Einnässerei. Der Ruf des “Pissers” ist schmerzlich für ihn. Das sehe ich Hartmut an. Er sieht traurig und verbittert aus. Auch mit uns, seinen Zimmerkameraden hat er es nicht leicht. Von uns hört er keine gut gemeinten Worte, weil uns der nächtliche Krach von seiner Klingeldecke und der Gestank seiner verpinkelten Bettwäsche am Morgen nervt.

Hartmut geht es sehr schlecht im Oberlehen. Wenn draußen Fußball oder anderes gespielt wird, hat Hartmut keine Chance in eine Mannschaft aufgenommen zu werden. Wenn sich samstags, nach dem Frühstück alle Kinder im Hof jeweils zu zweit aufstellen, weil wir hinunter in den Ort ins Hallenbad marschieren, ist Hartmut der einzige, der allein da steht. Weil er von Hennings und Büchtler den Namen “Pisser” bekommen hat, schimpft ihn jeder am Oberlehen mit diesem Namen, und deshalb mag ihn keiner.

Büchtler und Hennings finden das gut. Schließlich haben sie ihm diesen Namen gegeben. Sie wollen, dass Hartmut es schwer hat. Sie wollen, dass er von allen Kindern zum Buhmann gemacht wird. Das funktioniert. Wenn im Oberlehen irgendetwas vor fällt, wenn etwas gestohlen oder zerstört wurde, und ein Schuldiger gesucht wird, fällt der Verdacht immer zuerst auf Hartmut. Alle Kinder am Oberlehen machen sich einen Spaß daraus, Hartmut zu beschuldigen, sie fragen sich untereinander:
“Vielleicht hat es ja mal wieder unser kleiner Pisser getan?”

Deshalb hat Hartmut keine Freunde. Deshalb spricht er kaum. Er zieht sich zurück. Er versucht, so wenig wie möglich aufzufallen. Bei Besprechungen, abends in der Gruppe im Gruppenraum, sagt er nichts. Er sitzt immer in einer Ecke und schweigt. Auch seine Hauswirtschaftsdienste erledigt er schweigend. Mit ihm gemeinsam will niemand einen Haushaltsdienst machen. Meist teilen Hennings oder Büchtler zwei Kinder für den Küchendienst, das Mülleimer leeren, das Fegen im Haus, oder die Sauberkeit ums Haus ein. Freitags nach dem Abendessen, bei der Verteilung der Dienste, meldet sich kein zweites Kind, um mit Hartmut einen Dienst gemeinsam zu machen.

Büchtler oder Hennings bemühen sich nicht, es Hartmut leichter zu machen. Sie tun das Gegenteil. Freitags müssen alle Kinder so lange nach dem Abendbrot am Tisch sitzen bleiben, bis auch für Hartmut ein Partner für einen Hausdienst gefunden ist. Hennings und Büchtler machen Hartmut zu einer Strafe für alle Kinder.

Es geht ihnen nicht um Gleichbehandlung, wie es der Stil der alten Heimleiterin gewesen war. Es geht ihnen darum, Hartmut fertig zu machen, denn sie lassen der Gehässigkeit auf Hartmut freien Lauf. Die beiden Männer wollen, dass Hartmut ein Außenseiter ist. Sie wollen, dass ein Kind, das mit ihm zusammen einen Dienst bekommt, sich bestraft fühlt. Hennings und Büchtler üben Kontrolle am Oberlehen aus. Sie erreichen, dass wir menschenverachtend miteinander umgehen. Schwächere werden gnadenlos bestraft, denn sie sind nichts wert. Sie können grenzenlos beleidigt und missachtet werden. Es ist ein Makel, wenn man sich mit dem wertlosen „Pisser“ abgibt. Hennings und Büchtler suchen Kinder wie Hartmut, um Schuldige an allen erdenklichen Missgeschicken, an Zerstörungen oder Diebstählen zu haben.

Peter erklärt mir, dass es volle Absicht von Hennings und Büchtler ist, Hartmut zu einem Menschen zu machen, der getreten und ignoriert wird.

Sie wollen das, lösen es aus und unternehmen alles, damit es so bleibt. Sie beschäftigen uns damit, genauso auf Hartmut einzutreten, wie sie es tun.“

Wer im Oberlehen schwach ist, weil er Bettnässer ist, wird in der Gruppe vorgeführt. Er wird von Erwachsenen zum Abschuss freigegeben. Hennings und Büchtler kontrollieren und herrschen, indem sie uns damit beschäftigen, uns gegenseitig anzufeinden. Das ist einfach und es funktioniert. So verhindern Hennings und Büchtler zu Feindbildern zu werden. Schwächere sind Störenfriede und stets schuldig.

Wir lernen, dass es immer einen Schuldigen geben muss. Wer einmal der Schuldige ist, bleibt es. Wir erniedrigenden uns gegenseitig und dreschen die Slogans von Hennings und Büchtler nach. Wer Kinder wie Hartmut lautstark beschimpft, wer sich über sie lustig macht, dem ist Anerkennung aus der Gruppe sicher. Wer gemeine Sprüche für solche Kinder erfindet, auf dessen Seite ist das Lachen der Gruppe.

Hennings und Büchtler schweigen nicht nur, sondern sie beteiligen sich. So lernen wir, dass Anerkennung erreicht, wer andere beleidigt, beschimpft, erniedrigt, unterdrückt, lächerlich macht und wie Michael verprügelt. Wer in deren Chor einstimmt, verschafft sich neben Anerkennung in der Kindergruppe die Sympathie von Hennings und Büchtler. Wer deren Sympathie hat, schützt sich vor deren unberechenbaren Übergriffen.

Am Oberlehen entsteht ein Gefühl von Zusammengehörigkeit. Weil es schwarze Schafe gibt, auf die jedes Kind eintreten darf, ist Ordnung in der Gruppe gewährleistet. Gewaltausbrüche von Büchtler oder Hennings, wie Büchtlers Faustschläge im Sandkasten, werden ohne Aufruhr akzeptiert. So etwas gehört halt mal zum Alltag am Oberlehen, denn es trifft eh immer nur diejenigen am härtesten, die ohnehin schuldig sind. Zu denen gehöre ich, deshalb schlafe ich im Zimmer des „Pissers“.

Streitereien mit Hennings und Büchtler, die rein mit Worten geführt werden, gibt es praktisch nicht. Peter erkennt einen Grund dafür:
“Die beiden sind einfach dumm. Ihre Wortwahl ist immer dieselbe. Sie scheinen keine anderen Worte zu kennen. Vielleicht können sie gar nicht richtig mit uns reden. Deshalb schlagen sie zu.”
Heimleiter Hennings und Buchhalter Büchtler schlagen wegen ihrer Sprachlosigkeit zu. Sie werden wütend, weil sie nicht wissen, was sie sprechen sollen. Die Idee gefällt mir.

Hartmut leidet. Er hat keinen Freund im Oberlehen. Hartmuts aufgeweckter, kindlicher und bübchenhafter Gesichtsausdruck weicht mit den Jahren einer kalten Erschrockenheit. Freitags im Speisesaal brüllt Hennings Hartmut an:
“Du kleiner Pisser! Du machst diese Woche den Dienst in der Waschküche. Da kannst du deine Pisse riechen!”
HellingsWorte begleitet das spöttische Lachen der Kinder am Abendbrottisch.

Ich sehe Hartmuts Gesichtsausdruck: Erstarrt in Traurigkeit. Das bleibt so bis zum Schluss. Ich sehe Hartmut nie mehr lachen. Ich habe ihn nur in den ersten Wochen am Oberlehen lachen sehen. Hartmuts Blick wird immer starrer, bis er ihn kaum mehr verändert. Hartmut ist ein Kind, aber er sieht aus, wie ein alter, verbitterter Greis. Sein kleines rundliches Gesicht, mit der rundlichen kurzen roten Nase und seinen schmalen, pfiffigen Augen ist matt geworden. Hartmuts kindliche Wachheit ist wegen ein paar gezielter Worte der beiden Männer zerstört. Hartmuts Augen blicken starr und regungslos vor sich hin. Was über ihn gesprochen wird, wie er behandelt wird, frisst er schweigend und regungslos in sich hinein. Auf Beleidigungen und Angriffe reagiert er nicht. Was Hartmut denkt, kann ich in seinem starren Gesicht nicht erkennen.

Hartmut versteckt sich vor jedermann. Nachmittags verschwindet er im Wald. Dort ist er stets allein unterwegs. Er versteckt sich irgendwo und erscheint pünktlich, abends um fünf Uhr zum Schuhe putzen im Keller. Wenn es nachmittags regnet, sitzt er nach den Hausaufgaben im Gruppenraum in einer Ecke. Er tut nichts und spricht nichts. Er kauert dort und ist froh, wenn ihn keiner anspricht. Bei keinem Spiel macht er mit. Er wird von niemandem gefragt, ob er Lust hätte mitzumachen. Mit dem “Pisser” will niemand was zu tun haben.

Eines Nachmittags treffen wir Hartmut im Wald oberhalb des Oberlehens. Mit gebasteltem Pfeil und Bogen streifen Peter und ich durch Laubbüsche. Überraschend sehen wir Hartmut wenige Meter vor uns. Er sitzt am Rand einer kleinen Erdmulde an einem Baum gelehnt und blickt hinunter nach Berchtesgaden. Peter und ich gehen in die Hocke und beobachten ihn. Er bewegt sich nicht. Er sitzt mit verschränkten Armen und tut nichts. Er blickt über das Tal hinüber zum Untersberg. Von der Seite erkenne ich seinen starren Blick. Er wirkt regungslos und versteinert. Das erinnert mich an einen alten, verbitterten Indianer, der sein Tal überblickt und über sein zerstörtes Land und Leben nachdenkt.

Jahrelang denken wir nicht daran, mit Hartmut zu sprechen. Mit ihm verspüre ich kein Mitleid. Peter flüstert in mein Ohr:
“Ich glaube, man müsste sich um diesen Hartmut kümmern.”
Das erkennt Peter, nachdem wir jahrelang in einem Zimmer nebeneinander her gelebt haben. Ich erkenne es überhaupt nicht. Ab dem nächsten Tag sitzt auch Hartmut mit in unserem Versteck. Es ist der Tag, an dem Peter beginnt, sich in einem gestohlenen Schreibheft aus der Schule manches aufzuschreiben, das wir im Versteck auf dem Speicher miteinander besprechen.

Im ersten Gespräch mit Hartmut im Versteck reden wir darüber, dass Hartmut jahrelang in unserem Zimmer geschlafen hat und wir ihn niemals in unsere Gespräche miteinbezogen haben. Peter sagt, dass ihm das Leid tut. Er habe Hartmut jahrelang missachtet. Wir beide, Peter und ich, wären jahrelang auf der Welle der Ablehnung mit geschwommen. Das hatten die beiden Männer ausgelöst. Jahrelang hätten wir auf Hartmut nicht anders reagiert. Wir waren nicht besser mit ihm umgegangen, als alle anderen Kinder im Oberlehen. Was Hennings und Büchtler anrichten, erklärt Peter, dafür falle ihm nur das Wort “unmenschlich” ein. Unmenschlich daran ist, dass wir Kinder jahrelang auf engem Raum zusammenleben und dabei doch nichts anderes miteinander zu tun haben, als uns gegenseitig zu bekriegen, anstatt Freundschaften miteinander zu schließen. Lange Jahre waren wir zu keinem Angebot an Hartmut in der Lage. Erst an diesem Nachmittag, auf dem Dachboden, lassen wir Hartmut an unserer Freundschaft teilhaben.

21. Löcher

Vor dem Frühstück biegen Peter und ich, anstatt geradeaus in den großen Speisesaal zu gehen, nach links die Kellertreppe hinunter. Unten riecht es nicht mehr nach verbranntem Pulver. Die hintere Kellertür steht offen. Frische Luft zieht in den Keller. Peter knipst das Licht an. Auf den ersten Blick sehen wir keine Spuren. Die Vorgänge der vergangenen Nacht scheinen ungeschehen. Unsere Jacken hängen an ihren Haken, die Schuhe stehen sauber aufgereiht, alles sieht aus, wie gewohnt. Peter streift mit einer Hand die gelben Regenjacken entlang. Ich bin enttäuscht von der alltäglichen Disziplin, welche die ordentlichen Schuhreihen und gelben Jackenreihen ausstrahlen. Ich hoffe an diesem Morgen das absolute Chaos in unserem Bekleidungskeller anzutreffen. Ich erhoffe mir, sehen zu können, was Hennings und sein Jägerfreund nachts im Keller angerichtet haben. Ich hoffe auf einen verwüsteten, von Gewehrschüssen zerschossenen Raum. Stattdessen hängt und steht alles ordentlich aufgereiht wie jeden Tag.

Keine Spuren vom Lärm der vergangenen Nacht. Vielleicht habe ich von der Knallerei nur geträumt? Vielleicht habe ich von einer wilden Jägerschießerei in unserem Kleiderkeller geträumt, weil ich Hennings und Büchtler so hasse. Vielleicht habe ich davon geträumt, dass Peter und ich nachts leise über den Hof tapsen, im Dunkeln an der Kellertreppe stehen und Schüsse aus dem Keller hören. Vielleicht haben wir nachts gar kein verbranntes Schießpulver an der Treppe gerochen. Dann zitterte ich in der Nacht auch nicht ängstlich auf den ersten Kellertreppenstufen, dann hörte ich Hellings betrunkene, lallende Stimme gar nicht dröhnen. Weil ich das denke, sage ich zu Peter:
“Komm Peter, wir gehen lieber schnell nach oben zum Frühstück.”
Peter nickt. Ich glaube, auch er zweifelt an dem Vorfall der vergangenen Nacht in diesem Keller.

Ich stehe auf den ersten Stufen der Kellertreppe hinauf zum Speisesaal. Peter streift noch mal über eine Reihe gelber Gummijacken. Da fällt etwas herunter. Es schlägt auf dem steinernen Kellerfußboden auf. Das klirrt metallisch. Es ist ein helles, rundes Metallteil. Es rollt auf dem schwarzen Steinboden, an der Linie grüner und gelber Gummistiefelspitzen vorbei. Langsam tapse ich die ersten Treppenstufen wieder hinunter. Vor einer grünen Gummistiefelspitze sehe ich die Metallkapsel. Peter hebt das Ding auf. Es ist eine Patronenhülse, die da auf dem schwarzen Steinboden liegt. Unser gemeinsames Erlebnis der vergangenen Nacht, an dem wir gerade gezweifelt haben, entpuppt sich als die Wirklichkeit.

Vom Treppenabsatz schaue ich zu Peter. Der nimmt die gelbe Regenjacke, hinter der das Metallteil heruntergefallen war vom Haken. Da fällt ein Brocken Mörtel von der Wand und prallt auf den sauberen, schwarzen Steinboden. Beim Aufprall zerbröckelt er in tausende größere und winzigste Stückchen. Sie flitzen auf dem glatten Boden entlang. Die saubere Disziplin geradliniger Kinderschuhreihen auf dem hochglanzpolierten, dunklen Steinfußboden ist vorbei. Wir nehmen mehr und mehr Jacken vom Hacken, überall bröckelt es wegen Einschusslöchern. Den Fußboden und unsere sauber geputzten Schuhe bedeckt zerborstener Mörtel.
“Die haben hier tatsächlich herum geballert! Das haben wir also nicht geträumt”, flüstert Peter ungläubig. Er hängt die Jacken wieder an ihre Haken.

Nach dem Frühstück, beim Anziehen von Jacke und Schuhe, finden Peter und ich, dicht neben unseren vom Mörtel verstaubten Schuhen eine weitere Patronenhülse. Andere Kinder finden hinter ihren Jacken die Einschusslöcher. Einige Kinder haben Einschusslöcher in ihren Regenjacken. Die Jägerfreunde von Hennings haben bei ihrer Schießübung nicht dafür gesorgt, die Jacken abzuhängen.

Für Hennings ist die Meldung der Kinder, dass ihre Jacken durchlöchert sind, ohne Bedeutung. Er reagiert uninteressiert. Er macht keine Anstalten, den fragenden Kindern etwas zu erklären. Er versucht aber auch nicht, etwas zu vertuschen. Er sagt:
“Es kommt halt mal vor, dass alte Jacken löcher haben.”
Zwei Kinder, die sich mit ihren durchlöcherten Jacken bei Hennings melden, schickt er in die Kleiderkammer.
“In der Kleiderkammer gibt es genügend Jacken ohne Löcher!”

22. Rostige Nägel

Nach dem heutigen Arbeitstag, an dem ich in der kleinen Produktionsfabrik beinahe alles falsch gemacht habe, fahre ich nicht mit dem Arbeitskollegen in dessen Wagen zurück nach Berchtesgaden. Am heutigen Feierabend kann ich mich von meinen Gedanken an das Oberlehen nicht lösen. Deshalb gelang mir, an meiner Abfüllmaschine praktisch nichts. Heute ging alles was ich in der Firma angepackt habe schief. Mein Tagesergebnis ist gleich null. Der Produktion, die dem Chef so wichtig ist, habe ich heute keinerlei Nutzen gebracht. Mit mir selbst bin ich am Feierabend um fünf Uhr nachmittags trotzdem ganz zufrieden. Meine Zufriedenheit hat mit meinem heutigen Arbeitsergebnis in der Fabrik nichts zu tun. Sie hängt mit den vielen Gedanken an das alte Oberlehen zusammen, die mir während des heutigen Arbeitstages gekommen sind. Wegen meiner vielen Gedanken weiß ich, was ich morgen früh um fünf Uhr in meine braune Schreibmaschine tippen werde.

Weil der Chef heute nicht in seiner Fabrik gearbeitet hat, war ich heute Morgen ausnahmsweise selbst mit meinem Wagen zur Arbeit gekommen. Deshalb kann ich jetzt, an diesem sonnigen Feierabend, mit dem Wagen die steile Bergstraße hinauffahren. Ich habe genügend Zeit, um in aller Ruhe den Wagen die steile, kurvenreiche Straße auf den Obersalzberg zu steuern.

Weit oben, auf dem Parkplatz vor dem General – Walker – Hotel, an der breiten Höhenringstraße, die hinüber Richtung Hoher Göll und Jenner führt, stelle ich den Motor ab. Ich steige aus dem Wagen. Der Parkplatz ist voll mit japanischen und anderen asiatischen Kleinwagen. Sie alle haben amerikanische Zulassungen. Auf dem Parkplatz finde ich nur zwei große Limousinen amerikanischer Bauart. Wie in meiner Kindheit betrachte ich diese Riesen genau.

Der Parkplatz ist voll von riesigen US-Limousinen. Hennings fährt uns mit dem winzigen roten Fiatbus bis vor das Hotel. Auf dem Parkplatz steigen wir neben einer hellbraunen Riesenlimousine aus. Der rote Fiatbus sieht neben den amerikanischen Straßenkreuzern aus, wie eine Maus neben einem Elefanten. Peter ist begeistert. Wir gehen sehr langsam über den Parkplatz, denn die Autos so nah zu sehen, ist raumhaft. Ich vergesse, dass uns das eigentliche Kinderfest noch bevorsteht. Die Autos allein sind wie ein Fest.

Sieh dir den Schlitten an, der sieht genauso aus, wie der riesige Kübel in Lässie!“, ruft mir Peter zu. Tatsächlich hat er einen Kombi gefunden, der außen eine Holzverkleidung zu haben scheint. Ich sehe mir den Wagen genau an, würde am liebsten einsteigen, doch da pfeift uns Hennings, der mit einer beleibten Frau spricht, zurück. Die amerikanische Frau führt uns in den Raum, in dem sich die bunten Tortenberge für das Kinderfest stapeln.

Heute, zwanzig Jahre später, möchte ich das Hotel noch einmal betreten. Ich will versuchen, den Raum zu finden, in dem ich damals mit Peter und anderen Kindern das Kinderfest gefeiert habe. Schon stehe ich vor dem Hoteleingang. Dort lese ich ein kleines Schild.
“Entrance only for US-Military”.
Trotzdem trete ich dicht an die Tür heran. Langsam drücke ich sie auf, sie ist sehr schwer. Auf dem Fußboden liegt ein roter Samtteppich. Mein Blick liegt auf einem Paar schwarzer Lederstiefel. Es sind Militärstiefel. Langsam wandern meine Augen an diesen Stiefeln hinauf. In ihnen stecken die Beine eines Mannes. Er trägt Militärhose zu einer Uniform. Ich schiebe meinen Blick über seine graue Militärjacke, komme dort an einigen glänzenden Abzeichen vorbei, erreiche seinen schmalen Hals und lasse meine Augen schließlich an seinem fragenden Gesicht kleben. Der Mann ist Amerikaner, er spricht Englisch.

Auf der Schule habe ich jahrelang Englisch gelernt. Aber heute ist mir, als hätte es diese intensiven Lehrjahre nie gegeben. Von der Sprache, die Peter und mir damals so gut gefallen hatte, in dessen Tonfall und Unverständlichkeit wir geflüchtet waren, verstehe ich heute immer noch nichts. Ich kann dem amerikanischen Soldaten den Grund meines Erscheinens nicht erklären. Stattdessen stottere ich hilflos:
“Sorry Mister, ah Sir! I’m not able to talk to you. I think I have to leave this place. Thank you, good bye.”
Mit diesen Worten lasse ich die schwere Eingangstür vor dem Mann zufallen.

Ich bleibe noch Minuten im Wagen auf dem Parkplatz vor dem ehemaligen Platterhof sitzen. In mir spüre ich Unsicherheit. An meinem Vorhaben arbeite ich seit Wochen. Ich zweifle jetzt aber an dessen Sinn. Meine Gegenwart heute in dem Ort, in der kleinen Fabrik, an den monoton scheppernden Produktionsmaschinen sieht aus, als hätte es meine Vergangenheit am Oberlehen nicht gegeben. Es fällt mir von Tag zu Tag schwerer, meine Vergangenheit aufzusuchen.

Vor der Windschutzscheibe sehe ich eine Gruppe amerikanischer Uniformierter. Sie kommen durch die schwere Eingangstür des Hotels hinter der ich gerade den amerikanischen Soldaten gesehen habe.

Weil die Vergangenheit zu meinem Leben gehört, gehört auch die Suche nach ihr zu meinem Leben. Weil ich die Vergangenheit begreifen möchte, muss ich sie erst wieder finden. Wer finden will, muss suchen. So einfach ist, was mir so schwer zu werden scheint.

Draußen überquert die Gruppe Amerikaner die gepflasterte Straße. Jetzt verteilen sich die Soldaten auf mehrere Kleinwagen und einen der beiden großen US-Straßenkreuzer. Ich höre startende Motoren. Die große, braune Limousine rollt als erste die steile Bergstraße Richtung Berchtesgaden hinunter. Ihr folgen fünf kleine, bunte japanische Autos

Vielleicht bin ich zu spät dran? Die heutige Zeit ist bunt und vielfältig. Jetzt starte auch ich den Motor. Ich lenke das Fahrzeug über den gepflasterten Parkplatz vorbei an den vielen bunten Autos. Jetzt rollt mein Wagen die steile Bergstraße hinunter. Im zweiten Gang bremse ich mit dem Motor. Die Zeit heute ist für mich eine andere geworden. Mich interessiert trotzdem was war. Deshalb kurve ich an diesem Berg herum und suche nach Spuren meiner Vergangenheit. Deshalb mündet mein Vorhaben, in dem schönen Ort zu leben und in der kleinen Fabrik im romantischen Industriegebiet zu arbeiten, in meiner Suche auf dem Obersalzberg.

Rechts durch das Wagenfenster erkenne ich das amerikanische Erholungszentrum mit den Skiliften. Nach mehreren Kurven, noch ein gutes Stück oberhalb der Station Erika biege ich nach links ab. Es ist eine schmale Straße. Ich kenne sie. Ich überquere die Rodelbahn. Den Autofahrer mahnt auch im Sommer ein Warnschild zu Rücksichtnahme auf querende Schlittenfahrer.

Oberhalb unseres Waldes über dem Oberlehen führt diese Straße bis hinüber zur Mittelstation der Gondelbahn mit ihren roten Kabinen. Sie führt von der Schießstättbrücke im Tal hinauf bis an die Höhenringstraße am Obersalzberg. Geräuschlos gleitet eine rote Gondel über meinen Wagen hinweg. In der Gondel sitzen Menschen mit Fotoapparaten und Ferngläsern. Sie suchen in der schönen Landschaft nach Erholung.

Ich bin hier, um zu graben. Ich kann die genauen Ereignisse von damals im Oberlehen heute aber nicht recherchieren. Deshalb versuche ich zu graben, um etwas von meinem Leben am Oberlehen noch einmal zusammen zu bauen. Ich will abschließen, was bisher nicht abgeschlossen und deshalb nicht verschlossen ist. Deshalb mein gieriger, schweifender Blick.

An der Mittelstation der Gondelbahn biege ich von der kleinen Straße rechts ab. Ich fahre auf einer sehr schmalen Straße wenige Meter hinunter. Oberhalb der Gaststätte “Schöne Aussicht” stelle ich das Auto ab.

Es gibt keinen Grund an diesen Ort zurückzukommen. Ich will hier nicht arbeiten. Ich habe hier keine gute Vergangenheit verloren, die es lohnt, sie nochmal aufleben zu lassen. Die Jahre hier sind verlorene Jahre gewesen. Deshalb komme ich zurück! Was sind verlorene Jahre? Ich bin hier, um zu klären, was das ist, um auch das verlorene abzuschließen.

Deshalb will ich Teile meiner Vergangenheit so aufschreiben, wie sie mein Kopf hergibt. Ich habe eine durchlöcherte Vergangenheit. Das Oberlehen hat Löcher in meine Kindheit geschossen. Sie sind, wie der Mörtel an den Wänden im Schuhputzkeller, nach der Schießerei mit den Jagdgewehren, heraus gebrochen. Ich will die Löcher stopfen! Um mein Denken zu beflügeln, suche ich den Ort auf, an dem sich Stücke finden, die in meine Löcher passen! Meine Vergangenheit ist zerschossen, wie ein Schweizer Käse.

Aber mir fehlt noch die Logik in meiner Suche. Ich tappe ständig in die Löcher. Aber ich finde keine Antworten. Ich erinnere mich immer an die gleichen Fragen. Aber ich kann nichts finden, womit ich erklären kann, was warum geschah. Die Löcher bleiben Löcher. Was ich suche habe ich gefunden. Es ist mein Schicksal, an diesem Ort eine durchlöcherte Kindheit gelebt zu haben. Es war ein dumme Zufall, dass es zwei dumme Männer waren, die mich hier jahrelang in der Hand hatten. Das erkenne ich jetzt und denke trotzdem, dass nur ein Spinner deshalb seine Existenz in der Stadt aufgibt. Wochenlang in einem touristischen Kaff zu arbeiten, um Löcher der Vergangenheit zu finden und noch weiter aufzureißen. Was für ein Spinner muss sein, wer das heutzutage macht!

Auf dem Parkplatz über der “Schönen Aussicht” werfe ich die Wagentür ins Schloss. Ein steiler Fußweg führt mich begab. Jede Biegung, jede Erhebung erinnert mich an Peter und Hartmut. Wir sind oft hier hinauf und runter gelaufen. Er führt zum Wald, oberhalb des Oberlehens. Dort im Buchenwald finde ich unsere Lichtung wieder. Es ist wie damals. Der trockene Waldboden knistert, denn er ist dick belegt mit braunen und roten Buchenblättern. Ich finde die riesigen Bäume, gegen die wir unsere Taschenmesser warfen. Ich finde undere Spuren an den Bäumen auf unserer Lichtung, die wir mit Taschenmessern den dicken Buchen zugefügt haben. Ich lese an der breiten Buche, am Felsbrocken unseres Aussichtsplatzes, die Initialen von Peter. Ein dickes „P“, dessen Bogenlinie Peter immer mit einem Schwung nach oben versah, so dass es wie ein O aussieht. Das „P“ ist nach so langer Zeit immer noch deutlich zu sehen. Ein gutes Stück darunter erkenne ich auch Hartmuts „H“. Obwohl Hartmut nur einen ganz dünnen Schnitt geführt hat, ist sein „H“ noch nicht von der Buche verschluckt. Mein „B“ kann ich leider nicht finden. Stattdessen erkenne ich noch ein riesiges „M“, das der Berliner Michael Jahr für Jahr an der Buche erneuert hat, um uns zu provozieren, denn er wollte immer der Stärkste sein.

Auf den gewaltigen Bäumen hatten wir Baumhütten gebaut. Dazu benutzten wir riesige alte Nägel, die wir auf dem Dachboden im Oberlehen fanden. Viele Nägel finde ich verrostet wieder. Sie sind über die Jahre mit den dicken Bäumen verwachsen. Vereinzelt sehe ich alte Bretter. Sie baumeln hoch oben im Wind.

Ich suche und finde unter alten Laubbäumen unser Versteck. Jeden Nachmittag saß ich mit Peter und später auch mit Hartmut in der Mulde, die bedeckt ist von Laub. Ich setze mich in die Mulde auf meinen Platz. Im leichten Wind höre ich das Quietschen von einem alten, morschen Brett, das weit oben in einer Baumkrone hin und her geblasen wird.

Im letzten Sommer am Oberlehen verbringen wir nur noch wenige Nachmittage gemeinsam an unserem Platz. Peter macht sich in seinem Schulheft Notizen. Manchmal schreibt Hartmut etwas in Peters Heft. Ich weiß nicht, was beide aufschreiben. Peter bewahrt es in seiner Schultasche auf. Er nimmt es täglich mit in die Schule.

In der Schule freue ich mich jeden Tag darüber, meinen Freund Peter und neuerdings auch Hartmut während der Pausen zu treffen. Als Kind vom Oberlehen geht es mir in der Grundschule und der Hauptschule schlecht. Heimkinder sind was besonderes. Sie sind etwas schlechtes. Mitschüler und manche Lehrer wollen mit Heimkindern nichts zu tun haben. Ich habe oft ein schlechtes Gewissen, weil glaube etwas falsch gemacht zu haben. Nach Jahren habe ich das Gefühl, dass die Mitschüler mit Recht denken, dass wir Heimkinder schlecht sind. Ich glaube daran, denn genau dieses Los habe ich gezogen. Deshalb freue ich mich über Peter in der Schulpause, denn auch das hat er mir erklärt: „Die Mitschüler sind von ihren Eltern vor mir und den anderen Kindern “aus dem Heim da oben” gewarnt. Wir sind deren Gesprächsstoff, weil wir fremde Kinder sind, die nicht bei Eltern leben. Das muss Gründe haben und das ist Grund genug, uns aus dem Weg zu gehen. Ich spüre das jeden Tag.“

Auf dem Schulhof habe ich keine Streitereien und Auseinandersetzungen mit Mitschülern oder älteren Kindern. Ich will in Ruhe gelassen werden. Trotzdem werde ich misstrauisch von Lehrern und Schülern beobachtet. Ich habe das Gefühl, dass alles, was ich sage, von mir erst bewiesen werden muss, denn es gilt zunächst als gelogen.

23. Idylle

Samstagabends sitzt Hennings immer auf der linken Seite im Aufenthaltsraum. Er sitzt auf der dunkelbraunen Holzbank. Dort liegen rote und grüne Sitzpolster mit grünen Fransen. Es ist der Platz neben der weißen Milchglastür, die in den Speisesaal führt. Dort nähert sich Hennings den jungen Mädchen. Peter beobachtet den Mann sehr genau dabei.

Rechts und links von ihm sitzen Heimbewohnerinnen. Hennings legt, während im Fernsehen die Hitparade seit dreißig Minuten läuft, seinen schweren Arm auf die Schultern eines Mädchens. Die Mädchen, darunter auch Sofia, lassen es zu. Hennings rückt sehr dicht an sie heran. Peter fixiert Hennings, starrt ihm gehässig in die Augen. Das merkt Hennings bald, denn Peters Blick richtet sich, anstatt zum Fernsehgerät direkt auf Hennings. Peter sendet Hennings mit seinem hasserfülltem Blick giftige Pfeilspitzen.

In unserem Versteck sagt Peter:
„Du kannst einen Menschen mit Blicken töten. Büchtler ist darin sehr geübt. Ihm habe ich das abgeschaut. Du musst den gehassten Menschen mit deinen Augen fixieren und dich voll darauf konzentrieren allen Hass, den du in dir spürst, durch die Luft auf diesen Menschen zu richten.“

Peter ist in die dreizehnjährige Sofia verliebt. Er beobachtet sie bei Frühstück, Mittag- und Abendessen im Speisesaal. Beim Hausaufgabenmachen verliert er sie nicht aus den Augen. Abends im Aufenthaltsraum, vor dem Fernsehgerät, wünscht er sich, dass Sofia sich in seiner Nähe nieder lässt. Das tut sie nicht. Stattdessen setzt sie sich immer auf die Holzbank, nahe der Speiseraumtür, als habe Hennings das befohlen.

Zwischen Peter und Hennings kommt es mehr und mehr zu gehässigen Blickkontakten. Nach Peters Meinung vergreift sich Hennings an den jungen Mädchen. Ich weiß nicht, wie sich Hennings an den Mädchen vergreift. Ich sehe, dass er dicht neben ihnen sitzt und seinen Arm auf deren Schultern legt und dass sie manchmal abends, wenn wir nicht fernsehen dürfen, bei Hennings in der Wohnung vor dessen Fernseher sitzen oder er sie samstagnachmittags in seinem Opel Rekord mit nimmt.

Peter kann nicht sagen, wie Hennings sich an den Mädchen vergreift. Er spürt es. Hennings überschreitet bei Sofia Grenzen. Wir spüren, wenn Erwachsene Grenzen überschreiten. Auch wenn ich und Peter keine Opfer der Grenzüberschreitungen Hellings in der Weise werden, wie Sofia, spüren wir doch, dass Hennings Grenzen überschreitet. Im Oberlehen leben wir so dicht aufeinander, dass wir Stimmungen, die wegen dessen Grenzüberschreitungen entstehen, deutlich spüren. Wir sind Gewaltopfer, spüren aber neben unseren Schmerzen noch etwas: Wenn beide uns schlagen, tun sie uns etwas an, wovon kein Außenstehender etwas wissen darf.

Peter sagt in unserem Versteck im Wald:

Die Gewaltausbrüche von Hennings und Büchtler sind deshalb für uns so heftig spürbar, weil die beiden sich sehr bemühen, ihre Gewalttaten nach außen hin zu vertuschen. Erst deshalb merke ich, dass deren Gewalt gegen mich nicht alltäglich ist, wie das tägliche Gebet, das Hennings vor dem Abendbrot spricht. Sondern es scheint etwas zu sein, das die beiden Männer machen, aber wohl eigentlich nicht machen sollten oder gar nicht machen dürfen. Warum sonst versuchen sie, ihre brutalen Gewalttaten gegen uns zu verheimlichen? Der Besuch aus dem Jugendamt darf davon nichts merken.“

Das beobachten wir und wir spüren, dass es den beiden Männern sehr unangenehm wäre, würde ein Gast merken, dass wir regelmäßig geprügelt werden. Doch wir wissen nicht recht, wie wir auf deren Grenzüberschreitungen und Gewalt reagieren könnten, um die Schläge gegen uns zu beenden. Peter erzählt eines Tages seinem Vormund, der zusammen mit einem Mitarbeiter des Jugendamtes zu Besuch kommt, dass ihn Hennings verprügelt hat, weil er Hennings „fettes Schwein“ genannt hat. Der Vormund erklärt, dass Kinder Erwachsene auch nicht „Schwein“ zu nennen haben und dass deshalb die Schläge des Heimleiters berechtigt sind. Der Vormund sagt, dass er nicht gekommen ist, um sich solchen Mist anzuhören, sondern er würde viel lieber Tischtennis spielen. Also spielen wir mit Peters Vormund den ganzen Nachmittag Tischtennis, bis ihn Hennings wieder zum Bahnhof bringt. Peter weiß, dass es keinen Sinn hat, dem Vormund oder anderen etwas von der Gewalt der beiden Männer vor zu jammern. Unser Leben am Oberlehen ist nichts besonderes, es ist normal. Es ist so, wie die Zeit ist. Für uns im Oberlehen heißt das, ganz im Sinne des Satzes: „A gscheide Watschn hat noch niemandem gschadet!“, ist unser Leben alltäglich. Es ist alltäglich, zu verheimlichen, das wir geschlagen werden. Wird doch einmal darüber doch gesprochen, dann sagt der Vormund halt, das sei ganz normal und Peter sei selbst schuld, wenn er einen Erwachsenen so provoziert. Peter meint:
„Mein Vormund weiß nicht, dass Hennings wirklich ein Schwein ist. Ich kann ihm das auch nicht gut erklären, vor allem nicht beweisen.“

Weil Peter jeden Samstagabend im Aufenthaltsraum mit ansehen muss, dass Hennings seinen Arm um die Schulter von Sofia und anderer Mädchen legt, steigt seine Wut auf den Mann. Peter beschimpft Hennings. Er nennt ihn ein “perverses Schwein”. Peter ist sehr eifersüchtig, später wütend und er fühlt sich ohnmächtig gegenüber der Macht Hellings. Seine Ohnmacht sagt ihm, dass Hennings immer der Sieger ist, denn er verfügt über die Macht des Stärkeren.

Eines Abends kommt Hennings wütend in unser Zimmer. Peter muss ihn wieder provoziert haben, ich weiß nicht wie. Hennings reißt die Zimmertür auf und brüllt Peter, der wie wir schon im Bett liegt, an:
“Da ziehste den Kürzeren du Schlappschwanz!”
Er knallt die Türe zu und ist weg. Solche Sätze von Hennings gehören zu dessen Lieblingssätzen. Doch so aufgebracht, wie Hennings in unser Zimmer stürzt, habe ich ihn noch nie gesehen.

Peter weiß, dass er keine Chance hat. Er ist sich nicht völlig sicher, ob das, was Hennings tut, überhaupt Unrecht ist. Trotzdem versucht er auf verzweifelte Weise, diesen Mann zu stellen. Peter versucht das Unmögliche. Er will den Machtmissbrauch dieses Menschen nachweisen. Weil er das nicht schafft und nach dem Besuch seines Vormunds fast verzweifelt, stürzt er unvermittelt in Hellings Wohnzimmer, wo Sofia und andere Mädchen vor dem Fernseher liegen. Er schreit Hennings ins Gesicht:
„Du perverses Arschloch!“

Wie sollen Kinder, die in der schönsten Idylle leben, beweisen, dass sie von zwei Männern sehr schlecht behandelt werden? Nicht zuletzt tut Hennings einiges dafür, dass unsere Lebenssituation am Obersalzberg normal, sogar idyllisch aussieht. Mein Oberlehen ist ein schönes, friedliches Bild von zwei ländlichen Häusern mit Pferdeschuppen und Tiergehege in traumhafter Berglandschaft. Wer soll da schon erkennen, dass Hennings und Büchtler ihre Verantwortung, die sie für Kinder übernommen haben, einfach ignorieren, vielleicht sogar missbrauchen? Ich halte das Oberlehen für mein normales zu Hause, weil ich nichts anderes kenne. Ich lebe meine Kindheit in diesen beiden Häusern. Woher soll ein Kind, das nichts anderes kennt, wissen, dass das Reden und Tun dieser beiden Männer auch anders, vielleicht vernünftiger sein könnte? Woher sollen Kinder, die mit schlagenden erwachsenen Männer zusammenleben, wissen, dass das nicht völlig normal ist? Selbst Peter ist sich jahrelang nicht klar darüber, dass der gewalttätige Stil von Hennings und Büchtler unangemessen ist. Peter hat keine anderen Erfahrungen. Er kennt das Leben bei einem schlagenden Mann vom Leben bei seinem Vater.

Ich sehe begeistertes Lächeln auf den Lippen der Mitarbeiter aus den Jugendämtern. Auch Hennings und Büchtler lächeln, wenn sie die Besucher durchs Oberlehen führen. Kinder leben hier in vollkommener Idylle. Auf der Bergwiese hinter dem Nebenhaus hält Hennings in einem Gehege junge Rehe. Im Schuppen am Oberlehen steht ein Pony. Ich glaube die meisten Erwachsenen, die das Oberlehen besuchen, denken, dass für Kinder, die hier leben dürfen, Natur und Idylle völlig ausreichen, um eine gute Entwicklung zu machen. Für erwachsene Besucher liegt es sehr nahe, zu denken, dass in so schöner, gesunder Umgebung auch die verantwortlichen Männer gut zu uns sind.

24. Klopapier

Freitagabend nach dem Abendessen, die Haushaltsdienste sind verteilt, sagt Peter zu mir:
“Sofia hat mir gestern erzählt, dass Hennings jeden Freitag, wenn alle duschen müssen, im Waschraum bei den Mädchen bleibt. Er steht da und sieht ihnen beim Duschen zu.”

Ich nicke, aber ich bin nicht überrascht, denn ich bin so naiv, dass ich nicht erkenne, was daran schlimm sein soll. Das erklärt Peter:
„Endlich verstehe ich, warum Hennings die Erzieherinnen jeden Freitagabend frühzeitig nach Hause schickt. Die stören ihn nur.“
Ich verstehe immer noch nicht, was Peter so schlimm findet.

Wir sollten nachsehen, ob er jetzt drüben im Mädchenwaschraum steht. Wir brauchen aber einen guten Grund, weswegen wir da rein marschieren”
“Meinst du das ernst?”

Peter sitzt auf seinem Stockbett und blättert in einem Comicheftchen. Ich stehe in der Ecke unseres Zimmers und beuge mich über das Waschbecken. Ich putze meine Zähne. Meine Zahnbürste nehme ich aus dem Mund und blubbere, so dass der weiße Schaum ins Waschbecken und ein bisschen daneben tropft. Während ich den Schaum ins Becken spucke, sage ich:
“Wir haben doch diese Woche Klopapierdienst. Wir könnten einfach rüber latschen, im ersten Stock die Mädchenduschraumtür aufreißen und dann ganz erschreckt tun, wenn wir dort Hennings und die nackten Mädchen sehen!“
Ich finde meine Idee super und spucke Schaum in das Waschbecken.
„Wir könnten sagen, dass wir völlig vergessen haben, dass gerade Duschzeit ist. Wir sagen, dass wir auf dem Weg sind, um von dort das Klopapier zu holen.“
Ich sehe zu Peter hinauf:
„Auf den Dachboden zum Klopapierlager kommen wir nur, wenn wir durch den Mädchenwaschraum gehen! Das wäre ein guter Grund für unser Auftauchen!“
Ich wende mich zurück zum Waschbecken und schrubbe mit der Zahnbürste weiter in meinem Mund herum. Ich finde meine Worte sehr mutig. Ob ich wirklich tun will, was ich gerade gesagt habe, darüber habe ich noch nicht nachgedacht.

Meine Worte haben Wirkung. Peter ist begeistert. Ich glaube das liegt daran, dass meine Idee so klar ist. Peter wirft sein Comicheftchen aufs Bett. In einem Satz springt er vom Stockbett herunter. Die Holzdielen knallen und knarren unter seinem Gewicht. Aufgeregt steht er dicht neben mir.
“Würdest du das echt machen?”
Ich halte meine Zahnbürste unter laufendes Wasser. Ich komme mir ziemlich mutig vor, habe mich aber, wegen Peters überraschendem Sprung aus dem Stockbett, am Schaum der Zahncreme verschluckt. Ich huste, beuge mich unter den Wasserhahn, um mit der Hand Wasser in den Mund zu schaufeln. Dicht vor meinen Augen sehe ich am Waschbeckenrand die bunte Zahncremetube. Auf der steht: “Strahler 80! Strahlerküsse schmecken besser!” Ich lese das Wort “Strahlerküsse”. Das bringt mich auf den Gedanken, dass ich noch nie ein Mädchen geküsst habe, geschweige denn eines nackt gesehen habe. Erst deshalb wird mir die Vorstellung, dass Hennings alle Mädchen am Oberlehen jeden Freitagabend nackt im Duschraum sieht, richtig klar.

Ich habe nicht den Gedanken, dass Hennings deshalb etwas unrechtes tut. Die Idee, dass Hennings in die Intimsphäre der Heimkinder eindringt, so Grenzen überschreitet und eigentlich eine Erzieherin die Mädchen beim Duschen beaufsichtigen sollte, habe ich nicht. So denke ich nicht. Für mich ist in diesem Moment einzig der Gedanke reizvoll, die Mädchen des Haupthauses alle nackt unter der Dusche zu sehen. Hennings dabei zu überraschen ist nicht mein Ziel. Das ist Peters Interesse. An diesem Abend will er Hennings endgültig nachweisen, dass er Grenzen überschreitet. Ich spucke den Schaum ins Becken. Die Tube mit den Strahlerküssen halte ich unter laufendes Wasser, so dass die Sterne darauf glänzen.

Peter und ich sind aufgeregt und angespannt. Mein Herz klopft viel schneller als sonst. Meine Anspannung kann ich nur ertragen, weil ich mir vorstelle, dass Peter und ich Schauspieler in einer amerikanischen Krimiserie sind. Ich stelle mir vor, dass alles was wir tun, schon lange geprobt ist und deshalb reine Routine. Die Vorstellung beruhigt mich. Es ist eine Methode, die ich auch in der Schule anwende, wenn mich der Lehrer nach meinen Hausaufgaben fragt, die ich im Oberlehen vergessen habe.

Heute denke ich, dass ich ein Schauspieler aus der amerikanischen Fernsehserie Kojak bin. Ich denke, dass Peter Kojak, der Kriminalkommissar, ist. Kojak sehe ich in unserem Zimmer auf und ab laufen. Er unterhält sich mit mir über seinen neusten Fall. Was wir gerade miteinander besprechen, wie wir Hennings im Mädchenduschraum überraschen wollen, das kennen wir beide auswendig, denn Peter und ich sind gute Schauspieler, wir haben unser Drehbuch genau studiert und auswendig gelernt. Alles haben wir schon oft geprobt. Die sehr spannende Szene ist deshalb nicht mehr so aufregend. Ich sehe Peter an:

Ja das ist mein Ernst!“
Der rechte Daumen von Kojak steckt lässig in Peters Gürtel. Er kommt zu mir ans Waschbecken. Mit der linken Hand nimmt er meinen Zahnputzbecher. Den hält er unter Leitungswasser und lässt ihn voll laufen. Wie der Inspektor seinem Assistenten, reicht Kojak mir den Plastikbecher der, statt mit Kaffee mit Wasser gefüllt ist. Er schaut mich sehr ernst an.
„Also dann, lass uns überlegen, wie wir vorgehen!“

Wir beide sprechen über unser aufregendes Vorhaben. Dabei bleiben wir ganz ruhig. Das ist nur möglich, weil ich denke, dass wir Schauspieler sind und die Szene lange geprobt ist, ich kenne alles. Es ist klar, wie es weiter zu gehen hat. Das Drehbuch steht fest. Ich nehme den Wasserbecher aus Peters Hand. Wir sehen uns an. Ich glaube, uns beiden ist in dieser Situation klar, dass wir nichts zu verlieren haben. Die nackten Mädchen unter der Dusche interessieren uns beide. Dabei Hennings zu ertappen wäre zumindest peinlich für den. Auf den ersten Blick ist meine Idee gut.

Wir laufen vorbei an der riesigen Eiche hinüber ins Haupthaus. Je näher wir dem Mädchenwaschraum im ersten Stockwerk kommen, desto langsamer werden unsere anfangs munteren Schritte. Vor der Waschraumtür spüre ich wieder dieses Zittern meines ganzen Körpers, das mich auch in der Nacht überfallen hatte, als ich mit Peter an der Kellertreppe stand. Der lange Gang mit den vielen Türen in die Zimmer der Mädchen ist leer. Aus dem Waschraum hören wir die Duschen plätschern.

Ich bringe keinen Ton heraus. Mein Körper zittert. Ich denke an nichts. Von Mut keine Spur. Es ist Angst, die jetzt meinen Kopf im Griff hat, sie macht Denken unmöglich. Kojak taucht in meinem Kopf nicht mehr auf. Der Film ist abgelaufen. Was kommt, steht nicht mehr im Drehbuch. Ich kann meine Beruhigungsmethode nicht einsetzen. Wie festgenagelt stehe ich vor der Türe. Ich zittere wie eine elektrische Zahnbürste. Ich merke, dass ich ein ängstlicher Waschlappen bin. Peter kennt das von mir. Deshalb übernimmt er sofort das Kommando, er flüstert:
“Ich zähle bis drei, dann drück ich die Klinke runter und wir rennen einfach los. Wenn Hennings drin ist, werden wir ihn schon sehen, wie wir es besprochen haben.“
Peter beginnt leise zu zählen. Seine rechte Hand liegt auf der Türklinke.
“Eins .. zwei .. drei!”
Peter drückt fest auf die Klinke. Ich höre einen dumpfen Schlag. Peter knallt mit dem Kopf gegen die Tür. Sie ist verschlossen. Jetzt fällt mir Kojak wieder ein. Der hätte an diese Möglichkeit gedacht. Ein Gangster wie Hennings trifft während seiner Taten Vorsichtsmaßnahmen, er sichert sich davor ab, ertappt zu werden. Eine naheliegende Maßnahme, um im Waschraum mit den Mädchen nicht überrascht zu werden, ist sie einfach von innen abzusperren. Peter hält seinen Kopf und die Schulter. Sein Gesicht ist vom Schmerz verzerrt.
Hennings ruft aus dem verschlossenen Duschraum:
“Was ist los, wer ist da, was gibt es da draußen?”
Peter flüstert:
„Immerhin wissen wir jetzt, dass Hennings da drin ist.“
Ich sage nichts. Nach kurzem Schweigen brüllt Peter:
“Äh, nichts besonderes! Wir wollten nur Klopapier holen! Wir haben Klopapierdienst!”
Hennings von innen:
“Haut mal lieber ganz schnell ab ihr Penner, sonst mache ich euch Beine!”
Peter flüstert:
“Komm, wir verschwinden!“

25. Hirschgeweihe

Mit dem Widerstand beginnen wir in der Nacht. Bei eisiger Kälte und Dunkelheit marschieren wir drei, Peter, Hartmut und ich, mit Taschenlampen bewaffnet los. Peitschender Wind jagt feine Schneeflocken über die steile Wiese hinter dem Oberlehen. Die Sicht ist trotz des hellen Schnees sehr schlecht. Wir stapfen die verschneite Wiese hinauf. In Sichtweite der beiden Häuser, dem Oberlehen, können wir unsere Taschenlampen noch nicht einsetzen. Hennings oder Büchtler würden uns auf dem verschneiten Hang wegen der Taschenlampenkegel entdecken.

Endlich erreichen wir den Waldrand. Im Wald schaltet Peter seine Lampe ein. Meine und Hartmuts Lampen, sagt Peter, bleiben ausgeschaltet, wir brauchen sie später noch. Weil wir einen langen Weg vor uns haben, müssen wir die Batterien schonen. Hartmut stapft hinter mir her. Über meiner Schulter trage ich ein Seil. Das ist sehr schwer. Schon nach einer knappen halben Stunde Fußmarsch, durch den hohen Schnee spüre ich Schmerzen von meinen Schulterblättern. Ich werfe das Seil auf die andere Schulter. Auch von der spüre ich nach kurzer Zeit Schmerzen. In knappen Abständen wechsle ich deshalb das Seil von einer auf die andere Schulter.

Seil und Taschenlampen haben wir gestohlen. Jeder von uns erledigte einen Diebstahl. Unser Diebesgut hatten wir bereits vor Monaten, als es noch Sommer gewesen war, im Schuppen versteckt. Während der warmen Jahreszeit bleibt der stets unverschlossen, weil im Sommer das Pony von Hennings dort wohnt. Im Winter aber, ist der Schuppen abgesperrt. Das Pony lebt dann auf einem Pferdehof.

Kurz vor Mitternacht trafen wir uns in der eisigen Kälte hinter dem Schuppen. Peter hat den Schlüssel aus dem Schlüsselkasten geklaut. Wie er das geschafft hat ist mir ein Rätsel. Der Schlüsselkasten hängt im Korridor in Hellings Wohnung. Peter öffnete den Schuppen, ging hinein und kam nach wenigen Sekunden mit Seil und Taschenlampen wieder heraus.

Der eisige Ostwind peitscht heute heftig. Meine Ohren schmerzen von der Kälte. Das heftige, kalte Peitschen lässt oben im Wald, im Schutz der Bäume, ein bisschen nach. Darüber bin ich froh. Ich hasse die eisige Kälte, die der Winter am Obersalzberg bringt. Peter kennt den Weg genau. Um Energie zu sparen, schaltet er immer wieder seine Lampe aus. Er schaltet sie wieder ein, um Löcher und Vertiefungen im Waldboden rechtzeitig genauer zu sehen. Der Fußmarsch durch den tiefen Schnee ist beschwerlich. Peter hat gestern Abend erklärt, dass wir für den Hinweg mindestens zwei Stunden brauchen. Für den Rückweg rechnet er noch länger. Hartmut und ich lassen uns von Peters Warnungen nicht abschrecken. Wir wollen unbedingt dabei sein.

Den Zugang in den Stollen hat Peter ausgekundschaftet. Er ist verfallen, deshalb könne man ihn kaum finden. Es ginge etwa drei bis vier Meter hinunter in die Tiefe. Unten könnten wir stehen. Vor der Dunkelheit im verfallenen Stollen brauchten wir keine Angst zu haben. Wir haben ja die Taschenlampen. Die alte Kiste im Stollen sei schon total vermodert. Deshalb wäre es überhaupt kein Problem, sie aufzubrechen. Es wäre eindeutig eine alte Militärkiste. Sie trüge eingebrannte Naziaufschriften, Hakenkreuze und solche Dinge. Wahrscheinlich ist es ein übriggebliebener Nazistollen. Der Berg, das erklärt uns Peter, wäre durchzogen von solchen Stollen und Bunkern.

Ich will mich auf Peters Plan einlassen. Von der Herkunft des Stollens und der Kiste will ich aber nichts wissen. Der Inhalt der Kiste interessiert mich nicht. Auch für den Grund, warum wir die Kiste oder dessen Inhalt holen wollen, interessiere ich mich nicht. Ich will nur dabei sein, wenn Peter seinen Plan ausführt. Der Anstieg ist noch beschwerlicher, als es Peter vorher ausgemalt hatte. Nach einer knappen Stunde durch tiefen Schnee beginnt Hartmut tief und laut zu atmen. Nach einer weiteren halben Stunde röchelt er. Peter schlägt eine kurze Pause vor. Aber Hartmut lehnt ab.
“Kein Problem für mich, die frische Luft tut gut und für mein verletztes Knie ist das Marschieren das beste Training.”
Mir fällt wieder ein, warum Hartmut sein Knie mit einem Mullverband umwickelt hat.

Nachmittags hat ihn eine Erzieherin in unserem Zimmer verarztet. Für Hartmuts Verletzung ist Büchtler verantwortlich. Hartmut fliegt zuerst durch die dünne Milchglasscheibe zwischen Speisesaal und Kellerabgang. Dort stolpert er und stürzt dann durch die Eingangstür auf den Kies im Hof. Größere Kinder tragen ihn später hinüber in unser Zimmer. Die Schnittwunden in Hartmuts Gesicht sehen schlimm aus. Als das viele Blut aber abgetupft ist, sieht alles halb so wild aus.

Peter übersieht einen Ast auf dem verschneiten Waldboden. Er stolpert und stürzt in den Schnee. Sofort steht er wieder auf. Er schaltet seine Taschenlampe ein. Jetzt lässt er sie in Dauerbetrieb. Schneefall und eisiger Wind sorgen trotz Taschenlampe für schlechte Sicht. Endlich erreichen wir die Waldlichtung. Peter leuchtet sie ab. Er flüstert:
“Hier irgendwo muss es sein. Es hat viel geschneit in den letzten Tagen. Die Gegend sieht bei Nacht ganz anders aus.”
“Bist du sicher, dass wir richtig sind?”, fragt Hartmut. Sein Ton verrät die Anstrengung des steilen Anstiegs, der hinter uns liegt. Hartmut und ich fürchten, dass wir immer noch nicht am Ziel angekommen sind. Aber Peter nickt, denn er ist sich sicher. Er richtet den Leuchtkegel seiner Taschenlampe nach rechts. Dort liegen dicke, verschneite Baumstämme.
“Das sind die Stämme. Daneben muss das Loch zum Stollen sein.”
Langsam klettert er über die verschneiten Stämme. Dahinter arbeitet er sich sitzend vorwärts durch den tiefen Pulverschnee. Hartmut und ich folgen. Im Schnee vor uns dreht Peter den Kopf zu uns und sagt lachend:
“Wir sind richtig!”

Jetzt spüre ich ängstliches Zittern. Trotzdem folge ich Peter sofort. Ich sitze hinter ihm im Schnee und arbeite mich wie er vorwärts. Hartmut folgt hinter mir. Peter rutscht langsam in ein Loch im Schnee und verschwindet. Ich leuchte mit meiner Lampe hinter ihm her. Der Kegel der Taschenlampe zittert wie meine Hand. Ich sehe Peter nicht mehr. Ich höre aber, wie Stiefel auf matschigen, nassen Boden aufschlagen. Er ruft aus dem Loch zu mir hoch:
“Keine Angst, wir sind goldrichtig hier! Das Loch ist nicht tief. Nur langsam runter rutschen, dann habt ihr gleich wieder festen Boden unter den Füßen. Vergesst nicht das Seil oben am Baumstamm zu befestigen, damit wir leichter wieder raus kommen!”
Ich schiebe mich in das Loch und verliere den Boden unter meinen Füßen. Dann lande ich auf matschigem Boden. Unbeabsichtigt gehe ich in die Knie, die mich wegen meines Zitterns nicht halten wollen. Sofort stehe ich wieder auf. Ich springe zur Seite zu Peter. Hartmut kommt zusammen mit einem Schneehaufen und dem Seilende von oben herunter gerutscht.

Unsere hellen Taschenlampen sind jetzt nötig. Peter geht voraus. Der Stollen ist hoch. Wir laufen ohne uns zu bücken. Rechts und links schimmern die Wände grünlich. Es riecht nach Moder und Schimmel, aber es ist viel wärmer als draußen. Ich beginne zu schwitzen. “Das ist die erste Kammer”, sagt Peter. Er deutet mit seinem Lampenkegel auf einen halb eingebrochenen Zugang. Hartmut und ich leuchten mit unseren Lampen hinein. Auf dem Boden liegen heruntergefallene Steine. Die Wände schimmern grün.

Peter marschiert schnell durch den matschigen Stollen. Er wird schneller und schneller. Ich habe Mühe ihm zu folgen. Ich sehe Peters zackige Schritte vor mir. Am Boden sehe ich den braunen Matsch, den Peters Schuhe verdrängen. Feuchter brauner Schlamm spritzt rechts und links an die moderigen Mauern.

Plötzlich erkenne ich den zackigen Schritt eines Soldaten vor mir. Ist das noch Peter? Ich glaube, er trägt so eine alte schwarze Skihose, wie man sie vor Jahren beim Skifahren getragen hat. Die Hose ist ihm viel zu weit. Deshalb sieht sie aus, wie eine ausgebeulte Uniformhose. Hinter mir höre ich die Schritte von Hartmut. Die Schritte von uns Dreien durch den vermoderten Stollen höre ich rhythmisch. Ich glaube, irgendetwas stimmt da nicht.

Plötzlich marschieren wir drei im Gleichschritt durch den matschigen Stollen. Nur der Matsch, der unter unseren Stiefeln weg spritzt und an die Wände klatscht, sorgt für etwas Unruhe im Takt. Nach wenigen Metern ist der Boden nicht mehr matschig. Er ist jetzt steinhart, dunkel und trocken. Statt klatschendem Matsch höre ich jetzt den Hall unserer Schritte durch den engen, langen Gang.

Peter muss den Stollen gut kennen, denn er läuft zielstrebig vorne weg. Es kommen viele Gänge, die rechts und links abzweigen. Einmal geht er links, dann wieder rechts, dann gerade aus. Mehrmals sagt er: “Alles klar Leute, gleich sind wir am Ziel.” Von hinten hallt Hartmuts Stimme durch den Stollen: “Ich wusste nicht, dass dieser Tunnel so lang ist. Die Leute die das gebaut haben, müssen viel geschuftet haben.” “Da sind wir!”, ruft Peter laut. Seine Stimme hallt durch den Stollen.

Durch einen verfallenen Zugang in der Mauer betreten wir eine Kammer. Ich folge Peter, drehe mich um. Hinter mir sehe ich Hartmut. Auch er drückt sich durch den engen Spalt in der Wand. Die Kammer ist groß, leer und feucht. Die Mauern sind voll von Grünspan. Von der Decke tropft Wasser. Peter leuchtet mit seiner Lampe nach rechts. “Da ist sie, wie versprochen!”

In der Ecke steht eine dunkle Holzkiste. Ihr Deckel ist aufgebrochen. Peter geht zur Kiste. Ich bleibe regungslos bei Hartmut am engen Spalt in der Wand stehen. Peter nimmt etwas aus der Kiste. Es ist etwas Großes. Er versteckt es unter seinem Mantel. Jetzt hallen Peters Schritte durch den Raum. Er kommt schnell zu uns zurück. “Ok, alles klar, ich hab’s. Gehen wir wieder.” Wir verlassen die Kammer durch den engen Spalt.

Auf dem Rückweg werden unsere Schritte durch den engen, langen Korridor sehr schnell. Peter läuft vor mir her. Von hinten erkenne ich, dass Peter in seiner rechten Hand nicht mehr die Taschenlampe hält. Im Takt seines schnellen Schrittes schwenkt Peter einen Hut hin und her. Ich glaube, es ist eine Schirmmütze. Jetzt erkenne ich auch, dass seine Skihose gar nicht schwarz ist. Sie ist grau. Peters Hose ist nicht zu groß, sondern weit, aber sie passt ihm genau. Ich glaube, es ist tatsächlich eine Militärhose.

Auch ich habe plötzlich keine Taschenlampe mehr in meiner rechten Hand. Wie Peter schwenke ich, im Takt meines schnellen Schrittes, eine Schirmmütze. Die Person hinter mir kann ich nicht erkennen. Die schnellen Schritte von Peter erlauben mir nicht, mich umzusehen. An der niedrigen Decke des schmalen Korridors hängen grelle Neonröhren. Deshalb haben wir keine Taschenlampen mehr! In der grellen Neonbeleuchtung erkenne ich hin und wieder die Umrisse von Männern, die uns entgegenkommen. Sie sind alle militärisch gekleidet, genauso wie Peter und ich. Im Vorbeigehen grüßen sie uns. Sie winkeln zackig ihren rechten Arm an, so dass ich kurz deren Handflächen neben den Umrissen ihrer Gesichter sehe. Peters Marschgeschwindigkeit kann ich nur mit großer Mühe einhalten. Die Neonlampen an der Decke fliegen schnell über meinem Kopf hinweg.

Abrupt bleibt Peter plötzlich stehen. Vor ihm steht ein großer Mann. Mit der linken zieht Peter ein Stück weißes Papier aus seiner Hosentasche. Das hält er dem Mann unter die Schirmmütze. Der Mann nickt, und öffnet eine graue Stahltür. Es ist der Ausgang. Von dort fällt helles, blendendes Tageslicht herein. Im grellen Sonnenschein überquere ich dicht hinter Peter einen gepflasterten Parkplatz. Der Parkplatz steht voll mit bunten, ausländischen Kleinwagen mit ausländischen Nummernschildern. Peter besteigt einen bereitstehenden dunkelgrünen Jeep. Es ist das einzige Militärfahrzeug zwischen den bunten Wagen. Ich setze mich neben ihn auf den Beifahrersitz. Jetzt schaue ich nach hinten. Auf dem Rücksitz erkenne ich Hartmut. Auch Hartmut trägt eine Schirmmütze.

Ruckartig fährt Peter los. Peters Anfahrt drückt mich in den Beifahrersitz. Er lenkt den Jeep über den gepflasterten Parkplatz, vorbei an grauen Torbögen. Jetzt erkenne ich die Straße. Wir fahren vom Parkplatz vor dem General – Walker – Hotel nach unten.

Peter lenkt den Jeep an mehreren kleinen Kontrollhüttchen vorbei. An manchen Kontrollhüttchen bleibt Peter stehen und zeigt sein Papier vor. Wenn sich die Schlagbäume anheben, fährt Peter ruckartig an. Wir fahren die sehr steile Straße am Obersalzberg hinunter. Rechts und links sehe ich dichten Nadelwald. Die Straße schlängelt sich kurvenreich hinab. In einer steilen Kurve reißt Peter plötzlich das Lenkrad nach links. Hartmut hält sich hinten an einer Stahlstange des Wagens fest. Auch ich greife eine Stahlstange über der Windschutzscheibe, damit ich nicht aus dem Jeep geschleudert werde. Ich weiß nicht, warum Peter so hastig fährt. Wir erreichen eine helle, enge Schotterpiste. Peter gibt, obwohl der Weg steil hinunter führt, kräftig Gas. Mich drückt es noch mal in den Beifahrersitz. Jetzt erkenne ich den Weg. Wir fahren auf der Rodelbahn hinunter. Eigentlich dürfen auf ihr keine Autos fahren. Ich kenne jede Kurve von vielen Schlittenfahrten auf der Bahn. Seit vielen Jahren fahre ich diese Bahn im Winter mit dem Schlitten hinunter. Jeden Samstag laufen wir auf der Rodelbahn runter nach Berchtesgaden und gehen ins Hallenbad. Jetzt steuert Peter den Jeep durch die Teufelskurve, von der es mich auf meinem Schlitten regelmäßig hinaus trägt. Peter scheint es egal zu sein, dass man hier eigentlich nicht mit einem Auto fahren darf. Er lenkt den Jeep routiniert und geschickt durch die steilen Kurven.

Es ist bereits Sommer geworden. Auf der Rodelbahn liegt der helle Schotter, den ich von den Fußmärschen aus Hallenbad und Schule zurück hinauf ins Oberlehen kenne. Jetzt steuert Peter den Jeep scharf nach links auf einen anderen, schmalen Schotterweg. Wieder gibt er kräftig Gas. Der Motor heult laut auf.

Ich erkenne das Haupthaus des Oberlehens. Es liegt plötzlich im Dunklen. Die Morgendämmerung ist noch nicht eingetreten. Im Haupthaus brennt kein Licht, die Fenster sind dunkel. Aber aus dem Ponyschuppen schimmert Licht. Mist, denke ich in diesem Moment, wahrscheinlich hat Peter vergessen, das Licht auszuschalten, nachdem er Seil und Taschenlampen geholt hatte. Peter fährt mit hohem Tempo auf den Parkplatz vor dem Haupthaus. Scharf bremst er den Jeep ab. Der Jeep rollt noch, aber Hartmut springt hinten schon raus auf den Hof. Eilig rennt er zum Ponyschuppen. Er reißt die Tür auf und schaltet das Licht aus. Komisch, denke ich, warum ist die Tür nicht abgesperrt? Peter hatte sie doch wieder verschlossen.

Das ist jetzt unwichtig. Wir haben es eilig. Hartmut zerrt mich an meinem rechten Ärmel aus dem Jeep. Sofort folge ich Peter über den Kies rund um das Haupthaus. Abrupt bleibt Peter unter der alten Eiche im Innenhof zwischen den Häusern stehen. Kurz sieht er mir ins Gesicht. Er scheint über etwas nachzudenken. Jetzt packt er mich an meiner Schulter und schiebt mich vor sich. Ich soll also vorausgehen. Ich spüre seine und Hartmuts Hände auf meiner Schulter. Beide schieben mich vor sich her. Unsere Schritte knirschen im feinen Kies unter der Eiche. Ich will zur hölzernen Außentreppe gehen. Ich will, wie ich es gewohnt bin, hinauf in unser Zimmer gehen. Jetzt spüre ich Peters harten Griff an meiner Schulter, er ergreift nun auch meine rechte Hand. Er zieht mich vorbei an der riesigen Eiche in die falsche Richtung.

Vor Hellings Wohnungstür bleiben wir stehen. Ich öffne die Tür. Drinnen hängen von der Decke die Hirschgeweihe. Der Fußboden ist übersät von Fellen erlegter Tiere. Hartmut und Peter schieben mich über die Türschwelle in den Korridor. Jetzt höre ich hinter mir Peters stimme: “Du öffnest die zweite Türe, sie kommt gleich rechts.” Wir stehen bereits vor dieser Tür. Ich kenne sie gut. Es ist die Tür in Hellings Wohnzimmer. Peter schiebt mich dicht an diese Tür heran. Auch über ihr hängt ein riesiges Hirschgeweih. Ich stehe vor der Wohnzimmertür und rühre mich nicht. Ich will diese Türe nicht öffnen. Ich habe sie oft genug geöffnet, um mir von Hennings eine Bestrafung geben zu lassen. Weil ich Widerwillen spüre, die Wohnzimmertür zu öffnen, schaue ich nach oben und sehe über der Tür ein riesiges Hirschgeweih. Weil ich Zeit gewinnen möchte, um die Tür nicht gleich öffnen zu müssen, drehe ich mich um und frage Peter: “Ist das die Wohnung eines Jägers?” Peters Blick ist sehr ernst, er nickt, aber er antwortet nicht. Er weiß genau, dass ich mit dieser Frage nur Zeit schinde. Weil er mir aber keine Zeit mehr lassen will, legt er seine Hand auf die Türklinke. Fest drückt er sie hinunter. Peter schiebt mich langsam, aber bestimmt durch die sich öffnende Tür.

Plötzlich drückt mir Peter einen kalten, schweren Gegenstand in meine Hand. Der Gegenstand ist lang und schwarz. Ich versuche das schwere Ding hoch zu heben, es gelingt mir kaum. In einem großen, grünen Ohrensessel erkenne ich jetzt Hennings in einer Ecke seines Wohnzimmers. Neben ihm sitzt Büchtler auch in so einem großen Sessel. In der anderen Ecke des Zimmers läuft ein Fernsehapparat. Das Programm ist bereits beendet. Auf dem Boden liegen viele Felle von Tieren die Hennings auf der Jagd erlegte.

Zwischen den Fellen erkenne ich verschiedene Kindergesichter. Es sind die Gesichter junger Heimbewohnerinnen. Ich erkenne sie alle wieder. Auch Sofia ist dabei. Meine Arme und Hände zittern. Ich spüre diesen schweren, kalten Gegenstand in meiner Hand. Mit aller Mühe hebe ich das Ding hoch. Jetzt halte ich es vor meinen Kopf. Dabei zittere ich stark. Hinten im Zimmer erkenne ich Hennings und Büchtler. Dorthin halte ich das schwere Ding. Zwei Mal knallt es laut. Es ist das gleiche Geräusch, das ich in der Nacht an der Kellertreppe gehört hatte. Auch der Geruch, den ich jetzt rieche, ist derselbe. Es stinkt nach Schießpulver. Plötzlich spritzt rotes Blut durch das Zimmer. Ich glaube, es stammt von den erlegten Tieren. Der Fernseher flimmert noch. Die Sessel von Hennings und Büchtler sind rot. Zerfetzte Lappen und Tierköpfe liegen auf dem Boden. Hirschgeweihe spießen in der Wand. Erst jetzt schleudert mich die Detonation einige Meter zurück gegen die Wohnzimmerwand.

Von unten, von der Seite sehe ich das graue Sofa. Ich liege auf dem Fußboden. Ich liege auf dem Boden meines gemieteten Zimmers in der Hochsteinstraße. Ich liege auf dem grauen Teppichboden zwischen dem Sofa und dem niedrigen, dunkelbraunen Tisch. Von da sehe ich das Sofa und die runde Papierlampe an der Decke. Sie leuchtet. Der Aschenbecher liegt unter dem kleinen Tisch. Sein Inhalt verstreut auf mir und auf dem Sofa. Mein Trinkglas ist bis unter die Papierdeckenleuchte in die Mitte des Zimmers gerollt.

Langsam ziehe ich mich an dem schmalen Tischbein hoch. Die Tür hinaus auf den Balkon steht offen. Der Wecker auf dem Tisch zeigt halb zehn Uhr. Ich habe drei Stunden geschlafen. Es ist eine warme Julinacht in Berchtesgaden. Von draußen dröhnt Verkehrslärm. Die Wohnung an der Hochsteinstraße ist laut. Ich gehe verschlafen in die Küche. Im Bad plätschert es. Vermutlich duscht Herbert gerade. Der Kaffee steht seit Stunden auf der eingeschalteten Maschine. Ich gieße ihn in den Ausguss. Ich öffne das Küchenfenster. Abgestandener Kaffeegeruch zieht hinaus. Unten an der Hallenbad-Baustelle wird bei Flutlicht gearbeitet.

Ich erfrische mein verschlafenes Gesicht unter dem Küchenwasserhahn. Mein Glas fülle ich wieder mit Wasser. Ich gehe zurück ins Zimmer und schließe die Balkontür. Im Schlafzimmer setze ich mich an den Schreibtisch vor meine alte, braune Schreibmaschine. Ich lege Papier ein und beginne zu tippen.

26. Der Speicher

Im Oberlehen liege ich oben in meinem Stockbett. Ich höre Peters Stimme:
“Na du Penner, genug gerüsselt?”
Jetzt sehe ich unten im Stockbett Hartmut. Sein verletztes Knie lagert auf einem Hocker. Peter erhebt sich vom Stuhl. Er zieht sich sein Schlafanzughemd über. Hartmut schaut von unten zu mir hinauf. Er sagt:
“Das ist wirklich kaum zu glauben, du fragst uns etwas und schläfst dabei ein!”
Ich richte mich auf und stütze mich auf meine Ellenbogen.
“Was?”
Peter geht zum Waschbecken. Von dort höre ich ihn:
“Wir müssen jetzt das Licht ausschalten, sonst gibt es Ärger mit Hennings. Es ist schon Viertel nach neun.”
Er knipst das Licht über dem Waschbecken aus. Peter klettert in sein Bett und verkriecht sich unter der Decke.
“Du weißt nicht mehr, was du gefragt hast?”
Ich antworte nicht.
“Unglaublich”, flüstert Hartmut. “Stellt eine Frage, pennt ein, und hat nach dem Aufwachen vergessen, was er überhaupt gefragt hat!”
“Was habe ich denn gefragt, bevor ich eingeschlafen bin?”
Peter richtet sich in seinem Bett auf. Durch die Dunkelheit schaut er zu mir herüber:
“Du hast uns gefragt, wo wir mein Schreibheft am sichersten vor Hennings und Büchtler verstecken könnten.”
“Ach so? Daran kann ich mich nicht erinnern, wirklich überhaupt nicht! Ich muss schon geschlafen haben. Habt ihr überlegt, wo der beste Platz ist?”
“Wir haben es überlegt”, flüstert Hartmut hinauf zu mir, “wir werden es zwischen den Matratzen auf dem Speicher verstecken.”
“Wir wollen nur noch dort oben in das Heft hineinschreiben. Es ist zu gefährlich, das immer mit mir herum zu tragen.”
“Psst!”, zischt jetzt Hartmut.
Draußen auf der Holztreppe nähern sich schwere, langsame Schritte.
“Hennings macht seinen Rundgang, tun wir so als würden wir schon pennen,”

Leise knarrt die milchige Glastür. Im dunklen Türspalt erkenne ich die Umrisse von Hennings. Er wirft einen kurzen Blick herein. Er sieht, dass wir alle in unseren Betten liegen. Behäbig geht er über die Holzbretter vor unserem Zimmer weiter zur Eingangstür, in den Durchgangswaschraum. Nachdem wir die Eingangstür ins Schloss fallen hören flüstert Peter:
“Wir schreiben nur noch auf dem Dachboden in unserem Versteck in mein Heft. Wenn Hennings oder Büchtler mein Heft in meiner Schultasche finden, ist der Teufel los. Wir haben schon genügend über das Oberlehen aufgeschrieben, deshalb müssen wir mit dem Heft vorsichtig sein. Wir müssen dieses Heft gut aufbewahren, es kann uns vielleicht später noch gute Dienste erweisen. Der Speicher ist ein gutes Versteck.”
“Gute Nacht”, stöhnt Hartmut leise. Ich atme schon sehr tief.

27. Störenfriede

Es ist ein Tag im Sommer. Zunächst fängt er so normal an, wie jeder andere Tag. Morgens um sechs Uhr hämmert Büchtler laut gegen unsere Milchglastür. Er reißt sie auf und ruft:
“Raus aus den Kisten!”
Scheppernd lässt er die Tür wieder zu fallen. Der Vormittag in der Schule vergeht langweilig. Nachmittags im Oberlehen ist alles anders. Vor dem Hauptgebäude parken zwei fremde Autos. Die Kennzeichen kenne ich nicht. Hartmut, Peter und ich sitzen vor unseren Plastiktellern beim Mittagessen. Plötzlich kommt Büchtler zu uns an den Tisch.
“Peter und Hartmut! Um halb drei Uhr ist für euch Abfahrt. Eure Koffer sind schon gepackt. Die zwei Autos da draußen bringen euch in zwei andere Heime.”

Peter und Hartmut sagen nichts. Auch ich schweige. Büchtler verschwindet sofort. Er erwartet keine Fragen. Er will kein Gespräch. Die Sache ist klar. Das Vorgehen von Büchtler ist normal. Störenfriede werden in Überraschungsaktionen entfernt. Hennings und Büchtler stört irgendetwas an Hartmut und Peter derart, dass beide verschwinden müssen. Bei anderen Kindern, meist älteren Jugendlichen, habe ich mehrmals erlebt, dass sie plötzlich abgeholt wurden. “Erziehungsheim” war immer das Stichwort. Im Nachhinein hieß es, dass diese Kinder dorthin gebracht wurden, weil sie für das Oberlehen zu frech seien. Ich glaube, das waren immer Willküraktionen der beiden Männer. Diesmal betrifft so eine Aktion nicht irgendwelche anderen Kinder am Oberlehen. Minuten stochern wir schweigend mit unseren Gabeln im Essen auf unseren Plastiktellern. Sehr leise ergreift Peter das Wort.
“Irgendwie habe ich schon gestern Nachmittag geahnt, dass es unser letzter Nachmittag im Wald sein könnte. Wie spät ist es?”
Hartmut schaut auf seine Uhr.
“Viertel nach zwei Uhr. In einer Viertelstunde fahren wir ab, unglaublich!”

Peter sagt zu mir:
“Hennings hat mich überrumpelt! Ich bin völlig unvorbereitet. Kannst du mir einen Gefallen tun?”
Ich nicke.
“Mein Schreibheft, wir wollten es doch auf dem Dachboden verstecken. Heute Morgen habe ich es da oben versteckt, kannst du mir das holen? Es muss unbedingt in Sicherheit gebracht werden, ich will es mitnehmen.”

Vor dem Haupthaus warten zwei Herren. Es sind die Fahrer der Autos, die Hartmut und Peter abholen. Sie lehnen an ihren Wagen und rauchen Zigaretten. Für die anderen Kinder im Oberlehen verläuft der Nachmittag ruhig, wie jeder andere. Hin und wieder werden Kinder abgeholt und weggebracht. Das ist vollkommen normal, es interessiert niemanden. Bei überraschenden Abtransporten, wie dem von Hartmut und Peter, gibt es keine Abschiedsszenen. Kaum ein Kind merkt, dass ein Abschied stattfindet. Beim Abendessen fragen einige Kinder wo denn Peter und “der Pisser ” geblieben sind. Ich antworte:
“Die haben Hennings und Büchtler ins Erziehungsheim gesteckt.”
Darauf höre ich die Antwort:
“Ach so ja. Alles klar!”
Es ist ein alltäglicher Vorgang. Kein Grund für Aufregung oder Traurigkeit. Einige Kinder bemerken nicht einmal, dass zwei fehlen. Nach wenigen Tagen kommen zwei andere Kinder. An Kindern, die einen Platz am Oberlehen brauchen, scheint es nicht zu mangeln. Das Oberlehen ist stets voll.

Manche Kinder verschwinden so schnell, wie die Erzieherinnen. Hennings und Büchtler wollen niemanden in ihrem Oberlehen, der ihren Stil genauer kennen lernt. Über verschwundene Kinder wird im Oberlehen nicht gesprochen. Es wird so getan, als wären sie nie da gewesen. Genauso ist es mit Erzieherinnen. Ich habe das Gefühl, sie verschwinden dann, wenn sie uns kennen und die Gefahr besteht, dass sie Hennings und Büchtler einschätzen können.

Die Suche nach Peters Schreibheft auf dem Speicher kostet mich viel Mühe. Der Dachboden sieht umgeräumt aus. Unser Versteck, das Matratzenlager finde ich nicht wieder.

Stattdessen liegen die Matratzen kreuz und quer auf dem Speicher verstreut. Der Speicher sieht durchwühlt aus. Trotzdem hebe ich jede Matratze hoch und suche nach Peters Schreibheft. Nachdem ich den ganzen Dachboden durchstöbert habe, steige ich ohne Peters Schreibheft herunter. Das Schreibheft ist spurlos verschwunden.

Der Speisesaal ist leer. Peter und Hartmut sitzen nicht mehr am Mittagstisch. Draußen auf dem Vorplatz sehe ich, dass die beiden Autos vor dem Haupthaus weg sind. Ich habe auf dem Dachboden zu lange gebraucht. Im Oberlehen ist alles ruhig. Die Kinder sitzen, wie an jedem anderen Nachmittag im Aufenthaltsraum und machen Hausaufgaben.

Die Betten von Peter und Hartmut sind abgezogen. Das Zimmer wirkt verlassen, nur meine Sachen sind noch da. Ich laufe über den Hof hinüber ins Haupthaus. Aus dem Keller hole ich meine Schultasche. Mit der gehe ich in den Aufenthaltsraum zur Hausaufgabenkontrolle. Eine Erzieherin, die erst wenige Wochen im Oberlehen arbeitet, schimpft, weil ich zu spät komme. Hennings und Büchtler sind nirgendwo zu sehen. Nach der Hausaufgabenkontrolle gehe ich nicht den Berg hinauf in den Wald in unser Versteck. Ich will dort nicht allein hingehen.

Nachmittags sitze ich allein im Zimmer. Peter hat mich losgeschickt, das Schreibheft zu suchen, weil er nicht wollte, dass ich dabei bin, wenn er abfährt. Den Abschied wollte er mir und sich ersparen. Die Ruhe im Zimmer ist unheimlich. In dem Raum bin ich die Stimmen von Peter und Hartmut gewohnt. Hier spricht niemand mehr. Peter und Hartmut kommen nicht zurück. Ich lege mich auf mein Bett und starre an die weiße Decke. Unglaublich, denke ich, nun ist es vorbei. Ich denke daran, wie schön es wäre, wenn dieser Tag nur einer meiner Träume wäre. Ich will wieder aufwachen und Peter neben mir haben. Auch Hartmut soll wieder in seinem Bett liegen.

Ich bin wütend und traurig zugleich. Wütend bin ich darüber, dass Hennings diejenigen in einem schnellen Handstreich abschiebt, die ihm zu sehr in die Quere kommen. Traurig bin ich, denn ich fühle mich einsam. Eine Niederlage, die mich zu Boden presst. Das ist etwas, für das ich keine Worte finde. In mir spüre ich Schmerz, den ich nicht von dem Schmerz der üblichen Verletzungen, die Büchtler oder Hennings mir zufügen, kenne. Keine Striemen an meinem Körper, keine roten und blauen Abdrücke der Handflächen von Büchtler und Hennings. Keine Rippen schwellen an. Kein Auge schwillt an und schmerzt. Kein Arm schmerzt wegen des harten Griffs von Hennings. Trotzdem fühle ich mich schwer verletzt, auch wenn nicht auf mich eingeprügelt wird. Ich bin geschlagen.

Die Spuren von Störenfrieden, die Hennings vom Oberlehen abschiebt, sind nach wenigen Stunden verwischt. Kein Kleidungsstück, kein Blatt Papier, nicht einmal ein Haar auf dem Fußboden erinnert an deren Anwesenheit.

28. Grüne Minna

Der August ist morgens täglich klar und sonnig. In seinem Wagen, auf dem Weg zu seiner Firma, spricht der Chef von einem “tollen Sommer”. Ich weiß, warum er das betont. Der Chef ist in Berchtesgaden aufgewachsen. Das dauerhaft schöne Wetter ist keineswegs selbstverständlich.

Im Sommer, in dem ich das Oberlehen verlasse, ist es kalt und nass. Die Frau besteigt ihre weiße Limousine, die sie vor wenigen Minuten auf dem weißen Schotter vor dem Haus geparkt hat. Ich stehe auf dem Vorplatz und sehe zu, wie sie den großen Wagen rangiert. Ich höre den grobkörnigen Kies, der unter dem Gewicht des Wagens knirscht. Mit beiden Händen umgreift die Frau fest das schwarze, dicke Lederlenkrad. Ich finde, die Frau sieht ein bisschen verbissen aus, wie sie mit beiden Händen angestrengt am Lenkrad dreht.

Die Motorhaube schiebt sich nach rechts über den ordentlich gerechten Kies, während das Heck schräg über den Hof geschoben wird. Knirschend rollt der Wagen langsam rückwärts. Nun bleibt er stehen. Ich sehe die roten Bremsleuchten, wie sie grell aufleuchten. Der Wagen steht still. Das Seitenfenster an der Fahrerseite fährt herunter. Die Frau schaut zu mir. Sie lässt eine Hand auf dem Lenkrad liegen und bedeutet mir, einzusteigen. Sie winkt mich an die Beifahrertüre heran, dabei lächelt sie. Ich umrunde das Auto und sehe dabei, wie sich die Reifen noch einmal knirschend über den Kies drehen. Der Beifahrersitz ist groß. Ich greife nach dem Sicherheitsgurt. Die Frau hilf mir dabei, denn ich sitze zum ersten Mal in so einem Auto. Die Frau gibt leicht Gas, der Wagen bewegt sich über den Vorplatz.

Vor Wochen schon war mir gesagt worden, dass ich heute einen Ausflug machen darf. Weil ich genau wusste, dass es heute um zwei Uhr losgeht, war ich gleich nach dem Mittagessen in mein Zimmer gelaufen, um mich auf die Abfahrt vorzubereiten. Ich habe mir eine frische Hose und ein frisches T-Shirt aus dem Schrank genommen. Weil ich heute Vormittag in der Schule meine Turnsachen vergessen habe, waren meine Kleider verschwitzt. Jetzt bin ich froh, dass ich mich umgezogen habe, denn im Wagen ist es sehr heiß. Obwohl ich vormittags nach dem Sportunterricht geduscht habe, war ich nach dem Mittagessen schon wieder völlig verschwitzt. Bisher hat es sehr viel geregnet und die Temperaturen waren kaum über achtzehn, höchstens neunzehn Grad angestiegen, heute ist es fast dreißig Grad warm. Hoffentlich bleibt es noch lange so schön warm.

Frisch bekleidet lief ich die Wiese oberhalb der beiden Häuser hinauf. Um viertel vor zwei Uhr setzte ich mich neben der kleinen Bretterbude oberhalb des Bolzplatzes ins Gras. Von dort beobachtete ich alles, was rund um die beiden Häuser und auf dem Vorplatz geschah. Ich wartete auf den Wagen und auf diese Frau.

Büchtler hat mich im großen Speisesaal angesprochen:
“Am 19. Juli, kommt eine Frau, die mit dir einen Ausflug machen wird, um dich kennen zu lernen. Du weißt ja, um was es dabei geht. Sie kommt nachmittags um zwei und nimmt dich mit. Also sieh dich vor, dass du pünktlich auf dem Hof stehst!”
Seit Wochen schlägt Büchtler einen freundlicheren Ton an, als in den vergangenen sechs Jahren. Die Zeiten, in denen er mich angebrüllt oder verprügelt hat, sind endlich vorbei.

Sie braucht keine Gänge einzulegen, der Wagen schaltet automatisch.
“Wie geht es dir?”
Ich weiß nicht, was sie von mir hören möchte. Ich lächle verlegen.
“Mir geht es heute ganz gut, mit dem tollen Ausflug, den ich vor mir habe.“

Aus dem Wagenfenster sehe ich die steile, grüne Wiese mit dem hohen Gras. Im Winter ist das unser Schlittenberg und im Sommer unser Cowboy- und Indianerhügel. Das Gras konnte wegen anhaltendem Regenwetter in diesem Sommer noch nicht gemäht werden. Jetzt bläst ein heißer Sommerwind durch die hohen Halme, ich bin sicher, wenn es weiter so heiß bleibt, wird die Wiese in den nächsten Tagen abgemäht werden. Hennings wird mit der Motorsense auf dem steilen Hang auf und ab laufen. Mir fällt ein, dass Hennings sie nicht mehr abmähen kann, so wie er es in den vergangenen Jahren jeden Sommer mehrmals getan hat, denn er ist seit Wochen verschwunden.

Die Pfingstferien bei Oma und Opa waren sehr schön, aber sie waren sehr schnell vorbei. Nach meiner Rückkehr war Hennings verschwunden. Am Montagmorgen, auf dem Weg zur Bushaltestelle, der Station Erika, sagte ein Kind zu mir:
„Weiste schon, dass Hennings weg is?”
“Nee, keine Ahnung!”
Wenn Hennings nicht da war, war ich froh. Leider war er viel zu selten nicht da. Wenn er mal einige Tage weg war, interessierte ich mich nicht dafür, wo er geblieben war.
“Den hamse abgeholt, vor drei Tagen, mit der grünen Minna!”
Ich verstand nicht, dass mit der “grünen Minna” die Polizei gemeint war. Ich glaubte, dass von Hellings Jägerfreunden die Rede war. Hin und wieder nahm er an Treibjagden teil. Hennings und seine Jägerfreunde trugen grüne Jägerkleidung und fuhren mit grünen Jeeps durch den Wald.

Wegen Michael blieb keine Zeit genauer über die “grüne Minna” zu sprechen. Er kam dazwischen. Ich mag ihn nicht. Ich konnte mit dem Kind nicht weiter sprechen, weil ich auf Michael achten musste. Michael riss Tommi und Paul, das sind die kleinsten von uns, die Schulranzen vom Rücken. Er warf beide Schulranzen einem großen Jungen, der nicht bei uns wohnt, zu. Weil ich dieses Spiel von Michael seit Jahren kenne, tat ich an diesem Morgen, was ich jeden Morgen an der Bushaltestelle tue. Ich flüchtete einige Meter in die Wiese hinter der Bushaltestelle.

Michael sprang dem Buben, mit dem ich gerade sprach, heftig in den Rücken. Er presste das Kind auf die Wiese und riss auch ihm den Schulranzen vom Leib. Den schleuderte er dem anderen großen Knaben zu. Weil der gelbe Schulbus von oben die Straße herunter rollte, warf der große Knabe die Schultasche nicht zurück zu Michael, sondern er schleuderte sie in hohem Bogen weit in die Wiese. Das Kind musste sich beeilen seine Schultasche im hohen Gras zu finden.

Später erfahre ich, dass “die grüne Minna” mit Hellings Jägerfreunden nichts zu tun hat. “Den Kerl wern mir nimmer sehn!”
“Glaubste wirklich?” frage ich.
“Klar, so wias den abgführt hamm, den sehn mir hier nie wieder!”
Wie ein Straftäter, so sagt es der Knabe im Schulbus, wurde Hennings weg gebracht.

29. Prima

Seit ein paar Wochen geht es mir am Oberlehen täglich besser. Das hängt damit zusammen, dass Hennings verschwunden ist, Büchtler freundlicher geworden ist und heute der Ausflug stattfindet. Seit beinahe sieben Jahren wohne ich in den beiden Häusern auf dem Berg, den ich jetzt in einem großen weißen Wagen hinunter rolle. Die Jahre sollen in einigen Tagen vorbei sein. Bei der großen Frau und deren Mann soll ich in Berchtesgaden ein neues zu Hause finden.

Jetzt steuert die Frau den Wagen an der grauen Steinmauer unterhalb des Oberlehens vorbei. Die Mauer hält den Berg davon ab, auf die Straße zu stürzen. Wir überqueren die Brücke über die Schlittenrodelbahn. Rechts durch das Wagenfenster sehe ich die kleine Pension gegenüber der Bushaltestelle, Station Erika.

Die Pension war jeden Morgen mein Ausblick beim Warten auf den Schulbus. Oft habe ich morgens geträumt, wie schön es wäre, in der Pension Erika zu wohnen, anstatt im Oberlehen. In Berchtesgaden nur ein Gast am Obersalzberg in der Pension Erika zu sein! Die Idee fand ich jeden Morgen beim Warten auf den Schulbus sehr schön. Ein Tourist, wie der Ort sie tausendfach kennt. Eines Tages einfach verschwinden, wieder nach Hause fahren, mit meiner Familie, nach Irgendwo. Irgendwo, das war mein schönster Traum! Irgendwo war die ganzen langen Jahre am Obersalzberg mein zu Hause. Irgendwo war mein großes Glück, auf das ich hoffte, das ich mir ausmalte. Irgendwo waren meine Eltern, die mit mir als Touristen diesen Ort endlich verließen, um zu Hause gut anzukommen. Irgendwo war ich Hause, wo ich endlich leben durfte. Mein Irgendwo finde ich jetzt, anstatt weit weg vom Obersalzberg, ganz in dessen Nähe.

Die Frau steuert den Wagen durch die engen Kurven die steile Bergstraße hinunter. Ich hoffe, dass mein Irgendwo ein schönes Zuhause wird. Mein Irgendwo liegt unten in Berchtesgaden. Es liegt auf einer schönen Anhöhe mit Blick hinüber auf den Obersalzberg. Von Irgendwo sehe ich auch den oft tief verschneiten Hohen Göll, den Jenner und rechts den Grünstein vor dem majestätisch erleuchteten Watzmann.

Vor uns fährt ein großer Wagen mit einem amerikanischen Nummernschild. Das Kinderfest bei den Amerikanern, oben im General – Walker – Hotel, und die amerikanischen Autos gehören zu den einzigen schönen Erinnerungen an die Jahre, die ich am Obersalzberg verbrachte.

Abends bringt mich die Frau, die meine neue Mutter in meinem neuen schönen Irgendwo sein wird, wieder hinauf ins Oberlehen. Sie und ihr Mann, den ich noch nicht kenne, der aber mein neuer Vater in meinem schönen Irgendwo werden wird, überlegen ein paar Wochen lang, ob ich bei ihnen wohnen darf.

1977 sind meine Sommerferien in Berchtesgaden wunderschön. Es ist nicht nur das Wetter, das mich glücklich macht. Das Wetter, das helle Licht, die Sonne Ende Juli, die hellen Farben, die grünen hohen Buchen über den saftigen Wiesen rund um Berchtesgaden finde ich in diesem Sommer ganz neu, obwohl ich die Landschaft seit so vielen Jahren kenne. Doch weil ich in diesem Sommer endlich mein neues Irgendwo finde, sieht alles, was ich in dem Ort und der Landschaft schon lange kenne, ganz anders aus. Es ist eine frisch Brise, die plötzlich in Berchtesgaden um meine Nase bläst, die neue frische Farben in meinem Berchtesgaden verteilt. Ich habe das Gefühl, dass wegen meinem neuen Irgendwo alles in diesem Ort bunter und heller aussieht. Selbst der muffige Geruch im Schulhaus, der seit Jahren gleiche Blick aus dem Fenster hinüber zum stillgelegten Eisenbahntunnel Richtung Salzburg hinter dem Schulhof, scheinen sich verändert zu haben.

Es kommt in Frage. Meine neue Mutter und mein neuer Vater in meinem neuen Irgendwo in Berchtesgaden sind einverstanden. Sie entscheiden sich für mich. Ich ziehe um, hinunter ins Tal. Dort beginnt für mich Irgendwo ein neues Leben.

Ich sitze neben Chef. Wie jeden Morgen überqueren wir auf der breiten Straße Richtung Salzburg, beinahe geräuschlos die Arche. Heute spricht er vom Zeitdruck in seiner Fabrik, wegen eines großen Auftrages von einer weltbekannten Kosmetikfirma. Meine Gedanken sind nicht bei der Arbeit. Ich denke nicht an die Finanzbeamten, die auch heute morgen wieder ihre Aktentaschen in die weißen Kleinwagen laden. Herbert, der mich morgens noch nie beim Tippen auf der Schreibmaschine gestört hat, ist heute Morgen nicht in meinem Kopf. Die Frauen im rustikalen Altenheim habe ich heute nicht beobachtet. Selbst das Oberlehen und der Obersalzberg sind endlich vorbei. In meinem Kopf ist nur Irgendwo, mein neues Leben bei meinen neuen Eltern.

Wenige Tage zuvor bin ich dreizehn Jahre alt geworden. Das Jugendamt hat zugestimmt. Ich betrete die Wohnung meiner neuen Familie. Erwachsene sind Befehlsgeber. Es sind Männer, die vorschreiben und befehlen, was und wie etwas zu tun ist. Dass Erwachsene anders als Hennings und Büchtler sind, weiß ich nicht.

Sie sind anders. Sie wollen freiwillig mit mir zusammen leben. An mir verdienen sie nicht ihren Lebensunterhalt, wie Hennings und Büchtler. Diese Erwachsenen bezahlen freiwillig für mich drauf. Sie unterstützen mich in allen erdenklichen Bereichen. Sie fördern mich, so dass ich beginne zu verstehen, was Erwachsene eigentlich von mir wollen. Sie helfen mir, meinen Kopf von Hennings und Büchtler zu befreien. Sie zeigen mir, wie ich meinen Kopf mit Wissen füllen kann. Bei ihnen lerne ich zu lernen.

Ein halbes Jahr später verstehe ich, was die Lehrer in der Schule erzählen. Plötzlich bin ich nicht mehr das Kind vom alten Oberlehen, das nichts versteht. Ich werde der beste Schüler der Klasse. Nach einem Schuljahr wechsle ich auf eine höhere Schule. Erwachsene unterstützen mich nach Kräften. Ich lerne, und ich nehme deren Unterstützung an.

Mein Leben ist umgekrempelt. Die Kinder vom Oberlehen sind weg. Ich besuche sie nicht. Ich sehe sie nie wieder. Auf der Straße, vor meinem neuen Irgendwo lerne ich neue Kinder kennen. Die Nachbarskinder freuen sich über mich. Ich darf mitspielen, als sei ich schon immer da. Ich unterhalte mich mit ihnen. Das ist neu. Es ist etwas, das ich mit den Kindern am Oberlehen nur mit Peter und Hartmut gemacht habe. Ich muss nicht permanent daran danken, wann ich mich vor Erwachsenen und Kindern wie Michael verstecken muss, sondern ich höre Erwachsenen und Kindern zu, ich verstehe, was sie sprechen, und ich rede mit. Mein früheres Leben im Oberlehen ist wie ausgelöscht.

Ich hole auf, was nach so vielen Jahren am Oberlehen noch aufzuholen ist. Ich habe Kontakte zu Gleichaltrigen, ich treibe Sport, ich lerne vernünftig zu sprechen, ich besuche eine höhere Schule. Für manchen Gleichaltrigen werde ich sogar zum Vorbild. In einer Jugendgruppe sagt ein älterer Gymnasiast zu mir, ich sei meinem Alter voraus. Das gibt mir Ansporn, so weiter zu machen. In der Schule bin ich richtig gut. Ich werde nicht der Streber, sondern ein geschätzter Klassenkamerad. Zu Gleichaltrigen habe ich viel guten Kontakt. Ich bin anspruchsvoll, aber nicht arrogant. Ich möchte vernünftige Gespräche führen, denn ich habe viel nachzuholen. Ich habe Hunger nach Erlebnissen mit Gleichaltrigen. Ich fahre Fahrrad, gehe Wandern in die Berge, gehe Skifahren und ins Freibad. Ich bin nicht übermütig oder gar draufgängerisch. Alles entwickelt sich prima rund um meine neue Familie.

Hennings und Büchtler haben mich geprägt, sie haben mein Vertrauen zu ihnen nachhaltig zerstört. Was mir bleibt ist mein Misstrauen zu Erwachsenen. Erwachsenen gehe ich aus dem Weg. Ich will mit ihnen nichts zu tun haben. Am Obersalzberg versuchte ich Hennings und Büchtler Jahre lang täglich aus dem Weg zu gehen.

Obwohl es die neuen Eltern wirklich gut mit mir meinen, versuche ich auch ihnen aus dem Weg zu gehen. Weil ich mit meinen neuen Eltern nicht über mein vorheriges Leben am Oberlehen spreche, weil meine Erlebnisse am Oberlehen aber Spuren verursachen, funktioniert ein Teil in meinem neuen Irgendwo nicht: Die Beziehung zu den neuen Eltern. Sie ist voll von meinem und deren Misstrauen. Sie haben Angst vor mir, ich habe Angst vor ihnen. Sie wissen nicht, dass ich harmlos bin und nichts anstelle. Sie trauen mir, wegen Nichtwissen nicht. Ich weiß nicht, dass sie nicht so sind, wie die beiden Erwachsenen Hennings und Büchtler. Deshalb habe ich Angst, obwohl sie mir nichts tun wollen, als Gutes.

30. Ein Heft

In der Fabrik arbeite ich heute fleißig, wie jeden Tag. Ich versuche wieder mein Bestes zu geben. Im Laufe des monotonen Arbeitstages an meiner Abfüllmaschine spüre ich aber mehr und mehr, dass meine Zeit in Berchtesgaden zu Ende geht. Warum ich hierher zurückgekommen bin, ist in den Wochen eintöniger Fabrikarbeit klar geworden.

Jeden Morgen habe ich, neben der ermüdenden täglichen Fabrikarbeit, an meiner Schreibmaschine meine Geschichte in diesem Ort aufgeschrieben. Ich habe aufgerollt, was ich bis heute noch nicht aufgerollt habe. Ich habe die Wochen, die Zeit in diesem Ort gebraucht, um etwas wertvolles zu erledigen. Die übrig gebliebenen Erinnerungen an das Oberlehen auf dem Obersalzberg habe ich aus meinem Kopf hervor geholt.

Das tägliche Hämmern auf meiner alten Schreibmaschine hatte den Sinn einem Bedürfnis zu folgen, der Erinnerung den Raum zu geben, den sie braucht, um abzuschließen, was in Vergessenheit geraten war. Ich habe erfahren, dass der Schein des Vergessenen trügt. Vergessenes verschwindet nicht einfach auf „nimmer Wiedersehen“, wenn es so wichtig ist, wie mein Leben am Oberlehen und wenn es nicht in meinem Kopf eingeordnet ist, als ruhende Vergangenheit. In das Oberlehen habe ich mich zurückgeführt, weil es in Vergessenheit geraten war, ohne abgeschlossen zu sein. Ich habe es abgeschlossen, indem ich alles zugelassen habe, was aus mir kam und indem ich das, was kam in die passenden Schubladen in mir eingeordnet habe. Die Last meiner Vergangenheit an diesem Ort habe ich so in meinem Kopf befreit. Mein Kopf ist deshalb frei für anderes, für wichtiges in meinem Leben. Es gelingt mir erst heute, die Wichtigkeit meiner täglichen Gegenwart voll zu erkennen, denn die Funktion der Vergangenheit habe ich durch Schreiben und Denken offen gelegt. Vielleicht gelingt es mir eines Tages sogar auch, den Sinn dieser Arbeit in der Fabrik zu erkennen, den ich bis heute nicht begreife.

Heute leiste ich in der kleinen Fabrik wieder Mehrarbeit. Ich arbeite, wie die Kollegen, bis spät abends. Nach der Arbeit fahre ich spät abends in der Dunkelheit noch einmal die kurvenreiche, steile Bergstraße hinauf auf den Berg. An der Station Erika biege ich wieder ab. Ich fahre über die Brücke, überquere die Rodelbahn. Kurz sehe ich links, zwischen den vielen Neubauten das alte Haus, die Pension Erika. Nach der grauen Steinmauer am Berghang biege ich links ab. Meinen Wagen parke ich gleich auf der rechten Seite vor einem Neubau. Die letzten Meter hinauf zum neuen Oberlehen gehe ich zu Fuß auf der spärlich beleuchteten Straße.

Durch einen Nebeneingang dringe ich in das Haupthaus des neuen Oberlehens ein. Es ist eine Holztür mit einem kleinen Fenster. Mit einem Stein schlage ich klirrend die Scheibe ein. Ich greife durch das Fenster und öffne die Tür von innen. Durch das Treppenhaus, vorbei an neuen Wohnungstüren, erreiche ich die Speichertür. Es ist eine Stahltür. Sie ist nicht verschlossen, der Schlüssel steckt. Ich öffne sie. Auf dem Speicher lagern Möbel und alte Matratzen. Ich setze mich auf eine Matratze am Ende des Speichers. Dort ist ein kleines Fenster. Ich öffne es. Die Nacht ist klar. Drüben am Horizont in der Dunkelheit erkenne ich die Silhouette des Untersberges. Peter hatte das Heft damals unter einer alten Matratze auf dem Speicher des Haupthauses versteckt und ich habe es, als er und Hartmut abgeholt wurden, nicht gefunden.

Ich zünde eine Kerze an und blättere in Peters Schreibheft. Peters Handschrift erkenne ich sofort. Einige Passagen stammen von Hartmut, auch seine Handschrift kenne ich genau. Beide sehen aus, wie meine Kinderschrift. Ich lese, was Peter und Hartmut damals geschrieben haben:

25. Juli 1976.
Ich habe heute in einem großen Supermarkt, der in Berchtesgaden neu eröffnet hat, dieses rote Heft geklaut. Es soll ab heute mein Tagebuch sein. Ich werde zusammen mit Hartmut darin schreiben, wenn wir uns oben im Wald oder in unserem Versteck auf dem Dachboden treffen. Es ist gefährlich zu schreiben, denn ich lebe in einem Kinderheim. Wenn mein Heft von jemandem im Heim entdeckt wird, ist es nicht nur weg, es wird für mich deshalb gefährlich werden, weil ich es gestohlen habe. Hennings und Büchtler werden mich auch deshalb schlagen, weil ich in diesem Heft schreibe, was ich denke. Ein gutes Versteck für das, was ich denke, ist unser Dachboden im Oberlehen.

26. Juli 1976.
Es hat stark geregnet. Oft haben wir schwere Regenfälle in diesem Sommer. Ich habe den Dienst “Sauberkeit ums Haus”. Den hat mir Büchtler aufgebrummt. Ich sorge dafür, dass es rund um unser Heim schön ordentlich ist. Der schwere Regen hat den Kies im Hof durcheinander gebracht. Die Wege rund um die Häuser sind versaut. Im Oberlehen leben wir in einer schönen Kinderwelt. Wir sind Taugenichtse. “Du bist nicht mehr als der Dreck auf den Wegen rund ums Oberlehen.” Das sagen Büchtler und Hennings täglich.

Sie schlagen uns nicht nur, sondern sie versuchen, unser Denken zu beeinflussen. Wir sollen nur noch denken, was sie vorgeben. Das tun wir, denn wir tun alles, um deren Schlägen zu entkommen. Wir denken, was sie wollen, was sonst kann der Grund sein, dass wir es nicht schaffen, Widerstand zu leisten? Ich will Widerstand leisten, schaffe es aber nicht, mir zu überlegen, wie, denn mein Kopf ist voll von Vorsicht und Flucht vor den beiden. Sind Erwachsene Terroristen, die mein Denken beeinflussen und genau kennen?

27. Juli 1976.
Sie heißt Station Erika. Morgens laufen wir in fünf Minuten zur Bushaltestelle. Alle Schulkinder vom Oberlehen warten hier. Jeden Morgen pünktlich um Viertel nach sieben kommt der gelbe Schulbus.

Man hört an seiner Sprache, dass er aus Berlin stammt. Heute Morgen begann er sein übliches Spiel. Einem kleineren Buben riss er im Vorbeigehen den Schulranzen vom Rücken. Michael warf die Schultasche einem anderen großen Kind zu. Zwischen beiden flog sie hin und her. Der Kleine wusste, dass es keinen Sinn hatte, wild nach der fliegenden Tasche herum zu rennen. Sich gegen solche Überlegenheit zu wehren, schadet mehr, als dass es nützt. Der Kleine stand und reagierte nicht auf Michaels Provokation.

Beide, Michael und sein großer Freund, vertrieben sich ihre Langeweile. Weil sich der Kleine nicht aufregte, war der Spaß aber nur halb so lustig. Nichtstun des Kleinen stachelte Michael zu weiteren Angriffen auf. Nach wenigen Minuten, den Schulranzen des Kleinen hatte Michael über die flache Wiese hinter die Bushaltestelle geschleudert, packten beide den Kleinen. Sie rissen ihm die Jacke vom Leib und warfen sich nun diese gegenseitig zu, wie zuvor die Schultasche.

Hupend näherte sich der Bus. Michael ließ von dem Kleinen ab, denn er steigt täglich, als erster ein, um einen Sitzplatz im Bus zu bekommen. Der Kleine raffte sich hoch, flitzte über die Wiese zu seiner Schultasche, schnappte sich seine schmutzige Jacke vom Straßenrand und stiegtals letzter in den Bus.

Bei uns herrscht die Macht des Größeren und Stärkeren. Michael und andere Heimkinder machen nach, was Hennings und Büchtler jeden Tag vorführen. Büchtler und Hennings bringen das Zuschlagen in meine Leben. Ich habe das vorher nicht gekannt. Beide kommen aus einem Erziehungsheim. Das ist ein Haus, in dem das Zuschlagen normal ist.

Der Kleine appelliert täglich an das Denken von Michael. Er steht wehrlos da, so wie wir Hennings und Büchtler gegenüberstehen. Der Kleine spricht nicht mit Michael, er kennt Michael schon lange, und weiß, dass Sprechen nichts nützt. Auch Hennings und Büchtler gegenüber schweige ich in solchen Momenten. Der Angriff ist heftig. Michael braucht das. Gegenüber, um anderen Kindern zu beweisen, dass er überlegen ist. So sorgt er dafür, dass er stets respektiert wird. Genauso ist es mit Hennings und Büchtler. Jedes Kind weiß, wie stark die sind, am besten man geht ihnen immer aus dem Weg. Deren Unberechenbarkeit und Launen aber bleiben. Wie der Kleine an der Busstation von Michael, kann man am Oberlehen jederzeit von Hennings oder Büchtler angegriffen werden.

28. Juli 1976.
“Hetzparolen”. Ich bin ein “Aufwiegler”. Deshalb gibt es ein geschwollenes Auge. Es kann auch eine gebrochene Rippe sein, ein gebrochenes Nasenbein, einen ausgerenkten Arm, oder es wird ein Sturz in eine Türe wegen eines Faustschlages ins Gesicht oder in den Magen.

Manchmal werde ich beinahe verrückt. Das liegt daran, dass unser Leben hier so schön aussieht, weil das Oberlehen in einer schönen Landschaft liegt. Es ist schwer zu erkennen, was schief läuft. Oft denke ich, dass das Schlagen und Reden von Hennings und Büchtler ganz normal sind. Manchmal scheint es mir unmöglich herauszufinden, was richtig und was falsch ist. Dann muss ich stundenlang nachdenken, um das Richtige wieder zu erkennen. Dafür brauche ich meine Verstecke.

29. Juli 1976.
Genauso wie manches größere Kind im Oberlehen ist Büchtler ein Angeber. Er findet es gut, ohne Rücksicht auf rote Ampeln und Geschwindigkeitsbegrenzungen von seiner Wohnung im weißen Porsche hinauf ins Heim zu fahren. Damit prahlt Büchtler. Kinder wie Michael glauben, dass es Sinn macht, so etwas zu tun, und darauf stolz zu sein. Ich weiß nicht, welchen Sinn das hat, aber ich sehe einen anderen Sinn:

Büchtler und Hennings sind Chefs. Sie verdienen an uns. Das muss so viel bringen, dass Büchtler sich diesen Porsche kauft. Der Porsche ist Symbol seiner Schläge, die er uns gibt, um damit Geld zu verdienen. Mit dem Auto zeigt er täglich seine Macht, mit deren Gewalt er auf uns einschlägt.

30. Juli 1976.
Samstagmorgens, nach dem Frühstück, treffen wir uns alle im Hof zwischen den beiden Häusern unter der großen Eiche. Zu zweit nebeneinander stehen wir in einer Reihe. Nach dem Abzählen marschieren wir los. Wir laufen auf der Rodelbahn hinunter nach Berchtesgaden. Unser Ziel ist das Hallenbad. Büchtler läuft nicht mit. Er fährt in seinem Porsche. Nach dem Schwimmen verteilt er im Vorraum des Hallenbades das Taschengeld.

Mit dem Taschengeld zahle ich meine Schulden bei Michael. Er ist ein Abkassierer. Jede Woche treibt er Schulden ein. Seine Preise sind hoch. Hat man im Sommer ein Fahrrad von ihm geliehen, kann es sein, dass man im Winter noch dafür bezahlen muss. Wer nicht zahlen will, kriegt Prügel.

Nach der Taschengeldausgabe dürfen wir in Berchtesgaden einkaufen. Wer versucht, seine Schulden nicht gleich an Michael zu bezahlen, wird von ihm hinters Hallenbad gezerrt, verprügelt und seines Geldes erleichtert. Wer es schafft dem Geldeintreiber bis in den Ort zu entkommen, wird an irgendeiner Ecke von ihm aufgegriffen. Wer es schafft, ihm den ganzen Samstagvormittag zu entkommen, wird an der Bushaltestelle unter die Brücke gezerrt und dort verprügelt. Wer nicht an der Bushaltestelle wartet, sondern zu Fuß den Berg hinauf läuft, wird oben nach dem Mittagessen von ihm in den Keller oder aufs Klo gezogen.

“Hoffentlich haste dein Taschengeld noch nicht verjuxt, sonst gibt’s eins auf die Schnautze druff.”
So brüllt Michael in bayerischem Tonfall. Danach blutet meine Nase und ich bleibe auf der Kloschüssel liegen.
“Nächsten Samstag zahlste doppelt, sonst bleibt der Kopp in der Schüssel drinne.”
Am nächsten Samstag zahle ich. Michael hat das von Hennings und Büchtler gelernt. Er beherrscht das mit der Macht des Stärkeren.

31. Juli 1976.
Buchhalter Büchtler und Heimleiter Hennings kalkulieren mit unserer Kindheit. Der Buchhalter berechnet, was wir einbringen. Ein Jugendamt bezahlt für mich. Deren Gegenleistung sind Schläge, Einschüchterung und Druck. Wir sind krank und kaputt. Ich muss dafür bezahlen, vielleicht mein Leben lang. Hennings und Büchtler geht es nicht schlecht, sie leben gut dabei.

01.08.1976.
Im Oberlehen hat sich was entwickelt, das für mich schlecht sein könnte. Mein Misstrauen gegenüber Hennings und Büchtler ist stärker geworden. Ich beobachte sie argwöhnisch, vor allem Hennings. Ich glaube, er merkt, dass mir sein Umgang mit den Heimbewohnerinnen am Oberlehen nicht gefällt.

Die Notizen enden hier, denn am nächsten Tag wurden er und Hartmut in ein anderes Heim gebracht.

Büchtler übernimmt ein knappes Jahr später die Leitung des Oberlehens. Hennings wird an einem nasskalten kühlen Sommertag von der Polizei abgeholt. Was Hennings vorgeworfen wird, weiß ich nicht.

Büchtler ist ein brutaler Kerl. Er ist nicht so dumm wie Hennings. Er ist kalt und berechnend. Grausamkeiten und Racheakte, die er vollzieht, vollzieht er gezielt. Er will genau das Kind treffen, dem er einen heftigen Schlag verpasst. Er will Macht über das Kind und dessen Willen brechen. Eine eigene Meinung eines Kindes gibt es nicht. Büchtlers Macht ist unantastbar. Kinder werden mit Schlägen hörig gemacht.

Hennings dagegen agiert gefühlsgeleitet und im Affekt. Er ist Opfer seiner Unfähigkeit, sich selbst und seine Triebe zu kontrollieren. Die Position des Heimleiters wirkt an Hennings lächerlich. Ich glaube, dass Hennings dumm ist. Büchtler ist berechnend und intelligent. Bei Büchtler spüre ich Lust an Gewalt. Es ist erschreckend, dass er das Oberlehen nach Hellings Inhaftierung übernimmt und noch mehrere Jahrzehnte allein weiterführt.

Die Hausbesitzerin entdeckt die zerschlagene Fensterscheibe. Sie bemerkt, dass ich mich auf dem Speicher aufhalte. Sie ruft die Polizei. Ich werde verhört. Als Grund meines Eindringens gebe ich Peters Schulheft an, dass ich gesucht habe und schließlich auch gefunden habe. Ich muss es als Beweisstück der Polizei geben.

Für meinen Einbruch am neuen Oberlehen werde ich haftbar gemacht und später verurteilt. Die Polizei findet heraus, dass das Schreibheft von Peter keine zwanzig Jahre, sondern höchstens einen Monat alt ist. Außerdem ist die Schrift eindeutig mit meiner Handschrift identisch. Deshalb wird angenommen, dass es die Personen Hartmut und Peter nie gegeben hat. Dass ich diese Personen als Verfasser des Schreibheftes benenne, was ich als Grund für meinen Einbruch angebe, interessiert die Beamten, die meine Aussagen akribisch protokollieren, nicht.

Die Wohnung in der Hochsteinstraße und meine Arbeit in der Fabrik gebe ich im September auf. Ich ziehe zurück in die Stadt.

31. Arbeitszeit

Ein Jahr später laufe ich in einem Amt in der Stadt, einen grauen Korridor entlang. Manche der vielen Türen steht offen. Ich sehe hinter den Schreibtischen die Gesichter der Menschen, die hier arbeiten. Mancher Blick ist fröhlich, mancher ausgelassen und heiter. Einige Gesichter sehen eher grimmig aus, manch eines wirkt ein bisschen verschlafen. Ab heute werde ich täglich an diesen Bürotüren vorbei gehen, denn ab heute ist hier mein neuer Arbeitsplatz. Ich finde mein Büro ganz hinten in dem langen Korridor. Dort biege ich nach links ab, es ist finster, die dritte Tür führt in mein Büro.

Hennings und Büchtler sind aus meinem Kopf verschwunden. Ich glaube, tatsächlich ist eingetreten, was ich mit meiner Suche nach der Vergangenheit in dem schönen Gebirgsort bezweckt habe. Ich habe das Gefühl, dass die Zeit meiner Kindheit, die am alten Oberlehen von den beiden Männern bestimmt worden war, tatsächlich überwunden ist.

Der Dienststellenleiter, Herr Müller, führt mich durch verschiedene Büroräume. Dort stelle ich mich meinen neuen Kolleginnen und Kollegen vor. Müller öffnet die erste Bürotüre. Es ist ein finsterer, schmaler Raum. Eine Frau erhebt sich vom Stuhl hinter ihrem Schreibtisch. Müller stellt mich namentlich als neuen Kollegen vor. Ich schüttle der Frau die Hand, und begrüße sie freundlich. Jetzt sehe ich in ihr Gesicht. Während ich sie ansehe, beginnt sie zu sprechen, ich höre ihre Stimme:
“Roswita Maier, guten Morgen!”
Es ist eine laute, aufdringliche Stimme, die mir sofort sehr bekannt vorkommt. Jetzt wird ihre Stimme noch lauter, obwohl ich ganz nahe vor dieser Frau stehe, ruft sie:
“Ich glaube, wir kennen uns!”
Zweifel sind ausgeschlossen. Die aufdringlich laute Stimme erkenne ich. An das Gesicht aber kann ich mich nicht erinnern. Diese Roswita Maier muss vor mehr als zwanzig Jahren unter Hennings und Büchtler am alten Oberlehen gearbeitet haben. Aus irgendeinem Grund muss mein Nachname, mit dem Müller mich gerade vorgestellt hat, dieser Frau bis heute in Erinnerung geblieben sein.

Deren aufdringliche Stimme weckt in mir schlimme Erinnerungen an mein Leben im Oberlehen. Roswita Maier muss eine der vielen Erzieherinnen gewesen sein, die damals stets für kurze Zeit am Obersalzberg gearbeitet haben. Roswita war aber keine der Rettungsanker, auf die ich damals bei mancher Erzieherin am Oberlehen gehofft habe. Ihre harte, laute, aufgebrachte Stimme weckt in mir eine tiefe alte Angst. Sie flackert plötzlich wieder auf. Es ist die Angst, die mich als Kind immer vor Erwachsenen zurückschrecken ließ, die mich in eine Ecke trieb, um mich zu verstecken. Niemals habe ich daran gedacht, dass das wieder kommt. Plötzlich, in diesem engen, finsteren Büroraum, vor dem Schreibtisch dieser Roswita ist wieder da, was ich jahrelang nicht mehr gespürt habe. Plötzlich fühle ich mich wie gelähmt.

Schnell verlasse ich das Büro. Ich möchte mit dieser Roswita nicht weiter reden. Müller weiß nicht, woher Roswita mich kennt und ich will auch nicht, dass es dazu kommt, dass er sich darüber Gedanken macht. Es scheint ihm nichts auszumachen, dass wir das Büro von Roswita sehr schnell verlassen.

Es ist die Angst, die mich immer überwältigt hatte, wegen der Unberechenbarkeit, die ich im Denken und Handeln der beiden Männer gespürt hatte. Angst wegen der unberechenbaren Macht, der ich ausgeliefert war, weil ich Kind war. Roswita löst mit ihrer harten Stimme schreckliche Gefühle und Erinnerungen in mir aus.

In den nächsten Tagen suche ich Roswita trotzdem in ihrem Büro auf, denn ich habe in meinem Kopf mit dem Leben am Oberlehen abgeschlossen. Ich will nur wissen, was sie über das Oberlehen am Obersalzberg denkt.

Deren Erinnerung ist vollkommen anders. Sie erinnert sich an die schöne Natur und die Wälder rund um mein Heim. Sie findet, dass wir naturverbunden und in kindgerechtem Lebensraum aufwachsen durften. Roswita schwärmt von der grünen Natur und den Bergen rund um das alte Oberlehen. Sie betont laut und deutlich, was sie damals bewogen hatte, am alten Oberlehen für etwa ein halbes Jahr lang zu arbeiten: Die reizvolle und wunderschöne Umgebung und der Schnee auf den hohen Bergen hatten es ihr angetan. Von der Gewalt der beiden Männer gegenüber Kindern weiß sie nichts.

Ich spüre ihre Erwartung an mich, die guten Erinnerungen an ihre Arbeitszeit in der herrlichen Naturlandschaft, wieder zu beleben. Ich lerne eine sehr neugierige, beinahe distanzlose, laute Frau kennen. Mehrfach muss ich deren aufdringliche Fragen zu meinem Leben am alten Oberlehen, die sie stets sofort beantwortet wissen will, abblocken. Ihr Interesse an meiner Vergangenheit ist oberflächlich. Es ist davon geleitet ihre Erinnerungen an ihre Arbeitszeit auf dem schönen Obersalzberg wieder aufblühen zu lassen.

32. Wandertag

Seit beinahe dreißig Jahren lebt Büchtler von Kindern, für deren Entwicklung er Verantwortung übernimmt. Es ist ein warmer Julitag 1999, dem letzten Jahr dieses Jahrtausends. An diesem Tag geben Jugendämter immer noch Kinder in die Obhut von Büchtler. Büchtler führt ein Haus, ähnlich dem Oberlehen. Es liegt auf einem niedrigeren Berg gegenüber dem Obersalzberg in Berchtesgaden. Es ist ein kleineres Haus.

Am heutigen Tag geschieht etwas besonderes. Ein kleines Kind ist, wie jeden Morgen, unterwegs in die Schule. Es verlässt um halb acht Uhr das Haus von Büchtler. Wie jeden Tag schlendert es langsam die schmale Straße vor dem Haus hinunter. Heute trägt das Kind keinen schweren Schulranzen auf dem Rücken, denn heute wird kein Unterricht abgehalten. Es ist der Wandertag, den die Schule einmal im Jahr macht. Die Schulklasse wird einen schönen Ausflug auf einen der nahen Berge unternehmen. Das Wetter ist wunderschön, deshalb könnte sich das Kind eigentlich auf den bevorstehenden Tag in den Bergen freuen.

An einem Aussichtspunkt am Waldrand bleibt das Kind einige Minuten lang stehen. Drüben, auf der anderen Seite des Tals, sieht es den Obersalzberg. Der Himmel ist blau heute morgen, nur einige winzige Schäfchenwolken ziehen oben am Kehlsteinhaus vorbei. Das Kind freut sich aber nicht über das schöne Wetter. Es steht traurig am Weg und schaut über das enge Tal.

Den Ort unten und die umliegenden Berge sieht das Kind verschwommen. Immer wieder wischt es sich die Augen. Das Bild des schönen Tals wird nicht klarer. Immer wieder rollen Tränen aus den Augen des Kindes, so dass es selbst den Waldweg unter seinen Füßen nicht mehr klar erkennen kann. Trotzdem setzt das Kind seinen Weg Richtung Schule fort. Es möchte nicht, dass die Lehrerin bei Büchtler anruft, und fragt, warum es noch nicht da ist. Heute ist es besonders unglücklich. Büchtler hat gestern wieder gezeigt, welche Macht er hat, und wer der Herr in seinem Haus ist. Büchtlers Gewalt kann das Kind nicht entkommen. Das Kind hat Angst, wenn Büchtler ihm nur gegenüber tritt.

Das Kind betritt das Schulhaus. Es läuft schnell hinauf in seinen Klassenraum, wo alle anderen Kinder schon warten. Auch die Lehrerin wartet auf das Kind, denn vor fünf Minuten schon sollte der Ausflug beginnen. Das Kind war noch nie zu spät in die Schule gekommen. Die Lehrerin sieht sofort, dass mit dem Kind etwas nicht in Ordnung ist. Obwohl die Schulklasse jetzt losgehen möchte und deshalb sehr unruhig ist, nimmt sie das Kind kurz zur Seite. Sie schickt die anderen Kinder hinunter in den Schulhof, dort sollen sie warten. Sie fragt, was los ist. Das Kind weint. Die Lehrerin will wissen, was los ist. Das Kind denkt sekundenlang nicht an die Angst. Deshalb erzählt es, wie es seit langer Zeit von Büchtler behandelt wird. Es erzählt von Zittern vor Büchtler, das immer da ist, das nicht mehr aufhören mag. Die Lehrerin tröstet das Kind.

Minuten später geht die Lehrerin mit dem Kind hinunter zur Schulklasse. Der Ausflug kann beginnen. Unterwegs denkt die Lehrerin darüber nach, ob sie verschweigen muss, was sie von dem Kind erfahren hat. Zunächst glaubt sie daran, dass sie nichts unternehmen darf. Weil das Kind am Morgen sehr verstört war, kann die Lehrerin sich nicht vorstellen, dass es erfunden hat, dass Büchtler es schlägt und ihm permanent Angst macht.

Vom Freibad, das die Lehrerin nachmittags mit der Schulklasse besucht, ruft sie das Amt an. Sie denkt sich nicht viel dabei, nur dass sie glaubt, sie muss es tun. Sie glaubt nicht, dass sie das Kind, den Schuldirektor, oder gar Büchtler fragen muss, ob sie das tun darf. Sie tut es einfach, weil sie glaubt, dass es einem Kind schadet, so verstört zu sein. Was die Lehrerin am Telefon sagt, findet das Amt so interessant, dass gleich ein Mitarbeiter losgeschickt wird, um in Büchtlers Haus zu überprüfen, ob dort Dinge passieren, welche die Angst des Mädchens erklären könnten.

Büchtler ist nicht in seinem Haus. Stattdessen trifft der Mitarbeiter des Amtes auf eine junge Frau. Sie arbeitet seit ein paar Monaten im Haus von Büchtler. Der Mitarbeiter des Amtes spricht bei einer Tasse Tee mit der Frau. Die Frau fasst Mut und erzählt von einzelnen Vorfällen die das Kind verängstigen. Es ist körperliche und psychische Gewalt, denen die Kinder wegen Büchtler ausgesetzt sind. Sie erzählt von Lasten die Kinder, wegen der Verletzungen, die Büchtler ihnen zufügt, zu tragen haben. Sie erzählt von Verletzungen, die Peter damals gemeint haben könnte, als er in unserem Versteck am alten Oberlehen vom Terror der beiden Männer sprach. Sie erzählt, dass Büchtler stets, sein Handeln in ein Licht rückt, dass es sehr schwer macht, das unmenschliche zu erkennen. Der Alltag in Büchtlers Haus sehe sehr ruhig und unauffällig aus. Büchtlers Gewalt aber mache die Seelen der Kinder kaputt. Angst sei das wichtigste Mittel Büchtlers.

Weil das Amt am nächsten Tag ankündigt, Büchtlers Haus ab sofort sehr genau zu kontrollieren vielleicht sogar zu schließen, schlägt Büchtler die Frau brutal zusammen. Sie wird im Krankenhaus behandelt. Büchtler behauptet, nichts damit zu tun zu haben. Es sei ein Unfall geschehen. Das Amt reagiert. Es bringt die Kinder aus Büchtlers Haus in anderen Orten unter. Büchtler sagt, dass er sowieso mit der Arbeit aufhören wolle.

Secret gun – eine folgenschwere Begebenheit

 

Secret Gun


Die Macht der Zermürbung

Sachbuch einer folgenschweren Begebenheit von Bernd Thümmel (erstmalig in 2012 veröffentlicht)

Klappentext

Es ist durchgegangen. Irgend etwas hat das Tier wohl aufgeschreckt und in Panik versetzt. Es flieht. Die Reiterin scheint die Kontrolle verloren zu haben. Sie hüpft auf dem Sattel des galoppierenden Pferdes. Ihre Haltung sieht aus, wie die eines unkontrollierbar hinauf wirbelnden, blonden Haarschopfes. Es ist kein Sitzen, was die Reiterin da macht. Es sieht aus, als versuche sie sich mit aller Macht, vielleicht sogar mit Gewalt, auf dem Pferd zu halten. Auf den Galopp scheint sie keinen Einfluss mehr zu haben.“

Ein Buch über den individuellen Umgang mit chronischen Schmerzen, über den inneren Kampf mit einem traumatischen Ereignis, das nach einem schweren Unfall immer wieder zurück kehrt, über den persönlichen Umgang eines Menschen mit der Todesangst, die das Leben nicht wieder los lassen mag.
Der Autor schreibt von der Macht seiner Todeserlebnisse, täglichen Schmerzen, die sich ins Gehirn einnisten, um immer wieder um sich zu schlagen und dem Beginn seines zermürbenden Kampfes um berechtigte Schadensersatzforderungen an einen großen deutschen Versicherungskonzern.

Gewalttätig drängt er sich auf, mischt sich jeden Tag in alles ein. Akribisch arbeitet „Herr Brutal“ an seinem Werk, einen Menschen zu zerfressen. Brennend bahnt er sich seinen schmerzlichen Weg durch die rechte Gesichtshälfte. Täglich übernimmt er mehr und mehr Besitz von allem.“
Der Autor begreift, dass die Schmerzen des „Herr Brutal“ von nun an stets an seiner Seite bleiben werden. Dessen Brutalität gilt es nicht nur zu ertragen, es gilt sie in den Alltag zu integrieren, denn der Kampf gegen „Herrn Brutal“ ist aussichtslos.

In einer Klinik arbeitet sich der Autor durch die Folgen eines schrecklichen Unfalls. Bilder seines bisherigen Lebens lösen sich langsam auf, bis sie vollständig verschwinden. Neue Bilder, die der Autor vor dem Unfall nicht kannte, tauchen unvermittelt auf. Sie machen sich breit, sie übernehmen den Lebensmittelpunkt des Autors. Immer wieder bringen sie ihn zurück zu dem Tag, an dem sein Leben gewalttätig, wie bei einem Überfall, angegriffen wurde.

26.11.2012, Vorwort

Ein schockierender Unfall, der für mich wie ein Überfall auf mein Leben war, ist für mich längst nicht vorbei. Ein langer Kampf gegen die Macht eines Versicherungskonzernes, der mich heute wissen lässt, dass ich selbst schuld sei an meinen schweren Verletzungen und den Unfallfolgen, steht noch bevor.
Ich schreibe darüber und freue mich, dass Sie heute darüber lesen. Ich glaube, dass viele Menschen, die von einer Sekunde zur nächsten einen schweren Schicksalsschlag erleiden, weil sie schwer verletzt wurden und deshalb aus ihrem bisherigen Leben gerissen wurden, nicht die Kraft besitzen, darüber bereits zu berichten, während sie mitten in diesem Kampf stecken.
Der Unfall, der mein Leben veränderte, ist heute genau ein Jahr her. Ich will mit der heutigen Veröffentlichung von Band 1 meiner E-Buchreihe „Die Macht der Zermürbungein kleines Stück dazu beitragen, dass das Leiden von Unfallopfern unter der Macht von Versicherungen irgendwann aufhört. Ich bin davon überzeugt, dass das nur gelingt, wenn Unfallopfer wie ich, öffentlich machen, wie sie von einem großen Versicherungskonzern behandelt werden, der versucht sich seinen Entschädigungspflichten mit allen juristischen Mitteln zu entziehen.
Wenn Sie haftpflichtversichert sind, was jedem Menschen dringend anzuraten ist, könnte mein Buch für Sie vielleicht interessant sein, denn die Haftpflichtversicherung, die meinen Unfallschaden versichert, benutzt meinen und Ihren Versicherungsbeitrag unter anderem auch dafür, große Anwaltskanzleien damit zu beauftragen, im Falle des Falles, die Deckung Ihres Schadens abzuwehren. Genau in dem Moment, in dem Sie Ihre Versicherung benötigen, weil ein für Sie stets unvorstellbarer Unfall tatsächlich eingetreten ist, werden Sie feststellen, dass die Versprechungen über die „Schadensregulierung“ in Ihrer Versicherungspolice keineswegs so gemeint sind, wie sie sich lesen. Die Versicherung wird Ihnen nicht helfen. Sie müssen sie verklagen. Sie haben nicht zu erwarten, dass Ihr Schaden als Opfer eines schweren Unfalls von der Haftpflichtversicherung mit Verständnis für Ihre berechtigten Forderungen behandelt wird. Die Herren der großen Anwaltskanzlei, gehen von der Versicherung beauftragt, mit den Opfern keineswegs zimperlich um. (1)

(1) Zermürbung des Opfers heißt für den Anwalt, der von dem Versicherungskonzern beauftragt wurde, der das Pferd versichert, das mich schwer verletzt hat, u.a. „einfach irgendetwas behaupten“, damit ich spüre, dass der Versicherungskonzern mit seinen Anwälten die Macht besitzt, zu entscheiden, den Schaden zu bezahlen oder eben nicht:
Im Antrag auf die Abweisung meiner Klage auf Schadensersatz, wegen meiner schweren Unfallverletzungen, schreiben die Anwälte, die die Tierhalterhaftpflichtversicherung der Pferdebesitzerin vertreten, am 22.05.2012 an das Landgericht München:
„… vielmehr wäre das Pferd an dem Kläger vorbei geritten, wenn dieser nicht in die Laufrichtung des Pferdes gesprungen wäre… der Kläger muss sich daher zumindest ein erhebliches Mitverschulden anrechnen lassen …“
und weiter:
„es wird darauf hingewiesen, dass der Kläger keine taugliche Aussage machen kann …“

Das wirkt auf mich erschreckend, beinhaltet das Wort „gesprungen“ doch den schier unglaublichen Vorwurf, dass ich absichtlich in das galoppierende Pferd „gesprungen“ sei. Hätte der Unfall für mich nicht so schlimme schmerzliche Folgen, könnte ich das als schlechten Witz begreifen.
Bei der ersten Verhandlung, im September 2012 im Münchner Landgericht, stellt sich heraus, dass der Anwalt des Versicherungskonzerns die Idee, ich sei in das Pferd gesprungen und deshalb habe ich eine Mitschuld, einfach erfunden hat. Das deutsche Recht macht es möglich:
Während ich alles was ich sage detailliert beweisen muss, kann der Anwalt des Haftpflichtversicherers einfach eine Behauptung aufstellen und diese dem Gericht und dem Opfer zuschicken. Gericht und Opfer müssen sich damit dann ernsthaft beschäftigen. Zeugen werden geladen, um erneut zu bezeugen, dass nicht stimmt, was der Anwalt des Versicherungskonzerns behauptet. Das Opfer muss den Unfallhergang erneut in allen Details schildern.
Die Zermürbungstaktik zieht das Verfahren in die Länge. Es ist Ziel, das Opfer so lange zu zermürben, indem man es ständig erneut konfrontiert mit dem Unfall, bis es von den persönlichen und finanziellen Folgen des Unfalls so frustriert ist, dass es aufgibt.

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26.11.2011, 14:00 Uhr, „secret gun“

Auf der schmalen Straße sind samstags Kinder mit Spielsachen unterwegs. Bobbycars und Roller, Mütter schieben Kinderwägen. Manche schieben zwei Kinderwägen nebeneinander. Sie sind in Richtung Kindergarten unterwegs, der dreihundert Meter entfernt an der Straße liegt. Dort gibt es einen schönen Spielplatz. Alte Leute, Jugendliche auf Rollerblades, ein Rollstuhlfahrer bahnen sich langsam ihren Weg. Ich sehe das täglich aus dem Wohnzimmerfenster. Links von meiner Wohnung liegt an die Straße angrenzend ein großer grüner Hügel auf dem im Winter die Kinder Schlitten fahren. Heute sehe ich auf der Wiese Jugendliche, die dort herum lungern, rauchen und sich lautstark unterhalten. Wenige hundert Meter entfernt, auf der anderen Seite des weitläufigen Ackers, in unmittelbarer Nähe der Unfallstelle, am Straßenrand, liegt eine große Wiese mit zwei Fußballtoren. Da sind Kinder, die mit ihrem Vater das Bolzen üben.

Pferdehöfe sind in der Gegend wie Pilze aus dem Boden geschossen. Das ist ein lukratives Geschäft. Reiten hat sich für junge Mädchen und junge Frauen aus der Stadt auf dem nahen flachen Land im Münchner Norden zu einer Art Volkssport entwickelt.

Plötzlich prescht eine der vielen Frauen galoppierend auf „secret gun“, einem panisch rennenden, riesigen Pferd, die kleine Straße vor meiner Wohnung entlang. Hört sich schlimmer an, als es juristisch ist. Der reale Horror erweist sich juristisch auf dem Papier für die Unfallverursacherin auf dem Pferd als unproblematisch. Das musste ich in den Monaten nachdem ich von „secret gun“ überrannt wurde, zu kapieren lernen:
Wird ein Mensch von einer, mit „secret gun“ galoppierenden Reiterin in den Acker neben der Straße geschleudert, um schwer verletzt in der schwarzen Erde liegen zu bleiben, fehlt diesem Ereignis die juristische Relevanz, um das Galoppieren der Frau auf der Straße fahrlässig zu nennen. Die Reiterin und deren Freundin, von der sie für den Ritt „secret gun“ am sonnigen Samstagnachmittag geliehen hat, sagen nämlich, dass die Reiterin Erfahrung im Reiten habe und dass sie alles versucht habe, um den Zusammenprall mit mir, dem Spaziergänger, zu verhindern. Deshalb gibt es keinen Grund meinen Strafantrag gegen die junge Reiterin, wegen fahrlässiger Körperverletzung auf öffentlicher Straße, überhaupt zu verfolgen. Das Verfahren wird von der Staatsanwaltschaft am Landgericht München eingestellt. Das Galoppieren auf „secret gun“ auf der Straße vor meinem Wohnzimmerfenster, und meine schweren Kopfverletzungen, haben keine juristischen Konsequenzen für die Reiterin. (2)

(2) Mit Verfügung vom 17.02.2012 stellt der zuständige Richter am Landgericht München II gem. § 170 Abs. 2 StP0 das Ermittlungsverfahren gegen die galoppierende Reiterin ein. Begründet wird das damit, dass
„ …in strafrechtlicher Hinsicht ein Nachweis eines Fahrlässigkeitsvorwurfes im Hinblick auf die Verletzungen des Geschädigten nicht zu führen ist …“

26.11.2012, Überleben heißt weiter machen

Ich muss wieder aufstehen. Ich muss Nemo, meinen Hund holen. Nemo ist davongelaufen. Das darf er nicht. Er muss immer bei mir bleiben.
Nemo! Nemo! Zu mir! Komm! Sofort zu mir. Nemo, wo bist du? Brav zu mir!
Ich drücke jetzt einfach meinen Oberkörper mit dem rechten Arm nach oben. So komme ich bestimmt gleich wieder hoch. Meine rechte Hand fasst auf was hartes, vielleicht ein Stein. Daran kann ich mich stützen und mich jetzt mit dem Arm hoch drücken. Ich umfasse den Stein. Saukalt und feucht ist der.
Liegenbleiben! Sie bleiben liegen!
Oh, wer ist denn das? Ich kenne die Stimme nicht, oder doch? Doch vielleicht kenne ich sie. Der fremde Mann kann mir jetzt bestimmt schnell mal hoch helfen!
Wo ist mein Hund? Mein Hund ist davongelaufen, ich muss meinen Hund finden! Nemo, wo bist du? Jetzt aber ganz schnell zu mir! Ich pfeife nach Nemo, so wie ich es immer mache. Pfff, Pfff, Pfff, Nemo zu mir!
Das Pfeifen schmeckt bitter. Warum schmeckt jetzt plötzlich mein Nemo-Pfeifen? Das hat sonst immer nach nichts geschmeckt. Ich mache den Mund zu und schlecke im Mund mit der Zunge. Sand, Erde und Steinchen. Das alles hab ich im Mund. Woher kommen denn diese Sachen? Ich hab doch keine Erde gegessen. Egal, das klär ich später. Jetzt muss ich wieder hoch auf die Beine kommen um Nemo zu mir zu holen.
Ich drücke ganz fest mit Hand und Arm auf den Stein und dabei frage ich den fremden Mann: „Könnten Sie mir bitte einfach ein bisschen helfen?“
Liegenbleiben, Sie bleiben liegen!
Warum schreit der denn so und warum soll ich hier auf der Erde liegen bleiben?
Was macht er denn jetzt? Mit wem spricht er denn da? Ich will nur Nemo suchen.
Bleiben Sie hier!
Ich könnte Ihnen meine Handynummer da lassen!
Das ist ja eine Frau die mit dem fremden Mann spricht! Ist also noch jemand hier! Super, die Frau könnte mir doch einfach nach oben helfen!
Hallo! Hallo! Ich muss meinen Hund suchen! Wo ist mein Hund?
Ihr Hund ist in Sicherheit! Bleiben Sie liegen!
Welche Sicherheit? Warum Sicherheit? Mein Hund ist davongelaufen. Ich drück mich nochmal ganz fest nach oben von der Erde weg.
Nein! Liegenbleiben!
Und Sie, bleiben Sie hier und warten Sie hier!
Aber ich könnte doch mein Handy hier lassen. Ich komme gleich wieder!
Warum will die Frau, die ich aus einiger Entfernung laut rufen höre, ihr Handy hier lassen? Und warum will sie gleich wiederkommen?
Nein, bleiben Sie hier! Sie warten hier!
Bleiben Sie liegen! Ihrem Hund geht es gut!
Gut? Warum geht es Nemo gut, wenn er nicht hier bei mir ist? Bei dem fremden Mann ist er auch nicht, sonst wäre Nemo jetzt ganz nah bei mir und würde mir mein Ohr abschlecken, weil ich ja unten auf dem Erdboden liege. Nemo ist davongelaufen, der Mann lügt. Warum sehe ich eigentlich nichts?
Ich lasse meinen Kopf auf weiche Erde fallen, meine Hand bleibt auf dem kalten Stein. Meine Zunge schiebe ich etwas raus. Ich spüre feuchte Kälte an der Zunge und den Geschmack vom Nemo-Pfeifen. Das ist Erdgeschmack.
Ich spüre Tränen und ein heftiges Brennen im Auge. Ich lege meinen Kopf auf die Seite nieder in die kalte Erde. Ich jammere: Ohjeh es geht nichts mehr. Ich winsele ein bisschen. Ich merke, dass meine Nase brennt wie Feuer und was warmes raus läuft.
Jetzt höre ich wieder was. Da spricht eine Frau. Ist das die mit dem Handy? Ich weiß es nicht und ich verstehe nicht was sie sagt. Vielleicht spricht die mit mir.
Meine Frau ist nicht da. Sie ist Zuhause. Ich bin allein mit Nemo hier herumgelaufen. Und jetzt? Mit mir ist was los! Ich bin nicht mehr in Ordnung. Meine Frau muss das wissen. Mein Kopf liegt auf der kalten Erde und Nemo ist nicht bei mir. Ich muss Zuhause anrufen. Meine Frau muss Bescheid wissen.
Bitte meine Frau anrufen! Meine Frau heißt Susanne. Die Telefonnummer ist 123456789. Bitte rufen Sie meine Frau an, sie muss Bescheid wissen, dass ich hier liege und Nemo weggelaufen ist! Danke!
Es ist sehr dunkel. Die Erde schmeckt sehr bitter. Ich liege gut auf ihr. Das ist mein Leben gewesen auf dir Erde. Ich darf jetzt auf dir noch ein bisschen liegen, ganz weich fühlt sich das an. Mein Kopf liegt gut. Ich bin ganz nahe an dir dran Erde. Ich kann dir jetzt tschüss sagen, mich von dir noch verabschieden. Tschüsschen Erde! Ganz kalt bist du und nass. Ich darf dich nochmal berühren. Ich darf zum Schluss meinem Kopf noch auf dich legen. Das ist gut so. Danke für alles Erde!
Es ist ganz ruhig geworden und stockfinster. Vielleicht ist jetzt wirklich keiner mehr da.

Tarack, tarack, tarack.

Warum nochmal das Riesenpferd mit der Reiterin? Ich bin doch schon hier unten mit dem Kopf und habe der Erde tschüsschen gesagt! Da sehe ich sie wieder. Sie galoppiert vor mir. Sie kommt direkt auf mich zu. Ihr Haar fliegt hoch. Ihre dunklen Stiefel stehen vom Pferd ab. Jetzt ist sie ganz nah. Ruft sie mir da etwas zu? Ich höre etwas. Meint sie mich? Aber nein sie ruft jemand anderem zu. Sie sieht mich ja gar nicht an. Ich bin nicht gemeint, denn ich liege ja mit meinem Kopf in der Erde.
Alles ist weg: Kein Sehen, kein Hören, kein Riechen. Keine Schmerzen. Nichts. Es geht mir gut hier. Nichts tut weh. Ich hab nichts mehr. Das ist richtig gut. Endlich Ruhe.
Machen Sie die Augen auf! Hallo, Hallo können Sie mich hören? Können Sie die Augen öffnen? Haben Sie hier schmerzen? Langsam! Jetzt auch noch rechts aus der Jacke. O.k., das geht. Nun die Infusion. Können Sie das Bein bewegen? Haben Sie hier Schmerzen? Spüren Sie das?
Ja. Ahh, tut weh.
Wo?
Unten am Fuß.
Schere bitte!
Danke!
Schnipp, schnipp, schnipp, schnipp.
Wo ist mein Hund?
Ganz ruhig, ihrem Hund geht es gut.
Infusion o.k.?
Ich brauche nichts. Mein Hund, wo ist er?
Es geht gut, ganz ruhig! Ihrem Hund geht es gut.
O.k., fertig! Eins, zwei, drei.
Schrrrr, schrrrr, schrrrr.
Langsamer hoch, und näher zu mir!
O.k. Jetzt Reißverschluss: Rrrrrr,rrrrrr.
Gut, aber Achtung, die Infusion höher und den Arm noch stärker anwinkeln.
O.k. Fixieren! Alle startklar? Alle o.k?
Dann los vorwärts.

Weil ich überlebt habe, kann ich anderer Meinung sein, als die Staatsanwaltschaft am Landgericht München II. Weil ich überlebt habe, kann ich dieses Buch schreiben.

Am Samstag, 26.11.2011 war ich um 14:34 Uhr draußen auf der kleinen Straße vor meinem Wohnzimmerfenster unterwegs. Heute kann ich wieder lesen. Das tue ich, indem ich mir das formelle Schreiben der Münchner Staatsanwaltschaft vom 17.02.2012 mit Hilfe meiner Leselupe, die ich seit dem Unfall brauche, genau ansehe.

Heute kann ich wieder in meiner Wohnung an der Straße, auf der ich von einem Pferd überrannt wurde, sitzen und hinaus auf die vorbei laufenden Menschen blicken, denn meine Schädelbrüche wurden erfolgreich im Münchner Schwabinger Krankenhaus operiert. Nachdem mich die junge Reiterin mit ihrem Pferd überrannt hatte, endete meine Hirnblutung im Krankenhaus zu meinem Glück nicht tödlich. Meine Retter waren schnell am Unfallort um mir die Kleidung vom Leib zu schneiden, mir die nötigen Infusionen anzulegen und mich in das Krankenhaus zu bringen. Deshalb kann ich heute lesen, dass es eine junge Frau war, die auf der kleinen Straße mit „secret gun“ galoppierte und mich, von hinten schnell heran rasend, einfach überrannte. Ich lese und bin froh, dass ich wieder sehen und lesen kann, auch wenn ich die Brille wegen der Schmerzen im Gesicht nur für sehr kurze Zeit aufsetzen kann.

30.11.2011, 14:30 Uhr, Bügelschnitt

Zwei Chirurgen schneiden mich am 30.11.2011 um 14:30 Uhr über meinen Kopf von einem Ohr zum anderen auf. Ein Teil meines „Skalps“ wird mir nach vorne über das Gesicht gezogen. So können sie meine eingebrochene Augenhöhle rechts, meine Brüche oberhalb der Augenhöhle links, eine Folie hinter meinem rechten Augapfel, mein Nasenbein, Brüche in meiner Schädeldecke und das Loch in meinem Kopf mit dem Metall Titan zusammenflicken.

Ein „Bügelschnitt“ wird am Kopf von einem Ohr zum anderen geführt. Damit kann an der vorderen Schädeldecke operiert werden. Die Haut und die Haare werden sozusagen, als würde man „skalpiert“, nach vorne ins Gesicht „abgelöst“ um die Brüche im oberen Gesichtsbereich und am Auge zu operieren. Eine knappe Woche nach der OP, am 05.12.2012 sehe ich deshalb so aus.

26.11.2011, 14:34 Uhr, Zufall

Mein Überleben spielt keine beabsichtigte Rolle. Es ist reiner Zufall. Ich lerne am 26.11.2011, dass es keine Garantie gibt, es nicht sofort zu verlieren. Das Leben könnte also tatsächlich ein Geschenk von irgendjemandem sein. Das Geschenk kann ausgelöscht werden, obwohl ich es immer gepflegt habe. Es kann trotzdem sein, dass ich Samstagnachmittags in der Sonne des Novembertages spazieren gehe und plötzlich alles vorbei ist. Darüber habe ich mir noch nie ernsthafte Gedanken gemacht. Am Morgen des 27.11.2011 ist es soweit. Ich wache im Münchner Schwabinger Krankenhaus in der Intensivstation der Unfallchirurgie auf. Ich merke, dass ich lebe. Ich habe kaum Schmerzen, denn ich hänge an der Infusion mit Cortison. In meinem gebrochenen Kopf habe ich an meinem ersten Tag, nach dem ich mir sicher war, gestorben zu sein, genau diese Gedanken.

Das Münchner Landgericht erkennt in der Verfügung vom 17.02.2012 zur Einstellung meines Strafantrages wegen fahrlässiger Körperverletzung folgendes:
Das Pferd „secret gun“ galoppiert am Samstag 26.11.2011 um 14:34 Uhr, samt junger Reiterin auf schmaler Straße am nördlichen Münchner Stadtrand. Die Reiterin versucht alles, um „secret gun“ zu stoppen. Sie hat Reitabzeichen, Reitpässe und Papiere, die sie qualifizieren so ein großes Pferd zu reiten. Sie ist eine, die Pferde zur Dressur ausbildet.
Genug Beweis, dass deren Galoppieren mit „secret gun“ auf der öffentlichen Straße keine Fahrlässigkeit darstellt. Für die Münchner Staatsanwaltschaft soweit erledigt, um meinen Strafantrag abzuweisen und meine Akte zu schließen.

Das Landgericht München II legt am 17.02.2012 meinen Strafantrag zu den Akten:
“… ein Nachweis eines Fahrlässigkeitsvorwurfes ist im Hinblick auf die Verletzungen des Geschädigten nicht zu führen.“
Es liegt nicht in öffentlichem Interesse, dass strafrechtlich verfolgt wird, wenn ein Mensch auf der Straße von einer Reiterin mit Pferd so zugerichtet wird, wie ich am 26.11.2011 um 14:34 Uhr zugerichtet wurde.

Eine Sekunde:

Meine zertrümmerte Armbanduhr, die ich von der Krankenhausverwaltung in einer Klarsichthülle zurück bekomme, zeigt den Zeitpunkt am 26.11.2011 exakt an. Eine schreckliche Sekunde für mich, aber auch für die Frau auf dem hohen Ross und für „secret gun“. Sie verändert mein Leben, „secret gun“ reitet heute weiter, genauso wie die Reiterin. Statistisch gesehen gibt es meinen Unfall marginal selten. Juristisch bleibt er folgenlos. Es ist der größte Crash meines bisherigen Lebens. Ich lebe weiter, ein sehr schöner Zufall.

26.11.2011, 14:33 Uhr, Galopp

Ein großes Pferd galoppiert nicht gerne auf einer geteerten Straße. Ich höre das. Es hört sich schmerzhaft an. Immer wenn ich das höre, denke ich, dass es dem Pferd sehr weh tut, denn das Geräusch ist sehr laut und es wirkt äußerst schwerfällig. Sein hohes Gewicht nimmt dem Tier auf der geteerten Straße die Leichtigkeit, die dem schnellen Galopp inne wohnt, wenn es in hohem Tempo über flaches Land galoppiert. Das schwere Schlagen der Pferdehufe auf einer Teerstraße dagegen ist laut, wie ein brutales Trommeln.

So ein Trommeln liegt mir seit dem Unfall immer wieder im Ohr. Ich lerne damit umzugehen. Ich muss mich, wenn das trommelnde Galoppieren los geht, sofort von meinen dann kommenden Gedanken an die Gefahr die mir droht, lösen. Ich muss mich umschauen und an etwas in meiner Umgebung festhalten. Das kann ein Haus sein, das ich beim Spazierengehen sehe. Es kann die Farbe eines parkenden Autos sein, es kann alles sein. Ziel ist es, dass ich mich in die Realität zurück hole. Das Hier und Jetzt muss es sein, wohin ich mich zurück bringe, damit das trommelnde Galoppieren in meinem Kopf und in meinen Ohren so schnell wie möglich aufhört. Ich habe das in der Klinik lange geübt. Mit viel Aufmerksamkeit und Willen funktioniert es.

Die Reiterin bringt das Tier dazu, von dem weichen Feldweg in vollem Galopp auf die geteerte Straße zu rennen. Das Pferd, wenn es schon gezwungen ist, in diese Richtung zu laufen, will aber lieber in dem platten Acker neben der geteerten Straße rennen. Was man tun muss, um das zu verhindern, wie man das Pferd zwingt auf dem harten Teer zu galoppieren, statt direkt neben der Straße auf dem Acker? Ich weiß es nicht, denn ich reite nicht.

Es ist durchgegangen. Irgend etwas hat das Tier wohl aufgeschreckt und in Panik versetzt. Es flieht. Die Reiterin scheint die Kontrolle verloren zu haben. Ihre Haltung sieht aus, wie die eines unkontrollierbar hinauf wirbelnden Haarschopfes. Es ist kein Sitzen, was die Reiterin da macht. Es sieht aus, als versuche sie sich mit aller Macht, vielleicht sogar mit Gewalt, auf dem Pferd zu halten. Auf den Galopp scheint sie keinen Einfluss mehr zu haben.

Die Reiterin ist im Umgang mit Pferden gut ausgebildet. Jetzt versucht sie alles, um das Pferd zu stoppen. Sie will das Tier wieder kontrollieren. Doch es rast weiter auf dem Feldweg. In dieser Richtung mündet der Weg auf eine kleine Straße. Die Reiterin nimmt das in Kauf. Ihr Pferd rennt jetzt schwer galoppierend auf den harten Teerbelag der Straße.

Sie hat das Pferd von einer Freundin geliehen, die sie auf einem anderen Pferd begleitet. Am sonnigen Samstagnachmittag sind die beiden Frauen mit den Pferden unterwegs. Der Novembertag ist trocken, die Sonne steht am frühen Nachmittag schon tief im Süden.

Mein Weg führt mich in Richtung Süden und Sonne. Ich lasse den Feldweg hinter mir und laufe mit Nemo, meinem Hund, einige Schritte auf der kleinen Straße. In der Sonne glänzt ein Auto. Es nähert sich langsam. Es bleibt in der Mitte der Straße, direkt neben mir stehen. Ich glaube, der Fahrer will eine Frage an mich richten. Plötzlich läuft mein Hund schnell und flink sehr weit voraus. Das ist mir viel zu weit. Er rennt am rechten Straßenrand in Richtung Sonne davon:
„Nemo! Nemo! Hiiieer! Hiiier! Sofort zu mir!“

Ich höre den Fahrer im Wagen neben mir. Er fragt mich:
„Wo geht es denn hier zum Zentrum?“

Merkt der denn nicht, dass ich gerade nach meinen Hund rufe? Ich sehe Nemo am rechten Straßenrand. So weit und so schnell rennt er sonst nie davon.

Die Unfallstelle nahe der nordwestlichen Münchner Stadtgrenze. Fotografiert am 13.12.2011.
Hier ist nicht genügend Platz, um ein galoppierendes Pferd durch eine erfahrenen Reiterin auf das freie Feld neben die Straße zu führen, damit das Pferd nicht mit mir kollidiert, während ich auf dieser Straße neben einem Auto stehe.
Deutsches Recht macht es möglich:
Mein Leben hing am Samstagnachmittag am seidenen Faden, weil auf dieser Straße eine qualifizierte Reiterin auf einem durchgegangenen Pferd namens „secret gun“ galoppierte. Sie hat das deutsche Reitabzeichen. Sie hat versucht das Tier zu stoppen. Mein Strafantrag landet im Keller der Münchner Staatsanwaltschaft. Die Reiterin hat alles richtig gemacht, dass sie mich auf öffentlicher Straße überrennt ist für die Münchner Staatsanwaltschaft keine fahrlässige Körperverletzung.
Heute begreife ich, warum Menschen in Deutschland an diesem Rechtsstaat zweifeln, obwohl ich weiß, dass wir in Deutschland eines der weltweit besten Rechtssysteme haben.

11.07.2012, 14:00 Uhr, in die Klinik

Heute bringt mich meine Frau in die Klinik. Zuvor sehen wir uns das Haus von Frau Schlosser in der Nähe an. Dort kann meine Frau übernachten, wenn sie mich am Wochenende besucht. Der Abschied von ihr und von unserem Hund fällt mir sehr schwer. Aber ich weiß, dass die Klinik wichtig für mich ist. Wir haben das lange besprochen.


15:00 Uhr

Ich beziehe ein schönes kleines Zimmer. Es ist hell und sehr sauber. Leider sehe ich nicht hinaus zum See, denn ich bin Kassenpatient. Immerhin habe ich Blick auf grüne Bäume. In der Nähe höre ich eine Straße.


15:30 Uhr

Ich bin aufgeregt. Frau S. Ist sehr ruhig. Das beruhigt auch mich. Deshalb denke ich, dass alles gut wird. Ich werde lernen, mich hier zurechtzufinden. Das zu denken beruhigt mich. Ich erfahre einiges über den Klinikablauf, bekomme viele Papiere, die ich lesen werde, und Papiere, die ich unterschreiben werde. Ich höre, dass ich gegen 17:30 Uhr von einem Mitpatienten abgeholt werde. Der soll mich zum Abendessen begleiten. Das sei doch eine sehr gute Idee, findet Frau S. Das Aufnahmegespräch mit Frau S. finde ich angenehm.

16:30 Uhr

Ich lese in der Präambel der Klinik, dass es im gegenseitigen Umgang der Mitpatienten sehr wichtig ist, freundlich zu sein. Die Zimmer der Patienten sind deren Rückzugsraum. Da hat kein anderer Patient Zutritt. Ich lese, dass Rauch und Alkohol Suchtmittel sind, welche die Arbeit an der Krankheit erschweren. Ich versuche nicht daran zu denken, dass ich, was ich lese als Anschlag auf meinen geistigen Anspruch begreifen könnte. Ich denke daran, dass mein Geist, vor allem dessen Niveau seit dem Unfall anders geworden ist.
Alkoholkonsum ist also verboten, das Rauchen geht nur in einer Raucherzone außerhalb des Klinikgeländes. Ich denke nicht daran, dass dies in einer Klinik selbstverständlich ist, sondern versuche mir Menschen vorzustellen, die das nicht denken. Beides, Rauch und Alkohol, brauche ich nicht. Ich bin deshalb mit dem Selbstverständlichen voll einverstanden.

Ich sehe durch meine Leselupe, dass Beziehungsarbeit und dafür nötiges Vertrauen sehr wichtige Dinge sind. Da denke ich „aha“. Viele Patienten haben negative Erfahrungen betreffend Beziehungen gemacht. Deshalb sei die Fähigkeit zur Abgrenzung dringend von Nöten. Das könne dazu beitragen, im Falle einer intensiven Beziehung zwischen Patienten, den Übergang zu einer sexuellen Beziehung zu verhindern. Ich denke „oh ja?“. Denn Sex zwischen Patienten werde keinesfalls geduldet. Kein Patient kann weiter in der Klinik verbleiben, der zu einem Mitpatienten eine sexuelle Beziehung habe. Ich denke „soso“. Meine Frau hat gesagt, dass die Sache mit dem „Kurschatten in solchen Kliniken“ durchaus ernst zu nehmen sei. Ich denke jetzt nicht an meinen Kopf und dem was darin vorgeht, sondern ich spüre meine Schmerzen an meinem Kopf, unterschreibe die Präambel und lege mich aufs Bett.


17:35 Uhr

J. bietet mir das Du an und meint, dass das auf der Station ganz üblich sei. J. macht einen entspannten Eindruck. Ich bin einverstanden. J. führt mich durch die verschiedenen Bereiche der Klinik. Er ist seit 5 Wochen da und findet das ganz wunderbar. Neuankömmlinge haben damit leichter die Möglichkeit, das Haus und die Abläufe kennen zu lernen.
Ich denke er meinte seine fünf Wochen waren ganz wunderbar. Ich merke, dass Missverständnisse, denen ich seit dem Unfall ständig begegne, manchmal gleich von mir bemerkt werden. Ich frage deshalb, ob J. die fünf Wochen in der Klinik auch wunderbar findet.
Mein Hirn wurde zum Glück nicht verletzt. Zumindest nicht offensichtlich. Ob das Schädel-Hirn-Trauma vielleicht eine Vielzahl von feinsten elektronischen Nervenverbindungen durcheinander gebracht hat, wurde bei mir nicht untersucht. Ich merke aber seit dem Unfall oft, dass ich Leute wie J. und deren Witze weniger verstehe, als vor dem Unfall. Weil ich das erkenne, bemühe ich mich sehr genau zuzuhören, um die Menschen wieder besser zu versehen und an der ein oder anderen Stelle wieder mit lachen zu können.

Ich erfahre von J., dass er begeisterter Musikliebhaber ist. Leider spielt er kein eigenes Instrument. Im Ergometerraum empfiehlt J. das Strampeln auf diesen Fahrrädern. Eine leichte Sportart, wie das Radfahren wäre vielleicht was für mich. Der Unfall lässt es tatsächlich nicht zu, dass ich bewegungsintensiven Sport treibe, denn dabei wird mir schnell Schwindelig. J. meint, er kenne jemanden mit einer Neuropathie, das „muss schon sehr heftige Schmerzen machen“.

Zum Schluss bring mich J. zum Abendessen in den Speisesaal, wo er mir den Ablauf erklärt, und mich der Buffet-Chefin vorstellt. Die weist mir einen Platz zu. Dort sitze ich allein, denn die drei anderen Tischgenossen sind schon mit dem Abendessen fertig.

19:00 Uhr

Ich fühle mich in einer anderen Welt. Die Klinik, meine Ankunft hier, hat mich aus dem Alltag Zuhause genommen. Ich bin in einem geschlossenen System gelandet. Es ist ein bisschen, wie nach dem Unfall in der Unfallchirurgie. Hier herrschen eigene Regeln, die mit der Außenwelt nicht besonders kompatibel sind. Ich fühle mich sogar wieder ein wenig mehr krank, als ich es bin.

Ich lenke mich von meinen Gedanken ab, gehe hinaus und repariere am Fahrrad herum, das ich mit gebracht habe. Ich schließe die Vorderradbremse wieder an und drehe ein paar entspannende Runden am nahen See und am Hafen. Ich bin froh, dass ich das Rad dabei habe, es erinnert mich an Zuhause. Dort übe ich das Radfahren täglich um meinen Gleichgewichtssinn zu trainieren. Mit dem Rad gewinne ich einen schnellen Überblick über den Ort und die Umgebung.

Wie die Möwen, die ich am See bei der Klinik sehe, habe ich mich für den Klinikaufenthalt startklar gemacht. In der Klinik packt mich jetzt aber doch meine Aufregung über das, was mich dort erwartet. Ich will dort lernen, was mit mir geht, um gesunder zu werden. Ich habe schon viele Fortschritte gemacht. Die Klinik ist dringend nötig, denn sie soll mir darüber mehr Klarheit bringen, wie ich mit den Unfallfolgen in meinem Alltag künftig besser umgehen kann.

12.07.2012, 04:30 Uhr, nächtliche Reiterin

Neben mir steht ein Auto. Es hat eine goldene Farbe. Es glänzt in der Sonne. Darin sitzen zwei Männer. Der Fahrer fragt mich etwas. Ich sehe den Mann nicht an. Ich schaue in meine Laufrichtung nach Süden zur Sonne. Sie steht sehr tief und blendet mich. Vor mir, in der Sonne sehe ich rechts unseren kleinen Hund davon rennen.

Nemo hat gar nichts vom Fisch aus dem Film, doch die Kinder suchen nach Ähnlichkeiten.

Kinder haben mich oft nach dessen Namen gefragt.
Ich sage:
„Nemo“.
Die Kinder fragen:
„So wie der Fisch?“
Ich sage:
„Ja, wie der Fisch. Aber wie hieß der Film noch gleich?“
„Findet Nemo!“, rufen die Kinder und lachen.


Ich kenne den Film nicht. Aber ich finde es gut, dass unser Hund so heißt, denn die Kinder bleiben deshalb meist noch ein bisschen stehen und schauen Nemo zu. Manchmal habe ich den Eindruck, dass ein Kind sich Nemo ganz genau ansieht, um sich zu versichern, dass er nicht doch vielleicht der Fisch aus dem Film ist. Nemo hat aber gar nichts von dem bunten Fisch. Er ist schwarz, braun und weiß. Er ist ein kleiner Bordercollie-Mischling.

Ich sehe Nemos hängende, schwarze Ohren. Ich mag diese Ohren, denn sie fühlen sich sehr weich an. Nemos Fell ist an den Ohren ganz glatt. Ich habe Nemo daran schon oft geärgert.

Wenn er sich abends, beim Fernsehgucken, auf dem Sofa in der Mitte zwischen meiner Frau und mir breit macht, dann kann ich ihn an den Härchen, die oben an seinen Ohren in die Luft stehen, leicht anstupsen. Nemo zuckt daraufhin mit dem Ohr. Mache ich das drei, vier Mal hintereinander, nervt es Nemo. Er dreht sich zu mir, schaut mich an, als sei er erbost darüber, welche Frechheit ich mir leiste.

Nemo kennt mein Spielchen. Einer wie er, der sich immer den Platz mitten drin zwischen uns auf dem Sofa nimmt, muss ein bisschen genervt werden und auf Trab gehalten werden. Das ist halt mal so, wenn ein Hündchen versucht, im Mittelpunkt des Geschehens zu stehen. Da wird man eben nicht einfach in Ruhe gelassen, sondern die Chefs melden sich mit lustigen und manchmal nervigen Spielchen. Irgendwann ist Nemo so genervt, dass er lieber in sein Körbchen geht.

Nemos Ohren hüpfen rhythmisch auf und ab. Ich rufe Nemo, doch er reagiert darauf nicht. Ich höre den Mann, der aus dem Autofenster heraus fragt:
„Wo geht es zum Zentrum?“
Nemo rennt immer weiter Richtung Sonne. Ich rufe ganz laut und entschlossen nach ihm.


Plötzlich höre ich extrem laut, direkt hinter mir ein irres Geräusch:
„Taracktaracktarack“.
Eine Frau schreit. Sie hat eine sehr hohe Stimme. Sie kreischt. Ich kann sie nicht verstehen. Die Pferdehufe sind viel zu laut, um zu verstehen. Ich muss wissen, was da ist und was die Frau schreit. Warum ist plötzlich so lautes Hufeschlagen hinter mir? Sekunden zuvor war es noch totenstill. Ich drehe mich nach rechts um. Ich will herausfinden, was hinter meinem Rücken los ist. Während ich mich drehe, sehe ich Nemo, wie er zur Sonne rennt.

Es ist ein riesiger Körper. Rechts und links stehen Beine in Stiefeln wie Flügel ab. Sie bewegen sich auf und ab. Ich sehe daran fliegende Schnüre oder Drähte, vielleicht kurze Seile. Oben an dem gigantischen Körper sehe ich eine schmale Spitze. Ein heller Menschenkopf mit langem Haar. Es weht im Wind. (3)

(3) Flashbacks habe ich oft Nachts, besonders Morgens in der Aufwachphase. Ich habe ein sehr gutes Fachbuch darüber gefunden. Es ist das Handbuch der Psychotraumatologie, das 2011 im Klett Cotta Verlag erschienen ist (ISBN: 978-3-608-94665-9). Zum Buch gibt es auch eine Webseite: http://handbuch-psychotraumatologie.de/

12.07.2012, 04:40 Uhr, Träume und Schübe

Ich schwitze. Das Fenster im Zimmer ist offen. Mein Herz klopft, es scheint zu rasen. Draußen höre ich ein Auto, in dem Gas gegeben wird. Es entfernt sich. Ich liege auf dem Rücken und atme hastig. Ich konzentriere mich auf meinen Atem. Das hilft mir, um mich zu beruhigen.

Schmerzen im Gesicht, ein starker Schmerzschub rund ums rechte Auge.

Weil mich das Pferd in das Feld geschleudert hat, sehe ich auf dem rechten Auge schlecht. Die Hälfte meines oberen, rechten Gesichtsfeldes ist seitdem schwarz. Ich weiß nicht, ob die Schmerzen auch mit dem Sehnervschaden zu tun haben.
Die Ärzte sagen: Nein. Überhaupt sagen mir nur Schmerztherapeuten, dass es solche Nervenschmerzen im Gesicht gibt, wie ich sie schildere. Die Chirurgen sind der Meinung, dass alles bestens verlaufen und verheilt ist und dass sie mit Nervenschäden im Gesicht nichts zu tun haben.

Seit dem Zusammenprall mit dem Pferd und den Brüchen meiner Augenhöhlen habe ich eine Trigeminusneuralgie. (4) Es handelt sich um Nerven, die im Gesicht verlaufen. Die Schäden und Schmerzen spüre ich von der Stirn ums Auge entlang der Wange, Nase, dem Oberkiefer. Trotz täglicher Einnahme von Antileptika (5) kommen unvermittelte Schmerzschübe.

(4) Symtomatische Trigeminusneuralgie: Was das ist, weiß ich erst, seitdem ich in Folge des Unfalls extreme Schmerzen und Schmerzschübe in der rechten Gesichtshälfte habe. Einen erklärenden Einstieg bietet Wikipedia, von wo aus ich zu hunderten Seiten finde, die das ganze Spektrum meiner „Wahnsinnsschmerzen“ im Gesicht durchleuchten. http://de.wikipedia.org/wiki/Trigeminusneuralgie

(5) Antileptika: Dass diese auch bei Schmerzschüben eingesetzt werden, weiß ich erst, seitdem ich damit behandelt werde. Ich nehme das Medikament Gabapentin in täglicher Dosis von bis zu 3600 mg. Das bewirkt, dass die extrem schmerzhaften Spitzen, der mehrmals stündlich kommenden Schübe deutlich abgeschwächt werden. Mein Arzt sagt, dass ich froh sein kann, dass dieses Medikament bei mir überhaupt wirkt.

07:30 Uhr.
Ich sitze allein. Vom reichhaltigen Buffet esse ich Quark und Käsebrötchen. Später setzt sich Frau W. zu mir. Sie hat die Süddeutsche Zeitung unterm Arm. Sie stellt sich freundlich vor. Sie kommt aus W. Ich spreche mit ihr über W. und München, von wo ich komme. Wir beide beschweren uns über die hohen Preise für Wohnungen und Häuser. Bei wem wir uns beschweren, weiß ich nicht. Später kommt noch eine weitere Mitpatientin, es ist A., sie stammt aus I. Sie erzählt, dass sie im schöneren Teil der Stadt im Südwesten wohnt.

12.07.2012, 08:15 Uhr, der „innere Kritiker“

Ich warte im fünften Stock vor dem Zimmer von Herrn Dr. A., bei dem ich um 8:15 Uhr ein Gespräch habe. Herr Dr. A. ist nicht da. Deshalb gehe ich in den dritten Stock zum sogenannten Stützpunkt, um zu fragen, wo Herr Dr. A. ist. Dort werde ich von einer, mir noch nicht bekannten Dame mit meinem Namen begrüßt. Das erstaunt mich, denn ich bin nicht einmal vierundzwanzig Stunden da.

Herr Dr. A., der Herr, der gerade in sein Postfach schaut, beachtet mich zunächst nicht. Er ist konzentriert damit befasst Blätter zu sortieren.
Ich denke daran, wie ich vor dem Unfall jeden Morgen an meinem Fach im Kopierraum stand und dort geschäftig meinen Posteingang durch scannte, um Papiere, die mir eindeutig nicht zuzuordnen waren, gleich den Kolleginnen ins Fach zu schieben. Ich denke auch daran, dass Herr Dr. A. vielleicht jeden Morgen einige Minuten zu spät kommt, weil er, so wie ich es viele Jahre lang getan habe, erst sein Postfach sichtet und sortiert, um später zu bearbeiten, was priorisiert werden muss

Ich hatte bis zum 26.11.2011 einen interessanten Arbeitsplatz. Ich war stellvertretende Leitung eines sogenannten Sachgebietes in einem Amt der Stadt München. Dort war ich dafür zuständig, sowohl mit Finanzdaten und städtischen Fördermitteln, als auch mit Kolleginnen eines Teams von Verwaltungskräften professionell um zu gehen. Es war eine abwechslungsreiche Arbeit, die im politischen Kontext stand. Viele Dinge, die ich tat, mussten in der Regel mittels sogenannter Stadtratsanträge ein Verfahren durchlaufen, das es den Stadträten ermöglichte eine transparente, sachlich und fachlich kompetente Entscheidung zu treffen. Die Arbeit kann ich seit dem Unfall nicht mehr machen, denn die dauerhaften Schmerzen nehmen dann extrem zu, wenn ich Stress wie etwa Zeitdruck ausgesetzt bin.

Ich setze mich jetzt hinter den Glaskasten, in dem Herr Dr. A. in seinem Postfach Papiere sortiert. Ich habe nichts anderes zu tun, als zu warten. Das finde ich eigentlich ganz gut, denn es wirkt auf mich, als sei ich durch nichts belastet. Das wiederum weckt meine Frage, warum ich hier bin, und dann kommt die kritische Frage, ob mein „Hiersein“ überhaupt berechtigt ist. (6)

(6) Mein innerer Kritiker:
Wenn ich in eine Internetsuchmaschine die Worte „Innerer Kritiker“ eingebe, finde ich Webseiten, Bücher, Videos, Tonträger über meinen „inneren Onkel“. Der ist ständig mit mir unterwegs. Pausenlos quatscht er auf mich ein. Er behauptet, dass ich es nicht wert sei, etwas in Anspruch zu nehmen. Er fragt permanent, ob ich genügend dafür geleistet habe. Den Kerl mal für eine Zeit weg zu sperren fällt mir sehr schwer. Doch wenn mir das für Minuten gelingt, wird mir klar, dass ich guten Grund habe, in der Klinik zu sitzen und zu warten um die Leistungen des Krankenhauses in Anspruch zu nehmen: Ich hatte einen schweren Unfall.

12.07.2012, 08:25 Uhr, die spezifische Beschäftigung von Kranken

Das Warten ist eine spezifische Beschäftigung, der zu unterliegen ich mich seit dem Unfall in vielfältigen Situationen gewöhnt habe. Auf Dr. A. muss ich nur wenige Minuten warten.

Ich erinnere mich an vier Stunden langes Warten, das ich in der Augenarztpraxis im Münchner Schwabinger Krankenhaus zubringen musste. Ich wurde dort hin bestellt, um nach der Operation noch einmal wegen meiner Augen kontrolliert zu werden.
Ich war bereits aus dem Krankenhaus entlassen. Man hatte mich bestellt, warten lassen und vergessen. Die Kopf-Operation war erst zwei Wochen her. Mir fehlte die Kraft, mich energisch durchzusetzen. Nach vier Stunden raffte ich mich matt und müde auf. Ich hatte meine Tabletten zu Hause gelassen, denn ich dachte nicht daran, dass ich so lange warten musste. Meine Schmerzen am Schädel wurden sehr stark. Nachdem ich auf mich aufmerksam gemacht hatte, hat man mich untersucht, stellte fest, dass mein Visus stabil sei und schickte mich nach zehn Minuten nach Hause.

Den „stabilen Visus“ erwähnt das Krankenhaus in einem meiner Befund-Berichte. Das wiederum veranlasst die Anwälte der Tierhalterhaftpflichtversicherung heute, schriftlich bei Gericht festzustellen, dass ich bei dem Zusammenprall mit dem Pferd gar keinen Schaden am Auge erlitten hätte. (7) Es interessiert die Versicherungsanwälte nicht, dass ich eindeutig auf Grund des Zusammenpralls mit dem Pferd einen Gesichtsfeldausfall im oberen Bereich des rechten Auges habe, dort also nichts mehr sehe, wegen einem eindeutigen Sehnervschaden. Die Ärzte meinten mit „… zeigte sich der Visus stabil“, dass sich daran nichts verändert hat.

(7) Im Antrag auf die Abweisung meiner Klage auf Schadensersatz, wegen meiner schweren Unfallverletzungen, schreiben die Anwälte (Tierhalterhaftpflichtversicherung der Pferdebesitzerin) am 22.05.2012 u.a. an das Landgericht München:
„Bei der augenärztlichen Kontrolle zeigte sich der Visus stabil …“
und weiter:
„… Soweit eine beginnende Optikusathropie festgestellt wurde, wird bestritten, dass diese auf den Unfall zurückzuführen ist“.

12.07.2012, 08:35 Uhr, Begründungen

Dr. A. ist sehr freundlich. Er befragt mich nach dem Grund, der mich in die Klinik führt. Ich frage, wo ich ansetzen soll.
Wie viel hat Dr. A., von dem gelesen, was ich in den Aufnahmebogen geschrieben habe? Ich frage, ob er meine Befunde kennt, die ich vor Monaten in die Klinik geschickt hatte. Die Unterlagen kennt Herr Dr. A. nicht, deshalb soll ich von ganz vorne berichten. Also erzähle ich, was meinen Aufenthalt in der Klinik begründet:

Ich war am 26.11.2011 um 14:34 Uhr auf einer kleinen Straße nahe einem Feldweg spazieren gegangen. Während ich gerade neben einem Auto stand, aus dessen Fenster heraus mich ein Autofahrer nach dem Weg fragte, hörte ich plötzlich in meinem Rücken das rhythmische Schlagen galoppierender Pferdehufe. Der Autofahrer fragte:
„Wo geht es ins Zentrum?“
Wegen des Hufeschlagens drehte ich mich um. Da sah ich ein riesiges galoppierendes Pferd mit Reiterin unmittelbar vor mir. Ich wurde sofort überrannt, ins Feld geschleudert und verlor das Bewusstsein. Deshalb bin ich hier.“

Ich darf hier in der Klinik sein, denn ich bin schwer verletzt worden. Mein „innerer Kritiker“ hält jetzt einfach mal die Klappe!

12.07.2012, 10:45 Uhr, beobachten, ohne den inneren Onkel

Bei der Aufmerksamkeitsmeditation merke ich, dass es möglich werden könnte, Schmerzen, die der Unfall in meinem Gesicht verursacht hat, zu beobachten. Die Idee finde ich interessant, denn sie bedeutet, dass ich mich darauf einlassen müsste, meine Schmerzen nicht zu bekämpfen oder zu versuchen, sie zu verdrängen, sondern ich würde lernen, die Schmerzen zu spüren, um einfach festzustellen, dass sie da sind. Ich würde keine Energie mehr dafür verbrauchen, sie zu bekämpfen. Voraussetzung ist, zu beobachten ohne zu bewerten. Das fällt mir schwer, denn es ist sehr ungewöhnlich.

Täglich spüre ich meinen verletzten Kopf, wie es dort, rund um die Schädeldecke, schmerzend drückt, als habe ich permanent einen viel zu engen Helm an. Ich merke, wie eine schmerzende Bahn von meiner Stirn über mein Nasenbein bis zu meiner Oberlippe zieht und ich spüre den dumpfen Schmerz an meinen oberen Schneidezähnen. Ich merke ganz genau, wie die Höhle, in der mein rechtes Auge liegt, schmerzlich brennt und glüht. Dort spüre ich ständig flackernde, stechende Schmerzen. Die Schmerzen finde ich grausam. Täglich wünsche ich mir, dass ich ein Medikament bekomme, damit sie vollständig verschwinden, denn ich hasse diese Schmerzen, weil sie meinen Alltag bestimmen.
Das alles soll ich nicht mehr bewerten?

In die Augenhöhle haben mir die Chirurgen der Intensivstation am 30. November 2011 eine Folie eingesetzt, um mein rechtes Auge zu stabilisieren, denn das Knie des galoppierenden Pferdes hatte meine Augenhöhle durchbrochen. (8)

(8) Orbitabodenfraktur:
Neben der Augenhöhle durchbrach der Aufprall mit dem Pferd meinen Augenhöhlenboden. Die Operation wurde gleichzeitig mit der Operation meiner Schädeldeckenbrüche und meines Nasenbeins durchgeführt. Darüber, was da eigentlich gemacht wurde, informiert mich z.B. folgender Beitrag: http://de.wikipedia.org/wiki/Orbitabodenfraktur
Ich bin sehr froh, dass ich das alles am 30.11.2011, als die OP stattfand, nicht wusste. An diesem Tag dachte ich einfach: Bitte operiert mich endlich, denn es muss sein. Was dabei heraus kommt werde ich nach der OP sehen. Was ihr konkret tut, will ich gar nicht wissen, denn der Unfall war so schlimm, dass ich eh keine Chance habe, heute zu begreifen, was genau alles heute operiert werden muss. Ich habe einfach alles unterschrieben, was mir unter die Nase gehalten wurde. Zwei Chirurgen haben sieben Stunden lang operiert. Alles ging gut.

Ich beobachte und spüre im rechten Auge, neben dem flackernden Brennen einen ständigen beißenden Schmerz. Am liebsten würde ich mein Auge ständig reiben. Ich merke, dass dort, wo mein rechtes Auge seit der Operation vor zwölf Monaten, wieder neuen Halt findet, heißer Schmerz zieht und zerrt. Am liebsten würde ich den Schmerz und das Auge einfach los werden. Ich denke, dass der Schmerz vorbei wäre, wenn das Auge weg wäre. Doch das Auge bleibt und somit auch der Schmerz.

Ich weiß und spüre, dass mein Schmerz, der an meiner rechten Wange brennt, das Stechen in meinem rechten Nasenflügel, das schmerzhafte Brennen und Stechen in meiner Augenhöhle, der Schmerz meiner Stirn und an der oberen Zahnreihe einfach da sind. Ich muss lernen, dass ich dagegen nichts tun will. Dagegen zu arbeiten ist verschwendete Energie. Alles wird bleiben. In der Aufmerksamkeitsmeditation sage ich deshalb zu mir und zu meinem Schmerz:
Ich möchte die Energie, die ich seit dem Tag des Unfalls gegen die Schmerzen eingesetzt habe, künftig für andere Zwecke haben. Ich möchte versuchen, täglich zu üben meine Schmerzen wahrzunehmen, aber nicht zu bekämpfen. Sie sind da und ich werde versuchen mit ihnen zu leben, nicht gegen sie. Diesen Ansatz kannte ich bisher nicht. Ich finde ihn sehr interessant.

12.07.2012, 15:40 Uhr, der Tod kommt beim Zuhören zurück

Tod“. Das ist mein Wort, das ich heute um 16:20 Uhr nenne, als die Therapeutin, Frau Dr. B.C., fragt, welches abschließende Wort mir zur heutigen Sitzung im Kopf herum geht.

Begonnen hatte es mit deren Frage, was ich zur heutigen Gruppensitzung (meiner ersten) mitgebracht habe. Ich habe das Thema aus der heutigen Meditation mitgebracht. Nämlich, dass ich mir meine Schmerzen ansehe, sie spüre, aber nicht versuche sie beenden zu wollen, oder gar versuche sie zu verdrängen, denn beides kann ich nicht wirklich. Deshalb lohnt es nicht, dafür Energie zu verschwenden. Ich will lernen, zu beobachten, ohne meine Schmerzen zu bewerten und hoffe darauf, dass ich das eines Tages schaffe und mir das hilft mit ihnen zu leben.

In der Gruppe gibt es allerlei Schmerzen:
Den dauerhaften Nackenschmerz, den Rückenschmerz, die Kopfschmerzen, bis schließlich der junge Co-Therapeut meint, dass er auch Schmerzen habe, seine Stimme sei wegen einer starken Erkältung geschädigt, weshalb er froh sei, heute nichts sagen zu müssen.

Ich merke, dass ich Gefahr laufe, mich zu wichtig zu nehmen. Ich nehme die anderen nicht ganz ernst, weil ich glaube, mein Schmerz im Gesicht sei so unerträglich, dass es der schlimmste sein müsse. Ist das schon wieder mein „bescheuerter innerer Onkel“? Die anderen Teilnehmer in der Gruppe haben bestimmt auch fürchterliche Schmerzen! Mir steht es nicht zu, über sie zu denken, was ich denke! Oder doch? Jetzt halt mal die Klappe du blöder „innerer kritische Onkel“! Der Onkel meint: „Denken kann ich, solange ich nicht sage, was ich denke!“ O.k., jetzt sei aber mal endlich ruhig!

Eine Teilnehmerin berichtet, dass ihr Mann zu Besuch war und sie ihm nichts von ihren Gedanken erzählt habe, sich von ihm trennen zu wollen. Eine andere Teilnehmerin beginnt daraufhin zu weinen. Frau Dr. B.C. fragt genau nach. Die Frau weint, weil sie zwei Jahre lang eine Therapie mit monatlichen Sitzungen gemacht hatte, aber nie ihrem Mann davon erzählte. Jetzt sei es zu spät. Ihr Mann sei kürzlich gestorben.

Das zu hören reicht, um mich innerlich umzuwerfen. Das galoppierende Pferd rennt einfach über mich weg. Dessen Kräfte schleudern mich auf den Acker. Ich sehe mich dort liegen, als sei ich nicht mehr ich. Plötzlich ist da nichts mehr. Ich sehe nichts. Meine Augen sind von den Verletzungen so geschwollen, dass ich blind bin. Ich spürte meinen Körper nicht. Ich versuche zu sprechen, versuche zu sehen, versuche zu schmecken, zu reden. Da ist nichts. Das ist mein Tod, denn das kenne ich nicht.

Auf dem kalten Acker liegend denke ich an meine Frau und an unseren Hund. Von denen will ich mich verabschieden. Ich denke, dass ich sie nie wieder sehe. Ich schluchze und merke, dass in meinem Mund ein bitterer Geschmack ist. Es sind meine Tränen, Blut und die Erde vom Acker.

Der Acker auf dem ich schwer verletzt lag schmeckte bitter. Ich spürte seine Kälte, schmeckte den bitteren Geschmack von Tränen, Blut und Erde, dachte aber trotzdem, dass ich tot sei, denn in mir war alles still und dunkel.

Freitag, 13.07.2012, 08:30 Uhr, Energie

Ich merke eine Energie bei der Therapeutin, die darauf gerichtet ist, uns abzuholen und in eine energiegeladene Welt mitzunehmen. Ich sehe lachende Patienten, die mir vorkommen wie normale Menschen, die Spaß miteinander haben wollen. Die Therapeutin begrüßt mich freundlich und spricht mit mir, so dass es mir ganz leicht fällt, in die neue Gruppe unbekannter Menschen hineinzukommen, ohne mit denen ein Wort gesprochen zu haben.

Wir sollen sagen, was unsere Stärke ist. Meine Stärke ist, dass ich mich durchbeißen kann. Ich kann lange an einer bestimmten Sache dran bleiben. Die Stärke der Therapeutin ist es, dass sie Menschen begeistern kann. Damit habe ich so meine Schwierigkeiten. Jeder sucht sich ein Instrument, das ihm gefällt und setzt sich wieder auf seinen Stuhl. Jetzt erklärt die Therapeutin, was wir machen. Jeder spielt auf dem Instrument seine Stärke vor.

Oje“ denke ich, jetzt wird es schwierig. Jetzt weiß ich auch wieder, warum das hier Therapie heißt. Ich hatte mir ein Bongo genommen. Ich soll also auf dem Bongo vorspielen, dass ich lange an einer Sache dran bleiben kann? Ich bin froh, dass ich nicht der erste bin, der vorspielt. So habe ich viel Zeit, zu hören, dass es keineswegs darum geht, das Instrument wirklich spielen zu können. Das beruhigt mich.

Ich bin sehr überrascht, dass ich von den unbekannten Gruppenmitgliedern höre, dass sie in meinem Bongo-Spiel meine Stärke gehört haben wollen. Dass die Therapeutin das bestätigt, wundert mich nicht, denn ich meine, das ist ihr Job. Das aus der Gruppe zu hören, kann ich noch nicht so recht einordnen. Ich denke daran, dass viele der Teilnehmer wohl schon sehr viel Therapieerfahrung haben und deshalb auch gerne mal in die Therapeutenrolle schlüpfen. (9) Ich bin sehr froh, dass die Stunde so locker abläuft.

(9) „In die Therapeutenrolle schlüpfen“. Bei mir läuft das so:
Mein innerer kritischer Onkel zeigt mir meine Vorurteile und meine Arroganz. Er behandelt mich von oben herab, was ich auf meine inneren Urteile über andere Menschen übertrage. Ich bin also innerlich damit beschäftigt, von anderen permanent zu denken, sie würden mich genauso kritisch betrachten, wie mich mein innerer Kritiker ansieht. Von positiven Äußerungen bin ich dann sehr überrascht, weil ich kein positives Feedback annehmen kann, weil mir das mein innerer Kritiker verbietet.

10:35 Uhr
Ich komme 20 Minuten zu spät zu einer Einführung von neuen Patienten, um zu hören, wie ein Blutdruckmessgerät funktioniert, wo eine Waage steht und dass man sich im Erdgeschoss in eine Liste für Wäsche und Bügeln eintragen kann.

Freitag, 13.07.2012, 13:00 Uhr, Versammlung der Kranken

Weil heute Freitag ist, findet eine Versammlung der Patienten der Station mit den Therapeuten und Ärzten statt. Zu meiner Überraschung wird die Versammlung von einer Patientin moderiert. Es ist eine Frau, die heute Vormittag auch in der Musiktherapiegruppe war. Sie macht die Moderation auf sehr lockere und angenehme Weise. Ich finde das sehr gut und mutig. Nachdem sie alle Patienten, die in den nächsten Tagen die Klinik verlassen, aufgefordert hat, kurz aufzustehen und ein paar verabschiedende Worte zu sprechen, kommt sie zu Punkt zwei der Versammlung: Neue Patienten möchten sich doch bitte kurz vorstellen und dabei sagen, was sie in die Klinik geführt hat.
Keiner beginnt, stattdessen sehe ich etwa siebzig Leute auf ihren Stühlen sitzen. Ich gebe mir einen Ruck und stehe auf. Ich sage, wie ich heiße und dass ich in München wohne. Da höre ich ein Lachen, von dem ich mich aber nicht verwirren lasse, weil ich mir sage, dass es nichts mit mir zu tun hat. Ich sage, dass ich einen schweren Unfall gehabt habe und dass ich nun hier sei und hoffe, dass ich hier die Hilfe bekomme, die ich brauche. Ich bedanke mich fürs Zuhören und setze mich wieder.
Weil es üblich ist, dass nach jedem Redebeitrag auf dieser Versammlung geklatscht wird, höre ich nun das Klatschen der ganzen Station. Ich bin froh darüber, dass ich den Mut gefunden habe, mich vorzustellen. Nachdem ich den Anfang gemacht habe, stellen sich auch alle anderen neuen Patienten vor.

16.07.2012, 08:45 Uhr, Gips und Krücke

Jürgen, den nur ich für Jürgen halte, denn er heißt in Wahrheit J., was ich kurzzeitig vergaß, weshalb ich ihn gestern im Vorbeigehen mit Jürgen begrüßte, hat alle Ärzte schon hinter sich. Die sollten bei ihm ermitteln, warum er Herzrythmusstörungen hat. Sein Hausarzt hatte nach dem „zigsten“ EEG gesagt:
„Sie haben etwas anderes, da sollten Sie einmal hinsehen.“
Dann erzählt er folgende „ärztliche Räubergeschichte“:
„Eines Tages, ich war wieder bei meinem Hausarzt und wollte wegen meines Herzrasens und meines unregelmäßigen Herzens ein EEG, gab mir der Arzt eine Pille in die Hand. Er sagte, ich solle diese nehmen und ihn im Laufe des Tages anrufen, und sagen, ob es mir besser gehe. Ich verließ die Arztpraxis. Ich nahm die Pille nicht und rief ihn auch nicht an. Stattdessen ging ich in den folgenden Monaten zu Herzspezialisten und Magen-Darm-Spezialisten. Ich ließ mich von mehreren durchchecken. Nachdem keiner der Spezialisten etwas finden konnte, ging ich wieder zu meinem Hausarzt. Dort hatten sich inzwischen Berge von Befunden angesammelt von den Spezialisten. Erst jetzt war mir klar geworden, dass ich etwas anderes haben musste, als das, wonach die Spezialisten gesucht hatten.“

Eine andere Patientin erzählt, dass sie diese „Glückspillen“ nicht brauche, die ihr von den Ärzten empfohlen werden. Sie wolle das Zeug deshalb nicht nehmen, weil sie damit ihre Trauer, wegen ihres verstorbenen Mannes, nicht weg schieben wolle.

Ob die von der Dame so genannten „Glückspillen“ wirklich glücklicher machen bezweifle ich. Ich habe eine Psychophamakatherapie begonnen und merke nichts von Glück. Was ich feststelle ist, dass ich den Stress nach dem Unfall, und die Zeit auf der Intensivstation mit stoischer Ruhe ausgehalten habe. Es war, als sei ich ferngesteuert. Es war wie ein Programm, das ich abspule. Von Glück war da keine Spur.

Ich nehme die Medikamente, weil ich mit dem Wahnsinn des Unfalls und den Folgen zurechtkommen muss. Um damit klar zu kommen brauche ich eine innere Ruhe, die ich ohne die Medikamente momentan nicht erreichen kann. Ich bin sicher, dass ich eines Tages ohne die Hilfe der Medikamente meine innere Ruhe habe. Das lerne ich mit Übungen, welche ich mir in der Klinik aneigne.

Dass nicht jeder Mensch wegen eines gebrochenen Beines Gips und Krücke braucht, sondern eventuell nur eine Schiene nötig ist, trifft auch bei Psychopharmaka zu. Nicht jeder braucht sie, um an seinen Problemen zu arbeiten. Ich weiß, dass die Probleme auch mit Psychopharmaka bleiben und bearbeitet werden müssen. Die Krücke hilft aber dabei. Ohne sie würden der Unfall und mein völlig aus dem Tritt geratenes Leben momentan keine innere Ruhe geben, damit ich jedes einzelne Problem genau betrachten und eine Lösung finden kann.

J. sagt, ihm habe die Krücke sehr geholfen, sein Leben wieder zu ordnen und die für ihn notwendigen Schritte zu unternehmen, damit er seine Probleme bearbeiten und lösen kann. Darauf hoffe auch ich. Ich glaube, dass ich mein Leben wegen „secret gun“ neu sortieren muss.

Dienstag, 17.07. 08:10 Uhr, Tresorübung

Herr Dr. A. übt mit mir, „eine belastende Situation in einen Tresor weg zu packen“. Ich nehme die Situation, als mich kürzlich auf der Wiese vor unserer Wohnung ein fremder Hund gebissen hat. Es geht darum, dass ich mir das als einen Film vorstelle, so bildlich, wie möglich. Weil das Ereignis für mich abgeschlossen ist, habe ich damit kein Problem. Ich sehe mich und den fremden Hund, der mich in die Hand beißt, weil ich mich völlig unprofessionell in einen Konflikt zwischen ihm und Nemo einmische. Dieses abgeschlossene Ereignis läuft als Film vor meinem inneren Auge ab. Ich spule den Film zurück, nehme die Filmrolle aus dem Projektor und lege sie in eine schwarze Schachtel. Die lege ich in einen Tresor, den ich mit einem schönen Tresorschlüssel verschließe.

Genau diese Übung schlägt Herr Dr. A. nun vor, für den Unfall. Ich bin dazu aber nicht in der Lage. Ich habe Angst, denn ich hatte erst letzte Nacht das brutale „Taracktaracktarack“ des galoppierenden Pferdes in meinem Rücken gehört. Ich traue mich nicht, den Unfall als Ereignis zu betrachten, das ich mir als Film ansehen, zurück spulen, wegpacken und einschließen kann. Es gibt zu viele Lücken. Ich war auf dem Acker gestorben. Dabei ist etwas passiert, was mir noch nicht völlig klar ist, woran ich mich nicht erinnern kann. Es muss außerdem einen Grund dafür geben, warum immer wieder die Unfallbilder und Geräusche auftauchen. Diese Dinge muss ich suchen und finden, um das Ereignis abzuschließen und weg zu packen.

Herr Dr. A. schlägt mir eine schönere Übung vor. Für die soll ich mir einen ganz sicheren Ort einfallen lassen. Daran scheitere ich heute, denn mir fällt kein sicherer Ort für mich ein. Ich kann mich nicht konzentrieren. Die Schmerzen nehmen plötzlich stark zu. Ich brauche eine Pause, lege mich aufs Bett und beginne in langen Atemzügen tief und langsam zu atmen. Das gelingt mir, so dass ich später einen sicheren Ort finde, zu dem ich in Gedanken hin laufe, um dort zu verweilen und meine Angst, es könnte etwas schlimmes passieren, nicht mehr spüre. (10)

(10) Imaginationsübungen spielen in der Therapie, die mir helfen könnte eine erhebliche Rolle. Ich habe dabei folgendes Buch als sehr hilfreich empfunden:
Luise Reddemann (2001) Imagination als heilsame Kraft / Zur Behandlung von Traumafolgen mit ressourcenorientierten Verfahren, Pfeiffer bei Klett-Cotta, 2001 / ISBN 3-608-89691-0. Die Autorin hat folgende Webseite: http://www.luise-reddemann.info/index.htm

Retraumatisierung

Nachdem ich von dem galoppierenden Pferd auf das Feld geschleudert worden war, erlebte ich mehrere Situationen bewusst oder unbewusst, wach oder nicht wach, das weiß ich nicht, in denen ich glaubte, das sei mein Tod.

Das wiederholt sich heute in meinem Kopf. Ausgelöst wird es von den Worten einer Mitpatientin, die aufgebracht vom Tod eines Menschen erzählt, der in einem Krankenwagen abtransportiert wurde.
Plötzlich schießen mir Gedanken durch den Kopf, die sehr mächtig sind. Ich kann mein Todeserleben auf dem Feld nicht beenden. Ich spüre den Schmerz, welchen ich auf dem Acker hatte. Ich habe extrem angeschwollene Augen. Ich kann nichts mehr sehen. Ich höre nichts. Es ist ruhig. Kein Mensch ist da. Plötzlich habe ich keine Schmerzen mehr. Mein zerbrochener Kopf tut nicht mehr weh, ich glaube sogar, er ist gar nicht mehr da. Hier gibt es nichts mehr. Ich bin völlig allein im Stockdunklen. Jetzt bemerke ich einen bitteren Geschmack in meinem Mund, von Tränen, Blut und Erde.

Ich sitze wie gelähmt in der Therapiegruppe. Ich funktionierte weiter. Ich folge dem Gespräch der Gruppe, ohne dass ich verstehe, was da gesprochen wird. Ich wende meinen Kopf zu denjenigen, die gerade sprechen und gebe Signale, deren Sprechen zu folgen, aber ich tue das Gegenteil. Ich verstehe nichts. Denn ich liege sterbend auf dem eiskalten dunklen Feld. Jetzt höre ich Geräusche. Es ist eine Schere. Sie schneiden mir meine Kleidung vom Körper. Ich rieche den eisigen Wind, der den bitteren Geruch der Erde, den ich in meinem Mund schmecke, aufwirbelt.

Jetzt ist wieder das „Taracktaracktarack“ eines galoppierenden Pferdes da. Es ist ein riesiges Pferd mit schwarzen Füßen. Ich sehe es direkt vor mir. Rechts und links stehen lange Beine ab und oben drauf ist ein Kopf mit fliegenden Haaren. Ich bin hilflos. Alles ist wieder da. Ich schluchze leise vor mich hin. Ich will aufstehen aber ich kann mich nicht bewegen und ich sehe nichts. Mein Mund ist voll von Erde, Blut und Tränen.

Zum Schluss der Sitzung fragt die Therapeutin, mit welchem einzigen Wort die heutige Sitzung für mich endet. Mir fällt ein Wort ein: „Tod“. (11)

(11) Retraumatisierung kann bereits geschehen, wenn ich eine Geschichte höre, in der vom Sterben oder von Unfällen die Rede ist. In der Klinik lerne ich, mich davor zu schützen. Ein sehr hilfreiches Buch zum Trauma habe ich hier gefunden: Luise Reddemann (2007), Trauma: Folgen erkennen, überwinden und an ihnen wachsen, Verlag: Trias; 3. vollständig überarbeitete Auflage (24. Oktober 2007), ISBN-10: 3830434235, ISBN-13: 978-3830434238.

Montag, 12. November 2012, der erste Gutachter

Der Gutachter ist ein routinierter Mann in diesem Fach. Ich sitze vor seinem breiten Schreibtisch. Meine Hände zittern ein wenig, wegen des heutigen Termins. Ich spüre die brennenden Schmerzen in meinem Gesicht. Heute sind sie seit fünf Uhr morgens da. Ich hatte mich nachts mit Zopiclon betäubt, denn der Schmerz hat mich nicht in Ruhe gelassen.

Ich beantworte brav jede Frage des Herrn Dr. D. Ich fühle mich matt und bin sehr unkonzentriert. Deshalb muss ich mich mehrmals entschuldigen, denn mir fallen die Daten, nach denen der Mann fragt, plötzlich nicht mehr ein. Als er fragt, wann denn der Unfall war und feststellt, dass der ja bald ein Jahr her sein müsse, fällt mir sogar das Datum 26.11.2011 nicht mehr ein.

Ich darf mich auf die Pritsche legen, die rechts im Zimmer steht. Die Fragen des Herrn beantworte ich von dort aus.

Ob ich denn bei meinem Arbeitgeber wieder arbeiten wolle. Das würde ich sehr gerne, wenn die Schmerzen es mir erlauben. Doch wann das soweit ist, weiß ich nicht.

Ob ich denn seit dem Unfall nicht gearbeitet hätte.

Nein, ich habe seitdem nicht gearbeitet, weil meine Gesichtsschmerzen so stark sind, dass ich nicht länger am Stück arbeiten kann. Ich brauche zu viele Pausen und Aufregung oder gar Stress und Druck verstärken die Gefahr von starken Schmerz-Attacken.

Was ich denn den ganzen Tag lang tue.

Jetzt trifft der Mann voll ins Schwarze, denn ich denke seit Wochen, dass ich eigentlich nichts tue und fast nichts mehr schaffe, weil ich mich ziemlich schwach fühle.
Ich stehe so früh wie möglich auf, denn für Zähneputzen, Rasieren und Waschen brauche ich viel Zeit. Die Schmerzen können sehr heftig werden, auch beim Essen, denn die obere Zahnreihe tut ständig weh. Ich versuche täglich spätestens um 08:30 Uhr mit Nemo nach draußen zu gehen.

Was ich denn danach tue.

Ich denke nach. In meinem Kopf ärgert mich der Gedanke, dass ich nichts tue. Deshalb sage ich jetzt zu dem Gutachter:
Eigentlich nichts, denn ich schaffe kaum etwas. Ich frühstücke sehr langsam, denn die obere Zahnreihe tut mir dabei weh. Ich will nicht gleich morgens von einer schweren Attacke getroffen werden. Der „Herr Brutal“ ist unerbittlich. Danach versuche ich den Haushalt in Ordnung zu halten. Dann gehe ich mit Nemo wieder hinaus, wir spazieren zu unserem Garten, der zu Fuß etwa eine halbe Stunde entfernt liegt.

Wer dieser Herr denn sei.

Das ist mein ständiger Begleiter geworden. Ich achte sehr genau darauf, ihm nicht so in die Quere zu kommen, dass er unkontrolliert zuschlägt. Ich weiß inzwischen ganz gut, das ich aufpassen muss, vor allem mit Berührungen, kalten und warmen Getränken, kaltem Wind, falschen Bewegungen und einer ganzen Menge weiterer solcher Sachen. Ich versuche zu vermeiden, was den „Herrn Brutal“ veranlassen könnte, einen Schub der Gewalt loszutreten.

Und das funktioniert?

Ich bemühe mich sehr, meinen Tag so zu ordnen, dass „Herr Brutal“ keinen Anlass findet brutal zuzuschlagen, denn mir reichen schon die dauerhaften Gesichtsschmerzen jeden Tag. Ich will so wenig heftige Schmerzattacken wie möglich haben. Doch leider funktioniert das nicht immer.

Was ist, wenn eine Attacke kommt?

Ich versuche mich sofort hinzusetzen oder hinzulegen, denn mein schneller, flacher Atem muss gestoppt werden und weil ich schon viele Kreislaufzusammenbrüche erlebt habe, bin ich vorsichtig geworden. Ich konzentriere mich auf meinen hektischen, flachen Atem. Meine Atemzüge müssen tief, lang und gleichmäßig werden. Das dauert unterschiedlich lang, je nachdem wie stark der Schmerz, der immer rund um das Auge beginnt, anhält.

Für die Atmung brauche ich etwa zehn bis fünfzehn Minuten. Wenn ich einen tiefen, gleichmäßigen Atem erreicht habe, konzentriere ich mich auf meinen Körper. Ich versuche eine Region zu spüren, an der ich keinen Schmerz habe, zum Beispiel mein linkes Knie. Das habe ich leider noch nie wirklich geschafft, denn die Schmerzen in meinem rechten Auge sind so heftig, dass ich nicht ablassen kann, genau dort hin zu spüren. Das lasse ich zu. Ich versuche mir vorzustellen, dass der Schmerz zu mir gehört, wie alles andere meines Körpers. Ich sage mir, dass der Schmerz normal ist. Er wird nicht verschwinden. Ich brauche etwa eine Dreiviertelstunde Ruhe. Zum Schluss schaffe ich einen sogenannten Body-Scan zu machen. Ich beobachte meine Körperempfindungen, indem ich meinen Körper vom Kopf bis zu den Zehenspitzen langsam durchgehe. Wenn ich das schaffe, bin ich ganz beruhigt, denn das heißt: Ich habe die Attacke überstanden. Ich stehe langsam auf und gehe nach Hause, denn dort fühle ich mich sicher. (13)

(13) Die sogenannte Achtsamkeitsmeditation habe ich in der Klinik täglich geübt. Sie bedeutet, dass ich mich auf meine Körperempfindungen konzentriere. Ich versuche mit voller Aufmerksamkeit und Konzentration meinen Körper und meine Empfindungen wahrzunehmen. Das hilft mir dabei, zu einer neuen Körperwahrnehmung zu finden, die den Schmerz integriert anstatt zu versuchen ihn zu ignorieren. Da die Konzentration bei diesen Übungen sehr hoch ist, erreiche ich auch, dass ich zu einer inneren Ausgeglichenheit und Ruhe finde, die ich brauche, um die Folgen des Unfalls aktiv neu einzuordnen.

Freitag, 16. November 2012, mein Anwalt

Mein Anwalt erklärt mir am Telefon, dass sich nichts getan hat. Der Richter wird vermutlich weiterhin versuchen den Zeugen, der das Auto fuhr, der mich am 26.11.2011 um 14:33 Uhr nach dem Weg gefragt hatte, aufzutreiben. Allerdings sei das schwierig, denn der Mann lebe in einem Afrikanischen Staat.
Eine perfekte Sache für die Zermürbungs- und Verzögerungstaktik der Tierhalterhaftpflichtversicherung. Deren Anwalt besteht darauf, diesen Mann als Zeugen anzuhören. Das verlangt er, obwohl die Reiterin in der Beweisaufnahme im September 2012 vor Gericht ihre bisherige Zeugenaussage, die sie auch der Polizei gab, nochmals exakt vorgetragen hat. Deren Darstellung deckte sich genau mit meiner Aussage, nämlich, dass ich keine Chance hatte, dem rasenden Pferd auszuweichen, weil es mich in der Sekunde sofort überrannte, als ich es sah.

Trotzdem besteht der Anwalt des Versicherungskonzerns darauf, dass der Zeuge her muss. Der hatte bereits am 26.11.2011 der Polizei gegenüber ausgesagt. In der Akte der Staatsanwaltschaft München (die geschlossen wurde und dort in den Keller gelegt wurde) bestätigt er genau das gleiche, wie die Reiterin, nämlich, dass alles sehr schnell geschah und kein Ausweichen vor dem riesigen Pferd möglich war. Weil der Mann aber in Afrika ist, und deshalb sehr schwer aufzutreiben ist, verzögert die Forderung nach erneuter Befragung dieses Zeugen das Verfahren enorm. Genau das passt ideal in die Zermürbungstaktik des Versicherungskonzerns. Jede Gelegenheit der zeitlichen Verzögerung des Verfahrens zu nutzen, gehört zur Taktik, denn je länger das Verfahren der Beweisaufnahme dauert, desto später kann das Gericht irgendetwas entscheiden und desto wahrscheinlicher ist es, dass das Opfer finanziell ausblutet, klein bei gibt und einem billigen Vergleich zustimmt. Auf diesen Zeugen verzichtet der Anwalt der Versicherung deshalb nicht, denn auch er hofft darauf, dass ich irgendwann aufgebe meine Forderungen an die Versicherung zu richten. Das könnte geschehen, wenn mir das Geld zum Leben und zur Finanzierung meines Anwalts für das Verfahren aus geht. Zeit ist ein wesentlicher Baustein der Zermürbungstaktik des Versicherungskonzerns. Wäre ich ein Unternehmer mit einer kleinen selbständigen Firma, müsste ich wegen dem Unfall längst Insolvenz anmelden.

Mein Anwalt erklärt, dass der Versicherungskonzern die Akte bei der Staatsanwaltschaft (aus dem Strafantrag und Keller) angefordert hat. Auch das gehört zur Taktik. Erst nachdem die Versicherung durch deren Anwalt die Behauptung ins Gericht trägt, ich sei in das Pferd gesprungen, wird die Akte besorgt, in der alle schriftlichen Aussagen aller Unfallzeugen zu finden sind, aus denen eindeutig hervor geht, dass ich keine Chance hatte, dem Tier auszuweichen.

Montag, 26.11.2012, ein Jahr später

Ein Jahr nach dem Unfall habe ich keinerlei Entschädigung erhalten. Meinem Beruf kann ich nicht mehr nachgehen. Mein Strafantrag gegen die Reiterin wurde im Februar 2012 von der Münchner Staatsanwaltschaft zu den Akten gelegt. Das zivilrechtliche Verfahren im Landgericht München ist in einer ersten Sitzung zur Beweisaufnahme Ende September 2012 stecken geblieben.

Der Versicherungskonzern des versicherten Pferdes hat mich mit Vorwürfen und Behauptungen von einer Mitschuld überzogen. Deren Anwalt weist all meine Verletzungen so zurück, als sei der Unfall am 26.11.2011 gar nicht passiert, oder als hätte ich die Verletzungen schon immer gehabt oder sie mir irgendwie selbst zugefügt. Diese Herren brauchen für solche Behauptungen keinerlei Beweise. Es reicht aus, alle Punkte meiner Klage, von meinen zerschnittenen Klamotten bis zu meinem erlittenen Sehnervschaden einfach zu bezweifeln und deren Ursache mir selbst zuzuschreiben.

Das deutsche Recht lässt die Zermürbungstaktik zu. Zur Abwehr von Versicherungsansprüchen hat sich eine Heerschar von Anwälten in riesigen Kanzleien, nahe der entsprechenden Gerichte, zusammengerottet. Sie werden von den exorbitanten Einnahmen der Versicherungskonzerne finanziert. Die großen Kanzleien beschäftigen sich mit sogenanntem Expertenwissen, worunter sämtliche Möglichkeiten der Zermürbung von Opfern und der Verfahrensverlängerung, die das juristische System hergibt, zu verstehen sind. Es ist ein Qualitätsmerkmal der spezialisierten, großen Anwaltskanzleien, die von den Versicherungskonzernen beauftragt werden, alle juristischen Möglichkeiten restlos zu nutzen, um die Haftpflichtversicherer vor der Verpflichtung zu bewahren, derer sie sich in ihren Policen brüsten, nämlich einen Schaden, wie ihn das versicherte Pferd angerichtet hat, zu „regulieren“.

Die realen Kosten, die ich bis heute für Krankenhauszuzahlungen, Arzneimittelzuzahlungen für verordnete Medikamente, Fahrten zu Arztterminen usw. bezahlt habe, werden von dem Anwalt der großen Münchner Kanzlei, die der Versicherungskonzern beauftragt hat, ebenso zerpflückt und nicht anerkannt, wie sich diese Herren nicht zu Schade sind, zu behaupten, dass laut Google Maps die Strecke zwischen meiner Wohnung und dem Krankenhaus um 3 km weniger betrage, als ich es angegeben habe.

Ich werde meiner Schadensminderungspflicht nicht gerecht, denn statt mit dem Auto hätte ich mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu den Ärzten zu fahren gehabt. Dass ich ein Schädel-Hirn-Trauma hatte und deshalb nicht öffentlich fahren konnten, wegen meiner Schwindelanfälle, weshalb mich meine Frau mit dem Auto fuhr, wird ignoriert. Stattdessen werden mir drei Kilometer vorgeworfen, die sich mit 75 Cent Kosten berechnen und daher ein Verstoß gegen meine Schadensminderungspflicht seien. Ich kann aber die angeblich von mir zu viel angegebenen 3 Kilometer nicht feststellen, denn das Ergebnis bei Google Maps bringt mir bei der kürzesten Strecke höchstens 600 Meter weniger, dafür aber ständigen Stau.

Weil der Versicherungskonzern alle von mir und meinem Anwalt schriftlich vorgelegten Beweise bezweifelt, muss mich der Richter, bei einem Beweisaufnahmetermin, zu allen Punkten meiner in der Klageschrift und den beigefügten Belegen dargestellten Kosten wegen dem Unfall, als Zeuge befragen. Das nutzt der Anwalt der Versicherung, um den Richter darüber zu belehren, dass er mich gemäß irgend einem Paragraphen der ZPO gar nicht als Zeugen befragen darf, was der Richter wiederum durch einen Vermerk in das Sitzungsprotokoll als Beschwerde des Beklagten aufnehmen muss.

Wäre es nicht mein Verfahren, in dem über einen lebensbedrohlichen Unfall mit dauerhaften Folgen für mich, entschieden werden soll, dann würde ich das als eine Art juristisches Kabarettprogramm recht unterhaltsam finden. Doch leider steckt hinter dem „Geplänkle“ des Anwalts des Versicherungskonzerns mit dem Richter bitterer und wohl auch routinierter Ernst. Ich weiß nicht wohin das führen wird.

Es ist eine zermürbende Sache, als Opfer wie ein Angeklagter im Gericht zu sitzen, zuvor eine unglaubliche Liste von Vorwürfen an mich zu lesen, die der Anwalt des Versicherungskonzerns als Antwort auf meine Klageschrift ans Gericht geschickt hat, und im Gericht dann zu jedem Detail des Unfallhergangs und meinen zu beklagenden Auslagen aussagen zu müssen. Das alles liegt bereits schriftlich vor, ist mit Belegen und ärztlichen Verordnungen nachvollziehbar dokumentiert, muss aber trotzdem von mir mündlich nochmal genau aufgerollt werden, weil der Versicherungskonzern jeden noch so winzigen Punkt meiner, wegen dem Unfall entstandenen Kosten, gerichtlich abgewiesen wissen will.

Der Zweck ist eindeutig: Es geht um Verzögerung des Verfahrens, Verunsicherung des Opfers und Zermürbung. Wenn hartnäckig um drei Kilometer gestritten wird, dann liegt die Vermutung nahe, dass der Versicherungskonzern sich gegenüber dem Opfer nicht in der Schadensersatzpflicht sieht, sondern das Unfallopfer als Gegner betrachtet, das es zu bekämpfen gilt. Der Versicherer ist mit allen juristischen Wassern gewaschen, zu keinerlei Zugeständnissen bereit und ausschließlich darauf bedacht, den versicherten Schaden nicht bezahlen zu wollen, bzw. soweit zu drücken, dass die Versicherung aus den eingesparten Mitteln auch noch die teuren Anwälte bezahlen kann. Diese Kalkulation muss aufgehen. Schon deshalb wird deren Anwalt alles daran setzen, den entstandenen Schaden juristisch möglichst klein zu reden. Bislang geht die Zermürbungstaktik des Versicherungskonzernes auf:
Ich habe keinerlei Entschädigung, stehe ohne Arbeitsfähigkeit da, werde seit dem Unfall von dauerhaften Schmerzen geplagt, kann nicht mehr richtig sehen, leide unter den extremen Nebenwirkungen von Medikamenten, die ich wegen dauerhafter Schmerzen nehme, und werde demnächst von einem finanziellen Desaster bedroht. Ich habe mich mit einer Anwaltskanzlei herum zu streiten, die im Auftrag der Versicherung des Pferdes, das mich schwer verletzt hat, alles daran setzt, mich zu zermürben. Eine Entscheidung in der Sache scheint, auf Grund des Verhaltens des Anwalts des Versicherungskonzernes und dessen abweisende Schreiben ans Gericht, momentan ein aussichtsloses Unterfangen zu sein.

Nach dem Beweisaufnahmetermin geht es mir schlecht. Ich habe viele Medikamente genommen, um in der Sitzung bei Gericht ruhig zu bleiben. Tage zuvor habe ich, im Hinblick auf den Termin, langsam die Dosis der Medikamente hochgefahren, um eine Schmerzattacke im Gericht zu vermeiden. Ich bin froh, dass das gut ging. Das Ergebnis aber ist schlecht. Ich muss mich auf Jahre der Auseinandersetzung mit weiteren derartigen Terminen bei Gericht einstellen.

Zermürbung

In der folgenden Stichwort-Liste habe ich einige Dinge zusammengefasst, die ich im ersten Jahr, das seit dem Unfall vergangen ist, wegen des Anwalts der Tierhalterhaftpflichtversicherung von „secret gun“ ertragen musste. Sollten Sie jemals einen Unfall oder einen anderen schweren haftpflichtversicherten Schaden erleiden, dann könnte es sein, dass Ihnen einige Dinge aus meiner folgenden Liste begegnen:

 

Sie haben eine erhebliche Mitschuld.“
Damit müssen Sie immer rechnen, das wird einfach behauptet. Der Anwalt der Versicherung wird irgend einen Satz aus Ihrer Klageschrift verwenden und ins Gegenteil drehen. Wenn in Ihrer Klageschrift steht:
„… wurde von einem galoppierenden Pferd auf der Straße sofort überrannt…“,
dann schreibt die Haftpflichtversicherung dem Gericht zurück:
„… wäre der Kläger nicht in das Pferd gesprungen …. deshalb ist ihm zumindest eine erhebliche Mitschuld …“

 

Sie verstoßen gegen Ihre Schadensminderungspflicht.“

Jede Ihrer Forderungen, ob es nun das Kilometergeld von 25 Cent für Ihre Fahrten zum Arzt ist, oder die vom Notarzt zerschnittene Kleidung, wird nicht anerkannt, sondern abgewiesen. Sie müssen jeden einzelnen Punkt in der Beweisaufnahme vor Gericht neu beweisen, auch wenn Sie das in der Klageschrift anhand von Belegen, Fotos oder anderem bereits getan haben.

 

Sie haben die vollständige Beweispflicht!“

Das ist einer der ersten Sätze, die sie in der Replik auf Ihre Klage von dem Anwalt des Versicherungskonzernes lesen werden. Damit wird Ihnen sozusagen eröffnet, dass Sie mit keinerlei Kooperation oder gar Entgegenkommen zu rechnen haben, Verständnis für Ihre Verletzungen und den Schaden brauchen Sie nicht zu erwarten. Sie werden von dem Anwalt der Haftpflichtversicherung „vorgeführt“, indem von ihm im Verfahren stets darauf hingewiesen wird, dass Sie jedes Detail zu beweisen haben. Wenn sie das tun, werden Ihre Beweise als nicht ausreichend von der Versicherung ignoriert und bei Gericht beantragt, Ihre Klage abzuweisen.

 

Die vorgelegten Beweise des Klägers sind abzuweisen.“

Wenn Sie Belege und Rechnungen ihrer verordneten Medizin usw. in einer sauberen Liste zusammenfassen und nach dem Datum geordnet als Anlage der Klageschrift als Beweis dem Gericht vorlegen, wird die beklagte Versicherung beantragen, das mit der Begründung abzuweisen:
„ …es ist nicht zumutbar, dass wir uns jede einzelne Quittung selbst heraussuchen ….“

 

Der Schaden wird bestritten, er bestand bereits vor dem Unfall.“

Wenn Ihre Verletzungen nicht eindeutig sichtbar sind, so z.B. wenn Sie wegen dem Unfall auf einem Auge nur noch 50 % sehen können, dann werden Sätze aus Ihren ärztlichen Befunden ins Gegenteil verdreht, um zu der Aussage zu kommen, dass Ihre entstehende Sehschwäche und Ihr von den Ärzten attestierter Sehnervschaden gar nichts mit dem Unfall zu tun haben.

 

Es wird bestritten, dass … „

Diese Worte lesen Sie in der Erwiderung der Versicherung auf Ihre Klage in jedem zweiten Absatz. Der Anwalt der Haftpflichtversicherung wird ein Vergleichsangebot unterbreiten, das Ihren Schaden auf höchstens 50 % oder weniger runter drückt. Er sagt zu Ihnen:
„Wenn sie unser reduziertes Angebot nicht annehmen, dann werden wir uns jedes Jahr hier vor Gericht sehen!“
Darauf sollten Sie, auch wenn es Ihnen sehr schlecht geht, wie ich antworten: „Ich möchte, dass mir der Schaden, den ich wegen des Unfalls erlitten habe, ersetzt wird. Das ist mein theoretisches Recht. Wenn das nur durch einen jährlichen Gerichtstermin erreichbar ist, dann eben so.“

 

Die Kausalität wird bestritten ..

Diese Worte werden Sie in den Repliken auf Ihre Klage von der Haftplichtversicherung immer wieder lesen müssen.

Die Argumentation der Versicherung sieht etwa so aus:

Ihre gesamte Erkrankung oder Behinderung haben Sie entweder schon vor dem Unfall gehabt, oder sich auch ohne den Unfall zugezogen. Wenn Sie etwas wollen, dann beweisen Sie heute mal, dass Sie ohne den Unfall nicht genauso behindert wären, wie Sie es vorgeben. Ihre Behinderung und der Unfall stehen in keinem kausalen Zusammenhang. Eine Kausalität zwischen der schwere Ihrer heutigen Krankheit und dem Unfall wird bestritten, zu beweisen, dass sie besteht, liegt zu 100% bei Ihnen.
Die Zermürbungstaktik der Versicherung ist auf Zeit und Verzögerung des Verfahrens angelegt, denn je mehr Zeit vergeht, desto weniger haben Sie Chancen die Kausalität zu beweisen.

Die Entlassung – Erzählung

Die Entlassung – Erzählung von Bernd Thümmel

Bernado lebt 1983 in Traunstein. Dort bewohnt er ein kleines Dachzimmer im Haus von Frau Stößer. Die Traunsteiner Fachoberschule im Technischen Zweig gerät zu einer erschreckenden Lebenserfahrung, weil im Jahre 1983 dort vor allem Rausschmeißer als Lehrer beschäftigt sind. Das sind Leute, die sich selbst genug sind, sie wollen dass Schüler am besten gar nicht kommen.

Bernados Leben spielt zwischen dem Beobachten des Autowaschen am Samstag, Autofahrten in einem gelben Opel Kadett, dem Engagement auf einer Ferienfreizeit mit Kindern aus Traunstein, dem Wäschewaschen mit einem silbernen Ei an dem eine Handkurbel angebracht ist.

Mutter

Mutter

Nachmittags schickte die Mutter den Siebenjährigen zum Metzger. Sie gab ihm einen Zettel auf dem sie alles vermerkt hatte. In seine Geldbörse steckte sie aber kein Geld. Es waren Briefmarken, die sie da hinein tat. Das Geld war ihr am Tag zuvor aus gegangen, denn sie hatte viele Hefte gekauft. Eine langjährige Freundin hatte sie besucht. Beide lasen sich Vormittags gegenseitig aus den Heften vor. Mittags kaufte die Mutter der Freundin alle Hefte ab. Die Freundin trennte sich nur ungern davon, konnte der Mutter aber deren Wunsch nicht verwehren.

Täglich erleuchteten hunderte Kerzen die Kirche. Die Mutter und ihre Freundin hatten sie entzündet. Sie hatten in den Heften darüber gelesen, dass brennende Kerzen in der Kirche ein gutes Opfer an den Herrn seien. Das Opfer, die vielen Kerzen zu kaufen, so hatten beide das verstanden, sei vor allem dann besonders groß, wenn man so wie die beiden, nur wenig Geld besaß. Das sei ein gutes Opfer für den Herrn. Zu teilen oder her zu geben, wovon man nur wenig besitze, das liebe der Herr besonders. Herzugeben wovon man kaum besitze, verursache viel Schmerz, dessentwegen das Opfer erst ein dem Herrn würdiges Opfer sei.

Die Mutter glaubte fest daran, dass es eine Fügung des Herrn sei, dass sie ihre Freundin kennen lernen und so oft treffen durfte. Genauso war es eine Fügung des Herrn, dass die Freundin die Mutter in die Kirchengemeinde eingeführt hatte.

Sie war vor Jahren mit den drei Kindern und dem Vater in den Ort gezogen. Auch das war in den Augen der Mutter eine Fügung des Herrn, genauso wie der Ehemann, den der Herr der Mutter geschenkt hatte, so wie die drei Kinder.

Neben dem uralten Schloss, unweit des Schlossplatzes, hatte die Familie eine Wohnung im ersten Stock gefunden. Das war eine göttliche Fügung. Der Vater hatte auf eine Tafel im Rathaus des Ortes einen Zettel geheftet: „Familie sucht dringend kleine, preiswerte Wohnung“. Wochen später hatte sich beim Vater eine Frau gemeldet. Ihre Nachbarwohnung sei frei geworden und die Miete sei günstig. Sofort war der Vater zur Stelle und sorgte dafür, dass die Familien binnen weniger Wochen in den Ort umzog. Der Umzug verkürzte den Weg des Vaters zu seiner täglichen Arbeitsstelle in einer Konservenfabrik um eine knappe Viertelstunde. Das sparte nicht nur Zeit, sondern auch Geld, denn der VW-Käfer brauchte täglich weniger Sprit.

Die Metzgersfrau schickte den Buben nicht nach Hause. Stattdessen gab sie ihm von der Gelbwurst, die der Junge gierig verschlang. Sie griff zum Telefon und wählte die Nummer der Mutter. Die Nummer schien sie im Kopf zu haben. Der Bub beobachtete, wie sie mit rechts zackig die Wählscheibe traktierte, während sie mit der anderen Hand kräftig an der Fleischwolfkurbel arbeitete.

Zwanzig mal ließ sie es läuten. Die Mutter hatte das Haus bereits verlassen. Sie war mit der Freundin unterwegs zur Kirche. Die Metzgersfrau schlug den schweren Hörer klangvoll auf die schwarze Gabel. Sie stopfte einen Batzen roten Fleisches oben in den Fleischwolf und kurbelte weiter, während sie nun mit einem Holzpropfen das Fleisch in den glänzenden Trichter presste.

Mit dem Buben sprach sie kein Wort. Hinter der Verkaufstheke hatte sie ihm den Rücken zugewandt, griff immer wieder in den Fleischberg neben dem Fleischwolf, während sie mit der Rechten weiter kurbelte. Minuten später war der Fleischberg abgetragen. Die Reste kratzte sie mit den Händen zusammen, um auch sie in den Trichter zu stecken.

Schließlich wandte sie sich dem Jungen zu, der geduldig vor der Verkaufstheke wartete. Sie nahm den Zettel, den der Bub ihr gegeben hatte, und blickte angestrengt drauf. Schließlich begann sie von unterschiedlichen Würsten aufzuschneiden.

Der Metzger kam hinter dem Vorhang, rechts der Verkaufstheke hervor. Er sah den Jungen und warf deshalb einen grimmigen Blick zu seiner Frau. Die ignorierte das. Der Metzger verschwand mit einem großen Messer hinter dem Vorhang. Die Metzgersfrau packte den Aufschnitt in eine Papiertüte. Sie notierte einen Betrag in ein kleines Heft, das neben dem Telefon lag.

Der Junge nahm die Tüte und reichte der Metzgersfrau die Geldbörse, die die Mutter ihm mitgegeben hatte. Die Frau sah darin eine spärliche Anzahl von Briefmarken. Sie nahm nichts davon heraus, sondern gab die Börse dem Kind zurück. Der Bub verneigte sich jetzt fast. „Vielen Dank!“ Schon war er zur Tür hinaus, hüpfte auf dem Gehsteig am großen Ladenfenster vorbei. „Bis zum nächsten Mal!“ Das rief er ohne dass es die Metzgersfrau noch hörte, denn er hatte sich auf dem Gehsteig schon mehrere Meter vom Laden entfernt.

Der Weg nach Hause führte das Kind am Bäckerladen vorbei. Dort war Frau Mayer beschäftigt den Fußboden mit einer groben Bürste zu schrubben. Das tat sie jeden Mittwoch um diese Uhrzeit. Der Junge presste seine Nase an das große Fenster der verschlossene Ladentür.

Das Kind beobachtete Frau Mayer. Deren dicker Hintern bewegte sich in ihrem hellblauen Kittel hin und her. Die Frau kniete, bewegte die grobe Bürste in einem fort auf dem grauen Steinboden von rechts nach links. Sie klatschte die Bürste in einen großen Stahlkübel. Da spritzte Wasser heraus. Sie wrang einen grauen Lappen über dem Eimer aus. Mit dem wischte sie über die zuvor gebürstete Fläche. Den Lappen warf sie schließlich in den Metalleimer, rückte auf dem Boden einige Zentimeter rückwärts Richtung Ladentür, um den Lappen erneut auszuwringen. Der Junge presste die Nase fest an die Glasscheibe. Die Frau schlug die grobe Bürste spritzend in den Wassereimer. Der Bub klopfte an das Ladentürglas.

Als wüsste die Frau, dass der Bub schon minutenlang beobachtend auf dem Fußabstreifer vor dem Laden wartete, griff sie in ihre Kitteltasche. Dort fand sie den Ladentürschlüssel. Schwerfällig erhob sie sich. Lächelnd kam sie dem Jungen entgegen, nahm an der Tür eine braune Papiertüte, die sie dort in der Schaufensterauslage deponiert hatte. Klimpernd sperrte sie die Ladentür auf.
„Na, ist zu Hause alles in Ordnung?“
„Ja, ja“, nickte der Bub, der die Frau unbekümmert anlächelte.

Frau Mayer drückte dem Kind die Papiertüte in die Hand. Wortlos drehte sie sich um. Sie versperrte die Tür von innen und widmete sich weiter ihrer Putzarbeit. Der Bub presste nochmal sekundenlang die Nase an die Scheibe.

Er schlenderte, nun rechts und links beide Tüten schwenkend, Richtung nach Hause. Am Zeitungskiosk blieb er stehen. Dort weckten seine Blicke, die auf bunte Mickymaushefte trafen, Interesse nicht nur an den farbigen Bildern, die das Kind gierig aufsog, sondern dort wurden die neusten Geschichten mit Donald Duck angekündigt, die zu lesen ihm aber noch lange verwehrt blieben. Er verweilte vor der Auslage mit den Heften. Das neuste Heft wird sein Klassenkamerad Wochen später an den Buben ausleihen. Darauf freute er sich Minuten lang. Wie ein echter kleiner Kunde, der überlegte seine fünfzig Pfennige Taschengeld zu investieren, verweilte er vor der Glasscheibe. Hinter der waren Tick, Trick und Track mit deren aufgebrachten Onkel Donald zu sehen, wie sie von Onkel Dagobert angetrieben wurden. Dagoberts gieriger Dollarblick war auf eine golden Statue gerichtet, oben auf einem hohen Berg. Schweißgebadet versuchten alle diesen Berg zu erklimmen. Nie konnte der Bub so ein schönes Heftchen neu kaufen, denn Taschengeld bekam er keines. Seine Freude am Anblick des neusten Abenteuers in Entenhausen brachte ihm die Idee, zu Hause unter dem Bett zu sehen, welches der dort liegenden geliehenen Hefte seines Freundes lohnten, nochmal gelesen zu werden.

Der Junge folgte, diesen schönen Gedanken weiter ausmalend, seinem Weg vorbei an der Glaserei, über den Schlossplatz, wo er in einen hüpfenden Ausfallschritt verfiel. Das war die einzige Freude im Sportunterricht der Schule. Er hasste den Gestank in der muffigen Umkleidekabine und den kalten Gummigeruch der Turnhalle. Der Körpergeruch von vierzig Kindern, darunter er selbst, in der eisigen Kälte der Turnhalle, dazu die Gymnastikübungen der Lehrerin, die sie vorne an der Wand vorführte. Sie hatte alle Kinder im Blick, Verwarnungen an diejenigen heraus schreiend, die ihren Übungen nur mangelhaft folgten. Das hasste er bis zu dem Tag, als die Lehrerin plötzlich einen großen Kreis von Kindern und einen kleinen in der Mitte der Turnhalle bilden ließ. Dann begann sie zu klatschen und ließ die Kinder in einem hüpfenden Schritt, den sie vorführte, im Kreis laufen. Das war endlich eine lustige Übung, die dem Buben Spaß machte.

Beide Papiertüten hatte er fest im Griff. Seine Schritte wurden langsamer. Wenige Meter vor der Haustür war er stehen geblieben. Die Gedanken des Kindes an die Mikymaushefte waren verflogen. Das Kind drückte den Finger fest auf den Klingelknopf. Die Mutter öffnete nicht. Stattdessen ließ der jüngere Bruder den Buben herein.

Der Siebenjährige räumte die Metzgerwurst in den großen Kühlschrank. Danach setzte er sich an den Küchentisch. Dort schnitt er für die beiden Geschwister vom Brot ab, das Frau Mayer ihm mitgegeben hatte.

Abends bereitete der Bub den beiden Jüngeren das Abendbrot zu. Später las er aus einem Buch vor. Weil er in der Schule das Lesen noch nicht vollständig gelernt hatte, zeigte er den Brüdern Bilder aus dem Buch. Dazu erfand er Geschichten, die sich jedes Mal änderten. Die beiden jüngeren Brüder fragten nie, warum die Geschichten immer andere waren, während die Bilder dazu aber immer die gleichen blieben.

Autokauf

Der Motor lief ruhig. Die Tachoanzeige bewegte sich auf die Einhundert zu. Schneller wollte ich an diesem Tag keinesfalls fahren. Die Autobahn war finster. Die Beleuchtung des Wagens schimmerte in gelblichem Licht auf dem schwarzen Asphalt. Der weiße Mittelstreifen reflektierte die gelbe Scheinwerferbeleuchtung in einem matten Ton. Der schien so schwach zu sein, als drohte jeden Augenblick die Gefahr, er könnte erlöschen, genauso wie eine schwache Taschenlampe. Das Auto war zehn Jahre alt.

Baujahr zweiundsiebzig, aber Top in Schuss“, das hatte der stolze Verkäufer gerufen. Ohne mein Zutun schlug der Wagen aber permanent eine Rechtskurve ein. Der Verkäufer hatte das wohl nicht gewusst. Sein Sohn hatte nachts zuvor das Auto benutzt. Er hatte dem Wagen einen schweren Schaden zugefügt.

Die Lenkung des Autos war irreparabel defekt. Das Lenkrad hielt ich deshalb fest und sicher mit beiden Händen umgriffen. Der Wagen zog ständig nach rechts. Die Fahrzeugachse war verzogen. Die Reifen zeigten deutliche Spuren wegen der einseitigen Belastung, der sie durch das Gegenlenken ausgesetzt waren. Gegenlenken war nötig um das Auto in gerader Fahrtrichtung zu halten.

Der Verkäufer, ein bayerischer Vater in mittlerem Alter, hatte keine Ahnung davon, dass der Sohn nachts zuvor den Wagen gegen einen Randstein gesetzt hatte. Der Mann war sehr stolz auf seinen zuverlässigen, aber in die Jahre gekommenen Opel Kadett. Deshalb war er mir in dem Verkaufsgespräch richtig böse geworden. Schon nach wenigen Metern hatte ich den Verkäufer gefragt:

Was ist denn mit der Lenkung passiert?“

Der Mann war von der Verkehrssicherheit seines gelben Opel vollkommen überzeugt. Jahrelang hatte er das Auto selbst gefahren. Regelmäßig hatte er es gewartet, gepflegt und gehegt. Seit zwei Jahren benutzte sein Sohn das Auto.

Der Mann dachte, ich wollte ihn mit meiner Frage nach der Lenkung provozieren. Er glaubte, ich sei ein Autokäufer der versuchte einen besonders schlauen aber dummen Trick anzuwenden. Den Preis wollte ich drücken. Der Mann glaubte, ich war gekommen um seinen zuverlässigen Wagen zuerst schlecht zu reden und dann zu kaufen.

Solches hatte ich nicht im Sinn. Ich war überrascht vom Drang des Wagens auf die rechte Straßenseite. Ich hatte noch nie in meinem Leben ein Auto gekauft. Deshalb lag es mir fern, irgendeinen Trick anzuwenden. Der Mann war sauer geworden.

Sofort anhalten und aussteigen!“

Der Mann brüllte das in mein rechtes Ohr. Ich erschrak. Ich tat wie befohlen, setzte den Blinker nach rechts und steuerte an den Straßenrand. Dort stellte ich den Motor ab und stieg schnell aus.

Steigens aus, steigens aus!“

Das rief der Mann, obwohl ich schon ausgestiegen war. Wütend knallte er die Beifahrertür zu, umrundete den Wagen und blieb mit rot glühendem Kopf neben dem Auto stehen. Ich hatte mich inzwischen einige Meter entfernt.
„Such dir einen Anderen der dir was verkauft! Bei mir zieht das nicht!“

Der Mann riss die Fahrertür auf. Er warf mir einen wütenden letzten Blick zu. In seinem hochroten Gesicht sah ich wilden Zorn. Er schäumte vor Wut.
„Ich lass mich doch nicht von einem daher gelaufenen Schulbuben verarschen!“

So schrie mich der Mann durch das herunter gekurbelte Fahrerfenster an.

Der Wagen ist super in Schuss. 600 Mark sind fast geschenkt! Da brauch ich keinen Deppen, der mir einen Schmarrn von irgend einem Fehler an der Lenkung verzapft!“
Der Mann gab kräftig Gas. Er ließ den Motor laut aufheulen. So rauschte er davon.

Ich stand verdutzt am Straßenrand. Meine erste Probefahrt war beendet. Der Autokauf geplatzt.

Langsam lief ich am Straßenrand entlang. Sekunden lang dachte ich, dass ich mich geirrt haben musste. Die Lenkung musste in Ordnung sein. Ich hatte seit zwei Wochen kein Auto mehr gefahren. Der alte rote Fordtransit vom Jugendbüro, mit dem ich schon mehrmals Jugendliche in Wochenendferienhäuser gefahren hatte, fuhr keine automatische Rechtskurve.

Oder doch? Habe ich das bislang nicht bemerkt? Habe ich so wenig Fahrerfahrung, dass ich einfach vergessen habe, wie sich ein Fahrzeug lenkt? Ich dachte so und tapste langsam am Fahrbahnrand Richtung Bushaltestelle. Ich fand keine Erklärung.

Morgens war ich mit dem Linienbus aus Traunstein in den kleinen Ort gefahren. Telefonisch hatte ich mein Interesse am Kauf und der Probefahrt angemeldet. Vielleicht sollte ich das Autokaufen erst noch lernen? Mein Blick auf meine Armbanduhr sagte mir, dass laut Fahrplan in fünf Minuten der Bus zurück fuhr. Deshalb rannte ich los.

Nach einer engen Kurve erreichte ich die Bushaltestelle. Dort sah ich den gelben Kadett und den Verkäufer wieder. Außerdem sah ich da noch einen anderen Wagen stehen. Ein Mann war gemeinsam mit dem Verkäufer daran, mit Hilfe eines Abschleppseils und dem anderen Wagen, den gelben Kadett aus einem frisch gepflügten Acker zu ziehen.

Der Verkäufer war erst jetzt an der Bushaltestelle überzeugt, dass etwas nicht stimmte. Der Wagen fuhr automatisch nach rechts. Er hatte kräftig beschleunigt. Vorderradantrieb und Zug des Autos nach rechts. Das waren Kräfte, denen der Mann nicht gewachsen war. Das Auto war in der Kurve weit über den Fahrbahnrand hinaus geschossen.

Der Verkäufer war nicht mehr rot vor Wut. Seine Wut auf schien verflogen. Stattdessen war er käsebleich. Erst Tags zuvor sei er mit dem Auto zum Einkaufen gefahren. Da sei mit dem Auto noch alles in bester Ordnung gewesen.

Ich durfte die Probefahrt, in dem nun vom Acker verdreckten Kadett, fortsetzen. So stellte ich fest, dass sich der Wagen ganz normal fuhr. Während der Fahrt sprach ich kein Wort mehr mit dem Mann. Der wischte sich mit einem grünen Stofftaschentuch die Stirn. Das Auto wollte nur gemächlich beschleunigt werden. Abgesehen von der Lenkung war der Wagen aber völlig in Ordnung.

In seinen Augen und seinem Gesicht erkannte ich, dass der Sohn des Mannes seinen Rausch noch nicht richtig ausgeschlafen hatte. Der bleiche Vater hörte seine Geschichte. Gegen fünf Uhr früh war er in dem beschädigten Fahrzeug nach Hause gekommen. Seine Hände waren noch schwarz von Wagenschmiere. Den ruinierten Reifen hatte der Sohn am frühen Morgen mühsam abmontiert und im Kofferraum verstaut.

Die kaputte Lenkung und der demolierte Reifen halbierten den Kaufpreis. Für dreihundert Mark und war ich 1982 stolzer Besitzer eines Autos geworden.

Zuhause

Die Mutter war abends oft erst sehr spät aus der Kirche zurückgekehrt. Er hörte sie kommen, als die Geschwister schon im Bett lagen. Polternd stieg sie die Treppe hinauf. Ihren Schlüssel warf sie in ein Fach neben der Küchentür. Sie verschwand in die Küche. Schnell war wieder Ruhe eingekehrt.

Die Mutter hatte vom restlichen Haushaltsgeld mehrere hundert Kerzen gekauft. Mit denen war sie in die Kirche gegangen, um sie dort alle aufzustellen und ihren geliebten Heiland zu ehren. Den Abend verbrachte sie in einer Art Dämmerzustand betend vor dem Altar. Später fühlte sie sich vom Hausmeister der Kirchengemeinde bedroht, weil der sie mit sanfter Gewalt vor die Kirchentür befahl, um das Gotteshaus für die Nacht abzusperren.

Stundenlang harrte die Mutter deshalb auf den Treppenstufen vor der Kirche aus, ohne sich ihrer kleinen Kinder zu erinnern. Die hatten den Tag zu Hause allein, völlig ohne Versorgung zugebracht. Nachbarn waren wegen Geschrei aus der Wohnung auf die Kinder aufmerksam geworden.

Die Nachbarin versorgte die Kinder an ihrem Küchentisch mit einem warmen Abendessen. Sie verständigte die Polizei, die sich auf die Suche nach der vermissten Mutter machte. Die Kinder wurden von der Nachbarin abends um halb sieben Uhr dem Vater übergeben, als der von der Arbeit nach Hause gekommen war. Die Mutter wurde gegen einundzwanzig Uhr von einer Polizeistreife auf den Treppen vor der Kirche entdeckt. Sie war nicht ansprechbar. Sie weigerte sich, den Ort an dem sie sich ihrem verehrten Heiland am nächsten fühlte zu verlassen. Von den Beamten wollte sie sich nicht nach Hause bringen lassen. Ein Notarzt brachte sie schließlich in eine Klinik.

Die Kapelle in der Klinik war sehr klein. Sie war voll von Menschen. Die Mutter konnte diese Nähe nicht lange ertragen. Sie hatte eine andere Vorstellung davon, wie der Herr zu ehren sei. Eine Menschenmenge in einer winzigen Kellerkapelle konnte dabei niemals von Nutzen sein. Es hatte in Ruhe und Einsamkeit zu geschehen. Danksagungen an das Leben für das geschenkte Glück von drei Kindern und einem arbeitsamen Ehemann, konnten den Herrn nicht erreichen, wenn dreißig Menschen einen kleinen Raum füllten und gemeinsam beteten. Der Herr sollte einzig und allein ihrer sein. In den Sekunden ihres Danks wollte sie dem Herrn stets allein gegenüber stehen. Wie schon so oft verließ sie deshalb auch diesmal die Klinik nach wenigen Tagen.

Der Jüngste, vor Tagen drei Jahre alt geworden, hatte von früh Morgens bis spät abends immer wieder quälende Schmerzen. Er weinte den Tag lang in Schüben, die wenn sie sekundenlang vorüber gegangen waren, sich langsam erneut ihren Weg bahnten. Schmerz zog vom aufgedunsenen Magen des Kleinen hinauf in dessen trockenen Mund. Jede Menge Papierfetzen hatte das Kind verschlungen. Die Wände in dem Kinderzimmer waren leer. Nur ein Bild hing da. Doch das Kind vermochte nicht hinauf zu greifen. Zwei Stunden lag der Kleine schreiend auf dem Rücken. Stechender, quälender Schmerz zog vom ausgetrockneten Mund die Speiseröhre hinab in den Magen. Der aufgequollene Bauch des Kindes schmerzte wie nie zuvor.

Die Mutter war mit den beiden Geschwistern zur Tante gefahren. Die Tante glaubte, die Freundin würde sich um den Jüngsten kümmern. Der Vater war tagelang auf Montage einer riesigen Werkshalle, die im Hafen an der See neu errichtet wurde. Er hatte eine neue Anstellung gefunden. Der Bau der Werkshalle war eine erste Bewährungsprobe.

Die Mutter hatte sich entschieden. Es war ihr schwer gefallen, doch sie hatte sich befohlen, für den Herren ihr Glück zu beschneiden. Nach Jahren in der Gemeinde war sie endlich soweit. Sie wollte sich selbst und dem Herrn gegenüber einen endgültigen Beweis erbringen. Ihr Opfer sollte schmerzlich sein. Nur großer Schmerz bewies die Wahrheit, die in ihrem tiefen Glauben steckte.

Der Dreijährige war bewusstlos, als er in die Intensivstation der Klinik eingeliefert wurde. Der Kampf um sein Leben schien anfangs aussichtslos. Die Ärzte gaben alles um das Kind zu retten. Nachts um vier Uhr brachten sie das Kind per Hubschrauber in eine Spezialklinik.

Morgens um sieben Uhr läutete es an der Wohnungstür. Die Tante hatte gerade das Teewasser vom Herd genommen. Die Beamten sprachen kaum, sie folgten der Tante in die Küche, wo sie am Tisch die Geschwister sahen. Beide tranken warme Milch und aßen süße Brote mit Marmeladenaufstrich.

Die Mutter betrat die Küche nicht mehr. Am Treppenabsatz zum ersten Stock des Hauses, wurde sie von einem Beamten begrüßt. Der Bub war vom Frühstückstisch aufgestanden. Durch einen Spalt der angelehnten Küchentür sah er die Mutter. Sie sprach kein Wort. Die Tante, neben der Mutter stehend, war blass geworden. Die Beamtin fragte die Mutter etwas, die antwortete aber nicht. Sie senkte den Kopf nach unten, so dass die frisch gewaschenen Haare ihr Gesicht verbargen. Die Mutter wurde von den zwei Beamten zur Haustüre hinaus begleitet. Die Tante nahm die Hand vor den Mund.

Schnell setzte sich der Bub zurück an den Küchentisch zu seinem Bruder. Er biss von seinem Marmeladebrot ab und trank aus dem Milchbecher. Die Tante kam, begleitet von einer Beamtin in die Küche. Beide setzten sich zu den Kindern. Die Tante begann zu sprechen. Der Bub hörte aufmerksam zu. Der jüngere Bruder fragte, ob er noch einen Becher Milch bekommen könnte.

Autofahrt

Von Traunstein bis Berchtesgaden, wo ich damals gelebt hatte, sind es knappe fünfzig Kilometer. An Wochenenden war ich im Jahr 1982 und 1983 manchmal dorthin unterwegs. Ich fuhr gerne auf der kurvigen Landstraße über Teisendorf, Piding und Bad Reichenhall. Das war eine schöne Strecke. Die Leute verstanden nicht, dass ich nicht die Autobahn nahm. Meine Bekannten und Freunde waren größtenteils darauf getrimmt, so schnell als möglich von Punkt A nach B zu kommen. Ich hatte es nicht eilig, denn ich lebte in Traunstein allein zur Untermiete bei meiner Vermieterin Frau Stößer.

Ich hatte nur wenige Freunde. Alle waren in ihren Familien eingebunden. Das war mir fremd, denn ich bewohnte einsam ein Dachzimmer im Haus von Frau Stößer. Die empfing oft laute Freundinnen, die gemeinsam auf der Terrasse im Garten bei Kaffee und Kuchen saßen. Das beobachtete ich gezwungenermaßen, denn ich wohnte oben und das Haus war zwar ein Neubau, doch trotzdem so hellhörig, dass ich selbst die Telefonate, die Frau Schlösser täglich im Erdgeschoss führte, nicht ausblenden konnte. Am Wochenende war ich meist allein, während meine Bekannten in ihren Familien ihrem deutschen Wochenendalltag nachgingen.

Auf manchem Spaziergang durch Traunstein beobachtete ich, wie das deutsche Wochenende ging. Es war die wöchentliche Autowäsche vor der Einfamilienhaustür, Besuch der Groß- oder Schwiegereltern zum Sonntagskaffee und der gemeinsame sonntägliche Kirchenbesuch. Abends folgte der Fernsehabend oder ein familiärer Theaterbesuch im Volkstheater oder dem klassischen Konzert im nahe gelegenen Salzburg. Ein vereinsamter junger Mensch wie ich, gewann auf seinen Spaziergängen durch die kleine Stadt das Gefühl, dort wie ein Verbrecher herum zu schleichen, der nicht am Leben teilnahm, dessen Strafe es wohl war, ausgeschlossen zu sein. Dabei errang er unfreiwillig einen geschärften Blick für das, was an familiärem Leben hinter beleuchteten Fenstern und auf den Straßen und Plätzen geschah. So gesehen wirkte die von mir gefühlte Strafe meines Alltag in Traunstein doppelt. Es reichte nicht dass ich allein lebte, nein ich konnte mit dem Leben vor meinen Augen nichts anfangen.

Ich war achtzehn Jahre jung, lebte allein in einem Ort, den ich mir ausgesucht hatte ohne ihn zu kennen, hatte kein Geld, weil ich mir von meinen monatlich 700 Mark, die ich als Fall des Jugenwohlfahrtsgesetzes erhielt, neben der Miete von 250 Mark an Frau Stößer noch diesen gelben Opel Kadett leistete. An den einsamen Wochenenden lief ich wie ein leiser Storenfried in der beschaulichen und wie ich vielfach fand spießigen deutschen Welt umher. Ich wandelte ziellos durch die Kreisstadt Traunstein um zu sehen, ob dort nicht doch etwas war, dem ich mich anschließen konnte, um das Gefühl der Isolation in der Bayerischen Provinz wenigstens ein bisschen zu entschärfen. In Traunstein aber fand ich damals nichts, was mich interessierte. Mich interessierte der Bauernmarkt nicht, die Bauernmalerei in den Läden wollte ich mir nicht ansehen, ich kaufte nur das nötigste bei einem Discounter ein, ich hatte niemanden, der mich ins Kino, für das ich ohnehin kein Geld hatte, begleitet hätte. So blieb es Wochenende für Wochenende bei Spaziergängen mit auf Dauer immer den gleichen Beobachtungen. Wenn ich mal nach Berchtesgaden fuhr, war das etwas besonderes. Ich hatte Zeit, um mit dem gelben Opel gemütlich die Landstraße zu nehmen, denn ich wollte das Fahren, das ich mir von meinem Lebensunterhalt absparte erleben und genießen.

Heute ist die Strecke von Traunstein nach Berchtesgaden zu einer breiten Rennstrecke ausgebaut. Vor wenigen Wochen war ich dort, wollte aus „Nostalgiegründen“ nochmal auf früheren Wegen fahren. Die Strecke ist so breit ausgebaut, dass ich sie nicht wieder erkannte.

Es trifft das Wort, dass man Orte oder in diesem Fall Wege, die man in bestimmter Erinnerung hat, heute nicht mehr besuchen sollte. Ich finde auf dem Weg nichts als Raserei von riesigen panzerartigen Autos. Es macht keinen Sinn zu versuchen die Abzweigung zu finden. An ihr hatte ich damals bei meinem Umzug von Berchtesgaden nach Traunstein gestoppt. Der geliehene Peugeot war völlig überladen. Trotzdem hielt ich wegen eines Trampers an. Der war mit einem platten Fahrrad unterwegs. Wegen ihm lud ich mein Mobiliar am Straßenrand aus und wieder ein, um im kleinen grünen Peugeot noch Fahrrad und Tramper unter zu bringen. Manfred war der erste neue Freund, auf den ich 1982 traf.

Vater

Er war vor zehn Jahren 1973 in seinem Käfer auf genau dieser Autobahnstrecke unterwegs gewesen. Während ich im gelben Opel Kadett, das nach rechts strebende Lenkrad fest hielt, stellte ich mir vor, dass der Vater Zigaretten rauchend am Steuer gesessen war. Ich steckte mir eine Kippe an. Mein Vater rauchte „Kurmark“. Das ist eine Zigarettensorte, die ich seit zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte, den seitdem hatte ich den Vater nicht mehr gesehen. Ich kannte außer ihm niemanden, der das Zeug rauchte. Erst als ich zwanzig Jahre später 2002 die Wohnung des toten Vaters zusammen mit meinem Bruder betrat, um dort zu sehen, wie viel Arbeit wohl notwendig war, um die Wohnung zu räumen und zu renovieren, um sie dem Vermieter zu übergeben, sah ich „Kurmark“ wieder. Der Vater hatte sie offensichtlich bis zu seinem Tod, im Alter von Vierundsiebzig, geraucht.

Das erinnerte mich daran, wie er die Kippenschachtel aus der Hemdtasche zog, während er das Käferlenkrad hielt, den Zigarettenanzünder drückte, aus der Schachtel eine Kippe schüttelte, sie mit dem Mund aufnahm, die Schachtel zurück in die Hemdtasche schob um mit dem Anzünder die Kippe zum Qualmen zu bringen. Ich sah ihn, wie er aufmerksam durch die Gläser seiner dicken Hornbrille blickend, den Kilometerstand des Käfers stets berechnend, wissend, wann der nächste Ölwechsel fällig würde, genau darauf achtete, nicht schneller als hundert Stundenkilometer zu fahren, um den geringst möglichen Spritverbrauch bei gleichzeitiger Schonung des Käfermotors herauszufahren.

Obwohl ich ihn, während der Fahrt auf der Autobahn, wie früher vor mir sah, fand ich das frühere Gefühl für den Vater nicht wieder. Es hatte mich damals hin und her geworfen. Es warf mich oft beinahe um, denn ich schwankte zwischen Sicherheit und Unsicherheit. Ich sah hinauf zu ihm. Aber ich sah damals nicht, welche Dinge der Vater wichtig fand.

Trotzdem forderte er stets Begründungen für alles. Was ich tat musste einen Grund haben, der den Vater zufrieden stellte. Gründe für den Vater zu finden war zu einer meiner wichtigsten Aufgaben geworden. Der Vater verlange das ohne Worte. Es war selbstverständlich. Später, als der Vater schon lange für immer weg war, ertappte ich mich oft immer noch bei der Frage: Was sagst du dem Vater? Wie begründest du ihm das, was du gerade tust oder gerade zu tun gedenkst?

Auch 1982 auf der Autobahn im gelben Opel Kadett kam plötzlich diese Frage. Ich antwortete, dass ich fuhr, um an diesem Wochenende meinen Bruder zu besuchen, der in der Nähe von Vaters Wohnung lebte, während ich weit vom Vater entfernt wohnte, in Traunstein, nahe Berchtesgaden, wo er uns Geschwister früher manchmal besucht hatte.

Berchtesgaden: Das waren für mich die siebziger Jahre. Es war die Zeit meiner Kindheit. Mein Leben beim Vater war für mich bereits nach einem Jahr 1974 vorbei, denn bei ihm war alles schief gelaufen. Ich verstand deshalb nicht, warum mich der Vater 1983 im Kopf, während ich im gelben Kadett saß, um nach Heilbronn zu fahren, immer noch beschäftigte indem er fragte, was ich heute aus welchem Grund gerade in diesem Augenblick tat.

Ich antwortete ihm: Es ist weit, das weißt du doch, es ist beinahe die gleiche Strecke, die du selbst früher gefahren warst, als du uns im Kinderheim auf dem Obersalzberg bei Berchtesgaden besucht hattest.

Um den Lebensunterhalt für die Familie zu verdienen hatte der Vater von früh morgens bis abends täglich in einer Maschinenfabrik gearbeitet. Jeden Morgen, meist war es noch dunkel, warf er hinter dem Haus den Käfermotor an. Er fuhr in die Fabrik, während seine Kinder noch fest schliefen. Abends, wenn der Vater wieder nach Hause kam, waren die Kinder, außer mir dem Ältesten, schon im Bett. Der Vater ließ sich stets schwerfällig am Abendbrottisch nieder. Er erzählte vom schweren Fabrikarbeitstag, während die Mutter und der Älteste schweigsam am Tisch saßen und aufmerksam zuhörten.

Gerne hätte der älteste Bub dem Vater davon erzählt, was er Nachmittags bei der Bäckersfrau oder der Metzgersfrau erlebt hatte. Das waren eigentlich immer die gleichen Erlebnisse. Der Bub glaubte, er würde den Vater am Abendbrottisch damit langweilen. Es war damals nicht üblich, dass ein Bub am Abendbrottisch begann, den Vater mit seinen Geschichten zu belästigen. Die Mikymaushefte, die er Nachmittags am Kiosk gesehen hatte, die Geldbörse mit Briefmarken, mit der er von der Mutter zu Frau Mayer geschickt worden war, das gelbe Heftchen in das die Metzgersfrau den Betrag notiert hatte, die Freundin der Mutter, die Nachmittags mit ihren Heften zu Besuch gekommen war, der Pfarrer, der Abends angerufen hatte, um zu fragen, ob die Mutter endlich wieder zu Hause angekommen sei, das alles konnte der Bub am Abendbrottisch nicht berichten. Es wären Berichte und Geschichten aus dem Alltag gewesen, die der Vater Abends nicht hören wollte, denn er war Abends immer zu Müde, er hatte den ganzen Tag schwer gearbeitet.

Für den Alltag zu Hause war die Mutter zuständig. Darin war der Vater von der Mutter aber schwer enttäuscht worden. Das bemerkte der Vater viel zu spät, denn er war ja immer in der Arbeit und am Abendbrottisch wollte er nichts hören. Die Kinder blieben tagsüber meist allein in der Wohnung zurück, während die Mutter in der Kirche Kerzen entzündete oder bei der Freundin Hefte mit der Aufschrift „Der Wachturm“ kaufte. Deshalb war die Nachbarin zu einer beinahe täglichen Anlaufstelle für die Kinder geworden. Daran, dass die Kinder im Heim auf dem Obersalzberg leben mussten, war die Mutter schuld. Das erklärte er 1974, als er die Kinder aus dem Heim holte. Bei ihm war dann aber alles schief gegangen. Die Kinder kamen schon nach einem Jahr zurück auf den Obersalzberg. Der Vater war immer zur Arbeit gegangen.

Ich fuhr einen Teil der Strecke, welche der Vater damals gefahren war. Ich tat das, um meine innere Vorstellung dorthin zu bringen, wo der Vater damals mit seinem weißen Käfer unterwegs gewesen war. Abends zuvor hatte ich mich entschlossen, morgens sehr früh aufzustehen, so wie es der Vater damals tat, wenn er uns auf dem Obersalzberg im Kinderheim mit seinem weißen Käfer besuchte.

Bei Dunkelheit war ich losgefahren. Im Osten sah ich einen langsam heller werdenden Schimmer am Horizont. Im Radio hörte ich etwas von der neuen Bundesregierung. Die alte Regierung war im September des Jahres zuvor im Rahmen eines sogenannten Misstrauensvotums abgesetzt worden. Ich hörte aus dem Radio, dass die neue Regierung jetzt plante die Bafögzahlungen an Studenten auf Darlehensbasis umzustellen. Das bedeutete, dass ich Geld, welches ich für mein Studium von diesem Staat erhoffte, wieder zurück zu bezahlen hatte.

Eine völlig normale Sache. So stellte mir deshalb meine Schulden vor. Ich sah, wie sie in den Jahren des Studiums zu einem hohen Berg anwuchsen. Das Studium würde ich noch besser planen, als ohnehin geplant, denn es müsste zwingend erfolgreich, vor allem aber sehr schnell verlaufen, um am Ende möglichst wenig Schulden beim Staat wegen des Bafögs zu haben.

Ich lauschte den Worten eines Regierungsmitglieds aus dem Radio. Ich drehte den Mann lauter, um das Motorengeräusch des Autos zu übertönen. Der Politiker begründete das Vorhaben. Dessen Worte bestanden im Prinzip darin, ein bekanntes Sprichwort auszulegen: Noch nie habe die Jugend in diesem Land so viele Chancen gehabt wie heute. Viele junge Menschen nutzten ihre Chancen aber gar nicht. Sie zögen es stattdessen vor, einfach vor sich hin zu „gammeln“. Was der Mann damit genau meinte, war nicht klar. Er sprach von „jugendlichen Gammlern“, als gehörte dieser Begriff zum alltäglichen Sprachgebrauch. Ich fand dessen Worte eher ungewöhnlich. Er meinte einfach, dass jeder seines Glückes Schmied sei.

Doch das sagte er nicht, stattdessen so der Mann, sei das „Gammeln der Jugend“ keinesfalls auf Staatskasse möglich. Jahrelang hätte die sozialliberale Vorgängerregierung junge Menschen studieren lassen, die mit Bildung eigentlich nichts am Hut hätten. Die Studienzeiten seien deshalb arg in die Länge gezogen worden. Wer aber Bildung ablehne oder dieser nicht zugänglich sei, sollte gefälligst arbeiten anstatt zu studieren. Solche jungen Leute sollten sich Bildung angemessen verdienen, indem sie zunächst bewiesen, dass sie es wert seien, sie überhaupt zu erwerben.

Mich beschlich das Gefühl, ich gehörte zu denjenigen, die sich den Erwerb von Bildung nicht mehr lange leisten können. Aber darüber sprach der Politiker nicht. Der Mann meinte, dass junge Leute wie ich, wegen deren Probleme, sich deren eigenes Glück selbständig zu schmieden, keine erwünschten Studenten in diesem Land waren.

Ich schaltete das Radio aus.

Kinder

Der Bub hatte den Jungen geschlagen. Er wollte dass sein Bruder das Geburtstagspäckchen, das die Tante geschickt hatte, alleine öffnete. Der Junge aber hatte trotz Warnungen des Buben nicht aufgehört, den kleinen Bruder von der Holzbank hinter dem Tisch weg zu schubsen. Er stieß den Kleinen beiseite, begann sich an den Paketschnüren, die das braune Paketpapier umschlossen, zu schaffen zu machen, während er dem Kleinen gehässige Blicke zuwarf.

Der Bub konnte das nicht zulassen. Er konnte nicht dulden, dass ein anderes Kind das Geburtstagspäckchen seines kleinen Bruders öffnete. Der Bub hatte den Jungen schon zweimal von dem Paket weg geschoben. Beim zweiten Mal hatte er ihn kräftiger als beim ersten Mal von der Holzbank gestoßen. Doch die Warnung reichte dem Jungen nicht.Trotzdem versuchte der nochmal, sich über das Geburtstagspäckchen des Bruders herzumachen. Das machte den Buben wütend. Er griff den Jungen an den Armen, riss ihn von Paket und Tisch weg, versetzte ihm einen festen Hieb in den Magen, um damit ein eindeutiges Signal zu setzen, dass nun endgültig Schluss sei. Der Schlag war für den frechen Jungen zu viel, er übergab sich. Er spie alles von sich, was er zuvor am Mittagstisch eilig verschlungen hatte.

Deshalb wurde nun eine Erzieherin aufmerksam. Sie tröstete den Jungen. Den Buben identifizierte sie als Streithahn, der gewalttätig geworden war und bestraft werden musste. Deshalb ordnete sie nächtlichen Kellerarrest an. Wer so brutal sei, so erklärte sie, müsse die Nacht im kalten Keller verbringen. Zuvor aber sollte der Bub den restlichen Nachmittag allein im Zimmer sitzen. Deshalb durfte er dem jüngeren Bruder nicht zusehen, wie der endlich in Ruhe sein Geburtstagspäckchen auspackte.

Zur Strafe gehörte auch, dass für den Buben das Abendessen ausfiel.

Den Nachmittag war langweilig, der Bub lief zwischen den Stockbetten auf und ab. Er musste sich bewegen denn er war in einem Fußballspiel auf der Wiese hinter dem Haus eingeplant gewesen. Das Spiel verfolgte er vom Zimmerfenster aus. Einige Szenen spielte er zwischen den Stockbetten im Zimmer nach. Dabei benutzte er einen unsichtbaren Fußball, der nur in seiner Phantasie existierte. Sein jüngerer Bruder spielte in einer Mannschaft, die auf einem kleineren Spielfeld im rechten Teil der Wiese kickte. Auch aus dessen Spiel hatte er zwischen den Stockbetten die jeweils spannendste Spielszene nachgespielt.

Um fünf Uhr Nachmittags war es draußen auf der Fußballwiese ruhig geworden. Der Bub legte sich gelangweilt auf sein Bett. Die Gipsschale mit den Gurten versteckte er zuvor in der hintersten Ecke in seinem Fach in dem riesigen Kleiderschrank. Der Arzt hatte ihm die Rückenschale vor Monaten verordnet. Seither musste er sie jeden Abend umbinden. Er wurde jede Nacht gezwungen mit ihr auf dem Rücken liegend zu schlafen. Das wurde von einer Erzieherin kontrolliert.

Der Schrank war ein schlechtes Versteck, aber ein anderes gab es in dem Zimmer nicht. Er hoffte darauf, dass wenn ihn abends die Erzieherin mit seiner Bettdecke in den Keller schickte, vielleicht die Gipsschale in Vergessenheit geriet, weil die Erzieherin sie nicht auf seinem Bett liegen sah.

Er hasste die Nächte im Keller. Das Einschlafen in der harten Schale auf der Holzbank war immer sehr schwierig. Meist fror er trotz der Bettdecke auf der kalten Kellerbank. Die Bank war so hart, dass er auf ihr in der Schale liegend, immer wieder von Schmerzen geplagt aufwachte. Die Kälte des Kellers war mit dem Erwachen sofort spürbar. Die Nacht brachte viele blaue Flecken, die schmerzten tagsüber an den Knochen.

Bis neuen Uhr abends hatte der Bub allein in dem finsteren Zimmer gewartet. Die Stockbetten malten an der Wand krakelige Schatten im Licht, das über den Hof durch das Fenster einfiel. Um halb neun Uhr war der Mond aufgestiegen. Licht von unten aus dem Hof mischte sich mit Licht vom Mond, so dass er die Schatten an der Wand doppelt sah.

Um Punkt neun Uhr ging das Licht in dem Zimmer an und der Lärm begann. Sechzehn Kinder rannten auf und ab, suchten Schlafanzüge und warfen Kleidung auf Holzstühle, die gegenüber dem großen Schrank, rechts von den Stockbetten, aufgereiht standen. Jetzt verhielt er sich, als gehörte er dazu, als sei die Bestrafung bereits abgegolten. Er zog seinen Schlafanzug an, legte seine Kleider auf seinen Stuhl und rannte gemeinsam mit den anderen Kindern zum Waschen und Zähneputzen in das riesige Badezimmer. Zurück im Zimmer, legte er sich wie alle anderen Kinder in sein Bett.

Um halb zehn Uhr erschien die Erzieherin vor seinem Bett. Sie riss ihm die Decke vom Körper. Er sprang sofort aus dem Bett.

Wo ist deine Gipsschale?“, schrie die Erzieherin, sie starrte auf die leere Matratze im Bett. Der Bub rannte sofort zum Schrank und holte die Gipsschale heraus. Er hörte gemeinsames lautes Lachen von fünfzehn Kindern. Die Gipsschale unter dem Arm, folgte er der Erzieherin.

Der Keller lag zwei Stockwerke tiefer. In ihm hingen feuchte Regenjacken an einer langen Reihe von Haken. Darunter war an der Wand eine Holzbank angeschraubt. Sie diente als Sitzbank, um sich die Straßenschuhe, die unter ihr standen, anzuziehen. In der auf den Rücken gebundenen Gipsschale musste er dort liegen. Nachts um halb eins kam sein kleiner Bruder. Er brachte drei Scheiben Brot vom Abendbrottisch. Der Bub freute sich, umarmte den Kleinen und aß gierig.

Er begleitete den kleinen Bruder nach oben in dessen Schlafsaal. Der Kleine war das Risiko eingegangen in dem riesigen Haus unterwegs aufgehalten zu werden. Nachts machten Erzieherinnen Kontrollgänge. Der Kleine wäre bestraft worden. Deshalb ging der Bub mit, denn auch diese Strafe hätte er auf sich genommen. Das Brot war ein Diebstahl. Es war verboten Brot vom Essenstisch mitzunehmen. Das war eine Grundregel.

Weil der Kleine dem Buben trotzdem immer Brot in den Keller gebracht hatte, waren die Geschwister von den Heimkindern „Diebesbande“ genannt worden. Wenn etwas als gestohlen gemeldet worden war, wurde der Schrank des Buben von einer Erzieherin durchsucht. Nie fand sich etwas. Der Kleine stahl nur essbares vom Abendbrottisch und von Tellern, die nach dem Abräumen zurück in die Küche gebracht wurden.

Nachts waren die Rückenschmerzen in der harten Gipsschale unerträglich geworden. Nach der ersten Kontrolle der Erzieherin, die wohl glaubte er schlafe, riss er sich die Gipsschale vom Leib. Er versteckte sie einige Meter entfernt, dort wo die Jacken hingen. Er verbarg sie hinter einer gelben Regenjacke an der Wand. Ohne der Schale schlief er auf der Seite liegend auf der schmalen Holzbank ein.

Plötzlich wachte er auf. Es war eiskalt. Er zitterte am ganzen Körper. Die Decke war verschwunden. Die Schlafanzughose war nass. Wieder hatte er geträumt, dass er auf der Toilette sei. Wohl deshalb hatte er es laufen lassen. Zitternd tastete er Hemd und Schlafanzughose ab. Das Hemd klebte nass und eiskalt an seinem Körper. Er richtete sich auf der Holzbank auf. Wo war seine Bettdecke geblieben?

Er sah sich in dem dunklen Keller um. Da erkannte er die beiden. Zwei standen vor dem Kellerfenster nahe der Treppe. Einer der Zwei trug einen Eimer in der Rechten. Jetzt hörte er deren Lachen. Er hatte nicht eingenässt. Beide Burschen haben einen Eimer Wasser über ihn geschüttet. Dreckig lachend rannten die zwei die Treppe hinauf. Der Bub suchte nach der Bettdecke. Die hatten sie ihm offenbar weggerissen. Der nasse Schlafanzug tropfte. Er fand sie in einer Ecke. Sie war trocken.

Monate zuvor war er schon einmal nachts im Keller von einer eisigen Wasserfontäne übergossen worden. Da hatte er nicht so fest geschlafen und konnte den Tätern rechtzeitig die Gipsschale zuwenden. Er war kaum nass geworden. Das hatte großen Ärger mit der Erzieherin gegeben. Die Gipsschale war vom Wasser so beschädigt, dass sie erneuert werden musste. Niemand glaubte dem Buben, dass er nicht absichtlich versucht hatte sie mit Wasser zu zerstören.

Bis um halb sechs Uhr das Licht an ging, saß der Bub auf der Holzbank unter seiner Bettdecke. Das automatische Licht im Keller war Signal und Erlaubnis, in den Schlafsaal zurück zu kommen. Dort angekommen, legte er Decke und Gipsschale auf sein Bett, zog wie alle anderen Kinder seine Kleidung an, brachte den Schlafanzug in die Wäschekammer im Erdgeschoss, wo er ihn in die Schmutzwäschetonne warf. Die Strafe der langen kalten Nacht im Keller war vorüber gegangen.

Wohnen

Obwohl mein neues Zimmer größer und heller war, als das alte Zimmer nebenan, blieb die Miete gleich. Frau Stößer sagte, dass sich der Größenunterschied der Zimmer wegen der Dachschrägen, die mein neues große Zimmer habe wieder ausgleiche. Ich fand das gut, denn das Zimmer war viel größer, viel heller und hatte einen schönen Balkon mit Blick auf die Stadt Traunstein. Frau Stößer plante, mein bisheriges kleines Zimmer zu einem Gästezimmer ausbauen lassen. Es sei dafür bestens geeignet weil es eben keine Dachschrägen habe.

Im Haus von Frau Stößer in Traunstein fühlte ich mich wohl. Das neue große Zimmer bot wunderbaren Ausblick auf Stadt und Berge. Frau Stößer hatte sich als sehr angenehme Vermieterin erwiesen. Meine anfänglichen Vorurteile, hatten sich ganz schnell in Nichts aufgelöst.

Frau Stößer interessierte sich nicht dafür, welchen Besuch ich bekam. Es war ihr egal, dass ich ein altes schrottreifes Auto fuhr. Sie fragte nicht, warum ich spät Nachts hin und wieder das Haus verließ. Sie erlaubte, dass mich ab und an Manfred oder Pete besuchten, die das Haus als spießig und rustikal empfanden. Es schien ihr nicht ungewöhnlich, dass ich den gelben Kadett direkt neben ihrer großen Doppelgarage, in der ihr Mercedes stand, parkte. Es machte ihr auch nichts, dass ich oft angerufen wurde, was Frau Stößer jedes Mal Zwang aus ihrer Erdgeschosswohnung ins Treppenhaus zu kommen, um nach mir zu rufen. Oft schrieb sie mir Zettel wenn jemand angerufen hatte.

Um meine Angelegenheiten kümmerte sie sich nicht. Sie war die Hausbesitzerin und Vermieterin. Meine anfängliche Befürchtung, sie könnte eine gelangweilte Hausfrau sein, die mich nervte, weil sie hinter mir her spionierte, bewahrheiteten sich nicht.

Es interessierte Frau Stößer auch nicht, dass ich mit der Mutter, die das Zimmer vor einem halben Jahr für mich angemietet hatte, seit meinem Einzug gar nichts mehr zu tun hatte. Sie war gar nicht meine leibliche Mutter. Mein Kontakt zur Mutter endete mit meiner Volljährigkeit an dem Tag, als ich zur Untermiete einzog. Auch das interessierte Frau Stößer nicht..

Niemals hatte sie mich auf die Frau angesprochen, die mir die Miete des Zimmers vermittelt hatte. Sie hatte meine Mutter ein knappes halbes Jahr zuvor, beim Mietvertragsabschluss kennen gelernt. Beide hatten sich sofort wunderbar verstanden. Sie fragte nie, warum meine Mutter seither niemals zu Besuch gekommen war.

Ich wohnte 1982 in Traunstein in einem schönen Zimmer mit Blick über die Traun auf die Stadt zur Untermiete. Mein Zimmer bei Frau Schlösser war ein schönes Privileg für einen achtzehnjährigen Menschen, der von der Stütze durch die deutsche Jugendwohlfahrt auf Grundlage des Jugendwohlfahrtsgesetzes lebte. Ich war deshalb nicht einfach fallen gelassen worden. Ich war zwar aus meinem Elternhaus, ich sage mal „unehrenhaft“ entlassen worden, doch in meiner Freiheit, die in Traunstein begann, wurde ich vom Land in dem ich geboren wurde, unterstützt. Ich hatte gute Chancen diese Unterstützung in den Abschluss einer Schulausbildung so zu investieren, dass ich zusätzlich die Berechtigung zu studieren erlangte. Das war gut. Das Gute verhinderte aber nicht, dass ich mir damals in meiner Freiheit oft recht einsam vorkam. Ich konnte die neuer Freiheit nicht genießen. In Traunstein besuchte ich 1982 die Fachoberschule für technische Berufe. Mein Ziel war es, alle Hürden zu überwinden, die sich mir dort in den Weg stellten, um diese Schule zu schaffen um später zu studieren.

Hürden, die es zu überwinden galt fand ich sehr viele. Weniger der Unterrichtsinhalt und das Lernen, vielmehr aber die Konkurrenz zwischen den Schülern und teils den Lehrern waren solche Hürden für mich, sie beherrschten das Klima an meiner neuen Schule. An diese Schule hatten mich die Pflegeeltern bewegt. In technischen Dingen, so hatten sie oft zu mir gesagt, hätte ich meine hauptsächlichen Begabungen. Ich war 1982 noch nicht frei genug, um zu entscheiden, dass ich die Welt dieser technischen Schule ändern kann. Ich ging dort hin, weil ich geschickt wurde und weil ich angebliche Begabungen hatte, die von den Pflegeeltern an mir beobachtet worden waren.

Das reichte aber nicht um die Brutalität auszuhalten, die mir von den Organisatoren und Akteuren an der technischen Fachoberschule in Traunstein 1982 entgegen geworfen wurde.

In der Schule lief es völlig anders, als zuvor an der Realschule. Es ging darum, möglichst wenig zu fragen. Wer den Lehrer der Technologie, der Physik, der Mathematik, der Werkstoffkunde oder der Optik nach Zusammenhängen fragte, sagte damit: „Ich bin dumm“. Das begriff ich schnell. Es war ein Grundprinzip dieser Schule. Konkurrenz beherrschte die Menschen und sorgte für Angst das Gesicht zu verlieren. Wenn ich fragte, wonach ich Wissensdurst hatte, war ich verloren. Das musste ich neu verstehen lernen.

Die Technologie, der Lernstoff war klar. Glasklar stand alles in den Büchern. Wer da nachfragte, hatte zu hause zu wenig nachgelesen. Wer nachfragte, obwohl er zu hause gelesen hatte, dem fehlte grundsätzliches Verständnis für die Sache. Wer nicht verstand, war in der Schule für Technologie völlig fehl am Platz. Wer fehl am Platz war, sollte sich schnell von dort entfernen. Wer sich nicht selbst entfernte, wurde entfernt. Lernen funktionierte dort anders, als ich es noch von meinem Leben in der Realschule kannte. Wie Lernen dort funktionierte, verstand ich nicht. Bei mir funktionierte es erst mal gar nicht. Unter diesen Umständen lernte ich nichts. Deshalb entwickelte ich in den ersten Monaten auf dieser Schule zunächst eine ganz neue Methode zu überleben.

Pflegeeltern

Bei den Pflegeeltern konnte und durfte ich mich nicht mehr melden. Wenige Wochen nachdem ich dort ausgezogen war, hatte ich ein letztes mal telefonischen Kontakt aufgenommen. Aber sie sagten, dass es vorbei sei. Wenn ich Wäsche waschen wollte, sollte ich das bei meinen neuen Freunden tun. Dass die Wäsche nur ein Teil meines Anrufes gewesen war, interessierte meine ehemaligen Pflegeeltern nicht. Wäsche war ein Thema. Sie war ein Anhaltspunkt, wie ein Anker, etwas worüber ich mit ihnen reden konnte. Meine Wäsche begründete sozusagen meinen letzten Kontaktversuch.

Die Klarheit in der Ablehnung meiner Pflegeeltern, trotz meines Auszugs aus deren Wohnung weiterhin Kontakt zu halten, war wie eine sauber geputzte Glasscheibe. Ich sah hindurch und bemerkte die Scheibe nicht, was bedeutete, dass ich für immer entlassen worden war.

Sie waren nicht meine leiblichen Eltern, hatten sich aber über Jahre zu meinen Eltern entwickelt. Ich wohnte fünf Jahre lang bei ihnen. Ich hatte sie im Alter von vierzehn Jahren, zu Beginn der Ferien kennen gelernt. Seither waren sie für mich die Eltern. Ich war von ihnen abhängig.

Ich verbrachte meinen Alltag in deren Haus, verdankte ihnen meinen Schulbesuch, mein Schlafzimmer, meine Ernährung. Der „Waschmaschinenanruf“ wurde zum lebenslänglichen Abschied von ihnen. Ich war draußen. Die Unterstützung durch die Eltern für mich war abgeschlossen. Ich kannte solches Denken damals nicht. Ich war in meinem Alltag unterwegs und dachte nicht darüber nach, dass es zum Leben gehörte, Beziehungen zu anderen Menschen zu beginnen, zu pflegen oder zu beenden. Bei den Pflegeeltern war ich naiv von „für immer“ ausgegangen.

Eltern waren damals für mich lebenslängliche Begleiter. Ich merkte Monate nach meinem „Waschmaschinenanruf“ bei den Pflegeeltern, dass ich falsch lag. Darin war ich aber noch unsicher. Vielleicht stimmte, was ich bislang gedacht hatte trotzdem? Mein Fall lag anders. Ich hatte Eltern, die gar nicht meine Eltern waren. Vielleicht deshalb nicht lebenslänglich?

Ich hatte keine Waschmaschine. In der Kreisstadt Traunstein gab es damals keine öffentliche Wäscherei. Ich hatte noch keine Freunde gefunden. Und selbst wenn ich gehabt hätte: Neuen Freunden bringt man nicht gleich seine Wäsche.

Auf dem Flohmarkt sah ich ein seltsames, silbern farbiges Metall-Ei mit einer Kurbel. Es sah aus wie ein kleines Raumschiff. Nein, es sah aus wie ein astrologisches Beobachtungszentrum in Modellbauformat. Das, so überzeugte mich der beherzte Verkäufer, war eine Handwaschmaschine.

Billiger geht ’s nicht! Braucht keinen Strom, wenig Wasser, wenig Waschmittel aber Du hast saubere Wäsche!“

Klar, dass ich das gekauft habe. Fünf Mark wollte der Verkäufer haben. Am Nachbarstand plärrte eine Frau:

Das Ding braucht heute doch kein einziger Mensch mehr!“

Ich war der einzige der es brauchte. Also habe ich es für drei Mark fünfzig gekauft. „Metalldeckel auf, Wäsche, Waschmittel und warmes Wasser rein. An der Handkurbel fest kurbeln. Die Maschine funktioniert. Nur nicht zu viel Wäsche einfüllen.“

Jede Woche wusch ich ab diesem Tag meine Wäsche mit diesem Ding.

Junge Menschen sollten ihre großen Chancen nutzen!“

Das hatte der Sprecher im Bayerischen Rundfunk gesagt, als ich das „Wäsche-Ei“ im Haus bei Frau Stößer zum erstem mal in Betrieb nahm. Ich stelle das Ei in die Dusche und wusch damit, wie vom Verkäufer beschrieben. Ich hatte mein kleines Kofferradio ins Bad gestellt, denn ich dachte, das Wäschewaschen mit dem Ei seil langweilig, da könne Unterhaltung aus dem Radio gerade recht sein. Doch schon den ersten Satz des Radiosprechers und das Thema „Generation No future? – Heutige Chancen für Junge Menschen in Bayern“, fand ich so abstoßend, dass ich vergeblich einen anderen Sender suchte und deshalb das Radio sofort abschaltete.

Beim Kurbeln am „Waschmaschinen-Ei“ arbeitete mein Kopf: Mein Lernen in der Schule war eine legale, sogar in Bayern allseits anerkannte Methode des sinnvollen Zeitvertreibs junger Menschen. Es ging dabei um meine Zukunft, nicht um „No future“, sondern um die Sicherung der Renten und das wiederum berechtigte überhaupt erst meine Existenz. Die Aussicht auf sinnvolle Arbeit, die Sicherung meines Einkommens und der künftigen Renten! Das war es! Deshalb war die Jugend auch in Bayern nicht ausschließlich verhasst, weil sie gegen Wackersdorf und Pershing 2 lauthals rumorte, sondern, Norbert Blüm hatte sie auch dabei im Auge, wenn er seinen Spruch „Die Rente ist sicher“ auf sämtliche Litfassäulen kleben ließ. Das begriff ich beim Wäschewaschen mit der Kurbelmaschine. Das Kurbeln sicherte nicht meine Existenz, sondern es war anstrengend und stumpfsinnig, doch dabei fand ich Zeit zu denken. Das monotone langsame Kurbeln brachte mir viele neue Gedanken.

Während des Kurbelns an der Waschmaschine begriff ich, dass ich lebenslänglich frei geworden war. Ich hatte keine Bindungen. Deshalb musste ich meine Wäsche mit dem „Kurbel-Ei“ waschen. Ich hatte niemanden, zu dem ich sie sie bringen konnte.

Lebenslängliches Lernen nicht nur in der Schule sondern auch an der Kurbelmaschine war richtig wichtig geworden. Ich kapierte an der Waschmaschinenkurbel, dass Gelerntes am Dienstagvormittag in der Physikprüfung verständlich und gut wieder zu geben war. Dort musste ich unter Beweis stellen, dass die Bildungsbemühungen, die mir in Bayern zugute kamen Früchte trugen. Ich war darauf angewiesen zu zeigen, dass ich es wert war zur Schule zu gehen.

Von „No future“ war bei mir keine Rede. Ich war von den Pflegeeltern entlassen worden, hatte lebenslänglich bekommen und war darüber von ihnen nur mangelhaft informiert worden. Ich wusste nicht viel davon, wie die Welt überhaupt tickte. Ich hatte viel zu lernen, wozu gehörte, meine Wäsche in dem kleinen Ei zu waschen. Gegen Wackersdorf und Pershing 2 zu demonstrieren, hatte ich keine Zeit. Ich war da zwar auch irgendwie dagegen, weil ich Atomenergie gefährlich und Wettrüsten scheiße fand, doch ich glaubte, mir fehlten Wissen und Mut, um mich deshalb von der Polizei verprügeln und mit Wasserwerfern weg pusten zu lassen. Ich musste erst begreifen, was für mich lebenslänglich bedeutete.

Lebenslänglich

Er musste nach dem Waschen und dem Zähneputzen, wie alle Kinder sein Bett machen. Das Zimmer wurde jeden Morgen von den Kindern noch vor dem Frühstück gekehrt. Unter den Betten sollte täglich Dreck und Papier entfernt werden, das kontrollierte die Erzieherin besonders genau.

Er hatte die feuchte Seite der Bettdecke nach unten gewandt und in sein Bett gelegt, so wollte er vermeiden, dass die Erzieherin das nasse Bettzeug bei ihrem Kontrollgang sofort finden konnte. War ein nasses Bett von der Erzieherin entdeckt worden, wurde zur Bestrafung des Kindes das Frühstück an diesem Morgen gestrichen.

Deshalb hatte er den ganzen Vormittag in der Schule Magenschmerzen. Es war, als würde der leere Magen verzweifelt nach Essbarem suchen. Das fühlte sich an, als würde er beginnen an sich selbst herum zu nagen, als würde er versuchen, sich selbst aufzufressen. Die Schmerzen waren wie ein beißender Hund. Gierig zogen sie an seinem Magen, zerrten und rissen. Dabei blähte sich sein Bauch auf, als wäre er restlos voll gefressen.

Gegen mittags, auf dem Schulweg zurück in sein Kinderheim, kamen schmerzende Stöße aus dem Bauch. Es entstand ein starkes Brennen, das vom Bauch aufwärts ging, bis hinein in den Mund. Da kam dann dieser saure beißende Geschmack, den er seit langer Zeit so sehr zu hassen gelernt hatte.

Er spülte sich vor dem Mittagessen minutenlang den Mund, während sich alle anderen Kinder um ihn herum die Hände wuschen. Er säuberte seinen Mund, weil er den sauren beißenden, manchmal sehr bitteren Geschmack los werden wollte. Seltsamer Weise saß er danach am Mittagstisch und brachte vom Mittagessen keinen Happen runter, obwohl er den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte. Er hatte stattdessen das Gefühl, als sei er völlig voll gefressen.

Sein Hals brannte fürchterlich, so dass er nachmittags so viel Wasser trank, wie nur möglich. Die Magenschmerzen zogen sich den ganzen Tag hin. Abends aß er immer noch nichts. Darüber freuten sich die anderen Kinder am Tisch, denn sie durften dann mehr essen. Erst nach dem Schlafen waren die Schmerzen morgens besser, so dass er am Frühstückstisch wieder essen konnte.

Das war eine schlimme Strafe. Diese zu bekommen machte ihm Angst. Deshalb durfte die Erzieherin die nasse Bettdecke nicht finden. Auch wenn er gar nicht ins Bett gemacht hatte, sondern die Bettdecke wegen dem Wassereimer, den die Jungs ihm nachts im Keller drüber geschüttet hatten, nass geworden war, weil er sich danach mit der Bettdecke in dem eiskalten Keller gewärmt hatte. Die Erzieherin interessierte das nicht. Eine nasse Bettdecke war nass, weil das Kind eingenässt hatte. Das war verboten, deshalb musste das Kind bestraft werden und bekam kein Frühstück. Stattdessen musste es die nasse Bettwäsche in die Waschküche bringen, sich im Keller Jacke und Schuhe anziehen und im Erdgeschoss warten, bis alle Kinder zur Schule los gingen.

Die Gipsschale hatte er auf seine Bettdecke gelegt. Das wollte die Erzieherin so. Wenn sie den Tag lang auf dem Bett lag, war klar, dass das Kind sie abends nicht vergaß. Die Gipsschale musste das Kind jede Nacht tragen, um den Haltungsschaden, den der Arzt diagnostiziert hatte, zu korrigieren.

Auch das Fach im Schrank wurde täglich von der Erzieherin überprüft, ob dort alles ordentlich zusammengelegt worden war. Sie inspizierte die gemachten Betten, sah bei Kindern, die sie schon oft als Bettnässer erwischt hatte, unter die Bettdecken und überprüfte alle Schränke. Nur wenn alles in Ordnung gewesen war, durfte das Kind das Zimmer verlassen und zum Frühstück in den Speisesaal gehen. Die Erzieherin fand jeden Morgen mehrere nasse Bettdecken. Die Bettdecke auf der die Gipsschale lag hob sie an diesem Morgen nicht an.

Nach dem Frühstück ging es in einer langen Kolonne zur Schule. Der Schulweg war lang und steil. Die Kinder liefen hintereinander im Gänsemarsch. Der Weg führte auf einem Fußweg neben der Straße hinunter in den Ort.

Der Bub saß am Fenster in seiner Schulbank, von dort konnte er den Hof sehen. Täglich um halb zehn Uhr spielten da die Kindergartenkinder. Sein Bruder tobte in einer lauten Gruppe, sprang von den Sitzbänken in den Sandkasten, kletterte auf das Gerüst, rutsche und schaukelte. Manchmal hörte der Bub im Klassenzimmer das piepsige Lachen des Kleinen. Dem machte es viel Spaß im Herbst, wenn das Laub von den hohen Buchen im Schulhof fiel, in die vom Hausmeister zusammen gefegten riesigen Laubhaufen zu springen.

Die Lehrerin hatte das große Klassenzimmerfenster gekippt, so dass um halb zehn Uhr das Geschrei der Kinder aus dem Hof besonders laut ins Zimmer drang. Plötzlich knallte es, als würde mit Platzpatronen geschossen. Die Kinder in der Schulklasse und der Bub reckten neugierig die Köpfe Richtung Fenster. Dort sah der Bub den Kleinen, wie er wild von einer Sitzbank zur nächsten sprang. Auf der Bank stehend, schoss er mit einer Spielzeugpistole um sich. Die Pistole hatte der Kleine von der Tante mit dem Geburtstagspäckchen bekommen. Es knallte laut und aus dem Revolver. Mit jedem Schuss stieg leichter Qualm auf. Die anderen Kinder rasten in einer wilden Verfolgungsjagd über den Schulhof hinter dem Kleinen her. Sie juchzten und schrien, ließen sich, von dem Kleinen getroffen, in Laubhaufen fallen, während der Kleine immerfort auf sie schoss.

Minuten später rannte eine Erzieherin auf den Kleinen zu. Auch auf sie gab er mehrere qualmende Schüsse ab. Sie entriss ihm die Pistole. Darauf verfiel der Kleine in ein piepsendes Heulen. In dem Moment wurde es im Klassenzimmer vollkommen ruhig. Die Lehrerin hatte das gekippte Fenster geschlossen.

Der Bub überlegte, woher wohl der kleine Bruder die qualmende Munition für die Spielzeugpistole hatte. Die Tante hatte keine Munition mitgeschickt. Beim ersten Schuss wäre die Pistole dem Kleinen sofort von der Erzieherin weggenommen worden. Der Kleine musste sie irgendwo besorgt haben. Dafür kam nur der winzige Laden im Ort, nahe der Schule in Frage. Dort brachten die Heim-Kinder regelmäßig ihr Taschengeld durch. Der Kleine bekam aber gar kein Taschengeld. Trotzdem war er oft in dem Laden dabei.

Wenn Du Deinem Bruder die Munition nicht von Deinem Taschengeld gekauft hast, bleibt nur die Möglichkeit, dass er sie gestohlen hat!“, brüllte der Erzieher.

Zitternd saß der Bub auf dem Holzstuhl. Das Zimmer war sehr hoch, lang und finster. Licht fiel nur durch ein kleines Fenster hinter dem großen Schreibtisch ein. Da saß der Erzieher auf einem hohen Stuhl. Dessen harter Blick traf den Buben, so dass der sich ganz klein machte. Er fühlt sich in dem langen dunklen Raum wie gefesselt. Der Bub wusste, dass er die heutige Nacht wieder im Keller verbringen würde.

Trotzdem dachte er daran, zu behaupten, dass er die Munition für den kleine Bruder gekauft habe. Der Erzieher brüllte fürchterlich, dass der Bub seinen Gedanken nur schwer weiter denken konnte. Plötzlich fror er, merkte, dass er zitterte als sitze er draußen im Schnee. Sein Magen rumorte, denn er hatte kein Mittagessen bekommen. Auf dem Heimweg von der Schule wusste er schon, dass er ins Zimmer des Erziehers geschickt würde. Dort musste er zwei Stunden lang auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch warten, bis der Erzieher vom Mittagessen und von der Zimmerkontrolle vor der Hausaufgabenzeit kam.

Der Erzieher würde ganz genau nachrechnen. Er würde unten im Ort, im Laden bei Frau Mayer nachfragen, wann der Bub dort zuletzt gewesen war und ob er die Munition wirklich gekauft habe. Er würde zu dem Ergebnis kommen, dass es eine glatte Lüge war. Die Strafe für den Buben wäre fürchterlich. Hausarrest für mindestens eine Woche. Drei Nächte hintereinander im Keller. Oder mehrere Tage lang weder Frühstück, Mittagessen, noch Abendessen. Irgend etwas in diese Richtung würde der Erzieher verhängen. Dazu gäbe es eine ganze Menge kräftiger Ohrfeigen, wegen Lügen und Stehlen.

Sein Taschengeld hatte der Bub vollständig für Lutscher und Brause ausgegeben. Er war gemeinsam mit seinem kleinen Bruder im Laden bei Frau Maier. Lutscher und Brause hatte er mit dem Bruder geteilt. Frau Maier würde sich ganz genau erinnern. Er hatte Süßigkeiten gekauft. Das gleiche wie immer. Der Kleine war wie immer dabei.

Der Kleine musste die Munition gestohlen haben. Keiner hatte das gemerkt. Der Bub war sicher, dass sein Bruder gestohlen hatte. Wie auch immer der Kleine das geschafft hatte. Es gab keine andere Möglichkeit.

Ich hab das Zeug letzten Samstag bei Frau Meier im Edeka geklaut!“

Der Erzieher sprang von seinem Schreibtischstuhl auf. Wie ein Riese stand er vor dem winzigen Fenster, so dass es in dem Raum ganz finster geworden war.

Sechs Lutscher und sechs Brausetütchen hab ich vom Taschengeld gekauft! Die Munitionsdöschen habe ich einfach genommen und in meine Hosentasche gesteckt!“

Die Wut des Mannes war grauenvoll. Er warf den Buben mit heftigen Ohrfeigen vom Stuhl. Der war zu Boden gestürzt, von wo ihn der Mann hoch zog, um ihm weitere heftige Ohrfeigen zu geben und schrecklich anzubrüllen.

Der Bub verstand den Mann nicht, denn er heulte und der Schmerz aus dem Magen schien unerträglich geworden zu sein. Der Mann hatte ihn wieder auf den Stuhl gesetzt. Doch der Bub konnte nicht sitzen. Er rutschte wie ein Sack zu Boden, wo er zwischen dem schweren Schreibtisch und dem Stuhl, der umgefallen war, liegen blieb.

Er spürte kaum mehr Schmerz, stattdessen fühlte er sich unendlich müde. Er begann an einen grauen Wolf zu denken, dessen Foto die Lehrerin im Klassenzimmer einmal her gezeigt hatte. Der graue Wolf stand einsam auf einer großen verschneiten Wiese. So eine Wiese lag wenige Meter hinter dem Kinderheim. Sie reichte bis an den Waldrand. Dort sah er sich jetzt hinein rennen. Er war auf der Flucht, denn der einsame Wolf war plötzlich böse geworden. Die Lehrerin war verschwunden, so dass der Bub nun ganz allein dem Wolf ausgesetzt war. Er sah in die Augen des Wolfs und spürte dabei einen tiefen Hass, denn der Wolf wollte ihn lebenslänglich in den Keller sperren, wo er ab sofort jede Nacht verbringen sollte.

Eine Tür wurde zugeschlagen. Der Bub spürte feste Handgriffe. Sie zogen ihn hoch, zerrten ihn zurück auf den Stuhl.

Du bleibst heute den Rest des Tages hier sitzen!“

Der Bub sah zu dem Erzieher hinauf. Dort erkannte er die Augen des Wolfes. Es war nicht der einsame Wolf der Lehrerin, sondern er sah den Hass eines Mannes, den der Bub durch seinen Diebstahl enttäuscht hatte. Deshalb der Hass, deshalb die Strafe. Der Mann verließ das Zimmer, ließ den Buben allein sitzen. Abends kam die Erzieherin und schickte ihn in den Keller. Nachts kam der Kleine Bruder und brachte ihm gestohlenes Brot vom Abendbrottisch.

Oma und Opa

In Omas Haus hat sich wenig verändert. Oma und Opa sind viel älter geworden. Acht Jahre sind vergangen, seitdem ich zwei schöne Wochen bei ihnen verbracht hatte. Damals war ich zu ihnen geflüchtet, weil ich es bei meinem Vater nicht mehr ausgehalten hatte. Dessen brutale Schläge waren mir zu viel geworden.

Oma begrüßt meinen Bruder und mich freundlich. Sie umarmt uns herzlich. Auch Opa umarmt uns. Seine Rasur kratzt mich genauso wie damals beim Abschied. Opa hatte mich an einem schönen sonnigen Frühlingstag 1974 ein letztes Mal in seinem grauen Käfer die Bergstrasse nach Pfedelbach hinunter gefahren.

Von dort ging es in die Stadt zum Jugendamt. So begann meine Reise zurück ins Heim auf den Obersalzberg in Berchtesgaden, was ich damals wie eine Reise in die Vergangenheit, also einen Schritt zurück empfand. Ich wurde zusammen mit meinem Bruder in ein Auto gesetzt und dorthin zurück gebracht, wo ich lebte, bevor der Vater neu geheiratet hatte und deshalb seine Kinder wieder zu sich nahm. Ich wusste damals nicht, dass es eine Reise in meine Zukunft war. Ich war erst zehn Jahre alt und hatte meinen Kopf voll von Angst vor meinem Vater, weshalb ich froh war, dass meine Flucht von ihm weg gelang und ich vorübergehend bei Oma und Opa Unterschlupf gefunden hatte, bevor es ins Heim zurück ging.

Wir setzen uns in die Küche an den Tisch. Dort serviert Oma frisch gebrühten Kaffee und einen leckeren selbst gebackenen Apfelkuchen mit Streußeln. Die Äpfel hat sie vom eigenen Baum im Garten. Sie lagerten den Winter über im Keller. Es sind die letzten Äpfel aus dem letzten Herbst. Im Garten steht der Apfelbaum bereit zur neuen Blüte.

Alles, so sagt Oma, fängt in der Natur jedes Jahr neu an. Jeder hat, wie der Apfelbaum im Frühling, immer wieder eine neue Chance. Die Oma weiß warum sie mir das sagt.

Zu ihr hatte ich in den Jahren immer wieder Kontakt. Ich sparte jede Woche von meinem Taschengeld eine Mark. Damit lief ich am Sonntagnachmittag vom Kinderheim Salzberg in der Stadlerstraße zur Bushaltestelle Station Erika an der Straße die hinauf auf den Obersalzberg führte. Dort stand eine gelbe Telefonzelle. Omas Telefonnummer habe ich heute noch im Kopf. Ich wählte mit der grauen Wählscheibe deren lange Nummer und sah dabei meiner Mark zu, wie sie hinter der gläsernen Scheibe des Telefons in einer Metallschiene fest hing und darauf wartete, bis sechshundert Kilometer entfernt Oma den Hörer abhob, um mit einem metallischen „Klick“ in Richtung des im Telefon angebrachten Münzenbehälters, auf einer weiter unten angebrachten Metallschiene davon zu rollen. Oma hob stets nach fünf mal Läuten ab. Mein Gespräch dauerte jeden Sonntag eine deutsche Mark lang. Das waren etwa acht Minuten wöchentlicher Zeit, in der ich Oma von meinen Ängsten und Träumen erzählte und sie mich tröstete. Oma und Opa waren mein weit entfernter Rettungsanker, an dem ich mich fest hielt, um die beiden Männer zu ertragen, die mich und andere Kinder am Obersalzberg über viele Jahre in ihrer Obhut hatten.

Nach meiner Entlassung aus der Gewalt der beiden Männer vom Obersalzberg, durfte ich bei neuen Eltern einziehen. Die hatten sich bereit erklärt, einen vierzehnjährigen ungebildeten und aufmüpfigen Jungen aufzunehmen. Ab dieser Zeit wurde leider das Telefonieren mit Oma sehr selten. So verlor ich sie und Opa aus meinem Blick. Oma war sehr froh, als sie gehört hatte, dass ich neue Eltern bekomme und dass ich deshalb nicht länger in diesem, wie sie sagte „Horror-Heim auf dem Berg“ leben musste.

Doch von den neuen Eltern aus, durfte ich sie kaum mehr angerufen. Die Pflegeeltern wollten nicht, dass ich alte Kontakte pflegte. Sie hatte Angst, denn sie wussten, dass ich aus widrigen Verhältnissen kam und sie glaubten, dass alle Kontakte aus dieser Zeit für mich nicht nützlich, vielleicht sogar schädlich seien. Die Pflegeeltern sprachen mit mir nie über meine widrige Vergangenheit, stattdessen sorgten sie dafür, dass ich möglichst wenig Kontakt dorthin zurück hatte, woher ich stammte.

Opa fährt immer noch seinen grauen Käfer. Er sagt, dass er gar kein anders Auto will. Der Käfer sei nicht tot zu kriegen. Mit meinem Bruder spricht er über dessen Auto. Es ist ein Opel. Ein riesiger Wagen. Opa fragt wie viel Sprit der frisst. Jede Menge, meint mein Bruder. Aber das sei nicht so schlimm, schlimm sei die teure Versicherung. Deshalb wolle er die Kiste bald wieder verkaufen.

Mich fragt Opa nicht, ob ich ein Auto habe. Ich bin darüber froh. Er kommt nicht auf diese Frage, denn ich kam zusammen im Auto meines Bruders zu dem Besuch. Im Grunde kann es sich keiner von uns beiden wirklich leisten. Mein Bruder, der regelmäßig zur Arbeit geht und Geld verdient sagt, dass das Auto sein gesamtes Geld fresse. Was soll ich da zu Opa sagen? Ich leiste mir einen gelben Opel Kadett, für den ich sechshundert Mark Versicherung pro Halbjahr zahle, wo ich doch vom Staat lebe, um zu Schule zu gehen. Es wäre mir sehr unangenehm, wenn Opa das wüsste.

Das Gespräch am Küchentisch dreht sich lange Zeit um Autos. Mein Bruder kennt sich aus. Er erklärt, was er an seinem Auto schon alles reparieren musste. Der Kühler, die Antriebswellen, die Lenkung, der Motor. So ein altes Auto ist ständig defekt. Ich weiß das, denn mein Kadett lenkt ja von selbst nach rechts. Ich bin sehr froh, dass ich es in der Klapperkiste von Traunstein ohne Panne zu meinem Bruder geschafft habe.

Wie mein Bruder weiß ich, dass wir uns mit den Autos Freiheit vorgaukeln. Mein Bruder fährt täglich früh morgens zur Arbeit. Aber das Auto nutzt er auch viel in der Freizeit. Abends und am Wochenende kann er hinfahren, wohin er will. Das ist seine Freiheit. Für die arbeitet er, um von seinem Geld Ersatzteile zu kaufen, die er am Wochenende in das Auto baut, damit es fahren kann.

Ich finde diese Freiheit seltsam. Doch ich sage am Küchentisch nichts dazu. Ich beobachte meinen Bruder, wie er leise berichtet, ich sehe Opa zu, wie er verständnisvoll nickt, denn er scheint die technischen Dinge alle zu kennen. Ich sehe Oma zu, die vom Kaffee nippt, den Kuchen auf unsere Teller verteilt und der Unterhaltung folgt. Ich glaube, dass ich zu jung bin, um wirklich zu begreifen, warum das Thema so wichtig ist. Ich denke darüber, dass es Quatsch ist, sich für eine fahrbare Schrottmühle auf vier Rädern den ganzen Tag lang in eine lärmende Fabrik zu stellen.

Ich kenne das von mir. Deshalb mische ich mich in das Gespräch zwischen Opa und meinen Bruder nicht ein. Ich denke oft, dass um mich herum unsinniges geschieht und gesprochen wird. Ich weiß nicht recht, ob ich vieles einfach nicht begriffen habe.

Mein gelber Opel-Kadett hat mich heute zu meinem Bruder gebracht. Morgen bringt er mich wieder zurück nach Traunstein. Sicherlich bringt er mich demnächst auch wieder nach Berchtesgaden, um dort alte Bekannte zu besuchen. Jeder Zeit kann ich einsteigen und losfahren. Dafür nimmt mein Bruder in Kauf, dass sein ganzes Geld draufgeht. Was ich daran verstehe ist, dass diese Art von Freiheit zusätzliche Arbeit zu schaffen scheint. Warum noch zusätzliche Beschäftigung, wo der Mensch eh nur wenig Zeit ohne Beschäftigung hat, die ihm neben der täglichen Fabrikarbeit bleibt?

Zum Schluss des Nachmittags bei Oma erfahren wir, dass der Vater seit einigen Monaten ganz in der Nähe eingezogen ist. Er lebe allein, sei von seiner Frau geschieden. Das finde ich wirklich interessant. Das wäre ein Thema für den Nachmittag gewesen! Warum sprechen wir den ganzen Nachmittag über Autos und Beschäftigung? Warum erwähnen Oma und Opa den Vater erst, als wir schon dabei sind, uns zu verabschieden? Was mich interessiert kommt erst zum Schluss und dann auch nur ganz kurz zur Sprache. Das finde ich schade. Aber ich schaffe es nicht, gleich zu Beginn des Besuches nach dem Vater zu fragen.

Immerhin erfahre ich, das Vater sich von dieser Frau getrennt hat. Das finde ich gut, denn ich konnte sie nicht ertragen. Sie hat damals jeden Tag um sich geschlagen und geschrien.

Beim Abschied kommt der Gedanke den Vater zu besuchen. Darüber spreche ich mit Oma und Opa nicht. Bestimmt denken sie nicht daran, dass ich die Idee haben könnte, den Vater nach allem was damals geschehen war, zu besuchen. Ich denke daran, weil es lange her ist, weil ich weit weg wohne und weil klar ist, dass „Damals“ vorbei ist, auch wenn es nie vergessen sein wird. Ich denke daran, weil es mein Vater ist.

Der Abschied ist herzlich. Wir versprechen Oma und Opa, bald wieder zu kommen. Ich bin sehr froh über den gemeinsamen Besuch mit meinem Bruder, denn ich weiß nicht, wann „bald“ sein wird.

Vater

Ich finde ihn. Er wirkt unverändert. Er ist älter geworden, aber sonst? Die schwarzen Haare mit einer Welle, die wie früher nach vorne fällt. Die schwarze Hornbrille. Seine leicht gebeugte Statur, selbst die braune Cordhose und die karierte Jacke, die er trägt. Alles unverändert wie damals. Die Jacke trug er immer, dazu dieses karierte Hemd. Er riecht nach Pfeifentabakrauch und nach „Kurmark“. Er sieht aus wie vor acht Jahren im Frühsommer 1974, als ich ihn das letzte Mal sah.

Niemand weiß, dass ich ihn heute besuche. Selbst meinem Bruder habe ich das nicht gesagt. Gestern Abend waren wir noch lange unterwegs. Wir haben Freunde meines Bruders besucht. Ich konnte da nicht mit ihm über meine Idee den Vater zu besuchen sprechen. Wir haben Musik gehört und uns über alles mögliche unterhalten, nicht aber über die Familie. Heute schliefen wir bis in den frühen Nachmittag hinein. Ich verabschiedete mich von meinem Bruder, der eigentlich wollte, dass ich noch bleibe und erst abends fahre. Aber ich will mit dem Auto nicht in die Nacht kommen. Ich bin unsicher wie lange die Beleuchtung am Opel-Kadett noch funktioniert. Die Lichtmaschine ist laut und schwach. Ich möchte nicht im Dunklen auf der Autobahn stehen bleiben. Das verstand mein Bruder, so verabschiedete ich mich und fuhr los.

Kurz vor der Autobahnauffahrt war meine Idee von gestern wieder da. Deshalb bog ich nicht auf die Autobahn ab, sondern fuhr gerade aus weiter. Ich fuhr nach Pfedelbach und von dort hinauf auf den sogenannten Heuberg. Ich fuhr bis zur letzten Kurve vor ein Haus, von dem Oma gesagt hatte, dass dort kürzlich der Vater eingezogen sei.

Mein Läuten bleibt ohne Reaktion. Ich läute noch einmal. Keine Reaktion. Nach dem dritten Läuten denke ich daran, es aufzugeben. Plötzlich höre ich von drinnen ein Poltern. Es sind schwere Schritte. Sie poltern und knarren sehr langsam eine Holztreppe hinunter. Schlüssel klimpern. Ich höre ein metallisch kratzendes Türschloss. Eine schwere dunkelbraune Holztür wird langsam nach innen aufgezogen.

Vor mir steht ein kleiner Mann mit gewelltem, fettig glänzendem, schwarzen Haar, das ein paar graue Stellen zeigt. Er trägt die Jacke, die so aussieht, als sei es die gleiche wie damals. Er hat ein kariertes rötliches Hemd an und trägt wie damals eine schwarze Hornbrille. Er trägt wie damals braune Cordhosen und steckt in dunkelbraunen Filzpantoffeln. Er blickt mir ins Gesicht. Ich sehe im ins Gesicht. Ich spüre nichts, nur ein leichtes Zittern meiner linken Hand. Ich reiche ihm meine rechte Hand.

Ich bin es.“

Ich merke, dass ich stottere, was ich noch nie getan habe. Meine Stimme ist schwergängig, was ich von mir nicht kenne. Meine wenigen Worte sind eintönig. Ohne Regung drücke ich stotternd aber völlig gleichmäßig heraus, was mich seltsam unberührt lässt.

Das gibt’s doch nedde! Komm rein!“

Jetzt erst erkenne ich den Vater vollständig. Dessen schwäbischer Ton hat mir so wenig gefehlt, dass ich ihn völlig vergessen hatte. In meinen Gedanken an die Geräusche von damals, gab es nur dessen damalige Ehefrau und deren stets laut kreischende Stimme. Der Vater sprach damals ein leises schweres Schwäbisch. Abends, wenn er den schwarzen Gürtel aus der Hose nahm und mich über den Holzstuhl im Kinderzimmer legte, schrie er mich mit seiner nicht besonders kräftigen Stimme an. Das waren schwäbische Hasstiraden voll von Wut über mich. Ich verstand davon oft fast nichts. Vaters Stimme und deren Tonfall, waren bis zum heutigen Tag, bis zu diesem Wiedersehen vergessen. Plötzlich ist die Erinnerung wieder da.

Der Vater weicht ein paar Schritte zurück in das dunkle Treppenhaus, um mich herein zu lassen. Ich folge langsam die steile Holztreppe hinauf. Oben klimpert wieder der Schlüsselbund. Der Vater öffnet eine weiß gestrichene Wohnungstür, an der sich ein Oberfenster befindet, das von einem vergilbten Vorhang verdeckt wird.

Die Treppe zu Vaters Wohnung in Pfedelbach war genau so eng, dass ich nur dessen gebeugten Rücken sah, während er klimpernd an der kleinen Tür das Schloss öffnete.
Im Sommer 1974 war ich froh aus dem Kinderheim in Berchtesgaden am Obersalzberg zum Vater entlassen worden zu sein. Im Heim in Berchtesgaden am Stadlerweg auf dem Obersalzberg hatte ich von 1970 bis 1974 und erneut von 1975 bis 1977 immer wieder die harten Schläge zweier Heimleiter namens Gunter Hennings und Horst Büchter zu ertragen. Ich wusste damals, als ich mit dem Vater zum ersten Mal dessen Wohnung betrat, noch nicht, dass es bei ihm viel schlimmer werden sollte. Gunter Hennings und Horst Büchter, die mich im Berchtesgadener Kinderheim am Obersalzberg regelmäßig verprügelten, waren eben nicht mein Vater. Ich denke, es ist wohl am schlimmsten von den eigenen Eltern regelmäßig misshandelt zu werden. Misshandlungen durch „Erzieher“ wie Hennings und Büchter in privat geführten Kinderheimen, in denen meine Geschwister und ich in den späten Sechzigern und siebziger Jahren leben mussten, waren damals für mich alltäglich. Ich erlebte an meinem Leib, dass das damals zum „täglichen pädagogischen Repertoire“ von privat geführten Kinderheimen gehörte. Ich lebte in drei privat geführte Kinderheimen, in Scheidegg im Allgäu, am Obersalzberg in Berchtesgaden und in eine Großfamilie in Baden Württemberg. Überall dort waren regelmäßige Prügel von sogenannten Erziehern mein Alltag.

Als der Heimleiter Horst Büchter mir in Berchtesgaden am Obersalzberg im Kinderheim Salzberg im Sommer 1973 zum Beispiel einen tiefen Magenschwinger verpasste oder mir ein dunkel anschwellendes blaues Auge schlug, weil ich im Sandkasten meine kindlich laute Wahrheit über Gunter Hennings und Horst Büchter, die ich zum Beispiel lauthals „Verbrecher“ nannte, einfach heraus brüllte, da war deren blutige Strafe zwar hart, aber nie habe ich das so hart empfunden, wie die Gürtelschläge meines eigenen Vaters 1974 in Zweiflingen, wo wir nach dem Umzug von Pfedelbach in einem alten Bauernhaus bei der Dorfkirche wohnten.

Ich empfand das was mein Vater tat viel härter als die Verbrechen von Gunter Hennings und Horst Büchter im Kinderheim Salzberg in Berchtesgaden. Wegen eines Faustschlages von Horst Büchter durch eine Milchglastüre geschleudert zu werden war weniger hart für mich, weil ich das Gefühl hatte, dem Vater und dessen Gürtel vollkommen ausgeliefert zu sein. Das System Familie bedeutete bei meinem Vater für immer gefangen zu sein und täglich rund um die Uhr von dessen neuer kreischender Frau berwacht zu werden. Fluchten im Alltag gab es in der Familie nicht.

In Berchtesgaden im Kinderheim Salzberg bei Gunter Hennings und Horst Büchter konnten wir Kinder nachmittags in den Wald oberhalb des Kinderheims vor deren Gewaltausbrüchen fliehen. Dort waren wir von den beiden schlagenden Männern stundenlang unbeobachtet. Vielleicht empfand ich deren Misshandlungen deshalb nicht so schlimm? Zudem waren viele andere Kinder da. Mit denen spielte ich nachmittags im Wald wilde Räuber-Spiele. Im Wald oberhalb des Kinderheims in der Stadlerstraße rannten wir täglich herum, waren uns selbst überlassen, kletterten auf Bäume, spielten Cowboy und Indianer, bastelten Pfeil und Bogen, schnitzten mit Taschenmessern unsere Initialen in dicke alte Buchen, schrien stundenlang lauthals herum.

In dem finsteren Raum stehen Tisch und Sofa, Fernsehapparat und in der Mitte ein elektrisches Klavier. Dorthin bewegt sich der Vater.

Ich spiele gerade.“

Er weist mir mit der rechten Hand einen Stuhl am Tisch, neben dem kleinen Klavier zu. Er lässt sich am Klavier nieder. Von dort blickt er in meine Richtung. Er sieht mich nicht an. Vor sich hat er sein Klavier. Seine Stimme klingt wie früher. Es ist keine unangenehme Stimme. Sie ist leise. Früher schrie der Vater abends, wenn er nach der Arbeit nach hause kam. Seine Stimme war laut und wütend. Jetzt wirkt sie ruhig. Unsicher, fast zitternd wirkt das, was ich in der Luft in dem Raum zwischen uns spüre. Er Vater fragt nichts. Ich frage nichts. Sekundenlanges Schweigen.

Soll ich dir was vorspiele?“

Wenn du willst.“

Der Vater beginnt zu spielen. Seine Augen richtet er konzentriert auf ein Notenblatt, das auf dem Notenhalter auf dem Klavier klemmt. Ich erkenne die Melodie eines Schlagers, den der Vater früher oft gehört hatte. Er besaß viele kleine Schallplatten und massenweise orangene, von ihm selbst aufgenommene, säuberlich beschriftete Musikkassetten. Alles hatte er in einer Musiktruhe, in der sich ein Radio, ein Schallplattenspieler und ein Kassettenrekorder befanden. Es waren seichte und eingängige Melodien, wie sie jeden Samstagabend auch im Fernsehprogramm serviert wurden.

Ich sehe dem Vater bei dessen konzentrierten Spiel zu. Mein Inneres folgt seiner Melodie. Ich weiß genau wie die Melodie weitergeht. Vaters Spiel ist perfekt. Aufgerichtet sitzt er da, die Augen durch die Brille starr auf das Notenblatt gerichtet.

Jetzt stockt die bekannte Melodie, die ich im Kopf weiter singe. Die Geschwindigkeit stimmt nicht mehr und ein falscher Ton schleicht sich ein. Der Vater blättert das Blatt vor sich um. Doch anstatt weiter zu spielen, beendet er sein Spiel. Es schaut zu mir herüber, sieht mich aber nicht an. Ich versuche zu lächeln.

Sehr gut.“

Mehr bringe ich nicht heraus. Der Vater erhebt sich. Ich denke plötzlich, dass es keine gute Idee war, ihn heute zu besuchen. Ich denke das, denn mir fällt nichts ein, worüber ich mit ihm sprechen soll. Eigentlich gibt es nichts zu reden, denn eigentlich ist zwischen uns alles klar. Der Vater hatte mich schwer misshandelt, deshalb kam ich 1975 zurück in das Kinderheim zu den beiden Verbrechern Gunter Hennings und Horst Büchter, deshalb hatte ich später, im Herbst 1977 zum Glück neue Eltern bekommen, deshalb war ich ohne ihn aufgewachsen. Damit ist alles gesagt. Warum also mein heutiger Überraschungsbesuch?

Du gäähscht noch zur Schul gell?“

Ja, die Fachoberschule in Traunstein. Ich will auch noch ein Studium machen.“

I kriiieg immer so Briefe vom Bafögamdt. Geschdern erscht is wieder oiner im Briefkaste drinne gwääse!“

Ah ja? Was wollen die denn von Dir?“

Ha ja! Hundertfünfadreißigg Margg zahl i mooonadlich für Dich wääge Deiner Schul!“

Der Vater reicht mir ein Papier. Es kommt aus Bayern. Es ist ein Bescheid in dem steht, dass der Vater monatlich für meine Ausbildung zu bezahlen hat.

Willschd du Kaffeeä?“

Jetzt stehe ich auf.

Nein danke. Ich wollte nur einmal kurz vorbei kommen. Ich muss wieder weiter.“

Ich merke, dass ich die Vorstellung hatte, mit dem Vater ein Gespräch über die Vergangenheit zu führen. Doch das ist unmöglich. Mein Besuch ist eine zu große Überraschung für ihn und für mich. Nach allem was früher gewesen war, heute einfach so vorbei zu kommen! Ich kann jetzt mit dem Vater unmöglich über das Geld sprechen, das er für mich bezahlt. Deshalb gehe ich langsam zur Wohnungstür. Der Vater folgt. Ich höre Schlüssel klimpern in seiner Hosentasche.

Ich öffne einfach die Tür, sehe mich nicht nach dem Vater um, sondern steige langsam die steile Treppe hinunter. Der Vater folgt mir. Die Tür unten war zuvor ins Schloss gefallen, deshalb komme ich nicht raus. Der Vater schiebt sich am Treppenabsatz an mir vorbei. Sein Schlüssel klimpert in seiner Hand. Wir stehen ganz eng beieinander in dem finsteren, engen Korridor. Ich rieche den Vater. Er riecht wie früher. Es ist nicht nur „Kurmark“ sondern es ist der Geruch von schwerer Arbeit, die den Vater sein ganzes Leben lang begleitete. Ein leicht süßlicher Schweißgeruch. Ich kenne das von früher. Ich roch das, wenn er vor mir stand um mir feste Ohrfeigen zu geben. Ich roch es, wenn er seinen schwarzen Gürtel kräftig auf meinen Rücken trieb.

Die Tür öffnet sich. Ich gehe am Vater vorbei, mehrere schnelle Schritte hinaus in das helle Licht der Frühlingssonne. Ich bin schon Meter weit weg vom Vater. Dann nähere ich mich schnell noch einmal und reiche ihm meine rechte Hand. Die Hand des Vaters ist rau von Arbeit, doch ich merke, dass sie nicht so kräftig und groß ist, wie früher.

Auf Wiedersehen.“

Lass dich mal wieder blicken!“

Ich drehe mich weg vom Vater. Schnell und zielstrebig laufe ich zurück zur Straße. Ohne mich um zu blicken laufe ich bis ich die erste Kurve hinter mir habe. Dort steht der gelbe Opel-Kadett.

Nachts unterwegs

Der gelbe Opel-Kadett bringt mich heil zurück in meine bayerische Kreisstadt. Keine Panne, keine Probleme mit dem Wagen. Das Auto fährt einwandfrei. Abends um halb neun, gerade zum Einbruch der Dunkelheit komme ich in meinem Zimmer im Haus von Frau Stößer an. Das Wochenende ist vorbei. Ich mache mir einen Tee und schmiere mir in der kleinen Küchenzeile, sie liegt in einem großen Raum neben meinem Zimmer und ich darf sie mit benutzen, ein paar Butterbrote.

Von unten höre bayerische Stimmen aus der Wohnung von Frau Stößer. Vor der Haustür parken große Limousinen. Sie gehören den Gästen von Frau Stößer. Ich bin todmüde, sitze auf dem alten Sofa vor dem schwarz-weiß Fernseher. Ich sehe und höre den Nachrichtensprecher, denke dabei aber an den Vater und meinen Bruder, an Oma und Opa und daran, dass ich im Haus von Frau Stößer allein zur Untermiete wohne, in einer Stadt, mit der mich außer wenigen Menschen, wie Manfred, die ich bis jetzt hier kennen gelernt habe, eigentlich noch nichts verbindet.

Lebenslänglich heißt, dass Neues und Altes irgendwie immer wieder zusammen treffen und ständig geht es weiter, so wie es Oma vom immer wieder blühenden Apfelbaum im Frühling erklärt hatte. Heute ist es mein Leben in Traunstein, einer Stadt mit der mich noch nichts verbindet, im Haus bei Frau Stößer, mit der mich nichts als das Zimmer, das ich bewohnen darf, verbindet. Das ist wohl lebenslänglich. Es heißt, dass ich irgendwann von dieser Stadt und von meinem heutigen Leben so reden werde, wie von meinem zurückliegenden Leben bei meinen neuen Eltern oder von meinem Leben im Kinderheim am Obersalzberg. Was mir 1982 hier auf dem alten Sofa einsam erscheint, wird in vielen Jahren einer Erinnerung an einen Teil in meinem Leben weichen. Das ist lebenslänglich und schon heute ein bisschen tröstlich, genauso wie meine Erinnerung an die Schläge von Vater in Zweiflingen, wohin wir zogen, weil dessen Wohnung in Pfedelbach für eine Familie zu klein war. Ich erinnere mich mit tiefem Schrecken daran zurück, wie ich auf dem Stuhl im Kinderzimmer lag, vom Schmerz geplagt schrie und heulte, wegen Vaters Schlägen mit dem Gürtel. Das bleibt lebenslänglich ein Teil meines Lebens, der zum Glück vorbei ist. Genauso wird auch das einsame Leben in Traunstein vorbei gehen und zu einem Stück meines Lebenslänglich werden. So denke ich weiter und weiter und merke dabei gar nicht, wie ich irgendwann einschlafe.

Nachts wache ich auf. Auf dem grünen, kleinen Metallwecker erkenne ich in der Dunkelheit dessen grün schimmerndes Ziffernblatt. Es ist viertel nach Drei Uhr. Der Wecker wird wie jeden Morgen um viertel vor Sieben läuten. Er hat oben zwei grüne Metallglöckchen und dazwischen einen winzigen Metallklöppel. Der sorgt täglich dafür, dass ich morgens aufwache.

Der Wecker tickt in zwei unterschiedlichen Tönen. Das Tick ist ein dumpfer Ton, der mich an einen leisen Schlag eines Teelöffels gegen einen vollen Keramikteebecher erinnert. Das Tack dagegen klingt etwas höher. Es ist der leise Schlag des Teelöffels gegen ein halbvolles Glas Wasser. Dem folgt ein kurzes gläsernes Abklingen. Ich liege auf dem Rücken. Ich höre das regelmäßige Keramikteebecher-Wasserglasschlagen des Weckers. Keramik-Wasser, Keramik-Wasser, Keramik-Wasser so tickt und tackt das Ding in einem fort neben meinem Kopf.

Ich spüre unter meinem Rücken die drei Teile aus denen meine Matratze besteht. Es sind drei alte Federkernmatratzenteile, die ich aus dem Jugendkeller aus Berchtesgaden vor einem halben Jahr mit in die Kreisstadt genommen hatte. Ich habe sie im Zimmer bei Frau Stößer auf der rechten Seite in eine Ecknische auf den Boden gelegt. Sie passen dort genau hinein.

Durch die Balkontür scheint ein schwacher Schimmer, der auf den Dachschrägen im Raum einen Schatten wirft. Schatten und Schimmer bewegen sich in einer ungeraden Linie an der Wand. Die Bewegung kann nicht von einem Vorhang an der Balkontür kommen, denn ich habe keinen Vorhang.

Minutenlang beobachte ich das Bewegungsspiel an der schrägen Decke. Der Rhythmus der Bewegung passt nicht zu dem regelmäßigen Keramik-Wasser-Tick-Tack, das der Wecker von sich gibt. Es ist ein anderer Rhythmus, es ist ein leichtes Wippen. Die Linie an der Wand wippt zwischen Lichtschein, der vom Balkonfenster kommt und Dunkelheit an der Wand hin und her. Unregelmäßig ist das, es ist mal kürzer, mal länger. Ich frage mich was das sein kann.

Ist das der eigentliche Rhythmus? Das hat mit der Regelmäßigkeit des Weckers nichts zu tun. Einmal lebe ich hier, demnächst lebe ich dort und bald wieder ganz wo anders. Das Leben wippt unregelmäßig dahin. Es wirkt dabei nicht unfreundlich. Es wirkt ganz ungefährlich. Es wirkt ruhig, wie das Wippen von Licht und Dunkelheit an der Wand. All das könnte eine Täuschung sein. Ist es aber nicht.

Der Alltag fließt unregelmäßig, ruhig, normal. Täglich bewege ich mich zwischen dem Zimmer bei Frau Stößer, der Schule, den neuen Freunden, die ich in der Kreisstadt suche und wieder dem Zimmer. Dabei wirke ich ruhig und alltäglich. Mein Fließen sieht alltäglich aus. Es ist das, was mir täglich begegnet.

Langsam tapse ich die Wendeltreppe hinunter ins Erdgeschoss. Ich schließe die Haustür leise und behutsam auf. Kühle, feuchte Luft strömt mir entgegen. Im Gang bis zu dem riesigen, schweren, schmiedeeisernen Tor zwischen dem Zaun und der Garage von Frau Stößer knöpfe ich meine Jacke zu.

Rings um mich herum in der Dunkelheit höre ich es tropfen. Der nasskalte Regen hat noch nicht lange aufgehört. Ich schließe das schwere Tor auf, ziehe es zu mir und zwänge mich hindurch.

Das schwere Ding versucht sogleich krachend ins Schloss zu fallen. Ich fange das Gartentor mit der linken Hand auf und lasse es leise in sein Schloss einrasten. Anfangs war mir mehrmals das Tor aus der Hand geglitten und laut ins Schloss gekracht. Das passiert mir nun nicht mehr. Die schweren Limousinen der Gäste von Frau Stößer sind alle verschwunden. Vor dem schwarzen Gartentor steht nur mein gelber Opel-Kadett. Er leuchtet im Mondschein. Schwere Wolken treiben am Himmel entlang. An der Hausecke, hinter Frau Stößers Doppelgarage schlägt mir eiskalter Wind entgegen.

Neben dem Haus von Frau Stößer, Richtung Waldrand hinunter in die Stadt, steht ein sehr altes Haus. Es ist das Moulin Rouge. Vor diesem Puff parken jede Nacht um diese Zeit große schwere Wagen. Der Sturm hat die rechteckige Metallmülltonne einige Meter nach vorne Richtung Straßenrand geblasen.

Der Parkplatz bietet sich an, um dort zu wenden. Er liegt am Ende der Sackgasse, man muss dort umdrehen. Der Jugendleiter fuhr langsam auf den Parkplatz. Er wendete den Wagen indem er einen Bogen über den Parkplatz fuhr. Im Schein seiner Autoscheinwerfer fuhr er langsam an den schweren Limousinen vorbei. Bei einigen Autos nannte er mir die Namen, deren Besitzer er aus der lokalen Politik kannte. Er kenne diese Herren alle, weil er selbst in der lokalen Politik der Kreisstadt tätig sei.

Hinter dem Moulin Rouge führt ein schmaler Pfad bergab in den Wald. Ich laufe ihn langsam hinunter. Der kalte Wind bringt viel Bewegung und Lärm in den Wald. Obwohl es nicht mehr regnet, ist meine Jack klatschnass.

Ich habe die Winterstiefel angezogen. Der Boden ist von Laub übersät und er ist matschig. Ich tapse vorsichtig hinunter. Hätte ich die Fahrstraße, die um diesen Wald herum hinunter Richtung Stadt führt, nehmen sollen? Zu spät, ich gehe weiter. Rechts neben dem Fußweg fließt ein kleines Rinnsal, das sich dort wegen dem schweren Regen der Nacht gebildet hat. Einmal rutsche ich mit dem rechten Fuß leicht nach unten ab, kann mich aber sofort wieder fangen.

Der eisige, feuchte Wind ist im Wald schwächer geworden. Mich fröstelt am ganzen Körper. Hätte ich den dicken, gestrickten Wollpullover anziehen sollen? Zu spät. Unten sehe ich durch die wankenden Baumstämme die Straßenlaternen neben dem Hochufer am Fluss. Auf dem Weg peitscht der böige Wind die Nässe der Nacht direkt ins Gesicht.

Der Fluss brüllt wie ein gejagter, dunkler Bär. Ich laufe vom Fußweg hinunter auf die windgeschützte Straße. Kein Auto fährt um diese Uhrzeit. Im Licht einer Straßenlaterne werfe ich einen Blick auf meine Armbanduhr. Viertel vor vier. Die Gäste des Moulin Rouge fahren hier wenn sie den Schuppen verlassen.

An der Kreuzung überquere ich den Fluss. Dort steige ich die glitschigen Wiese im Windschutz der Brücke hinunter. Unterhalb der Brücke bläst der Wind mit voller Wucht. Ich laufe den Pfad flussaufwärts. Der Fluss dröhnt links neben mir.

Im Mondenschein erkenne ich, dass der Fluss randvoll ist. Die Brühe ist dunkel. An den Felsen gibt es helle Stellen von der schlagenden, schäumenden Gischt. Ich rutsche hin und wieder ab, keine Gefahr, denn es geht leicht bergauf. Ich will wieder warm werden.

An der Waldbrücke sehe ich wie sinnlos das ist. Hier will ich mich aufhalten und Feuer machen. Seit Stunden tobte das Wahnsinnswetter, es war klar dagegen.

Trotzdem habe ich mich aus dem Haus getrieben. Meine Feuerstelle unter der Brücke ist vom Wind zerwühlt. Aber sie ist nicht überspült, wie das im letzten November einmal passiert war. Da stand das Wasser aus dem Fluss nach einem Herbststurm um gut drei Meter höher als normal. Ich sehe nach meiner Holzlagerstelle hinter dem Brückenpfeiler. Ich habe das gesammelte Holz unter einer grünen Plane versteckt. Der Sturm hat einen Zelthaken der Plane weggerissen. Die lose Ecke der Plane schlägt im Wind auf und ab. Mit der Taschenlampe suche ich den Boden ringsum ab. Der Hacken ist noch da. Er liegt matschig verschmiert neben dem Pfeiler. Ich schlage den Haken mit einem Stein samt Ecke der Plane in den glitschigen Boden.

Um viertel vor sieben scheppert der grüne Blechwecker. Ich ergreife die beiden grünen Glocken oben am Wecker. Das Scheppern ist jetzt ein gedämpftes Rasseln. Ich taste nach dem kleinen Metallhebel und drücke ihn mit meinem Daumen um. Aus.

Ich liege matt wie jeden Morgen auf den drei kleinen Matratzen. Ich könnte sofort wieder einschlafen. Ich brauchte nur die Augen zu schließen. Ich darf das aber nicht, denn ich muss in die Schule gehen. Ich öffne die Augen. Im Zimmer ist es finster. An den Dachschrägen im Zimmer sind Schatten und Licht der Nacht verschwunden. Der Regen trommelt.

Vormittags in der Schule

Wenn ’s das bis heute noch nicht gelernt haben, dann sind ’s morgen immer noch fehl am Platz hier drin! Das hab ich ihnen doch letzte Woche schon gesagt!“

Der Mann, der das meinem Tischnachbarn zu brüllt ist mittelgroß und drahtig. Er trägt eine eng anliegende Jeans und ein im Schein des Neonlichts glänzendes, dunkelblaues, sportliches, oben weit offenes Hemd. Er hat eine getönte leicht gebräunte Gesichtsfarbe und trägt glatte, kurz geschorene, schwarze Haare.

Vor der grünen riesigen Tafel bewegt er sich wie ein Tennislehrer. Er hat seinen Schülern gerade einen Matchball verpasst. Das ist selbsterklärend, meint der Mann. Mein Banknachbar soll vom Platz gefegt werden. Er blickt angestrengt nach vorne zu dem drahtigen Lehrer. Er sagt aber nichts, er verzieht keine Mine. Ich sitze neben ihm und versuche es ihm gleich zu tun. Ich versuche in einen ganz ernsten, mittelmäßig beteiligten Blick nach vorne an die Tafel zu verfallen. Ich versuche jeden Blickkontakt mit dem Lehrer zu meiden. Ich tue so, als lese ich ernst aber unaufgebracht.

Ich lese verstehend und doch irgendwie unbeteiligt, dabei aber äußerst interessiert den Text, den der Lehrer da an die Tafel geschrieben hat. Die Wahrheit ist, dass ich nichts verstehe. Ich verstehe von dem Geschriebenen an der Tafel wahrscheinlich viel weniger als mein Banknachbar.

Meine Methode heiß „nicht auffallen“. Mein Banknachbar hatte den Tennisplatzfeger etwas zu viel gefragt. Das wäre mir niemals eingefallen. Ich will zwar auch eine Antwort auf das, was mein Banknachbar da gerade fragte, denke aber, dass ich die Antwort lieber heute Nachmittag in den Schulbüchern suche, als mit dem Platzfeger ein Gespräch anzufangen. Ich liege mit meiner Vermutung richtig. Schülern an der bayerischen Schule eine Antwort auf deren Fragen zu geben ist hier zu dieser Zeit nicht üblich.

Ein Mann, wie der Ministerpräsident gibt hier und heute keine Antworten. Er ist lieber selbstgefällig und gerecht. Es genügt, diejenigen die nicht mitlaufen können oder wollen darauf hinzuweisen. Verschwinden sollen sie, wenn sie das hier nicht verstehen. Matchball. Schon sechs Stunden später ist das Spiel vorbei.

Mittags um halb zwei laufe ich von der Schule durch die Kreisstadt zurück hinunter zum Fluss. Das Haus von Frau Stößer liegt auf der andern Uferseite durch den Wald oben an der Bahnlinie. In der Stadt kaufe ich bei einem Discounter Lebensmittel. Von meinen monatlich siebenhundert Mark habe ich nach Abzug der Miete an Frau Stößer noch vierhundertfünfzig. Im Discounter kaufe ich stets das billigste. Brot, Nudeln, Dosentomaten und so weiter.

Was ich an manchem Wochenende an den Verkaufsständen an Waren aus der sogenannten dritten Welt für das Jugendbüro verkaufe, kostet das fünf bis sechsfache von dem Geld, das ich mir zum Beispiel für Kaffee leisten kann. Ich verkaufe etwas, an den Wochenend-Verkausfsständen, das ich mir niemals leisten kann. Ich werbe mit Informationsbroschüren gegen Waren wie Kaffe aus herkömmlichem Verkauf. Ich kaufe diesen Kaffee aber selbst für mich ein, weil ich mir anderes nicht leisten kann und weil ich darauf nicht verzichten möchte. Das ist das Leben. Ein wackeliger Rhythmus voller Gegensätze überall. Der Ministerpräsident, der Lehrer an der Technologieschule oder der Politiker vor dem Puff neben dem Haus von Frau Stößer. Das Leben ist bunt und unrhythmisch. Nichts ist wie es scheint, weil der Schein das ist, wie es eigentlich sein sollte. Alles ist so wie es ist, nämlich ganz anders als ich weiß oder glaube, dass es gedacht ist.

In der kleinen Küchenzeile haue ich ein paar Eier vom Discounter in die Pfanne. Ich schneide von einem weichen hellen Brot ein paar Scheiben ab. Ich schäle ein paar Karotten und würze die Eier in der Pfanne. Wie gut, dass niemand weiß, was ich hier tue. Auf der Realschule, noch letztes Jahr bei meinen Pflegeeltern hatte ich Kochunterricht gehabt. Ich nehme die Pfanne von der Platte. Ich gehe in mein Zimmer, wo ich mich mit diesem Mittagessen auf das Sofa vor dem kleinen, braunen Tischchen setze. Von unten höre ich Frau Stößer. Sie ruft.

Das Telefon steht vor der Eingangstüre in Frau Stößers Wohnung im Erdgeschoß. Es ist in Ordnung, dass ich mich anrufen lasse. Telefonieren darf ich aber nicht. Es ist Karin aus Berchtesgaden.

Na, guten Tag der Herr! Alles im Lot?

Ja, klar, passt schon.

Wie sieht’s bei Dir heute Nachmittag aus, ich komme in die Stadt, weil ich bei Erich übernachte. Sollen wir uns vorher mal eben treffen?

O.k. Wo?

Könnte bei dir vorbeikommen!

Alles klar, wann?

Um halb sechs?

O.k.

Karin hat einen Freund. Der ist Busfahrer und viele Jahre älter als sie. Der Mann lebt in der Kreisstadt. Weil das ganze von ihren Eltern nicht gesehen werden soll, haben wir uns darauf verständigt, dass ich für sie den Lügner spiele. Sie übernachtet bei ihm, ist für ihre Eltern aber bei mir. Ihre Eltern haben meine Telefonnummer. Sie haben mich aber noch nie angerufen.

Nachmittags Zuhause

Weil ich nach dem Mittagessen, wie schon oft todmüde bin, kippe ich auf dem alten, dunkelgrünen Sofa einfach um und schlafe ein. Matthias, mein Tischnachbar in der Unterrichtsstunde bei dem Tennisplatzfeger hat endlich seine Meinung geändert. Ich habe schon zwanzig Mal in der Schulpause mit ihm vernünftig zu sprechen versucht. Er ist, genauso wie alle anderen Mitschüler ein Bayer. Er ist so ein Bayer, genauso wie der uns vom Platz fegende Lehrer. Eigentlich sind alle Lehrer an der Schule für Technologie solche Bayern. Ich bin froh, dass er nach so vielen Gesprächsversuchen endlich mit mir spricht. Ich sehe uns beide, wie wir auf einer der Sitzbänke in dem kleinen Grünstreifen hinter der Schule in der sonne sitzen und uns angeregt unterhalten. Ich habe Matthias erklärt, dass ich in Berchtesgaden ein, zwei Lehrer kennen lernen konnte, die ganz anders gewesen waren. Ich finde es erstaunlich, dass hier in der Schule in Traunstein anscheinend kein Lehrer unterrichtet, der die Schüler nicht in Wahrheit rausschmeißen will. Das sage ich ganz offen und ganz einfach zu Matthias. Matthias hat endlich verstanden, dass ich mit ihm darüber reden möchte.

Ich bin froh, es hat endlich geklappt, Matthias weiß endlich, dass ich ihn nicht ausnutzen will. Ich will mir nicht sein Wissen zu Eigen machen. Ich will mich nicht mit fremden Federn, seinen Federn, seinem Wissen vor der Schulklasse und den Lehrern schmücken. Ich will nur mit ihm darüber reden, wie es in der Schulklasse täglich ist. Ich will wissen, was er über diese Schule, über diese Lehrer, über diese Mitschüler denkt. Ich möchte hören, wie es ihm dabei geht, wenn er von Morgens bis Mittags, nicht fragen darf, ohne zu riskieren als dumm diffamiert zu werden. Das Gefühl der Denunziation vor der Schulklasse von fünfundreißig Mitschülern einschließlich mir, seinem Tischnachbarn. Dem Lehrer zuhören zu müssen, wie er eindringlich klar macht, dass Matthias der dumme Frager völlig Fehl am Platze ist. Das möchte ich mit Matthias besprechen. Was fühlt er, was denkt er, wenn er erstarrt nach vorne zur Tafel blickt? Das Schweigen der Schulklasse hinter sich und neben sich. Darüber möchte ich mit Matthias sprechen. Wie geht es Dir Matthias? Was fühlst Du, während Du die Worte dieses gebräunten, erholten Gebildeten, der vor der grünen Tafel tänzelt, hörst? Ich will das wissen, weil ich klären will, ob ich mit dir gemeinsame Sache machen kann. Wenn ich von Dir erfahre, wie Du darüber denkst, kann ich Dich unterstützen, könnten wir uns gegenseitig unterstützen, weil ich dann weniger Angst davor hätte auch von diesem gebildeten Denunzianten bloß gestellt zu werden.

Ich will nicht länger wie die andern Mitschüler ein schweigendes, braves, dummes Lamm spielen. Auch ich möchte, wie Du in der Schule etwas wissen. Ich würde gerne nachfragen, doch ich traue mich nicht. Matthias sitzt still in der Frühlingssonne neben mir auf der Parkbank. Wir sprechen lange miteinander. Zu lange, mir kommt das jetzt sehr lang und sehr ruhig vor. Ist die Schulpause nicht längst vorbei? Ich blicke auf meine Armbanduhr. Das tue ich langsam und etwas verdeckt, denn ich will nicht, dass Matthias denkt, dass ich es eilig hätte. Ich habe Zeit ihm zuzuhören, denn jetzt hat er endlich zu sprechen begonnen. Ich konzentriere mich auf seine Worte, denn er spricht sehr bayerisch. Ich verstehe das kaum. Aber ich spüre seine Erleichterung. Meine Worte müssen ihn erreicht haben. Er scheint zu merken, dass ich nicht länger sein Konkurrent sein will, wie es in der Schulklasse wo jeder gegen jeden sticht, alltäglich ist. Matthias sagt endlich, was er denkt. Er will genauso wie ich, dass Lehrer Fragen ordentlich beantworten. Er will gemeinsam mit allen Schülern in der Klasse weiterkommen. Er will, so wie ich, dass wir in der Schulklasse miteinander reden und Probleme die ein Mitschüler erkennt, besprochen werden. Er sieht, dass dieses dumpfe „Schleicht’s Eich, wenn’s des immer no need kapiert’s!“, der bayerischen Lehrer an dieser Schule jedem Mitschüler in der Klasse schadet.

Auch Matthias brütet wie ich nachmittags allein zuhause über den Büchern. Er erzählt mir von den Büchern. Er versucht zu verstehen, was in den Büchern steht. Er versucht aus den Büchern zu holen, was er mit Hilfe des Lehrers, oder mit Hilfe eines Gesprächs in der Klasse viel besser kapieren würde. Das geht aber in der Klasse nicht, weil sich dort jeder selbst am Nächsten ist. Das sagt Matthias! Endlich eine der das sagt! Ich bleibe ganz ruhig neben ihm sitzen, freue mich aber riesig, dass der so denkt. Er sagt mir, dass er schon oft gedacht hat, dass diese Bücher sehr schlecht sind. Es ist kaum möglich zu kapieren, was da drin steht. Nicht weil wir dumm sind, wie die Lehrer dieser Schule es täglich behaupten, sondern weil diese Schulbücher ohne Gespräch und Austausch über den Inhalt und ohne Fragen und Erklärungen gar nicht zu verstehen sind. Das habe ich bisher noch nie gedacht! Aber es könnte stimmen. Matthias könnte richtig liegen, die Bücher sind dafür gedacht, dass über den Inhalt gesprochen wird. Bisher glaubte ich tatsächlich, ich sei blöd. Ich brüte über mancher Erklärung im Buch stundenlang und finde des Problems Lösung trotzdem nicht. Das kann nur an mir liegen. So dachte ich bisher. Ich schaffe das Niveau der Schule einfach nicht! So war mein Denken bis heute. Matthias sieht das anders.

Jetzt zeigt mir Matthias ein Beispiel. Er hält mir das dicke Physikbuch vor’s Gesicht und überdeckt damit die ersten wärmenden Sonnenstrahlen des Frühlings. Wo hat er plötzlich das Physikbuch hergezogen? Ist die Schulpause immer noch nicht vorüber? Matthias fährt mit dem Finger über einen Text und zeigt mir dazu eine Abbildung in dem Buch. Dass die in dem Buch das Problem so kompliziert erklären! Da brauchst du Stunden, bis du endlich durchblickst, wie der Autor tickt. Erst dann kapierst du was gemeint ist. Matthias schreit jetzt fast. Manchmal sagt Matthias habe er gedacht, dass er richtig spinne. Erst nach vielen Stunden am Abend habe er dann kapiert welche Denke der Autor habe und warum er das Problem im Buch so schildert, wie er es schildert.

Matthias dreht mir jetzt kurz den Rücken zu. Ich höre ein Rauchen, wie Wasser, wie Tropfen oder vielleicht einen Fluss. Das sind wahrscheinlich die ersten Blätter im Frühlingswind, so denke ich jetzt. Sein Wissen, dieses Verstehen, so Matthias nun, werde er aber niemand anderem geben. Denn damit konne er im Physiktest beweisen, dass er was verstanden hat. Matthias knallt das dicke Physikbuch jetzt auf die Parkbank. Er rutscht ein gutes Stücken von mir weg. Das Rauschen wird lauter, es hört sich jetzt wie ein Trommeln an. Jetzt sieht er mich an, er fixiert mich. Mit seiner Hand, sie sieht schwer aus und ist groß, stützt er sich auf das Physikbuch. Du willst was von mir? Ausgerechnet Du? Du willst mein Wissen, meine schwere Arbeit, die ich nachmittags vor den Büchern investiere! Das wollt ihr doch alle! Matthias schreit jetzt plötzlich aufgebracht, die Ruhe ist verflogen, stattdessen höre ich ein Trommeln und Rauschen. Nix da Bürschen, daraus wird aber nichts! Jeder hier ist seines Glückes eigener Schmied! Matthias spricht eindeutiges Hochdeutsch. Was ist mit seinem Bayerisch passiert? Jetzt rücke ich ein Stück von Matthias ab. Ich rücke an den äußersten Rand der Parkbank, beinahe falle ich von der Bank. Erschrocken sehe ich Matthias an. Der lacht. Es ist ein gehässiges, schäbiges Lachen. Mit dem Zeigefinger, der dünn und lang ist, wie ein Stock fuchtelt Matthias vor meinem Gesicht herum. Jetzt zeigt er mit dem langen Finger auf die Wiese vor unserer Parkbank. Die ist zu einer grünen Tafel geworden. Mit dem langen Finger kritzelt er weiße Rechenformeln auf die Tafel. Die große Tafel schreibt er ganz schnell voll. Ab und zu blickt er zu mir auf. Er lacht mich gehässig an. Er fragt mich, ob ich weiß, was er da schreibt. Ich versuche den Eindruck vorzutäuschen, dass ich alles gut verstehe. Das gelingt mir aber nicht. Stattdessen laufen mir plötzlich Tränen aus den Augen. Ich kann die Tränen nicht aufhalten. Es sind dicke Tränen. Sie tropfen auf die grüne Tafel. Die weißen Formeln verlaufen. Meine Tränen werden stärker. Sie Trommeln jetzt auf die Tafel. Die weiße Kreide verschwimmt. Ich erkenne nichts mehr. Ich versuche Matthias zu erkennen. Der Sitzt ganz weit entfernt von mir, er sieht pitsch nass aus.

Regen trommelt auf das Hausdach. Wind peitscht gegen die Balkontür in meinem Zimmer in Frau Stößers Haus. Ich stehe langsam von dem dunkelgrünen Sofa auf, ich fühle mich schwer und matt. Ich ertaste meine Armbanduhr, im Zimmer ist es fast finster. Ich kann das Ziffernblatt nicht lesen, gehe deshalb zum Licht an der Balkontüre. Beinahe zwei Stunden lang habe ich geschlafen. Draußen geht ein schwerer Wolkenbruch nieder. Ich nehme mein Mittagsgeschirr vom Tisch vor dem Sofa und spüle es in der kleinen Küchenzeile ab.

Besuch

Karin ist pünktlich. Auf sie ist verlass, sie kommt nie zu spät. Sie bringt mir ein kleines, grünes Büchlein mit. Es ist ein Kochbuch für Junggesellen. Das ist kleine Provokation von Karin, obwohl sie es natürlich lustig findet, mir so etwas mitzubringen. Sie erklärt mir, dass die Portionen, die in dem Büchlein beschrieben sind für eine Person bemessen seien. Das sei beim Kochen eine große Hilfe. Karin ist trotz ihrer jungen Jahre eine gestandene Hausfrau. Sie ist etwas mollig, wirkt bodenständig und strahlt Zuversicht aus. Sie lacht viel, das sehe ich ihr an.

Sie ist verheiratet. Sie hat aber wohl leider den falschen Mann geheiratet. Der Busfahrer wäre wohl der richtige für sie gewesen. Sie hat aber einen jungen Menschen ihres Alters geheiratet, den ich aus meiner früheren Jugendgruppe kenne. Ich glaube, sie hat einfach zu schnell und zu früh geheiratet. Ihr Mann hat das Heiraten zu schnell von ihr gewollt. Vielleicht hatte er gemerkt, dass er nicht der richtige ist und hat sie deshalb zu einer zügigen Hochzeit gedrängt. Das rächt sich nun für ihn aber auch für Karin. Sie lebt nun mit einer schweren, belastenden Lüge. Sie liebt den Busfahrer, nicht ihren Mann. Ihr Mann wiederum lebt in dem Glauben, er habe es geschafft Karin an sich zu binden.

Ihr Glück ist, dass sie einige wenige Menschen kennt, denen sie dieses Geheimnis anvertrauen kann. Das macht die Sache für sie leichter. Einer davon bin. Und sie hat eine gute Freundin, die ihre Situation kennt. Ich muss gar nicht viel tun, um Karin zu unterstützen. Es reicht, wenn sie mich hin und wieder besuchen kommen kann und wenn sie ihren Eltern und ihrem Mann erzählen kann, dass sie in der großen Kreisstadt bei mir zu Besuch vorbeischaut und bei mir im Haus von Frau Stößer übernachtet. Ich bin für ihren Mann offenbar ungefährlich und für ihre Eltern glaubwürdig. Erstaunlich daran ist, dass ich weder mit ihrem Mann noch mit ihren Eltern über Karins Besuche bei mir in der Kreisstadt je gesprochen habe. Die haben bisher noch nie bei mir angerufen, um zu fragen, ob Karin tatsächlich hier ist, um das zu überprüfen. Ich habe nichts weiter zu tun, als Karins Anweisungen und Vorschläge in dieser Sache zu befolgen und sie gewähren zu lassen.

Sie kommt und erzählt mir, dass sie sich mit ihrem Busfahrer trifft. Sie sagt mir exakt, um wie viel Uhr sie zuhause losgefahren ist und wann sie in Traunstein angekommen ist. Sie sagt mir genau, um welche Zeit sie von mir weg fährt und wann sie wieder in Berchtesgaden ankommen wird. Sie erklärt exakt, was sie in der Kreisstadt alles gekauft hat, in welchen Geschäften sie um welche Uhrzeit vorbei schaut oder ob Sie sich mit anderen Personen zum Beispiel aus der Jugendgruppe trifft. Meist kauft Karin in der Kreisstadt Wolle unterschiedlichster Art, in verschiedenen Geschäften. Sie strickt sehr viel, weil das auf sie beruhigend wirkt. Ich schreibe mir alles sauber in einen Block. Den halte ich auf meinen Schreibtisch griffbereit. Wenn Frau Stößer wegen einem Telefonanruf nach mir ruft, nehme ich immer diesen Block mit hinunter zum Telefon. Im vorderen Teil habe ich Notizen, Termine und Telefonnummern, die ich am Telefonapparat bei Frau Stößer notiere. Im hinteren Teil des Blockes habe ich, von hinten angefangen, genau mit Datum und Wochentag notiert, wann Karin in der Kreisstadt war, um wie viel Uhr sie kam, wann sie wieder fuhr und was sie eingekauft hat. Noch nie hat ihr Mann oder haben ihre Eltern bei Frau Stößer angerufen um mich danach zu fragen.

Karin sieht blass aus. Sie lacht zwar aber sie wirkt abgehetzt. Sie bittet mich den Zeitplan ihres diesmaligen Aufenthaltes in meinem Block zu notieren. Sie sieht auf ihre Armbanduhr und sagt, sie habe nur eine halbe Stunde Zeit. Der Busfahrer habe dann einen Schichtwechsel und sie könnte bei ihm zusteigen. Der Mann wohnt außerhalb der Kreisstadt in einem winzigen Nest. Ich biete ihr eine Tasse Tee an, den sie gerne nimmt. Karin sitzt mir gegenüber vor dem kleinen Tischchen in dem orangenfarbigen Schaumstoffsessel, den ich aus meinem Zimmer in Berchtesgaden mit nach Traunstein umgezogen habe. Ich sitze auf dem grünen Sofa. Das Sofa habe ich erst vorletzten Samstag auf dem gleichen Flohmarkt gekauft, auf dem ich auch das Waschmaschinen-Ei erstanden hatte. Karin mustert das Sofa. Etwas schäbig findet sie aber, irgendwie passend zu dem Mobiliarsammelsurium in meinem Zimmer. Das Sofa habe ich für nur drei Mark erstanden. Der Verkäufer hatte es auf der Ladefläche eines Anhängers. Eigentlich wollte er das gar nicht verkaufen, sondern zum Sperrmüllsammelplatz bringen. Der Platz hatte aber am Samstagvormittag schon um zwölf Uhr dichtgemacht. Also nahm er das Ding zum Flohmarkt mit, auf dem er grundsätzlich nicht vor halb eins auftauche. Das erklärte mir der Verkäufer. Weil um diese Uhrzeit der Verkauf am besten laufe. Als ich ihn fragte, was das Sofa auf seinem Hänger kosten sollte, lachte der Mann herzlich. Schließlich verständigten wir uns auf drei Mark. Ich musste dem Verkäufe um halb fünf beim Abbau seines Standes helfen, als Gegenleistung fuhr der Verkäufer mit mir zum Haus von Frau Stößer, schließlich half er mir sogar dabei, das Sofa hinauf in mein Zimmer zu schleppen. Montagnachmittags, als Frau Stößer mit ihrem großen Mercedes zum Einkaufen in die Stadt gefahren war, schob ich das Sofa auf den Balkon hinaus. Dort bearbeitete ich es mit einem Teppichklopfer. Das staubte wie eine riesige Rauchwolke.

Karin lächelte mich an, nachdem ich alles brav in den Block notiert hatte. Sie hat immer Neuigkeiten aus Berchtesgaden dabei. Darüber fängt sie stets in der gleichen Weise zu berichten an.

Weist du schon das Neuste?

Nein.

Willst du’s denn überhaupt wissen?

Na klar, schieß los.

Dorit ist schwanger.

Nein!

Ich sehe Karin verblüfft an.

Wie ist das gegangen?

Wenn Du’s nicht weißt, ist klar dass sie nicht von Dir Schwanger ist.

Karin lacht verschmitz.

Sie hat vor einem halben Jahr, gleich als es mit Euch beiden vorbei gewesen war, einen neuen Mann kennen gelernt. Der ist der künftige, stolze Vater. Er war auf der Durchreise im Ort. Beide haben sich gleich ineinander verguckt.

Oje.

Ich stöhne ein bisschen vor mich hin, ob dieser Nachrichten. Ich versuche entspannt und unbeteiligt zu wirken. Ich lehne mich in das grüne Sofa zurück, schenke Karin noch etwas Tee nach. Dabei sehe ich wie meine rechte Hand zu zittern beginnt. Ich stelle deshalb die Kanne, nachdem die Tasse nur halb gefüllt ist zurück auf das Stövchen.

Eine echte Überraschung für Dich geh?

Karin lächelt.

Das schein ja alles recht schnell gegangen zu sein mit den beiden.

Diesen Satz versuchte ich möglichst einsilbig und unbeteiligt zu sprechen. Das gelingt mir aber nicht.

Bist doch wohl nicht eifersüchtig auf ihren Liebhaber, den du nicht einmal kennst?

Nein, nein.

Ich schüttle den Kopf. Ich weiß einfach nicht was ich sein soll.

Noch ne Nachricht, oder reicht das schon?

Karin lacht beinahe frech.

Nein, das genügt völlig.

Ich hab auch gar nichts weiter anzubieten.

Sind die zwei denn noch beieinander?

Das sieht schon so aus. Der Typ, der im Übrigen ganz nett ist, plant in den Ort zu ziehen. Die suchen sich eine Wohnung und in knapp sechs Monaten ist es dann soweit.

Dorit wollte doch studieren?

Ich glaube, das hat die jetzt erst mal abgehakt, unter den Umständen.

Aha.

Karin erhebt sich aus dem orangenfarbigen Sessel.

Ich glaub ich muss jetzt, sonst verpass ich am Busbahnhof den Schichtwechsel.

Ich begleite Karin hinaus über den Gartenweg durch das große Schmiedeeisentor bis zu ihrem Auto. Es kam noch nie vor, dass sie mit dem Auto ihres Mannes zu mir fuhr. Sie fährt sonst immer mit dem Zug und dem Bus. Weil sie aber das Auto früh am nächsten Morgen in die Werkstatt zur Inspektion bringen will, hat sie ihrem Mann vorgeschlagen damit zuvor noch zu mir in die Kreisstadt zu fahren, um von hier aus morgen früh direkt in die Autowerkstatt zu fahren. Karin steigt ein, wendet den Wagen auf dem Parkplatz vor dem Moulin Rouge und braust winkend davon.

Ich steige die Treppenstufen im Haus von Frau Stößer langsam hinauf, gehe in mein Zimmer und nehme auf dem Sofa platz. Ich hatte Dorit zwei Monate vor meinem Wegzug aus Berchtesgaden kennen gelernt. Der Kontakt entstand über einen Freund in der Jugendgruppe, der mit ihr in einer Schulklasse saß. Es war eine Abiturklasse. Der Freund hatte mich gefragt, ob ich mit ihm und einigen Schulfreunden im Sommer für ein paar Wochen eine Reise nach Griechenland unternehmen wolle. Unter den Schulfreunden war Dorit. Wir hatten uns zwei, drei mal getroffen um die geplante Reise zu vereinbaren, eine Route und den Termin gemeinsam festzulegen. Von da an besuchte ich Dorit, die am Rande von Berchtesgaden, etwas außerhalb in einer Mehrfamilienhaussiedlung bei ihren Eltern wohnt, regelmäßig. Wir verstanden uns gut. Dorit ist sehr gebildet und sehr vielfältig interessiert. Sie erzählte gerne von politischen Sendungen und satirischen Beiträgen, die sie gerne im Fernsehen sah. Sie nahm seit Jahren Tanzunterricht, ihr Berufswunsch ist das Tanzen, das man offenbar studieren kann. Deshalb strebte sie das Abitur an, dass sie sehr gut bestanden hat.

Abends war ich bei meinen Pflegeeltern in den letzten Wochen in deren Haus nur noch ganz selten zuhause. Ich kam immer sehr spät nach Hause. Ich besuchte Dorit, hatte aber nie bei ihr in ihrem Zimmer in der Wohnung ihrer Eltern übernachtet. Ich war oft mit dem alten, aber guten Moped aus der Garage bei meinen Pflegeeltern zu ihr gefahren. Das Moped durfte ich eigentlich nicht benutzen. Meine Pflegeeltern hatten mir das nicht erlaubt. Ich habe es mir abends trotzdem oft genommen. Die Pflegeeltern haben das entweder nicht bemerkt oder sie ließen mich einfach gewähren, weil mein Aufenthalt bei ihnen ohnehin auf nur noch wenige Wochen begrenzt gewesen war. Das Moped verwendete ich gegenüber Dorit stets als Vorwand, wegen dem ich spät abends immer wieder nach Hause zu fahren hatte, damit es früh morgens in der Garage stand. Wegen ihrer täglichen Arbeit waren die Pflegeeltern stets sehr früh am Morgen unterwegs. Das fehlen des Mopeds wäre aufgefallen.

Der Urlaub in Griechenland mit der Abiturientengruppe und Dorit war wunderschön. Es war mein erster Urlaub nach Volljährigkeit und Auszug bei den Pflegeeltern. Ich hatte den Urlaub mit Geld bestritten, das ich zuvor bei einem Ferienjob verdient hatte. Es war sehr wenig Geld, reichte aber. Die Gruppe Abiturienten war auch deshalb sehr angenehm, weil keiner von denen hohe Ansprüche hatte. So war es in der Gruppe kein Problem für mich, mit meinem wenigen Geld auszukommen. Es war eine Zugreise, wir waren mit Rucksäcken von Ort zu Ort unterwegs. Der Kontakt zu Dorit war vertraut. Wir haben Händchen gehalten und uns bestens miteinander verstanden. Mehr wurde daraus aber nicht. Ich war mir nicht sicher. Sie war sich sicher. Wir reisten per Zug aus Griechenland zurück. Vor diesem Urlaub hatte ich meinen Umzug in die Kreisstadt organisiert. Am Bahnhof verabschiedete sich die Gruppe voneinander. Dorit und ich blieben allein am Bahnhof stehen. Sie fragte mich, ob sie mit mir mitkommen dürfe, in die große Kreisstadt. Ich nahm ihre Hand, sah sie an und versuchte zu lächeln. Dann ließ ich sie los. Seitdem habe ich sie nicht wieder gesehen.

Abends Zuhause

Das Fernsehprogramm ist grauenvoll. Ich empfange mit der alten Kiste drei deutsche Sender und einen Sender aus Österreich, in dem ständig dicker Schnee rieselt. Ich versuche mich von meinen Gedanken, die seit Karins Besuch kommen und nicht verschwinden wollen, abzulenken. Mein Abendbrot habe ich hinter mir, ich knabbere an Salzstangen aus einer Knistertüte herum. Meine Schularbeiten habe ich nicht erledigt. Ich müsste für morgen noch einiges tun. Aber die Bücher kommen mir ganz weit entfernt vor, obwohl sie auf einem ordentlichen Stapel neben dem Sofa auf dem Schreibtisch liegen.

Neben Dorit gibt es da eine andere Frau, Martina. Von ihr hatte ich das Auto geliehen, mit dem ich meinen Umzug von Berchtesgaden nach Traunstein gemacht hatte. Ich glaube, sie habe ich wirklich geliebt. Martina hat mich aber nicht geliebt. Sie war mit mir lange Zeit irgendwie befreundet. Dann kam Dorit. Sie liebte mich. Was hätte ich besser machen können? Warum liebt mich nicht die richtige Frau? Oder würde ich Martina niemals geliebt haben, wenn sie mich, wie Dorit von Anfang an geliebt hätte?

Jetzt wäre es gut, wenn Frau Stößer von unten hoch rufen würde, dass ich einen Anruf hätte. Jetzt wäre es gut, wenn Martin oder Thomas anriefen. Heute Abend habe ich kein Arbeitsgruppentreffen mit dem Arbeitskreis, den Thomas rund um die Verkaufsstände der Waren aus der sogenannten Dritten Welt gegründet hatte. Das wäre jetzt eine ausgezeichnete Ablenkung für mich. Die Arbeitsgruppe findet leider erst morgen am Dienstag statt. Jetzt wäre es gut, wenn der Jugendgruppenleiter vorfahren würde, um mich ins Auto einzuladen, mit mir den Wagen auf dem Parkplatz vor dem Moulin Rouge zu wenden, und wie Karin davon zu düsen, um mit mir zu einem politischen Arbeitskreis in die Großstadt zu fahren. So ein Termin mit dem Jugendgruppenleiter steht aber erst wieder nächste Woche an.

Da hat mir Karin ja was hübschen eingebrockt, mit dieser tollen Nachricht von Dorits Schwangerschaft. Wäre es gut gewesen, mit ihr zusammen zu bleiben, obwohl ich nicht sicher gewesen war? Ich werde jetzt ein bisschen wütend auf Karin. Die kommt hier her, erzählt mir was und verschwindet wieder. Danach sitze ich da und komme davon nicht mehr los. Karin hat mir mal erzählt, dass ihr das Stricken hilft, aber auch das Putzen. Wenn es schwierig wird, tut sie entweder das eine oder das andere. Ich stehe vom Sofa auf, schalte den Fernsehapparat ab und gehe ins Bad. Wenn putzen hilft, hilft vielleicht auch Wäschewaschen. Ich stopfe Klamotten in das silberfarbige Wäsche-Ei. Oben durch den Deckel lasse ich warmes Wasser hineinlaufen und gebe Waschmittel dazu. Danach fange ich zu kurbeln an.

Nachts um drei Uhr wache ich auf. Der Wecker gibt wieder sein gleichförmiges Keramikbecher und Wasserglas-Ticken von sich. Ich sehe an der Dachschräge die Linie am Rande des Lichtes, das durch die Balkontüre fällt und sich in dem dunklen Schatten an der Wand bewegt. Die Bewegung scheint langsamer geworden zu sein. Der Sturm draußen hat sich gelegt. Ich stehe auf und sehe durch die Balkontür hinaus. Der Mond nimmt zu. Es ist sternenklar. Unten sehe ich die Lichter der Kreisstadt. Der Fluss schlängelt sich in der Dunkelheit wie eine Gischtschlange durch die Stadt. Der Wasserstand hat erneut zugenommen. Ich ziehe meine Klamotten an. Ich ziehe den dicken Wollpullover über, den mir Karin und Martina gemeinsam gestrickt hatten und zu Weihnachten geschenkt haben. Sie haben dafür die dickste Wolle verwendet, die zu bekommen war. Der Pullover ist schwer und warm. Das Balkonthermometer zeigt minus drei Grad an. Hoffentlich ist das die letzte Frostnacht in diesem Frühjahr. Ich nehme die Jacke und tapse leise die Wendeltreppe ins Erdgeschoss hinunter. Draußen ist es saukalt aber trocken und windstill. Die Mülltonne vor dem Moulin Rouge steht wieder ordentlich links vom Haus an der Hausmauer. Der Parkplatz ist voller als in der Nacht zuvor, ich zähle zehn große Limousinen. Ich laufe den Waldweg hinunter Richtung Stadt. Das muss komisch sein, wenn man da reingeht, die Leute müssen sich doch kennen. Der Puff neben dem Haus von Frau Stößer ist im Grunde winzig, die Kreisstadt ist überschaubar. Die Kennzeichen der Autos weisen auf die Kreisstadt und den Landkreis hin. Aber auch der Landkreis ist klein und überschaubar.

Der Fluss steht nun fast bis zum Fußweg auf dem Hochufer. Die Feuerstelle ist wieder überspült, so wie im November. Aber Holz und Plane sind noch da. Beides liegt einige Meter höher als die Feuerstelle. Ich kann kein Feuer machen, so lange der Fluss so hoch steht. Vielleicht fällt der Pegel bereits. An dem unteren Betonpfeiler der Brücke nahe der überspülten Feuerstelle sehe ich einen angefrorenen Wasserabdruck. Vielleicht war der Pegelstand tagsüber dort oben. Das Getöse des Flusses unter der Brücke ist ohrenbetäubend. Ich prüfe die grüne Plane über dem Holz und die Heringe im Boden. Der Hering, den ich vergangene Nacht befestigt hatte fehlt, ich suche und finde ihn. Ich schlage die Plane erneut in den gefrorenen Boden. Auf dem Rückweg nehme ich die Straße, denn die Taschenlampe hat schlapp gemacht. Ich sehe trotz des Mondscheines die kleinen Eisschollen im Matsch und auf den Felsen des Pfades ohne Taschenlampe zu schlecht. Auf der Straße kommen mir mehrere Autos entgegen. Es sind große Limousinen, die ich zuvor noch auf dem Parkplatz vor dem Moulin Rouge gesehen hatte. Außer ihnen fährt um diese Uhrzeit kein Auto durch den Wald. Am Flussufer unterhalb des Hauses von Frau Stößer biege ich von der Straße ab und laufe hinauf durch den Wald. Der Parkplatz ist leer. Das Licht am Eingang des Moulin Rouge schimmert finster, die weitere Beleuchtung an dem Haus, die zuvor noch eingeschaltet war, ist aus. In der Eingangstür ins Haus von Frau Stößer ziehe ich meine verdreckten Winterstiefel aus. Ich tapse im Haus leise die Treppe hinauf und verschwinde in meinem Zimmer. Die schmutzigen Stiefel stelle ich auf den Balkon neben die Balkontüre.

Ich gehe ich die winzige Küche und setzt Wasser auf. Ich setzte mich auf einen Stuhl in dem Zimmer, das ich eigentlich nicht betreten darf. Die Stühle stehen rund um einen großen Tisch. Dahinter liegt die kleine Küchenzeile. Auf der anderen Seite des Zimmers ist eine Fensterfront mit Balkontüre hinaus auf den gleichen Balkon auf den auch meine Balkontüre führt. Ich sitze in der Finsternis und Stille dieses großen Raumes und warte bis das Wasser kocht. Frau Stößer empfängt an diesem großen Tisch einmal pro Woche nachmittags zehn bis zwölf Damen, die alle etwa in ihrem Alter sind. An den Nachmittagen geht es in diesem Zimmer, das neben meinem Zimmer liegt, lebhaft manchmal sogar laut zu. Das ist ungewöhnlich in diesem Haus, in dem es abgesehen von seltenen Besuchen, die Frau Stößer in ihrer Wohnung empfängt, sehr ruhig ist. Die Damen sind ein Bastelkreis. Frau Stößer erklärte mir das, als sie mich in ihr Haus einführte. Ich könne die Küchenzeile nutzten, wenn ich sie sauber hielte und wenn ich sie bitte nicht gerade an dem Nachmittag betrete, an dem die Damen kommen. Gebastelt wird das ganze Jahr über wöchentlich einen Nachmittag lang für einen gemeinnützigen Verkaufsstand auf dem Weihnachtsbazar. Seitdem Thomas den Arbeitskreis rund um die Verkaufsstände der Dritte-Welt-Waren gegründet hat, geht es auch bei mir im Zimmer einmal pro Woche etwas lauter zu. Die Lautstärke ist aber wohl nicht zu vergleichen mir Frau Stößers Damengruppe. Jeden Dienstag treffen wir uns am Abend in meinem Zimmer um die Verkaufsstände zu organisieren, aber auch um zu diskutieren oder um Handzettel und Informationsbroschüren für die Verkaufsstände zu erarbeiten. Dieser Kreis besteht aus Ida und Pete, zwei Mädchen, die Thomas aus seiner früheren Schule kennt und aus Martin, Thomas und mir.

Bevor der Wasserkessel zu pfeifen beginnt nehme ich ihn von der heißen Platte. Ich prüfe ob mein Stuhl an dem Tisch in dem Zimmer steht wie zuvor. Mit dem heißen Wasser gehe ich zurück in mein Zimmer. Ich brühe mir einen starken Kaffee auf. Mit dem dampfenden Becher setze ich mich an den Schreibtisch. Ich nehme mir zuerst die Einträge der letzten Physikstunde vor. Damit beginnt mein nächster Schulvormittag. Bis am frühen Morgen der grüne Blechwecker zu scheppern beginnt, arbeite ich mich am Schreibtisch durch den bevorstehenden Schulvormittag. Den Bücherstapel habe ich in der Reihenfolge der heutigen Schulstunden sortiert und packe ihn jetzt in meine Tasche. Ich gehe ins Bad, putze meine Zähne, stehe kurz unter der Dusche, setze Wasser für den Tee auf, schmiere mir zwei Marmeladenbrote, setze mich mit dem Tee und den Broten auf das Sofa und lese nochmal etwas in dem Materialkundebuch nach. Ich kann mir das einfach nicht merken. Woran das wohl liegen mag? Die Technik ist im Moment nicht meines. Die gesamte Theorie, die da dahinter steckt, erscheint mir leblos. Die Unterrichtsstunden an dieser Schule könnten das lebendig machen. Das Gegenteil aber ist der Fall. Mein Gebüffle jeden Tag scheint immer weniger zu nützen. Der Platzwart würde mir sofort erklären, woran das liegt, bevor mich der gebildete, satt gebräunte Bavarese im glänzenden Hemd mit einem kräftigen Matchball von meinem Schulplatz fegt. Es liegt natürlich an meiner Art zu lernen. Das, was ich heute Nacht gemacht habe, bringt zum Beispiel gar nichts. Es ist doch sonnenklar, das einer der todmüde in die Schule kommt, dort nichts zerreißen kann. Da ist es schon berechtigt, wenn der Feger an die Tafel kommt und schreit: „Sie verschwenden hier in der Schui bloß unsere und erna Zeit. Suachens erna an anderen Zeitvertreib oder lassens erna am besten glei einglasen!“

Schulvormittag

Im Physikunterricht am Morgen wird eine spontane Extemporale über ein Teilgebiet der Lasertechnik geschrieben. Ich habe Glück, denn tatsächlich kann ich die Fragen verstehen. Sie haben mit denjenigen Inhalten und Dingen zu tun, die in der letzten Stunde in der Vorwoche am Donnerstag behandelt worden waren und über die im Physikbuch unter dem entsprechenden Kapitel nachzulesen war. Der Physiklehrer verteilt vervielfältigtes, gelbliches, glänzendes Papier. Er hat die Ex mittels des immer seltener gebräuchlichen Linoleumdruckverfahrens vervielfältigt. Blaue Tintendruckschrift auf gelblich glänzendem Papier. Das Papier hat die Eigenschaft, rechts und links nach unten zu fallen, dabei auch schnell mal abzuknicken, wenn man das Blatt in der Mitte hochhebt. Das Papier und der Druck erinnern mich an meine alte Schule in Berchtesgaden. Dort war alles, was die Lehrerin im Unterricht verteilt hatte in solcher Weise auf solchem Papier gedruckt. Die Lehrerin kurbelte das Papier und ihre Vorlage selbst durch die Maschine, die im Wesentlichen aus zwei Walzen und der Druckvorlage bestand. Auf die Walzen wurde mit einem Schaber möglichst gleichmäßig die Tinte aufgebracht. Dass der Physiklehrer das moderne Thema mittels Vervielfältigung anhand der inzwischen veralteten Drucktechnik abfragt, finde ich gut. Was er da abfragt finde ich schwierig. Wie der Lehrer dabei auftritt finde ich unmöglich. Es ist das typische Auftreten der Lehrer die mich an dieser Schule unterrichten, solches Auftreten kannte ich von keiner meiner vorhergehenden Schulen.

Der Mann betritt morgens den Klassenraum ohne einen Schüler auch nur anzusehen, geschweige denn die Schulklasse zu begrüßen. Den großen, schwarzen Aktenkoffer stellt er auf seinen Lehrertisch und knipst klackernd die Verschlüsse auf. Einen Schüler aus der ersten Reihe, dessen Name er offenbar nicht kennt und wohl nicht kennen lernen will, weist er zu sich. Dem drückt er einen Stapel Papier in die Hand, den er mit einem festen Griff aus seinem Aktenkoffer hebt.

Verteilen!

Alle Unterlagen vom Tisch!

Das plärrt er in den Klassenraum, spricht damit aber keinen von uns an, meint uns aber eindeutig mit dieser Ansage. Er spricht, als sei der Raum vor ihm leer.

Sie benötigen nur ein funktionsfähiges Schreibgerät!

Sofort packen die Mitschüler und ich alles, was vor uns auf dem Tisch liegt in die Schultaschen. Übrig bleibt nur ein Stift.

Im Zimmer herrscht totenstille.

Der Verteiler beeilt sich, die Blätter auf dem Kopf liegend auf den Tischen zu verteilen. Ich berühre das Blatt nicht. Ich berühre es selbst dann nicht, als es droht, wegen dem Wind, den der Verteiler im Vorbeihuschen macht, vom Tisch zu fliegen. Ich kenne dieses Spiel aus dieser Schule. Jeder, der das Blatt vor dem Befehl des Lehrers berührt, hat verloren. Meine Arme sind vor meiner Brust verschränkt. So ist klar, dass ich weder auf dem Tisch noch unter dem Tisch irgend ein Papier lese.

Der Verteiler ist fertig und liefert beim Physiklehrer den Rest seiner nicht verteilten Blätter ab. Jetzt schaut der Physiklehrer angestrengt auf seine riesige, dicke, silberne Armbanduhr. Er drückt auf einen Seitenknopf an der Uhr. Er blick auf, starrt in den Klassenraum an einen Punkt, den ich nicht sehe. Sein breiter Mund öffnet sich, jetzt höre ich ihn:

Ab jetzt hamm’s zwanzig Minuten!

Alle Mitschüler wissen was los ist. Jeder dreht sofort das Papier um. Sämtliche Schüler im Zimmer beginnen ohne Zeitverzögerung auf dem Papier herum zu kritzeln. Auch ich fülle das Papier oben rechts sofort mit meinem Namen und blicke die nächsten zwanzig Minuten nicht mehr von diesem Papier auf. Ich rattere eine Frage nach der nächsten durch. Schreibe zu jeder Frage so schnell wie möglich so viel mir dazu einfällt hin. Und tatsächlich fällt mir etwas ein. Es sind diejenigen Dinge, die ich wenige Stunden zuvor, nachts an meinem Schreibtisch im Physikbuch gelesen hatte. Alles, woran ich mich erinnern kann, was zu den jeweiligen Fragen passt, schreibe ich jetzt hin. Dabei achte ich darauf, dass ich mich bei jeder Frage höchstens drei Minuten lang aufhalte. Es sind sieben Fragen. Bei zwanzig Minuten Zeit kann ich mir mehr Zeit pro Frage nicht leisten. Weil jede Frage mit Punkten bewertet wird, glaube ich daran, dass es effektiv ist, möglichst alle Fragen abzuklappern anstatt mich an einer festzubeißen. Bei diesen Tests unter diesem Zeitdruck geht es nicht darum tatsächlich etwas verstanden zu haben. Die Materie wurde mir nie verständlich erklärt. Sie wurde vergangene Woche von diesem Lehrer an die Tafel gekritzelt. Ich habe sie heute Nacht im Physikbuch gefunden. Verstanden habe ich sie nicht, erinnere mich aber an den Inhalt.

Darum geht es. Glücklicher Weise habe ich das Kapitel im Physikbuch erst heute Nacht angestrengt und verbissen gelesen. Ich habe es in mich hineingezwungen. Die Methode ist mein Alltag. Diese Schule und ihre Methoden sind mein Alltag. Ich lese Sätze und Formeln und wiederhole sie so oft bis ich das Gefühl habe, dass ich das behalten kann. Um das zu erreichen muss ich die Inhalte mit Gewalt und Kraft in mein Hirn hineinprügeln. Ich muss einen inneren Widerstand überwinden, das wissen zu wollen. Wenn das geschafft ist, muss ich alles stupide so oft wie möglich wiederholen. Das habe ich heute Nacht getan. In meinem Alltag geht es darum, möglichst schnell und möglichst viel Wissen wiederzukäuen und in solchen Prüfungen wie heute Morgen einfach wieder auszukotzen. Ich höre leises rascheln von rechts neben meinem Tisch. Ich höre ein leises Flüstern. Es ist kaum hörbar. Aber es ist deutlich vorhanden. Da will einer was von mir wissen. Ein Nachbar von rechts, es ist nicht Matthias, der sitzt links von mir. Der da was von mir will, den kenne ich nicht, obwohl ich schon ein knappes halbes Jahr in dieser Schule sitze. Mit dem habe ich noch nie gesprochen. Das geht unmöglich. Ich kann dem Flüsterer nicht helfen. Der gefährdet mich, wo ich doch heute Morgen tatsächlich etwas zu wissen glaube. Ich habe das erst heute Nacht gelesen. Ich neige meinen Kopf noch dichter herunter zu dem Blatt auf das ich schreibe und lese und schreibe und lese. Ich muss so viel wie möglich von dem Wissen an das ich mich aus diem Kapitel erinnere hier auf dieses gelbliche Blatt kotzen. Der Lehrer ruft jetzt laut einen Namen. Welcher Name ist das? Wer ist das, den er da ruft? Es ist der Namen meines rechten Nachbarn.

Vortreten und abgeben!

Ich höre jetzt leise Flüche. Ich weiß nicht ob der Nachbar mich meint. Er rückt seinen Stuhl nach hinten. Jetzt geht er mit seinem Papier in der Hand vor zum Physiklehrer.

Das verstehe ich nicht.

Ruhe!

So brüllt der Physiklehrer ihn an.

Gebens her!

Er entreißt meinem Nachbarn sein Papier. Nun weist er mit dem linken Arm, an dessen Hand die schwere Armbanduhr hängt, zur Tür.

Raus, in elf Minuten sand’s wieder da, sonst brauchans garnicht mehr kemman!

Ich gehe zu Frage Nummer vier. Für die verbliebenen vier Fragen sind nur noch elf Minuten übrig. Ich lese, schreibe, schreibe und schreibe.

Schluss jetzt, sofort die Schreibgeräte neben dem Papier ablegen.

Ich und alle anderen Mitschüler tun was der Physiklehrer so befiehlt. Der winkt wieder dem unbekannten Mitschüler in der ersten Reihe zu.

Einsammeln!

Schnell geht der Mitschüler Reihe für Reihe durch, sammelt alle Papiere ein und liefert sie vorne ab. Die Klassentür öffnet sich, herein kommt mein rechter Nachbar, der mir zuvor von rechts zugeflüstert hatte. Der Lehrer würdigt ihn keines Blickes. Der Mitschüler setzt sich rechts von mir an seinen Tisch. Er starrt nach vorne Richtung grüner Tafel. Die Anspannung, welche ich wegen dieser kurzen Prüfung spüre, interessiert den Lehrer nicht. Ich spüre sie wegen meinem schnellen Atmen und ich spüre auch das Atmen der Mitschüler ringsum. Der Lehrer steckt den Papierstapel in seine Aktentasche. Er schlägt im Physikbuch eine Seite auf, öffnet die Tafel und beginnt dort einen Text zu notieren. Laut referiert er in Richtung der Tafel über das nächste Kapitel welches im Physikbuch im Anschluss an die Lasertechnologie behandelt wird. Bis zum Ende der Stunde schreibt er die Tafel restlos voll. Dann teilt er die Aufgabennummern aus dem Physikbuch mit, welche bis zur morgigen nächsten Physikstunde in diesem Zusammenhang zu lösen sind. Der Gongschlag ertönt. Der Lehrer lässt sein Physikbuch in seiner schwarzen Aktentasche verschwinden und verlässt wortlos das Klassenzimmer. Meine Mitschüler und ich verräumen sämtliche Unterlagen dieser Stunde in unseren Taschen. Der Tisch wird nun vom nächsten Buch belegt, das ist Mathematik. Nach wenigen Minuten, ich spreche in dieser Zeit niemanden an und werde nicht angesprochen, sondern blicke einfach nur zum Fenster hinaus, erscheint der Platzfeger in seinem blau glänzenden, weit geöffneten Hemd. Der Mann spricht wenigstens ein Paar grüßende Worte.

Setzens erna, und san’s ruhig.

Musterung

Bereits um halb zwölf Uhr verlasse ich heute das Schulgebäude. Mit einer Kopie des Musterungsschreibens das mir im Sekretariat abgenommen, und vor meinen Augen in meiner Schulakte abgeheftet wird, verabschiede ich mich. Das Kreiswehrersatzamt finde ich in einem runtergekommenen, hohen, vom Straßenverkehr grau verschmutzten Gebäude an einer vielbefahrenen Kurve im unteren Teil der Kreisstadt. Im ersten Stockwerk dieses Hauses betrete ich durch eine weiße, hohe Schwingtür einen deckenhoch gefliesten Raum, der mit einem Tresen ausgestattet ist, dem gegenüber an der Wand eine Stuhlreihe steht. Dort sitzen eine Reihe junger Männer. Die meisten von ihnen haben ein Schreiben, wie ich es in meiner Schultasche habe, in der Hand. Ich setze mich auf einen freien Stuhl. Hinter dem Tresen befinden sich hohe Regale und ganz oben sehe ich ein paar Fenster, die mit gewelltem Milchglas verschlossen sind. Dass draußen jetzt die Sonne scheint lässt sich in dem hohen Raum nicht nachvollziehen. Das wenige Licht, das da oben einfällt bleibt unsichtbar, weil der gesamte Raum von der Eingangstüre bis zur Türe am Ende des langen Raumes mit drei Reihen Neonröhren durchzogen ist. Hinter dem Tresen laufen drei Frauen mittleren Alters auf und ab. Sie sortieren graue Papiere in den Regalen hinter sich in unterschiedliche Ordner ein. Hin und wieder holen sie aus einem Ordner ein Papier heraus, das sie auf den Tresen legen. Eine Frau sitzt an einem Tisch hinter dem Tresen, wo sie eine Schreibmaschine bearbeitet. Vor dem Tresen, nahe der Eingangstür, steht ein junger Mann. Er ist offenbar gerade an der Reihe. Er überreicht sein Musterungsschreiben. Er kramt in einer kleinen Tasche nach seinem grauen Personalausweis, den er in der Tasche findet und auf den Tresen legt. Die Frau prüft beides und schickt den jungen Mann weiter zur nächsten Frau am Ende des Tresens. Diese Frau übergibt dem Mann einen Plastikbecher und ein Papier. Sie deutet auf die Tür am Ende des Raumes. Durch die verlässt der Mann den Raum. Die Frau an der Schreibmaschine erhält nun von ersterer das Musterungsschreiben. Sie spannt einen neuen Bogen in die Maschine, tippt Daten, die sie von dem Musterungsschreiben abliest, ein, zieht anschließend den Bogen aus der Maschine, erhebt sich und übergibt den neu beschriebenen Bogen einschließlich dem Musterungsschreiben der Frau am Tresen. Die verschwindet nun mit beidem ebenfalls durch die Tür am Ende des Raumes. Wenige Minuten später erscheint sie wieder. Sie begibt sich hinter den Tresen, wo sie eine in einer Klarsichthülle steckende Liste studiert. Dann hebt sie den Blick zu der Stuhlreihe, auf der die jungen Männer einschließlich mir sitzen. Sie ruft einen Namen. Ein hagerer Typ, er sitzt links von mir, erhebt sich und begibt sich mit seinem Musterungsschreiben an den Tresen.

Zwei Räume weiter ziehe ich mich bis auf die Unterhose aus. Ich werde von einem Arzt, der nebenher Notizen in einem Formular macht, von Kopf bis Fuß vermessen und gewogen. Der Mann fragt mich nach Alkohol und Drogen, nimmt mir Blut ab, biegt mir beide Arme um, schlägt mir mit einem Hämmerchen gegen die Knie, leuchtet mir in die Augen und schickt mich zum Schluss auf die Toilette. Das Becherchen mit meinem Urin stelle ich dem Arzt Minuten später auf den Schreibtisch. Er weist mich an, mich wieder anzuziehen, die Untersuchung ist abgeschlossen. Er drückt mir sein Formblatt in die Hand und sagt lächelnd, dass ich voll tauglich sei, ich sollte nur darauf achten, mehr zu essen um an Körpergewicht zuzulegen. Er winkt mich hinaus aus seinem Untersuchungszimmer, das in diesem Moment vom nächsten jungen Mann betreten wird.

Draußen setze ich mich wieder auf einen Stuhl in der Stuhlreihe vor dem Tresen. Dort warte ich eine knappe halbe Stunde, bis ich von einer der Frauen an den Tresen gerufen werde. Ich lege das Formblatt mit den Untersuchungsergebnissen auf den Tresen. Die Frau gibt mir ein anderes graues Papier. Es ist eine abgestempelte Bestätigung, die beweist, dass ich heute hier bin. Der Stempel am rechten Ende des Papiers erinnert mich an den Reichsadler, den ich aus Geschichtsbüchern meiner früheren Schule kenne. Kurz finde ich es seltsam, dass die heute immer noch diese Symbole verwenden. Beim Falten des Blattes sehe ich da genauer hin und erkenne, dass es der Bundesadler ist. Wie ich das finden soll, wei0ß ich nicht. Ich stecke das gefaltete Papier in meine Schultasche.

Ich verlasse das Gebäude. Draußen lärmt die Straße. Schnell gehe ich durch die Kurve den Berg hinauf in den oberen Teil der Stadt. Das wäre nun also geschafft. Ich weiß noch nicht, ob ich darüber froh oder traurig sein soll. Das Ergebnis, dass ich für den Waffendienst voll tauglich sein werde, war mir von vorn herein klar. Ich bin drahtig und nicht völlig unsportlich, wenngleich ich den Sportunterricht an der Schule hasse, weil der einem militärischen Drill gleichkommt. Es war mir klar, dass Fälle von Untauglichkeit im Grunde nur bei attestierten, klaren oder chronischen Leiden vorkommen, oder bei festgestellten körperlichen oder anderen Behinderungen. Der Wehrdienst wurde vom Bundestag mit Beschluss durch die neue Regierung erst kürzlich auf künftig fünfzehn Monate verlängert. Prophezeit wird eine weitere Verlängerung in den kommenden Jahren auf voraussichtlich vierundzwanzig Monate. Wütend denke ich, dass dies mehr als genügend Zeit ist, um völlig zu verblöden. Mein früherer Freund in Berchtesgaden, Thomas erzählte mir oft wilde Geschichten von seiner Kompanie. Da ging es um irgendwelche sinnlosen Saufgelage, Wachschichten, Nachtschichten und irgendwelche Leute, die wegen irgendeinem Unsinn in eine Zelle gesperrt wurden. Die Langeile, die sich in den Monaten nach der Grundausbildung einstelle, die sich ausbreitende Sinnlosigkeit, so Thomas, das sei das schlimmste für ihn am Wehrdienst. Deshalb war Thomas froh, dass er mich und andere junge Leute in Berchtesgaden kennen lernen konnte, die mit seinem Wehrdienst nichts zu tun hatten.

Sinnlosigkeit und militärischer Drill ist das letzte, was ich brauche, denke ich während ich im Discounter Käse, Butter und Tomaten einkaufe. Mit der Vorstellung, dass ich täglich den Umgang mit so einem schweren Gewehr lernen müsste und üben sollte, damit auf Pappfiguren zu schießen, die dem Klischee nach den klassischen Russen darstellen, kann ich nichts anfangen. Außer diese Idee abzulehnen. Diese Vorstellung ist von mir sehr weit entfernt. Heute ist sie zum ersten Mal sehr nahe an mich herangerückt. Ich muss mich damit auseinandersetzen. Ich bin voll wehrfähig sagt der Arzt.

Gruppe

Pünktlich um sieben Uhr abends kommen Pete, Ida, Thomas und Martin. Sie sitzen auf meinem Sofa. Pete sitzt in meinem orangenfarbigen Sessel und ich sitze auf dem einzigen normalen Stuhl, den ich habe. Wir sitzen rund um meinen kleinen Wohnzimmertisch, auf dem ich in fünf Keramikbechern Tee ausschenke. Der Fußboden rund um den Tisch ist bald übersäht von Papieren. Wir besprechen den Inhalt von neuen Handzetteln, mit denen wir über die Menschenrechtssituation in Lateinamerika informieren wollen. Von dort stammt der Kaffee, den wir an den Verkaufständen am Wochenende anbieten.

Thomas hat einen Schreibblock auf den Knien, er führt das Protokoll der Besprechung. Am kommenden Samstag steht ein Verkaufsstand auf einem Marktplatz in einer nahegelegenen Gemeinde an. Thomas hat die amtlichen Formblätter der Gemeinde dabei. Der Jugendleiter hat die Genehmigungen eingeholt. Vor dem Treffen hatte Thomas sich das alles beim Jugendleiter abgeholt. Ein Problem besteht darin, dass der Bus des Jugendleiters am Samstag nicht zu haben ist, weil der damit auf ein Seminar fährt. Ich erkläre, das sei kein Problem, weil ich nun ein Auto hätte. Das löst in der Runde Staunen und Lachen aus.

Der gelbe Schrotthaufen vor dem Gartentor da draußen gehört also Dir! Und ich dachte schon, Deine Vermieter seien finanziell am Ende und haben ihren Fuhrpark gegen diese Rostlaube tauschen müssen.

Thomas lacht mich an.

Passt denn in den Kübel alles rein?

Ich hoffe es. Ausprobiert habe ich es noch nicht.

Ich könnte noch das Auto von meinem Vater leihen.

Das wäre sehr gut.

Thomas ist ein aufgeschlossener Typ, der eigentlich ständig lacht. Er war der erste Mensch, den ich in der Gegend der Kreisstadt kennen gelernt hatte. Ich traf ihn auf meiner Umzugsfahrt, er trampte. Ich hatte ihn bis zum nahegelegenen Hof seiner Eltern am Rande der Stadt mitgenommen. Von diesem Tag an, habe ich ihn regelmäßig getroffen. Im Herbst letzten Jahres ist er aktiv in die Verkauf- und Informationsarbeit an den Dritte-Welt-Verkaufsständen eingestiegen. Er ist am häufigsten dabei, im Grunde jedes Wochenende. Ich glaube er ist ein sogenannter „Alternativer“. Aber er ist kein Freak. Sondern er lebt sehr bewusst, isst nur bestimmte Dinge, macht eine Schreinerausbildung und hilft seinen Eltern viel in deren Töpferei. Ida und Pete hat Martin eines Tages mit zu den Verkaufsständen gebracht. Sie sind Geschwister und wirken auf mich manchmal fast noch kindlich. Sie sind begeistert davon in der Arbeitsgruppe mitzumachen. Seit Martin sie mitgebracht hatte, sind sie sind nicht ganz so oft wie Thomas, aber auch sehr häufig bei den Verkaufständen dabei. Ich glaube ihnen gefällt es, dass wir in der Gruppe etwas tun, das sich ganz allgemein gesagt, gegen die Ungerechtigkeit in dieser Welt richtet. Zudem glaube ich, dass Ida in Thomas verliebt ist. Ich glaube Thomas weiß das, aber er ist sich nicht sicher, ob er deren Liebe erwidern will.

Martin habe ich im Jugendbüro kennen gelernt. Er macht dort Zivildienst. An seinem ersten Arbeitstag hatte der Jugendleiter mich gebeten, mit Martin durch den Keller unterhalb des Jugendbüros zu stöbern. Ich habe ihm den Materialkeller gezeigt, in dem wir die Verkaufswaren der Dritte-Welt-Verkaufsstände lagern und ihm die Ordnung dort erklärt. Martin ist Einzelhandelskaufmann. Er hat die Ausbildung in der Großstadt gemacht und abgeschlossen. Nach seinem Zivildienst soll er in der Holzverarbeitungsfirma seines Vaters am Rande der Kreisstadt einsteigen. Martin ist sich noch nicht sicher ob er das wirklich machen will. Sein Vater spekuliert darauf, dass er die Firma eines Tages übernimmt. Martin aber möchte lieber Musikinstrumente verkaufen als Hölzer. Er sagt, dass er die Zeit seines Zivildienstes nutzen wird, um zu überlegen, welche Entscheidung für ihn die beste ist und wie er das mit seinem Vater bespricht. Ida und Pete leben mitten in der Kreisstadt in einer kleinen Wohnung bei ihrer Mutter. Wo deren Vater geblieben ist, weiß ich nicht, ich habe mit beiden darüber noch nicht gesprochen. Beide besuchen ein Mädchengymnasium. Ida schließt die Schule voraussichtlich in diesem Jahr ab, während Pete nächstes Jahr dran ist.

Ich bin sehr froh, diese Leute kennen gelernt zu haben. Am Anfang in der Stadt, vor etwas mehr als einem halben Jahr, hatte ich mich eine Zeitlang richtig einsam gefühlt. Das ist jetzt nicht mehr so schlimm, wegen dieser Bekannten und den regelmäßigen Treffen.

Um kurz nach drei Uhr Nachts liege ich wieder wach auf meinen drei kleinen Matratzen aus dem alten Jugendkeller. Der Wecker tickt aber seltsam. Ich höre nur ein leichtes klack, klack, klack. Er zeigt elf Uhr an, auf meiner Armbanduhr ist es aber viertel nach Drei. Ich ziehe den Wecker auf und stelle ihn auf viertel nach Drei. Im Zimmer und im Haus ist es absolut still. In einer Minute muss der drei Uhr sechzehn Zug Richtung Österreich hinter dem Haus vorbeidonnern. Ich bleibe noch liegen und finde an der Wand wieder die Linie von Licht und Schatten. Sie bewegt sich heute kaum. Es ist ein ganz feines Wippen das ich nur erkenne, weil ich länger hinsehe. Jetzt kommt der Zug. Auf seinem Weg ins Ausland lärmt er durch die Nacht. Heute Nacht ist im Moulin Rouge wenig los. Auf dem Parkplatz stehen nur zwei Autos.

Erstmals seit einer Woche entfache ich wieder ein kleines Feuerchen. Meine Steine rund um die Feuerstelle sind nicht weggespült worden. Der Platz unter der Brücke ist noch voll von Schlamm, der aber im Laufe des Tages angetrocknet ist. Das Holz unter meiner Plane ist im Laufe der stürmischen Woche feucht geworden. Das Feuerchen ist etwas widerspenstig. Als es endlich brennt, beginnt es zu qualmen. Aber das ist um diese Uhrzeit wohl egal, denn oben auf der Brücke fährt kein Mensch um diese Zeit, den das stören könnte. Die Nacht ist stockdunkel, der Mond kommt erst um vier, bis dahin ist das Feuer heiß genug und es raucht nicht mehr. Die Taschenlampe ist mit den neuen Batterien, die ich im Discounter bekommen habe, fast zu hell. An diese Helligkeit der Lampe kann ich mich nicht erinnern und ich muss mich daran erst gewöhnen.

Ich setzte mich auf meinen kleinen Felsbrocken, direkt vor das Feuer. Aus meinem kleinen Rucksack nehme ich das Buch und beginne zu lesen. Die Lampe ist zu hell. Die Seiten reflektieren so stark, dass ich sie kaum lesen kann. Das Feuerchen brennt jetzt gut, es wärmt schon richtig. Das Licht vom Feuer reicht gerade aus, um zu lesen. Trotzdem zünde ich noch die dicke Stumpenkerze an, die ich an ihren Platz auf dem Felsen neben dem Feuer stelle. Ich schlage das Kapitel im Buch auf, das morgen dran kommt. Der Text ist trocken und langweilig. Ich spüre, wie wenig mich das interessiert. Aber es muss sein. Jeden Satz lese ich zwei Mal. Es ist eine absolut trockene Materie. Es geht um Materialkunde, um die Beschaffenheit verschiedener Werkstoffe, um deren spezifische Gewichte, deren Dichte und so weiter. Ich merke, dass ich mich kaum konzentrieren kann. Ich lese jeden Satz, jede Maßangabe drei, vier Mal und versuche mir die Zuordnungen zu den beschriebenen Materialien einzuprägen. Langsam wird es besser und klarer in meinem Kopf. Ich fange noch mal von vorne zu lesen an. Ich stelle fest, dass ich das gerade eben bereits gelesen habe. Es muss also etwas hängen geblieben sein. Ich spreche jetzt laut mit. Ich muss mir diesen ganzen Mist doch merken können! Andere können das doch auch.

Später sehe ich auf meine Uhr. Es ist halb fünf. Ich lebe noch mal Holz nach. Aus meinem Rucksack nehme ich jetzt das Physikbuch und den großen Rechenblock. Ich schlage die gestern am Ende der Stunde markierte Seite auf. Dort finde ich die Übungsaufgaben, von denen der Physiklehrer gesprochen. Jetzt arbeite ich eine Aufgabe nach der nächsten ab. Um viertel nach sechs hole ich den alten Blechkübel. Ich stülpe ihn über die kleine Feuerstelle, die ich zuvor ein bisschen mit einem Stock zusammenschiebe. Auf den Blechkübel lege ich den großen Stein. Mit der Taschenlampe leuchte ich den Boden ab. Dann mache ich mich auf den Rückweg. Um kurz vor sieben stehe ich unter der Dusche in Frau Stößers Haus. Draußen ist es bereits hell geworden.

Fahrt mit Begleitung

Abends fahre ich zu einem kurzen Abendseminar, das der Jugendleiter in einem nahegelegenen Dorf in der Nähe der Kreisstadt organisiert. Ich hole Ida und Pete vor dem Haus bei deren Mutter ab. Sie steigen in den gelben Opel-Kadett und los geht’s. Es ist die erste Autofahrt dieser Art. Ich fahre sehr vorsichtig, denn ich habe noch nie Passagiere befördert.

Es scheint nun endlich Frühling zu werden. Die tiefstehende Sonne strahlt, rechts und links der Straße ist es grün, gelber Löwenzahn sprießt am Straßenrand. Ich lenke den Wagen zuerst zurück in Richtung meines Zimmers im Haus von Frau Stößer. Unten am Fluss biege ich aber nicht Richtung Frau Stößer ab, sondern fahre geradeaus weiter. Hinauf durch den Wald überquere ich die Brücke unter der meine Feuerstelle liegt. Ich fahre zügig, aber nicht zu schnell. Ich versuche ein angemessenes Tempo zu fahren. Meine innere Aufregung über diese erste Autofahrt mit Begleitung in meinem ersten Auto verberge ich. Ich glaube es wirkt beruhigend, wenn ich einen möglichst routinierten Eindruck als Fahrer erwecke. Ich versuche das, obwohl ich überhaupt keine Routine habe. Denn mein Führerschein ist erst wenig mehr als ein knappes halbes Jahr alt. Das Auto habe ich seit zehn Tagen. Von Routine kann da dar keine Rege sein. Ich versuche Routine vorzutäuschen, indem ich möglichst vorausschauend fahre. Kein abruptes Manöver. Frühzeitiges, weiches Bremsen. Nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig Gas. Auf keinen Fall beim Anfahren das Auto abwürgen. Es ist gut, dass ich das alte Radio vom Schrottplatz im Handschuhfach eingebaut habe. Die Einbaumulde für das Radio ist leer. Das sieht so aus, als habe dieses Auto noch kein Radio. Sehr gut, denn das Getöse aus dem Radio, könnte die Konzentration auf den routinierten Fahrstil, den ich vortäuschen möchte, erschweren.

Pete, die neben mir sitzt, scheint das alles nicht zu interessieren. Wie ich dieses Gefährt steuere scheint ihr egal zu sein. Nein, es scheint für sie klar, vielleicht sogar selbstverständlich zu sein, dass ich einen routinierten Fahrstil habe. Es scheint für sie völlig eindeutig zu sein, dass wir sicher dort ankommen werden, wohin wir heute fahren wollen. Anstatt auf meinen Fahrstil meiner ersten Autofahrt mit Begleitung zu achten, fragt sie mich, wie ich finde, ein paar lustige Dinge. Ob ich ein Musikinstrument spiele, ob ich ein Fahrrad habe mit dem ich auch mal fahre, anstatt mit dem Auto (sie weiß genau, dass ich, bevor ich letzte Woche dieses Auto gekauft habe, so gut wie alles mit dem Fahrrad gefahren bin), wie viel das Auto gekostet hat, wie lange ich den Führerschein schon habe, wann ich zum ersten Mal Autogefahren sei, warum den da kein Radio in diesem Loch mit den vielen Kabeln drin stecke und noch einiges mehr. Sie ist neugierig. Sie fragt so viel, dass ich nicht jede Frage antworten kann, und offenbar auch gar nicht antworten muss, weil gleich ihre nächste Frage kommt. Das ist gut, denn so kann ich ihre Frage nach dem Radio einfach unbeantwortet lassen. Sofort kommt ihre nächste Frage. Was ich denn bei Frau Stößer für eine Miete bezahle, seit wenn ich dort wohne, wo ich zuvor gewohnt habe, warum ich da ganz allein wohne, warum ich kein eigenes Telefon habe, wieso Frau Stößer gleich zwei Garagen hat, warum sie mir nicht einfach eins von ihren zwei Autos leihe, weshalb ich denn ein eigenes bräuchte, seit wann ich diese Verkaufsstände mit Thomas organisiere, wie ich Thomas kennen gelernt habe.

Petes Fragenkatalog ist unerschöpflich, aber sie erwartet nicht auf jede Frage eine Antwort. Mit jeder Frage lächelt sie mich an. Ida sitzt hinten rechts. Sie hält sich zurück. Von ihr höre ich im Vergleich zu Pete so gut wie nichts. Thomas ist mit dem Jugendleiter zusammen im Bus unterwegs in den Ort des heutigen Seminars. Das erklärt Ida, nachdem ich in einer kurzen Pause von Pete nachfrage, warum wir eigentlich Thomas und Martin nicht auch mitnehmen. Martin sei schon in dem Ort, wo er den Raum für das heutige Seminar vorbereite, erklärt Ida. Das habe sie von Thomas am Telefon erfahren.

Das Seminar dauert zwei Stunden von neunzehn bis einundzwanzig Uhr. Ich finde es sehr langweilig. Vielleicht liegt es daran, dass ich sehr müde bin. Der Jugendleiter spricht über Aufsichtspflicht. Das tut er routiniert, fast ein bisschen gelangweilt. Es geht darum, dass wir auf der geplanten Kinderferienmaßnahme wissen, in welchen Situationen wir die Aufsichtspflicht verletzen und worauf wir zu achten haben, um dies nicht zu tun. Nach dem Seminar werden Termine vereinbart, zur weiteren Vorbereitung der Kinderferienmaßnahme. Weil ich zusammen mit dem Jugendleiter diese Maßnahme leiten werde, zücken wir beide unsere Terminkalender und stimmen mit den Seminarteilnehmern, also auch mit Ida, Pete, Martin und Thomas unsere Termine ab. Das nächste Seminar wird einen ganzen Samstag lang dauern. Es geht darum, die Ferienmaßnahme abschließend zu planen und vorzubereiten. Ida und Pete fahren auf dem Rückweg mit Thomas und Martin im Bus des Jugendleiters mit. Das ergibt sich auf dem Parkplatz vor dem Seminarraum. Und es scheint, als ergebe sich das automatisch so.

In der Dunkelheit bin ich froh festzustellen, dass die Beleuchtung am Auto einwandfrei funktioniert. Das Problem mit der Lichtmaschine scheint vorbei zu sein. In meinem Zimmer bei Frau Stößer herrscht die überwiegende Zeit Schweigen. Ich kenne die Ruhe und ich kenne die Nachdenklichkeit, die sich einstellt, wenn Ruhe herrscht. Ich muss mich auf die spärlich von meinem Wagen ausgeleuchtete Straße konzentrieren. Meinen Blick wende ich nicht von ihr ab. Die Straße ist kurvenreich und manchmal wird sie sehr eng. Sie führt durch einen Wald. Meine Hände umklammern fest das Lenkrad um dem Zug des Lenkrades nach rechts entgegenzusteuern. Ich lenke das Auto durch eine steile Linkskurve, vor der ich sanft aber bestimmt abgebremst habe. Ich kenne die Strecke kaum. Ich bin hier noch nie mit dem Auto gefahren. Beinahe nirgendwo in der Gegend bin ich bislang mit dem Auto unterwegs gewesen, abgesehen von der Autobahn zurück zu Frau Stößer und vom Autoverkäufer zu Frau Stößer. Im Grunde kenne ich die Straßen aus Sicht des Autofahrers nicht.

Im vergangenen Jahr, im Herbst, kurz nach dem Ende der Ferien mit der Abiturientengruppe in Griechenland, war ich auf dieser Straße an einem Sonntagnachmittag mal mit dem Fahrrad unterwegs gewesen. Die Strecke ist sehr wenig befahren. Ich freute mich deshalb über die gute Fahrradroute, die ich an dem Sonntag gefunden hatte. Ich durchquerte mit dem Fahrrad auch den Ort in dem das heutige Seminar stattgefunden hatte. Die Strecke führt danach noch etwa fünf Kilometer weiter bevor sie auf eine vielbefahrene Bundesstraße trifft. Bis dorthin fuhr ich mit dem Rad. Ich mag es, solche kurzen Touren auf solchen ruhigen Straßen zu machen. Unvorbereitet, ohne Karte, ohne Plan, einfach mal drauf los und sehen was kommt. Das finde ich gut. Das ist in dieser Gegend möglich, denn es gibt viele kleine Strecken, auf denen kaum Autos fahren. Jedoch enden diese Routen meist abrupt auf großen Bundesstraßen. Das könnte ein guter Grund sein, irgendwann eine Karte der Gegend zu kaufen. Mein Fahrrad ist inzwischen alt geworden. Es hat nur drei Gänge und wirkt deshalb in der hügeligen Landschaft mit den teils sehr steilen Straßen etwas anachronistisch. Da fällt mir Thomas ein. Was der fährt ist wirklich alt und objektiv unzeitgemäß. Sein Fahrrad ist ein uraltes Opafahrrad, schwarz und riesig, ohne Gangschaltung. Dagegen ist mein rotes Dreigangfahrrad moderner Luxus.

Plötzlich höre ich ein leises Schluchzen. Es kommt von Pete. Sie sitzt im Wagen neben mir. Es hört sich an, als weine sie. Was hat sie? Warum sitzt sie da neben mir. War sie nicht zusammen mit Ida im Bus des Jugendleiters gemeinsam mit Martin und Thomas zurück in die Kreisstadt unterwegs? Jetzt höre ich das Schluchzen noch mal, es ist eindeutig. Es ist Pete, die da neben mir sitzt. Sie fragt mich nicht, wie auf der Hinfahrt, sondern sie weint. Warum? Was ist mit ihr passiert. Warum sitzt sie plötzlich wieder neben mir im Auto?

Soll ich anhalten? Was ist mit dir los? Nichts, es hat nichts mit dir zu tun. Aber warum weinst du? Ach, es ist nichts, ich werde manchmal beim Autofahren traurig. Traurig? Das scheint mir aber mehr zu sein. Warum? Es tut mir Leid. Es hat nichts mit Dir zu tun. Willst du es mir nicht sagen? Nein, es hat nichts mit dir zu tun. Aber du kannst es mir ja trotzdem sagen. Nein ich möchte nicht. Jetzt überquere ich die Brücke über meiner Feuerstelle. Das ist schade, vielleicht könnte ich dir ja irgendwie helfen. Nein, das möchte ich nicht. Brauchst du ein Taschentuch? Nein danke, ich hab eines.

Ich lenke den gelben Opel jetzt über den Fluss, biege nicht nach links zu Frau Stößer ab, sondern fahre gerade aus in Richtung der Oberstadt. Die ersten Straßenlampen sind erreicht. Die erste Ampel ist grün, ich biege rechts ab und fahre durch die Kurve am Kreiswehrersatzamt vorbei hinauf. Die Ampel oben ist auch grün. Ich biege rechts ab, setze den Blinker gleich wieder nach rechts und biege in die Zufahrt zum Haus in dem die Wohnung von Ida, Pete und ihrer Mutter liegt. Dort stelle ich den Motor ab.

Willst du wirklich nicht darüber reden? Pete wischt sich mit dem Taschentuch die Augen trocken. Nein, wirklich nicht, Entschuldigung. Na gut, wie du meinst. Vielen Dank dass du mich hergebracht hast. Na klar doch. Also dann, bis bald. Pete reicht mir ihre Hand. Sie ist klein, warm und weich. Grüße Ida noch mal schön, bis bald, tschüßchen! Ja mache ich tschüßi!

Pete knallt die Autotüre zu. Sie dreht sich dem Haus zu und verschwindet sogleich im Hauseingang. Seltsam ist das. Ich starte den Motor starte um das Auto vor dem Haus zu wenden. Was sollte das jetzt sein? Hat das was mit mir zu tun? Obwohl Pete mehrmals betonte, dass es nichts mit mir zu tun habe, frage ich mich das. Petes Verhalten und Antwort war für mich so wenig begreifbar oder einschätzbar, dass mir jetzt ein ganz schlechtes Gefühl übrig bleibt. Was ist mit dieser Frau los? Warum diese Rückfahrt, nach ihrer lebendigen Fragerei während der Hinfahrt?

Ich erreiche das Gartentor von Frau Stößer. Ich parke das Auto direkt davor. Das ist mein mit Frau Stößer vereinbarter Parkplatz. Jetzt fällt mir die Kinderferienmaßnahme ein. Ob es überhaupt Sinn macht, jemanden wie Pete auf solch eine Maßnahme als ehrenamtliche Mitarbeiterin mitzunehmen? Ich weiß nicht, was mit ihr los ist. Die Heimfahrt mit ihr hat mich verunsichert. Vielleicht kommt so etwas auch auf der Kinderferienmaßnahme vor? Wenn sie dann auch nicht darüber sprechen will, was ist dann zu tun?

Ich krame meinen Schlüssel hervor, blicke auf meine Armbanduhr. Zweiundzwanziguhrfünfzehn. Ich schmiere mir in der kleinen Küche ein paar Butterbrote, schäle eine Gurke und schneide sie in Scheiben. Mit diesem Abendbrot setze ich mich auf das Sofa. Um fünf vor halb elf schalte ich den Fernseher ein. Nach fünf Minuten erscheint das Bild des Nachrichtensprechers. Die Helligkeit des Bildes schwankt mehrfach zwischen schwarz und weiß hin und her und beginnt schließlich zu flackern, bis es völlig verschwindet. Ich stelle den Teller auf den Tisch, gehe zu dem Apparat und klopfe oben drauf. Das Bild erscheint wieder, es sieht abgesehen von einem hellen Streifen am oberen Bildrand fast perfekt aus. Ich setze mich wieder. Die Umstellung des Bafög für Studenten auf voll rückzahlbares Darlehen scheint fast beschlossene Sache zu sein. Von der neuen Bundesregierung wird ein Gesetzentwurf dafür vorbereitet. Das könnte in einigen Jahren richtig teuer für mich werden. Die Verlängerung von Wehr- und Ersatzdienst ist ebenfalls auf den Weg gebracht.

Der helle Streifen an der Zimmerdecke, an der Grenze zu dem dunklen Bereich, bewegt sich wie eine feine Welle, die kommt und geht. Das grüne Ziffernblatt auf dem Wecker zeigt halb drei Uhr an. Ich spüre die drei kleinen Matratzen unter meinem Rücken. Ich schwitze. Ich bin froh, dass der Traum vorbei ist. Minutenlang liege ich da. Zunächst denke ich nicht daran, dass es ein Traum gewesen sein könnte. Sekunden glaube ich, dass ich wirklich zusammen mit Pete im Auto am Abend nach hause gefahren war. Nach den Sekunden, ich erkenne die Dachschräge im Zimmer von Frau Stößer, verschwimmt das Bild. Ich erinnere mich, während ich noch Pete neben mir sitzen sehe, kurz bevor sie aus dem Wagen steigt, dass es ganz anders gewesen war. Ich war allein nach hause gefahren. Ich war froh, allein fahren zu können, denn der Beleuchtung des gelben Opel-Kadett bei Nacht traue ich nicht. Ich fand den Vorschlag gut, dass beide im Bus mitfahren, zumal das Büro des Jugendleiters, vor dem er den Bus immer parkt, ganz in der Nähe der Wohnung von Ida und Pete liegt. Sekunden später, es ist in dem Moment in dem ich den Blick in der Dunkelheit des Zimmers auf den grünen Wecker richte, erinnere ich mich an alles, was gestern Abend tatsächlich geschah. Das Licht am Opel-Kadett war während der Fahrt schwächer und schwächer geworden. Die rote Leuchte am Armaturenbrett zeigte an, dass der Ladestrom für die Batterie zu schwach geworden war. Ich steuerte den Wagen so schnell wie möglich durch die Dunkelheit, schließlich war ich erleichtert, als ich die Kreisstadt und deren Straßenbeleuchtung erreicht hatte.

Eine Fahrradtour

Der Physiklehrer verteilt die Extemporale stets in der nachfolgenden Stunde. Das tut er auch, wenn die nächste Stunde schon am nächsten Tag stattfindet. Die Klassenarbeiten werden in dieser Schule immer zum Ende der Stunde zurückgegeben. Sie werden in den letzten fünf Minuten einer Stunde verteilt.

Das ist anders als an meiner vorherigen Schule in Berchtesgaden. Dort wurden die Arbeiten immer am Anfang der Stunde zurückgegeben. Die Lehrer korrigierten die Arbeiten gemeinsam mit der Schulklasse. Der Lehrer schrieb die Ergebnisse an die Tafel. Er ließ sich bei der Ergebnissuche von der Klasse helfen, zumindest versuchte er dass. Es ging darum, dass möglichst viele derjenigen Schüler in die Erarbeitung der Lösung einbezogen wurden, die in der Prüfung keine richtigen Lösungen gefunden hatten. Das Ergebnis, vor allem den Weg dorthin, erklärte der Lehrer. Hin und wieder verwies er auf Irrwege, die mancher von uns Schülern in der Klassenarbeit eingeschlagen hatte. Gut an dieser Methode fand ich, dass ich meist während und nach dieser Korrekturarbeit die Zusammenhänge und Lösungswege verstand. Schlecht daran war, dass mir dieses Verstehen keinerlei Nutzen mehr brachte. Denn meine schlechte Note hatte ich in der Prüfung je bereits kassiert. Der Lösungsweg, den ich danach verstanden hatte, war zwar interessant, verbesserte aber meine Note nicht. In der nächsten Extemporale oder Prüfungsarbeit ging das gleiche Spielchen dann wieder von vorne los. Was ich zuvor mit der gemeinsamen Korrektur der letzten Arbeit gelernt hatte, brachte mir in der nächsten Arbeit nur sehr geringen Nutzen, denn es kam so gut wie nie vor, dass zwischen der einen und der nächsten Arbeit ein Zusammenhang bestand. Die behandelte Materie und die erarbeiteten Lösungswege waren stets völlig anders geworden. Dieses Phänomen erstaunte mich die gesamte Schulzeit. In Berchtesgaden wunderte ich mich darüber, wie wenig der in der Schule durchgeschleifte Lernstoff aufeinander aufbaute.

In der Schule für Technologie in der Kreisstadt setzen die Lehrer eins drauf, indem sie offenbar auf Verständnis von Zusammenhängen oder gemeinsames Arbeiten generell keinerlei Wert legen. Ziel scheint zu sein, dass jeder Schüler selbst begreift, wie etwas funktioniert. Jeder in dieser Schule ist seines Glückes Schmied. Das sagte Anfangs einmal der Lehrer in Deutsch. So etwas habe ich auf keiner Schule zuvor von einem Deutschlehrer gehört. Das sagte mir, dass hier etwas anders ist. Deshalb sah ich von Beginn an sehr genau hin.

Ich tue mir sehr schwer. Jede Nacht hämmere ich das blanke Wissen in meinen Kopf. Verstehen tu ich dabei aber nichts. Es geht ausschließlich darum, dass der Kopf das Wissen für kurze Zeit behält, um es in der Schularbeit wieder ausspucken zu können. Danach interessiert das nicht mehr. Mein tägliches, konsequentes Training solchen Verhaltens ist meine Chance, eine akzeptable Note zu bekommen. Ich muss zusätzlich noch das große Glück haben, exakt in dem Moment, genau in der viertel Stunde, wenn die Extemporale geschrieben wird, das in meinem Kopf eingemeißelte Wissen noch zu finden, welches abgefragt wird. Vielleicht meinte das der Deutschlehrer mit dem Schmied und dem Glück? An dieser Schule muss der Schmied unheimliches Glück haben. Das Hämmern, so könnte der Deutschlehrer das gemeint haben ist notwendig, damit der Schmied sein wissen behält, dann braucht er noch das Glück es rechtzeitig auszukotzen, um danach weiter zu hämmern. Das exakte Timing beim Auskotzen meines Hirninhaltes ist meine Kernaufgabe. Auf die verwende ich all meine Energie in dieser Schule.

Ich versuche mein Glück zu beeinflussen. Das Glück, Wissen dann parat zu haben, wenn es ausgekotzt werden soll. Ich sehe genau hin. Was deutet der Lehrer an? Wie ist er gestrickt? Wann lässt er die Arbeit schreiben? Das gelingt mir momentan schon besser als zu Beginn auf dieser Schule. Nachts hämmere ich in mein Hirn gezielt für diejenigen Stunden, in denen ich glaube an Signalen des Lehrers erkannt zu haben, dass das Auskotzen in der nächsten Stunde wieder gefragt ist.

Ich gehe davon aus, dass die Zukunft für mich genau dieses Bild der Arbeitswelt sein wird. Ich lerne in meiner Schule in der Kreisstadt, wie die berufliche Welt aussieht. Es ist eine Schule, von jungen Leuten wie mir, die teils bereits erwachsen sind, oder es gerade werden, besucht wird. Es ist eine ganz andere Schule, als meine vorhergehenden Schulen. Hier sehe ich, wie meine berufliche Zukunft als Erwachsener aussehen wird. Ich sehe, dass es vorbei ist mit der Förderung durch Lehrer und deren Willen auf mich zuzukommen, um mich zu unterstützen. Die erwachsene Zukunft läuft ohne Menschen ab, die andere unterstützen wollen. Jeder in meiner beruflichen Zukunft in diesem Land ist seines Glückes Schmied. Das meinte der Deutschlehrer! Was ich hier täglich sehe ist meine berufliche Wahrheit. In meiner Zukunft ist jeder sich selbst am Nächsten. Deshalb brüte ich nächtelang allein vor den Büchern.

Der Physiklehrer lotst wieder den Schüler, dessen Name ihn nicht interessiert, zu sich. Er drückt ihm den Stapel seiner korrigierten Arbeiten in die Hand und weist ihn an, das zu verteilen. Danach packt er sein Physikbuch in seinen schwarzen Aktenkoffer. Wort- und Grußlos verlässt er das Klassenzimmer. Ich habe eine Drei. Das ist mehr als ich erwartet habe. Das bringt mich weiter. Ich könnte es schaffen an dieser Schule. Ich habe einen Weg gefunden. Anfangs hatte ich nur Fünfen. Jetzt werden es mehr und mehr Dreier. Ich brauche viel Kraft. Aber ich könnte es schaffen. Ich bin jetzt knapp ein dreiviertel Jahr auf dieser Schule. Was besser wird, sind meine Noten. Was schlechter wird ist mein Verstehen. Ich sehe kaum Zusammenhänge mehr. Deshalb verstehe ich in dieser Schule immer weniger. Ich kann das schaffen! Es ist meine Zukunft.

Das Fahrrad läuft wie geschmiert. Ich habe einige Tropfen Getriebeöl vom gelben Opel-Kadett verwendet, um damit die Kette zu ölen. Das Getriebeöl sammle ich in einer Plastikwanne. Die habe ich am vergangenen Wochenende fest unter dem Auto unterhalb des Getriebes angebracht. Nach jeder Fahrt laufen aus dem Getriebe vier, fünf Öltropfen heraus. Sie laufen stets an der gleichen Stelle herunter. Dort habe ich eine alte Plastikwanne angebracht.

Thomas kommt mit seinem schwarzen Opafahrrad. Ich stehe mit meinem Fahrrad vor der Doppelgarage vor Frau Stößers Haus. Die Satteltaschen sind schon etwas morsch. Ich hatte sie von den Pflegeeltern zu meinem vierzehnten Geburtstag zusammen mit dem Fahrrad bekommen. Ein Lederriemen ist abgerissen. Ich fummle an einem Stück Paketschnur herum, durch das ich den Lederriemen notdürftig ersetzen will. Thomas beäugt mein Tun skeptisch. Schließlich verständigen wir uns darauf, dass er es mit einem Stück Zeltschnur, das er von seinem mitgebrachten Zelt erübrigen kann, versucht. Im Gegenzug biete ich an auch seine Fahrradkette mit wenigen Tropfen Getriebeöl zu versorgen. Ich krieche noch mal unter den Opel, nehme vorsichtig die Wanne ab und tupfe einige Getriebeöltropfen auf Thomas Fahrradkette. Thomas schafft es, die Satteltasche mit dem Stück Zeltschnur gut an meinem Gepäckträger zu befestigen. Er kennt feste Knoten, die sicher sind, sich aber wieder gut öffnen lassen. Ich habe davon keine Ahnung.

Thomas Onkel hat ein Segelboot an einem Steg am See. Der See ist das Ziel, das wir heute ansteuern wollen. Es ist ein spontan vereinbarter Ausflug. Genau so etwas, das ich liebe, keine lange Planung, keine wochenlange Terminvereinbarung, einfach los. Vormittags hatten wir den Verkaufsstand auf einem Marktplatz aufgebaut. Dort vereinbarten wir uns, angeregt durch das gute Wetter, zu der kleinen Frühlingsradtour am späten Nachmittag. Die Radtasche hält, was Thomas verspricht. Da fehlt sich nix, sagt er. Los geht’s. Wir fahren die steile Bergstraße hinter dem Wald hinunter zum Fluss. Danach geht es über die Brücke hinauf durch die Kurve vorbei am Kreiswehrersatzamt, an der Ampel rechts und hinein in die Einfahrt zu Ida und Pete. Beide stehen mit ihren Rädern vor dem Haus. Sie sind damit beschäftigt, Zelt, Schlafsack und Isomatten auf den Fahrradgepäckträgern zu verstauen. Mein erster Blick auf deren Fahrräder betrifft die Fahrradketten. Nach dem langen Winter sind die meist in bösem Zustand. Ich habe das mit Getriebeöl getränkte Papiertaschentuch in eine kleine Plastiktüte gesteckt und mitgenommen. Damit öle ich nun auch die Ketten der Räder von Ida und Pete.

Wir fahren auf schönen, ruhigen, abgelegenen Wegen, die Thomas gut kennt. Er lebt seit vielen Jahren in der Gegend. Er fährt immer mit dem Fahrrad, es sei denn, es stürmt, schneit oder schüttet wie aus Eimern. Das Treten sei traumhaft, meint Thomas. Das so wenig Öl so viel ausmache. Ich denke, dass Thomas mit diesem Fahrrad in dieser Gegen ein klarer Exot ist. Das sucht schon seines Gleichen. So ein Fahrrad! Er merkte nicht, wie schwerfällig seine Fahrradkette ohne einen Tropfen Öl war. Das passt zu seiner Art und zu seinem Fahrrad. Das geht jetzt ja viel leichter! So ruft der, während er munter einen steilen Schotterweg zwischen Feld- und Waldrand hinaufstrampelt. Ohne Gangschaltung in dieser Gegen zu fahren, da gehört schon ein gehöriges Maß Gewohnheit dazu.

Das Rad von Ida oder von Pete quietscht. Sie fahren zwischen Thomas, der vorne weg fährt und mir. Es ist wahrscheinlich das Tretlager von Idas Rad. Ich höre es regelmäßig. Das ist ein Nachteil an der Spontanität. Ich bin noch nicht auf Fahrradfahren eingestellt. Der Winter hatte sich lange hingezogen. Es ist das erste sonnige Frühlingswochenende. Mein Fahrradwerkzeug habe ich im Schrank im Zimmer vergessen. Dort habe ich auch eine winzige Ölflasche. Immerhin habe ich die Luftpumpe dabei. Ob ich das Tretlager auch mit dem Taschentuch Getriebeöl zum Schweigen bringen kann?

Der Winter gewöhnt dem Körper die Bewegung ab. Die nasse Kälte, der viele Regen, der matschige Schnee. Eigentlich hasse ich das. Wenn man im Winter nicht Ski fährt ist man hier in der Gegend falsch. Der viele Matsch und Dreck, manchmal Eis und das Tauwasser, das hat wenig Sinn. Den gesamten Winter hindurch ging es auf und ab. Kaum hatte es ordentlich geschneit, taute alles wieder weg um tagelang zu regnen. Später find es dann wieder an zu schneien. Die Kreisstadt, das wird immer wieder in der Zeitung geschrieben liege in einem Kälteloch. Hier zieht sich der Winter besonders lange hin. Sind dreißig Kilometer weiter schon grüne Wiesen zu sehen, kann sich in der Kreisstadt immer noch eine schwer, nasse Schneedecke bilden. Damit ist es jetzt für dieses Jahr vorbei. Wir fahren auf sonnigen Wegen über Hügel und durch Täler. In einer kurzen Pause sehe ich nach Idas Pedalen. Ich schmiere das letzte Öl vom Taschentuch dort hin. Aber weil das Getriebeöl zähflüssig ist, habe ich kaum Hoffnung. Ich ärgere mich, dass ich das Fahrradwerkzeug und das Öl nicht dabei habe. Ein bisschen fließendes Öl müsste dort am Pedal in das Tretlager hineinlaufen und das Quietschen beim Treten wäre vorbei. Im Sommer könnte die Hitze reichen um das Getriebeöl in das Tretlager laufen zu lassen. Dafür ist es noch zu kühl. Wir fahren weiter, das Quietschen endet nicht.

Der See liegt wunderschön. In einem riesigen Tal breitet er sich aus. Lange bevor wir ihn erreichen, können wir ihn sehen. Thomas kennt einen hübschen Rundweg, auf dem wir eine zeitlang mit herrlicher Aussicht auf den See entlang fahren. Thomas hat Idas Gepäck fest mit einer weiteren Zeltschnur an deren Fahrradgepäckträger angebunden. Während eines holprigeren Teils der Strecke war alles heruntergefallen. Thomas kümmerte sich sofort darum. Er ist ein Meister darin Gepäckstücke, oder Dinge jeder Art zu befestigen oder zu verstauen. Das erinnert mich an meine Umzugsfahrt vom Berchtesgaden nach Traunstein. Da hatte ich ihn erstmals getroffen. Mit seinem Fahrrad stand er am Straßenrand. Wegen seines platten Fahrradreifens stand er da und ich nahm ihn mit. Er packte mein Umzugsgut neu in den Wagen ein, so dass wir sein Fahrrad auch mitnehmen konnten. Thomas ist ein geduldiger Tüftler und Bastler. Wenn wir den Verkaufsstand auf einem Markplatz aufbauen, hat er die besten Ideen, wie wir uns am effektivsten vor Wind und Regen schützen. Er weiß immer, welche Schnur wie zu spannen ist, damit bei Regen und Schnee nichts nass wird.

Das Grundstück am See beim Steg von Thomas Onkel liegt zwischen hohen Birken und Buchen. Die tragen aber noch keine Blätter, deshalb erwischen wir dort noch eine schöne, wärmende Abendsonne. Gemeinsam bauen wir die beiden Zelte auf. Zuerst das von Ida und Pete, die Hilfe brauchen, weil sie dieses Zelt noch nie benutzt haben. Sie haben es von einem Nachbarn geliehen. Das Zelt ist genauso simpel aufzubauen, wie das von Thomas. Gemeinsam schaffen wir das schnell. Aber der alte Reißverschluss macht Ärger. Thomas erklärt, dass die Dinger im Winter im Keller gerne vor sich hin korrodieren und dann im Frühjahr nicht mehr funktionieren wollen. Man müsste sie regelmäßig mit Talg einreiben, was heutzutage aber kein Mensch mehr habe, geschweige denn anwende. Thomas ist geduldig mit dem Reißverschluss und er schafft es ihn wieder in Gang zu bringen.

Auf dem Areal sammeln wir Äste ein. Direkt am Wasser gibt es eine kleine Feuerstelle. Ich bin überrascht, wie viel trockenes Holz Thomas findet. Er sagt, das Holz sei trocken, weil es alt sei. Je älter, desto leichter und trockener sei es. Vom Regen nehme das kaum Wasser auf. Allerdings sei sein Brennwert auch sehr niedrig. Für unsere Zwecke, einem kleinen Feuerchen, reicht das aber leicht. Die Sonne geht glühend hinter einigen Wolkenstreifen unter.

Es wird schnell kühl. Thomas entfacht das Feuer. Wir sitzen auf unseren Isomatten um das kleine Feuerchen vor dem See. Schnell wird es dunkel. Unser Abendbrot besteht in geschmierten Broten, Gurken, Karotten und anderen Dingen, die jeder von uns mitgebracht hat. Morgen früh gibt’s Spezialkaffee, meint Thomas. Er habe einen winzigen Esbitkocher im Gepäck. Darauf ließe sich wunderbar Getreidekaffee kochen. Darauf bin ich ja mal gespannt. Wir unterhalten uns über Thomass Onkel, das Grundstück und das Segelboot. Wir sprechen über den Verkaufsvormittag am Stand auf dem Marktplatz und die gute Idee von Thomas zu dem Frühlingsausflug. Irgendwann wird mir klar, dass es die erste Nacht in einem Zelt sein wird, seitdem ich im vergangenen Sommer in Griechenland gewesen war. Das bedeutet wenig. Es bedeutet nichts. Irgendwann werde ich mich nicht mehr erinnern können, wie oft ich schon in einem Zelt übernachtet habe. Deshalb ist es völlig belanglos, daran jetzt zu denken. Mein Schlafsack ist für diese Frühlingsaktion eigentlich etwas zu dünn. In Griechenland war er zu dick.

Ida lehnt sich an Thomas Schulter an. Beide decken sich mit seinem Schlafsack den Rücken zu. Von vorne wärmt uns das Feuer. Pete sitzt neben mir, sie hat sich ihren Schlafsack über den Rücken gelegt. Ich überlege, wie lange Ida und Thomas sich kennen. Es muss der Samstagvormittag gewesen sein, als Martin mit Ida und Pete an dem Verkaufsstand vorbeigekommen war. Jetzt erinnere ich mich. Thomas hatte beide freundlich begrüßt und Hände geschüttelt. Beide waren mir und Thomas unbekannt. Er kennt sie genauso lange wie ich. Ist mir da etwas zwischen ihm und Ida aufgefallen? Ich glaube ja, da war etwas. Er hat sie die ganze Zeit lang angesprochen und angesehen. Pete stand neben ihrer Schwester, mir war aber als spreche Thomas hauptsächlich Ida an. Hatte sich das ergeben, weil Pete, die jünger ist?

Sie spielt die Rolle der jüngeren Schwester. Als ich sie erstmals an diesem Tag sah, stand sie neben Ida, die mit Thomas sprach und nickte und lachte, aber sie sagte wenig. Ich glaube sogar, sie sagte gar nichts. Ida sprach mit Thomas und er mit ihr. Die beiden hatten eigentlich den gesamten Rest des Vormittages miteinander gesprochen. Martin war nach einer knappen halben Stunde verschwunden. Ida und Pete blieben. Pete verabschiedete sich mittags und Ida blieb bis zum Schluss, sie half uns sogar beim Einpacken.

Ich habe keine Ahnung, was da zwischen Thomas und Ida passiert war. Dass aber etwas passiert war, scheint nun klar. Denn beide sitzen jetzt am Feuer unter einem Schlafsack und sie haben sich an die Hand genommen. Das Gespräch ist eingeschlafen. Wir haben über Martin gesprochen und darüber, warum er heute nicht dabei ist. Er ist wieder mit dem Jugendleiter auf einer Wochenendaktion unterwegs. Martin macht sein Zivildienst viel Spaß, er ist aber viel an den Wochenenden weg. Ich lege Holz nach. Das Feuer wärmt gut, aber von hinten ist es kühl. Deshalb hole ich meinen Schlafsack aus dem Zelt und ziehe mir den über meinen Rücken.

Pete durchbricht das Schweigen. Sie setzt jetzt ihre Fragestunde von der Fahrt zu dem letzten Seminar fort. Wo ich denn zuvor gewohnt habe, warum ich diese Schule besuche, ob ich einmal studieren wollte, was ich den beruflich werden will. Irgendwann will ich nicht mehr antworten und frage Pete einfach: Warum willst du all das von mir wissen? Sie antwortet: Weil ich neugierig bin. Ich hatte also Recht.

Ida und Thomas sind verschwunden. Ich merke das erst jetzt. Sie sitzen nicht mehr am Feuer. Ich habe das Flackern der Flammen, das Farbspiel zwischen blau und gelb beobachtet, das sich ergibt, wenn ich feuchtes Holz nachlege. Ich habe nebenbei auf Petes Fragen geantwortet. So habe ich gar nicht bemerkt, wann sich Ida und Thomas vom Feuer erhoben. Pete lächelt mich von der Seite an. Sie sieht pfiffig aus, mit ihren kurzen dunklen Haaren und ihrem runden Gesicht in dem sie eine runde Nickelbrille trägt. Sie öffnet den Mund, ich komme ihr aber zuvor: Bitte keine Frage mehr. Sie lacht. Das sieht nett aus.

Warum habe ich letzte Nacht geträumt, dass sie im Auto neben mir sitzt und weint? Sie hat keine Frage. Sie sagt sie wolle mir etwas sagen. O.k., sage ich, wenn’s keine Frage ist, ist das gut. Sie sagt, sie finde mich nett. Oje, was soll das werden? Sie sagt, sie mag mich. Ich stöhne leise und müde, weil ich nicht anders kann. Ich finde sie sehr nett, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass das gut ist, wenn wir beide etwas miteinander anfangen. Was soll ich jetzt zu ihr sagen? Ich schweige kurz und sehe in das Flackern im Feuer. Das Flackern kommt aus einem kleinen Holzstamm, den ich gerade nachgelegt habe. Unten flackert unruhig ein blaues Licht. Oben flackert die Flamme gelb. Ich sage ihr genau das.

Ich rücke etwas näher an sie heran. Ich sehe sie an. Sie lächelt nicht. Sie sieht ernst aus. Es ist ein trauriger Ernst in ihrem sonst so lebendigen Geicht. Jetzt sehe ich Tränen auf ihren Wangen. Es sind zwei kleine Bahnen auf ihren Wangen. Sie glänzen im hellen, bewegten Licht der Flammen. Es ist ein ganz warmes Licht, dem ich in ihrem runden, hübschen Gesicht dabei zusehe, wie es sich in der Feuchtigkeit ihrer dunklen, braunen Augen spielt, wie es sich auf ihren nassen Wangen spiegelt. Ich ziehe ein Päckchen Taschentücher aus meiner Hosentasche und nehme ein Tuch heraus. Das gebe ich Pete. Ich sage nichts weiter. Mir fällt nichts mehr ein, was ich so zu ihr sagen könnte, dass es für sie Grund wäre, aufzuhören zu weinen.

Ich sehe in das Feuer, weiß dabei genau, dass da eine neben mir sitzt, die jetzt weint, wegen mir. Ich kann sie aber nicht trösten. Es geht nicht, ich weiß nicht, wie ich das machen sollte. Ich kann nichts Ehrlicheres zu ihr sagen. Ich kann ihr kein Trost sein, ich kann ihr nicht geben, was sie sich wünscht. Es bringt nichts, wenn ich etwas vorgebe, was falsch ist.

Ich habe das Gefühl, dass ich täglich viel Falsches tun muss. Jeden Tag sitze ich lange Zeit in der Schule. Ich sitze dort fast die halbe Zeit des Tages, dreimal in der Woche sitze ich dort auch nachmittags. Das Lügen und Spielen dort reicht mir. Mehr schaffe ich nicht. Denke ich noch richtig? Manchmal zweifle ich daran.

Blaues Haus

Freitags in der letzten Stunde vor dem Wochenende wandelt der Deutschlehrer seinen Satz vom glücklichen Schmied ab, beziehungsweise er differenziert ihn. Nicht einfach nur jeder sei seines Glückes Schmied meint er, sondern, um Glück tatsächlich selbst schmieden zu können, sei die passende, für das Glück notwendige Gesinnung erforderlich. Glück hänge erheblich davon ab, welche Gesinnung in der jeweiligen Gegend, in der der Mensch lebt, dem Glück als zuträglich definiert worden sei und welche Gesinnung dem Menschen eher als im Wege stehend definiert wurde. Dieses kennen wir aus verschiedenen Versuchen in der Chemie, der Physik und auch der Mathematik. Ein Experiment klappt nur, wenn die Rahmenbedingungen exakt stimmen. Das Experiment lasse sich wissenschaftlich nur auswerten, wenn es exakt wiederholbar ist. Voraussetzung für das Schmieden von Glück sei quasi das Einhalten einer klassischen, definierten Versuchsanordnung. Glück eine Versuchsanordnung? Was Glück sei, sei letztendlich eine Definitionsfrage. Denn es spiele eine wesentliche Rolle, welche Gesinnung per Definition in einer Gesellschaft notwendig sei, um in dieser glücklich zu werden. Die Versuchsanordnung müsse so sein, dass jeder die Chance habe, sein Glück zu schmieden. Das, so schließt der Lehrer überraschend ab, sei aber unmöglich.

Da sind die Augen groß. Um mich herum im Klassenzimmer sehe ich sekundenlang offen stehende Münder. Nicht nur mich scheinen diese Worte verblüfft zu haben. Der Gongschlag ertönt, das Wochenende beginnt, doch für Sekunden spüre ich in diesem Klassenraum etwas Neues. Ruhe, die nicht erzwungen ist. Interesse und Nachdenklichkeit, die entstanden ist. Wir diskutieren das nächste Woche, sagt der Lehrer und verlässt das Klassenzimmer.

Diskutieren? In dieser Schule, ich habe da Zweifel. Auf meinem Heimweg beim Einkaufen im Discounter, auf der Strecke hinunter zum Fluss, in der Kurve vorbei am Kreiswehrersatzamt, auf dem Fußweg über die Brücke, hinauf in den Wald, oben raus aus dem Wald, vorbei am geschlossenen Moulin Rouge, durch das schwere schmiedeeiserne Gartentor, hinein in das Haus von Frau Stößer, die Wendeltreppe hinauf in die Küche, überall wiederholt sich in meinem Kopf immer wieder das Bild von uns Schülern im Klassenzimmer: Was hat der da gerade gesagt?

Um einundzwanzig Uhr fahre ich mit dem gelben Opel vor dem Haus von Ida und Pete vor. Ich stelle den Wagen vor der Tür ab. Die Lichtmaschine hätte mich fünfundzwanzig Mark kosten sollen. Ein Vermögen, das ich mir unmöglich leisten konnte. Der Schrotthändler war hart geblieben. Ich versuchte alles. Ich könnte ihm zusichern, mein Auto, ich zeigte nach draußen vor seine Bürotüre, in weniger als einem halben Jahr zu ihm zu bringen. Dann nämlich sei der TÜV an dem Wagen abgelaufen. Da seien noch jede Menge brauchbarer Teile dran. Auch die Lichtmaschine könne er dann wieder zurückbekommen. Ich brauche sie also nur für eine halbes Jahr. Ich würde das Teil im Grunde nur mieten. Da müsste doch was gehen. Wenn ich ihm einen Zehner gäbe und einen kleinen Vertrag dazu, dass er das Teil und noch einige brauchbare Trümmer mehr von mir zurückbekommt. Der Händler lachte ob meines ungewöhnlichen Auftritts in seinem versifften Büro. Aber mein Angebot interessierte ihn nicht wirklich. Also zog ich mich enttäuscht zurück. Enttäuscht fuhr ich die Straße vom Schrottplatz Richtung Bundesstraße zur Kreisstadt entlang. Kurz vor der Abzweigung auf die Bundesstraße kamen mir zwei Wagen entgegen. Der Hintere der beiden war ein roter Opel-Kadett. Beide fuhren dicht hintereinander und sie waren sehr langsam. Im Vorbeifahren erkannte ich, dass ersterer den Hinteren abschleppte. Sofort drehte ich um, folgte beiden und überholte. Ich bremste beide langsam aus, winkte, dass sie auf die Seite fahren sollten. Die blieben am Straßenrand stehen. Die zwei wirkten eicht verdutzt wegen meiner Frage, ließen sich aber auf den Deal ein. Als sich herausstellte, dass ich nicht mal passendes Werkzeug dabei hatte, wurde der eine der beiden ungehalten und fluchte leise, der andere lehnte ohnehin nur am Auto und rauchte. Beide halfen mir schließlich trotzdem. So kam ich zu der gebrauchten, neuen Lichtmaschine. Die zwei bauten mir das Ding sogar am Straßenrand noch in meinen gelben Opel ein. Das ist jetzt ein bisschen Glück, das ich mir selbst schmiede. So dachte ich kurz an den Deutschlehrer aus der letzten Stunde zurück. Das die zwei jetzt hier vorbeigekommen waren, war eine glückliche Fügung. Niemand hatte auf diese Begegnung an der Straße Einfluss. Ich schmiedete nur noch eine bisschen. Die Voraussetzung für mein Schmieden aber war, dass beide überhaupt zu dieser Uhrzeit mitten auf meinem Weg dort auftauchten, das war völlig ohne meinen Einfluss entstanden. Die Beleuchtung am gelben Opel-Kadett funktioniert jetzt einwandfrei.

Ich läute. Die Tür öffnet sich. Ich steige eine von Teppichboden belegte Steintreppe hinauf. Die zweite Türe, sie liegt links Richtung Straße ist angelehnt. Ich schiebe sie langsam auf, trete ein uns sage leise Hallo. Hallo höre ich jetzt auch von Pete. Es kommt von links. Ich schiebe die Türe langsam zu bis es klackt, gehe durch einen engen Gang, links und rechts erkenne ich Photographien an den Wänden. Auf ihnen sind Personen abgebildet. Soweit ich das im Vorbeigehen erkenne sind es Familienfotos. Pete sitzt am Küchentisch. Tee? Sie lächelt mich an, hebt die Teekanne vom Stövchen und schenkt in einen Becher, der am Tisch vor dem Stuhl neben ihr steht, ein. Ich setze mich.

Ich bin unsicher. Hätte ich ihr zu Begrüßung ein Küsschen geben sollen? Sie macht dazu keinerlei Anstalten. Also ist es schon o.k. das nicht zu tun. Sie sieht mich an. Sie lächelt. Ich bin froh, dass sie lächelt. Na, alles klar? So fangen wir das Gespräch an. Meine Unsicherheit verschwindet aber nicht einfach. Pete fragt mich nach keinen Details mehr. Ihre Neugier ist verschwunden. Sie sieht mich an und lächelt. Sie denkt wohl, es ist an mir das Gespräch zu beginnen. Also sage ich, ja, alles klar und bei dir? Sie nickt und nippt an der Teetasse. Kurz frage ich mich, was das hier nun werden soll. Dann wird mir klar, dass ich als Gast gekommen bin und nicht hätte kommen müssen, wenn ich das nicht gewollt hätte. Was also will ich hier? Dass ich sie nett finde und sehr gern habe, mehr aber nicht, weiß sie von dem Gespräch am Feuer beim Fahrradausflug. Wie also das weitere Zusammentreffen gestalten, unter den Bedingungen, die zwischen uns soweit geklärt sind?

Es ist anders geworden, als es vorher gewesen ist zwischen uns beiden. Die Offenheit und die Entspannung in unserem Kontakt trotz zeitgleich vorhandener Spannung zwischen uns ist verschwunden. Was geschieht jetzt? Pete hat ihre Fragestunde endgültig beendet. Noch in den Sekunden am Feuer, als sie erneut begonnen hatte mich zu befragen, wünschte ich mir, und sagte ihr schließlich, dass sie das bitte lasse. Jetzt sitzen wir sekundenlang schweigend in der Küche in der Wohnung ihrer Familie. Ich weiß nicht, was jetzt zwischen uns noch los ist.

Da ist es sehr gut, als schlüsselklimpernd die Wohnungstür aufgesperrt wird und Ida laut Hallo ruft. Sie betritt gefolgt von Thomas die kleine Küche. Na wie läuft denn die gelbe Seifenkiste? Das ist ein deutsches Markenprodukt, berichtige ich Thomas, zwar in die Jahre gekommen, aber bisher zuverlässig. Mit der neuen Lichtmaschine sollte nun auch die Verkehrssicherheit bei Nacht gegeben sein. Thomas setzt sich neben mich, Ida sitzt mir gegenüber. Wir können es also riskieren, uns von dir heute Abend dort hinfahren zu lassen, fragt Thomas. Solange ihr nicht erwartet, in der Kiste wie auf Federn gebettet zu sitzen, dürfte das kein größeres Risiko sein.

Das blaue Haus ist eine knapp zwanzig Autominuten entfernte Diskothek. Sie liegt am Ortsrand eines kleinen Dorfes. Bei unserem Eintreffen ist der Parkplatz noch beinahe leer. Entsprechen wenige Menschen halten sich in dem Haus auf. Es besteht aus zwei Stockwerken, oben kann man der lauten Musik entgehen und Billard spielen. Das tun wir. Ida und Pete haben darin Übung, sie sind richtig gut und machen Thomas und mich richtig fertig. Deshalb spiele ich die nächste Runde mit Pete gegen Ida und Thomas. Da wird es richtig spannend, zum Schluss bleibt nur noch die schwarze Acht übrig, die Thomas eher zufällig versenkt. Das ruft nach Revanche. Das Spiel macht richtig viel Spaß. Nach drei Spielen räumen wir den Billardtisch, für eine andere Mannschaft. Wir setzten uns in eine Ecke an einen Bistrotisch. Der Laden hat sich binnen einer Stunde gut gefüllt. Ida und Pete besuchen das Haus öfter, sie sind bekannt, sie werden permanent von neuen Gästen begrüßt. Irgendwann sitze ich alleine am Tisch, denn Thomas ist mit Ida nach unten zum Tanzen gegangen und Pete verschwindet mit einem Typen, der sie herzlich begrüßt hat. Ich hasse Diskotheken. Leider kann ich nicht mal ein Bier trinken, wegen der Autofahrerei. Zwei Pärchen fragen mich, ob sie sich an den Tisch setzten können. Ich nicke, stehe auf und verlasse den Tisch, weil ich es jetzt unangenehm finde, allein dort mit fremden Leuten zu sitzen. Ich gehe einen Stock tiefer. Kaufe mir an der Bar ein zweites, teures Spezi und beobachte die Szenerie auf der Tanzfläche. Erst nach Minuten sehe ich Ida, Thomas, Pete und den Typen, mit dem sie verschwunden war. Sie hüpfen ausgelassen auf der Tanzfläche herum. Mir kommt das ganze Sekundenlang blöd vor, dann verschiebe ich dieses Vorurteil und denke, dass es eben eine Disko ist. Es ist wohl normal.

Pete hüpft gelenkig und sehr dynamisch durch die Menge auf der Tanzfläche. Es ist kein gemeinsamer Tanz mit ihrem Begleiter. Den habe ich jetzt sogar aus den Augen verloren. Ah, nein, er taucht nun wieder hinter Pete aus der Menge auf. Warum beobachte ich sie jetzt? Bin ich eifersüchtig auf diesen Knaben, der sie da auf die Tanzfläche geschleppt hat? Wahrscheinlich ist das so. Warum sonst war ich gerade erleichtert weil ich den Typen aus den Augen verloren hatte? Ich dachte, dass es gut ist, dass der Typ verschwunden ist. Wenn Pete fertig mit dem Tanzen ist, könnten wir uns vielleicht ein wenig unterhalten. Aber worüber? Mir fällt kein Thema ein, das ich unbefangen mit ihr besprechen könnte. Was wir zwischen uns an dem Lagerfeuerabend geklärt haben, überschattet alles Weitere.

Jetzt sehe ich Ida. Sie schnappt sich die Hände von Pete und die beiden Schwestern tänzeln kurzzeitig gemeinsam durch die Menge. Sie rufen sich irgendetwas gegenseitig zu. Die Aktion auf der Tanzfläche macht beiden riesigen Spaß. Was machen sie jetzt? Sie sind mir jetzt ganz nahe. Sie kommen direkt auf mich zu. Ah, jetzt weiß ich, was kommt. Sie versuchen mich auf die Tanzfläche zu bewegen. Ich kann das jetzt nicht. Ich verneinen das Vorhaben, winke mit der linken Hand, hebe mir der rechten mein Glas hoch um deutlich zu machen, das es voll ist und ich es nirgendwo abstellen kann. Ich bin froh, das beide sofort aufgeben. Die Tanzfläche ist sehr voll, die Diskothek scheint nun restlos gefüllt zu sein. Mir gefällt es überhaupt nicht, wenn in solcher Öffentlichkeit, etwas geschieht, wie gerade eben, das die Aufmerksamkeit anderer auf mich zieht. Leute, die rechts und links von mir stehen, haben natürlich aufmerksam beobachtet, wie die beiden Mädchen versuchten mich auf die Tanzfläche zu bewegen. Andere, die ich gar nicht sehe, haben das wahrscheinlich aus einiger Entfernung ebenfalls beobachtet. Um zumindest zu den Beobachtern rechts zu links von mir mehr Abstand zu haben, Bewege ich mich jetzt durch die Menge rund um die Tanzfläche, um auf die andere Seite zu gelangen.

Drüben ist es nicht ganz so voll. Das liegt wohl daran, dass dort keine Gedränge rund um die Bar statt findet. Ich suche von dem neuen Standort die übervolle Tanzfläche ab. Nichts, ich finde sie nicht mehr. Es sind zu viele Menschen die dort herumhüpfen. Nach zehn Minuten gebe ich es auf. Vielleicht haben sie die Tanzfläche verlassen. Ich bewege mich Richtung Ausgang. Draußen ist es angenehm kühl. Die Luft in dem Laden ist zum Schneiden, das merke ich jetzt, wo ich in vollen Zügen die frische Außenluft einatme. Der Parkplatz ist jetzt voll. Ich suche den gelben Opel-Kadett. Gar nicht so einfach, den jetzt wieder zu finden. Ich bewege mich in die Richtung, sehe ihn aber erst, nachdem ich umdrehe und eine andere Reihe parkender Autos zurücklaufe. Da ist er. Ich sperre auf und nehme meine Jacke vom Fahrersitz.

Im nahen Wald ist es stockdunkel. Ich habe eine kleine Forstpiste in den Wald gefunden. Die Nacht ist sternenklar, der Mond ist aber noch nicht da. Ich laufe langsam. Die dicht stehenden, kahlen Bäume rechts und links wirken wie schwarze Riesen, mit Armen, die dem Kleinen, der in der Finsternis hier herumläuft, den Weg in alle Richtungen zeigen. Ohne den angelegten Weg hätte er keine Chance zwischen den vielen Riesen und den vielen Richtungen, in die deren Arme zeigen, eine bestimmte Richtung einzuhalten um sein Ziel zu finden. Den Rückweg zu finden wäre wegen der vielen Riesen und deren Ähnlichkeit in der Dunkelheit völlig ausgeschlossen. In der Dunkelheit merkt der Kleine nicht mehr, dass die Riesen alle sehr unterschiedlich sind. Keiner gleicht dem anderen. Die Dunkelheit macht den Eindruck etwas gleicher. Das erleichtert dem Kleinen die Suche nach einem Weg aber nicht. Da ist es gut, dass er sich auf einem angelegten Waldweg bewegt, der eine breite Schneise zwischen die dunklen Riesen zu schneiden scheint und einen eindeutigen Verlauf, eine eindeutige Richtung, anzeigt. Doch wohin führt der Weg, den er beschritten hat? Wohin bin ich hier unterwegs? Wo komme ich her, was führt mich in den Wald, wo will ich hin und wohin zurück möchte ich nach hause kehren? Wo liegt Zuhause?

Je mehr der Kleine darüber nachdenkt, desto weniger klar scheint das Bild von seinem künftigen Zuhause zu werden. Die Schritte des Kleinen auf dem breiten Weg zwischen den Riesen werden schneller. Er schlendert hier nicht mehr gemächlich entlang, sondern nun fühlt er sich getrieben. Je weniger Klarheit er hat, über die Fragen, die ihm hier einfallen, desto schneller treibt es ihn diesen Weg entlang. Der Wind rauscht durch den hohen, kahlen Wald. Der Wald spricht seine Sprache. Es ist eine unverständliche Sprache. Es ist ein Rauschen. Manchmal ist es ein Zischen, dann wird es ein dumpfes Grollen, plötzlich wird es ein Fegen, das sich lauter und lauter aufbaut und langsam abfällt.

Vielleicht sollte ich Pete künftig in Ruhe lassen. Dorit treffe ich nicht mehr. Seit meinem Umzug von Berchtesgaden nach Traunstein ist der Kontakt vorbei.

Müde von meinem schnellen Lauf durch den Wald setze ich mich in den gelben Opel-Kadett. Das halbvolle Glas mit dem Spezi steht unbeeindruckt vom kräftigen Wind auf dem Autodach. Ich trinke es in einem Zug leer. Der Parkplatz hat sich ein bisschen geleert. Ich sitze bei offener Wagentür und beobachte den Ausgang des blauen Hauses. Immer wieder öffnet sich die Türe. Paarweise kommen die Menschen dort heraus. Sie lachen und manche von ihnen unterhalten sich lautstark auf ihrem Weg über den Parkplatz. Was tue ich hier? Jetzt erkenne ich auf den Treppenstufen, die von der dunklen Eingangstüre hinunter auf den Parkplatz führen, Pete. Sie verlässt zusammen mit dem Menschen, der sie auf die Tanzfläche begleitet hatte, das Haus. Beide schlendern über den Parkplatz. Sie gehen zwei Reihen entfernt an den geparkten Autos vorbei. Nun bleiben sie stehen. Jetzt sehe ich deutlich das Profil von Pete. Ihre langen, dunklen Haare werden vom Wind durcheinandergewirbelt. Sie streicht sich über die Haare. Sie öffnet die Wagentüre. Weg ist sie. Zwei, drei Minuten geschieht offenbar nichts. Dann bewegt sich das Auto. Ich höre kein Motorengeräusch. Ich höre das Rauschen des Windes und das Ächzen der Bäume.

Kinderurlaub

Es gibt keinen Vertretungslehrer. Die Doppelstunde am Freitag entfällt ersatzlos. Die Pfingstferien beginnen deshalb zwei Stunden früher. Die Diskussion mit dem Deutschlehrer findet nicht statt. Der Lehrer kommt nicht.

Martin holt mich samt Gepäck im Haus von Frau Stößer ab. Mein Gepäck besteht in einer kleinen, blauen Reisetasche, meinem Schlafsack und einer Isomatte. Pünktlich um halb acht Uhr begrüße ich den Jugendleiter und eine Anzahl von Mitarbeitern auf einem Parkplatz vor dem Jugendbüro. Der Reisebus steht mit offenen Gepäckklappen noch menschenleer da. Ich verfrachte meine Sachen dorthin, wo bereits ein kleines Gepäckhäufchen der Mitarbeiter liegt. Der Jugendleiter drückt mir eine Liste mit den Namen aller Kinder, die auf die Maßnahme mitfahren, in die Hand. Ich falte die Liste zusammen und stecke sie mir in meine Hemdtasche. Das erste Auto biegt auf den Parkplatz ein. Ich schüttle Hände und begrüße Kinder. Ich erhalte Anweisungen und Informationen von Eltern. Auf dem Parkplatz höre ich aufgeregte Kinder, ich sehe weinende Kinder, die sich von ihren Eltern verabschieden. Martin sammelt in einer großen Mappe Papiere. Es sind Ausweise der Kinder und es ist ihr Taschengeld. Das steckt er jeweils in Umschläge, die er in Fächern der großen Mappe verräumt. Die Mappe hat viele Fächer, für jedes Kind ein Fach.

Um halb neun Uhr ist es soweit. Der Bus ist voll von Kindern. Ich gehe durch den Bus und zähle. Die Zahl stimmt, da werden die Namen auch stimmen. Das spreche ich kurz mit dem Jugendleiter ab. Der ist aber der Meinung, dass alle Kinder per Mikrophon beim Namen genannt werden sollten. Also begrüße ich alle Kinder und gehe jedes Kind namentlich anhand meiner Liste durch. Das finden die Kinder lustig, denn nicht alle Namen spreche ich korrekt aus. Ich lasse mich korrigieren und übe jeden falsch gesprochenen Namen richtig auszusprechen. Das finden die Kinder noch lustiger. Um viertel vor Neun kann es losgehen. Der Busfahrer wirft den Motor an.

Durch das Mikrofon erklärt der Jugendleiter den Kindern, dass wir eine lange Reise vor uns hätten, aber zwischen drin auch mal Pausen machen würden. Martin fährt zusammen mit einem ehrenamtlichen Mitarbeiter, wie es auch ich einer bin, in dem roten Kleinbus vom Jugendbüro. Der ist bis unter die Decke vollgestopft mit Spielmaterial und Lebensmitteln für die Pausen der Fahrt. Ich setze mich vorne im Bus auf einen Sitz neben den Jugendleiter. Der kontrolliert die Fächertasche, welche Martin ihm gegeben hatte, ob darin auch wirklich alle Ausweise der Kinder stecken und prüft jeden einzelnen Ausweis, ob der auch noch gültig ist.

Die Busfahrt ist laut und es wird sehr warm. Am späten Nachmittag erreichen wir das Ziel. Es ist ein in der Schweiz liegender Gebirgssee. Wir wohnen mit fünfzig Kindern, die wir in zwei Gruppen aufteilen, in einem dreistöckigen, großen Haus, wenige hundert Meter vom See entfernt. Abends sind wir todmüde ob der anstrengenden Anreise. Trotzdem starten wir mit einem großen Spielabend, der manchem Kind die letzte Energie abverlangt. Der Jugendleiter meint, dass es gut sei, nach dem langen Sitzen im Reisebus noch ein Bewegungsprogramm zu veranstalten. Nur so könne die Nacht einigermaßen ruhig werden, denn alle Kinder seien aufgeregt. Manches Kind übernachte zum ersten Mal nicht Zuhause, oder sei zum ersten Mal von Zuhause fort. Tatsächlich verläuft die erste Nacht in dem vollen, riesigen Haus ruhig.

Ich falle um halb zwölf Uhr schwer auf meine Isoliermatte. Wir Mitarbeiter bewohnen in dem Dachspeicher des riesigen Hauses einen einzigen großen Raum. Dort schlafen wir auf Isoliermatten auf dem Boden. Der Komfort stört niemanden. Es gibt keinen Privatraum. Mit meiner Einsamkeit in meinem Zimmer im Haus von Frau Stößer ist es jetzt erst mal vorbei. Ich falle in schweren, tiefen Schlaf.

Mein grüner Wecker steht auf dem Boden neben meinem Kopf. Ich höre das Keramikbecher-Wasserglas-Ticken. Ich suche an der Zimmerwand nach der bewegten Linie zwischen Hell und Dunkel. Ich sehe weder Wand noch Linie. Jetzt höre ich einen schweren Atem. Es ist der Atem des Jugendleiters, der neben mir liegt. Ich blicke nach links. Dort ist ein winziges Dachfenster. Draußen sehe ich den Mond. Er wirft einen hellen Lichtstrahl durch den Raum. Ich sehe nach rechts. Wie eine Reihe geparkter Autos liegen die Menschen dort neben mir. Es sind die ehrenamtlichen Mitarbeiter. Die Frauen schlafen in einem eigenen, großen Zimmer im Erdgeschoss. Ich denke darüber nach, wie ich von diesem Dachboden zur Toilette komme. Bad und Toiletten liegen ein Stockwerk tiefer. Ich schäle mich leise aus dem Schlafsack und tapse zur Tür.

Zurück in meinem Schlafsack, auf meiner Isoliermatte neben dem schwer atmenden Jugendleiter kann ich nicht wieder einschlafen. Ich liege auf dem Rücken, sehe oben an der Decke die dunklen Dachbalken des Dachstuhls. Der Schimmer des Lichtes, das der Mond in den riesigen Raum wirft, sorgt für einen Schatten der Balken an der Decke. Ich fixiere dort oben eine Schattenlinie. Langsam beginnt sie sich zu bewegen. Wie eine leichte Welle bewegt sie sich auf und ab. Das Licht des Mondes lebt. Es wirft den Schatten der Dachbalken. Die Dachbalken leben. In ihnen bewegen sich Millionen von Atomen. Wahrscheinlich leben sie nicht nur wegen der Atome, denn im Lichtschein des Mondes sehe ich Staub, der durch den Raum fliegt und ich sehe feinen Holzstaub, der wegen tausender Holzwürmer aus den Balken gearbeitet wird und langsam durch die bewegte Luft im Raum zu Boden sinkt.

Ida und Pete sind nicht mitgekommen. Pete hatte sich vor Wochen beim Jugendleiter abgemeldet. Sie müsse die Ferien nutzen, um vieles für die Schule zu lernen. Es tue ihr leid. Sie wäre gerne dabei, aber es ginge nicht anders. Auch Ida könne nicht mitkommen, denn sie bereite sich auf ihre Abschlussprüfung vor, die kurz nach den Pfingstferien ansteht. Für den Jugendleiter war das in Ordnung. Er hatte noch Zeit, für die Kinderferienfreizeit Ausschau nach anderen jungen Menschen zu nehmen, die ehrenamtlich mitkommen wollen. Und er fand sie.

Pete kommt nicht mehr zu den Verkaufsständen. Aus der Arbeitsgruppe von Thomas und mir ist sie ausgestiegen. Seit dem Abend vor dem blauen Haus habe ich sie nicht wieder getroffen. Trotzdem habe ich oft an sie gedacht. Auch jetzt fällt sie mir ein, weil sie ursprünglich mitkommen wollte, denn sie war ja auf dem Vorbereitungsseminar, zu dem ich sie und Ida im Auto mitgenommen hatte. Nun ist sie nicht dabei. Vieles erinnert mich an sie. Es ist der Verkaufsstand, an dem sie nicht mehr steht, lacht und redet, während der Wind ihr schwarzes Haar nach hinten legt und ihre dunklen Augen durch ihre runde Brille glänzen. Es ist mein orangenfarbiger Sessel, der während der Sitzungen der Arbeitsgruppe so lange leer blieb, bis ich mich nach drei Terminen schließlich selbst dort niedergelassen habe, um den leeren Sessel nicht mehr ansehen zu müssen. Es ist mein täglicher Weg zur Schule, der mich nach der steilen Kurve rechts am Kreiswehrersatzamt vorbei an der Wohnung von Ida und Pete vorbeiführt und mich jeden Morgen daran denken lässt, dass sie dort wohnt. Seltsam ist das alles. Wäre sie es gewesen? Ich weiß es nicht. Warum weiß ich es nicht? Sie kann es nicht sein, sonst müsste ich es doch wissen.

Zwei Wochen lang toben und rennen wir mit den Kindern durch den Wald, auf die Berge, machen mit ihnen Lagerfeuer und wilde Verfolgungsjagden, mit Rätselspielen und Schnitzeljagd. Wir sind mit ihnen permanent draußen, paddeln mit Schlauchbooten über den See, baden und plantschen im See und steigen mit ihnen auf die Berge. Dabei vergesse ich Pete tatsächlich. Ich denke einfach nicht mehr an sie, weil mich hier nichts weiter an sie erinnert. Es ist nur die erste Nacht, in der sie mir einfällt, weil ich in dieser darüber nachdenke, mit welchen Menschen ich hier unterwegs bin. Es ist ein bunter Haufen von Menschen, der ein bisschen zusammengewürfelt wirkt.

Mit Martin mache ich Musik. Wir spielen Gitarre und unterhalten damit die Kinder, Wir singen und Grölen mit ihnen am Lagerfeuer. Martin ist begeistert von der Musik. Er kann neben Gitarre auch Klavierspielen, einmal versuchen wir das verstaubte Klavier im Erdgeschoss des großen Hauses zu benutzen. Das ist aber so verstimmt, dass es nur für ein Lied reicht, in dem es um Katzenjammer geht und die Kinder das Gejammere von Katzen nachmachen sollen. Das macht den Kindern viel spaß, Martin klimpert das Lied in den schrägsten Tönen.

Spät abends sitze ich mit Martin an der Feuerstelle hinter dem Haus. Wir sind an dem Abend die letzten, die sich noch nicht hingelegt haben. Das Feuer ist schon weit runter gebrannt, wir legen nichts mehr nach, denn auch wir sind schon müde. Ich sehe einen Gluthaufen, der in hellem und dunklem Rot schimmert. Martin wird mit seinem Vater sprechen. Er wird ihm sagen, dass er Musikinstrumente verkaufen will. Er wird ihm nach dem Ende seines Dienstes im Jugendbüro in aller Ruhe erklären, dass er das Geschäft des Vaters sehr schätzt, dass es aber für ihn besser ist, in einem anderen Bereich zu arbeiten. Das könnte auch deshalb eine gute Idee sein, weil selbst der Vater schon festgestellt hat, dass die Entwicklung auf dem Holzmarkt immens dynamisch voranschreitet. Es könnte sein, dass in einigen Jahren so ein großer Holzverkaufsmarkt, wie ihn der Vater von Martin betreibt, nicht mehr gefragt ist. In den großen Städten haben erste Baumärkte eröffnet. Diese Entwicklung könnte in den kommenden Jahren auch in der Kreisstadt ankommen. Wenn ein solcher Markt in der Nähe eröffnet, dann könnte dies das Aus für den großen Holzfachmarkt des Vaters bedeuten.

Ich stimme Martin zu. Ich finde seine Idee gut, das mit dem Vater so zu besprechen. Der Vater könnte in den nächsten Jahren den Holzfachmarkt noch gut verkaufen, sagt Martin. Das wäre wohl der richtige Schritt. Er würde Martin die Freiheit verschaffen sich zu orientieren. Er könnte für Martin bedeuten, dass er den zu ihm passenden Beruf findet. Wenn der Vater heute schon erlebt, dass Bewegung in den Markt geraten ist und sieht, dass sein Fachbereich in Frage steht, weil die Leute in den Städten im Baumarkt einkaufen, dann könnte es sein, dass Martins Idee für den Vater kein größeres Problem darstellt. Der Vater hätte dann nur noch das Problem, sich von seinem Beruf zu verabschieden, und er hätte das Problem zu erleben, dass der Beruf vom Sohn nicht weitergeführt wird. Ein anders Problem bleibt ihm aber möglicher Weise erspart. Er muss nicht mit ansehen, wie der Sohn mit dem Holzfachmarkt scheitert, weil der Markt das nicht mehr hergibt. Ich finde Martins Idee sehr gut, hoffentlich schafft er es, den Vater zu überzeugen.

Ob ich das schaffen würde, weiß ich nicht, denn für mich stellt sich die Frage nicht. So eine Situation ist bei mir nicht gegeben, ich habe eine ganz andere. Trotzdem verstehe ich Martin. Seine Lage ist nicht einfach. Er muss erst mal den Vater überzeugen, um sich Raum zu verschaffen, eigene Entscheidungen zu treffen. Ich habe keinen Vater, den ich von irgendetwas zu überzeugen hätte. Im Gegenteil ich bin froh, mich vom Vater damals losgesagt zu haben. Trotzdem ist er in meinem Kopf und Handeln noch da. Ich denke an ihn, wenn ich mit Martin spreche. Ich kann frei entscheiden, was ich tun will. Kein Gespräch mit dem Vater darüber ist notwendig. Er hat mit mir seit Langem nichts mehr zu tun. Ich kann machen was ich will. Vielleicht suche ich deshalb so lange. Martin sucht nicht, ich glaube er sucht gar nicht, sondern er sieht, was er hat und er überlegt, wie er damit umgeht. Mein Suchen hat vielleicht damit zu tun, dass ich das nicht habe. Ich habe nichts zu tun mit dem Vater also kann ich auch nicht tun, was ihm gefallen würde, kann mit ihm nicht drüber sprechen, ob das für mich richtig wäre oder ob mir etwas anderes einfällt. Fällt mir deshalb nichts ein? Suche ich ständig etwas, weil ich vom Vater nichts habe? Martin hat etwas vom Vater. Er kann, er muss sich dazu Gedanken machen. Erst wenn all das nichts wäre, müsste auch er zu suchen anfangen. Ich liege neben dem grünen Metallwecker, der mir sein Keramikbecher-Wasserglas Ticken ins Ohr schlägt. Ich sehe die Schatten, die von den Holzdachbalken an die Decke geworfen werden. Ich sehe da oben wieder die Wellenbewegung und das Leben.

Am vorletzten Abend sitze ich abends wieder sehr lange am Lagerfeuer. Die Kinder haben heute so laut und lange mitgesungen und mit gegrölt, bis manche von ihnen heiser geworden waren. Hoffentlich erholen sich Kinderstimmbänder über Nacht schnell. Der Tag war sehr anstrengend. Wir haben eine sehr ausgedehnte Wanderung gemacht. Martin hat vor Minuten laut und müde gegähnt. Schließlich packte er die Gitarre in den Koffer und verschwand begleitet von den letzten noch auf gebliebenen Kindern ins Haus. Neben mir sitzt nun nur noch Paul vor dem kleinen Lagerfeuer.

Karin habe sich in den letzten Monaten ziemlich verändert. Peter überrascht mich mit diesem Satz nicht wirklich. Er erschrickt mich. Ich weiß, dass Karin sich ihm gegenüber verändert haben muss, denn ich weiß ja, dass sie ihn mit dem Busfahrer betrügt. Ich hatte mehrmals darüber nachgedacht, wie es wäre, mit Paul auf den Vorbereitungsseminaren über Karin zu sprechen. Ich habe es nie getan. Anfangs war Karin auf zwei Abendseminaren noch mit dabei. Sie hatte sich schließlich von der Vorstellung auf diese Kinderferien mitzufahren verabschiedet. Das begründete sie mit ihren Abiturprüfungen, die sich bei ihr über die Pfingstferien hinaus erstrecken würden. Sie brauche die Ferien weil sie nichts riskieren wolle, sie brauche sie für intensive Vorbereitungen auf den mündlichen Prüfungsteil.

Jetzt sitze ich mit Paul am Feuer, der mich anspricht. Wochenlang habe ich daran nicht mehr gedacht. Karin war drei Wochen vor Beginn der Ferien das letzte Mal bei mir zu Besuch. Sie hatte mir erneut alle Details ihres Zeitplanes und ihrer Einkäufe in der Kreisstadt diktiert, die ich ordentlich in meinen Notizblock schrieb. Auch an diesem Wochenende kam kein Anruf wegen Karin bei Frau Stößer an. Frau Stößer rief mich ein einziges Mal an dem Wochenende ans Telefon. Martin hatte angerufen. Ich habe den Notizblock immer noch regelmäßig dabei. Noch nie trat der Fall ein, dass ich die Notizen wegen Karin brauchte.

Paul könnte denken, dass Karin sich wegen der Besuche bei mir verändert hat. Das mit dem Busfahrer läuft nun schon etwas länger als ein halbes Jahr. Paul scheint davon nichts zu wissen. Aber er ahnt etwas. Schließlich sagt er, er glaube, Karin liebe ihn nicht mehr. Er merke das genau. Er frage sich inzwischen sogar, ob sie ihn je geliebt habe. Zumindest frage er sich ob sie ihn seit der Hochzeit noch je geliebt habe. Zuvor, so sagt er, war da etwas, daran erinnere er sich noch. Aber seit der Hochzeit wäre da eigentlich nichts mehr zwischen ihnen.

Ich sitze neben Paul, starre auf die winzigen Flammen, die von einem letzten herausragenden Hölzchen aus dem Feuer aufgeworfen werden. Ich schweige. Mir fällt nichts ein. Ich habe das Gefühl, dass ich nicht sprechen kann. Meine Stimme ist heiser vom Singen mit den Kindern. Sie würde mir versagen, wenn ich ansetzen würde. Mein Hals ist wie zugeschnürt. Ich würde nur ein Krächzen herausbringen. Ich könnte mich Räuspern und versuchen, die Stimmbänder zu aktivieren. Ich müsste mich zusammenreißen und Gewalt anwenden um da einen ehrlichen Ton herauszupressen. Das geht nicht. Ich habe nichts, was ich antworten kann. Paul hat Recht. Karin hat sich ganz bestimmt verändert. Ich hätte ihm das schon längst einmal in aller Ruhe sagen sollten. Ich hatte dazu Gelegenheit gehabt, denn wir haben uns auf zwei Vorbereitungsseminaren gesehen und wir sind jetzt seit zwölf Tagen zusammen mit den Kindern hier. Mein Hals fühlt sich an, als würde er fest zu gepresst. Die Stimmbänder sind von einer schweren Kette belegt, die sie verschließt. Ich habe das Gefühl, für lange Zeit kein einziges ehrliches Wort mehr herauszubringen.

Paul spricht über sie. Er liebt sie. Er spricht über sie in leisen Tönen. Er will sie behalten. Er hat sie geheiratet, weil er sie liebt. Er weiß aber nicht, wo sie seitdem geblieben ist. Er erklärt, dass er sie nicht mehr spüren kann wie früher. Er sucht sie schon lange. Jetzt sei es besonders schlimm geworden, denn sie ist weit von ihm weg. Wenn sie miteinander telefonieren, was er täglich tut, merkt er dass er sie nicht finden kann. Er hat sich in der Zeit mit den Kindern hier in den Ferien überlegt, dass er neu anfangen will mit Karin. Wenn wir Übermorgen wieder zuhause sind geht das los. Es wird einen neuen Anfang geben zwischen ihm und Karin. Er sei sich ganz sicher.

Ich schweige. Das Feuer ist fast aus. Nur ein leichtes Züngeln einer winzigen Flamme erkenne ich über dem Gluthaufen. Plötzlich merke ich, wie eine Träne durch mein Gesicht rollt. Ich wende mich kurz ab von Paul und wische mir flüchtig mit dem Arm über mein Gesicht.

Der letzte Abend wird eine tolle, laute Show. Die Kinder bereiten Spiele und Theatereinlagen vor. Sie basteln den ganzen Tag über an ihren Vorstellungen, die sie abends präsentieren. Martin und ich begleiten mehrere Kindergruppen mit der Gitarre, die eigene Lieder mit eigenen Texten gedichtet haben. Die Kinderstimmbänder haben sich nachts erholt, sie plärren ihre Lieder aus voller Kehle. Erst nach halb zwei Uhr kehrt im Haus langsam Ruhe ein. Draußen regnet es in strömen, weshalb der Abend im Haus stattfindet und kein Lagerfeuer möglich ist. Eine letzte Gruppe bleibt noch lange im großen Raum im Erdgeschoss zusammensitzen. Ich bin todmüde, lege mich gegen zwei Uhr in meinen Schlafsack.

Die Heimreise vergeht schnell. Den ganzen Tag lang regnet es. Die Kinder sind müde vom letzten Abend und wohl auch von der vielen frischen Luft der vergangenen zwei Wochen. Der Abschied vor dem Jugendbüro geht rasend schnell. Die Kinder werden sehnsüchtig von ihren Eltern in Empfang genommen. Ich schüttle Hände und höre Dank. Ich sehe lachende Eltern und erholte Kinder. Ich schüttle Paul lange die Hand und wünsche ihm alles Gute. Der Jugendleiter dankt mir und rauscht in seinem Wagen davon.

Mit meiner kleinen Tasche, der Isoliermatte und dem Schlafsack unterm Arm steige ich mit Martin zusammen in den roten Jugendbus ein. Martin wendet den Bus auf dem leeren Parkplatz vor dem Moulin Rouge. Er hält vor dem Haus von Frau Stößer. Ich steige aus, krame nach meinem Schlüssel, finde ihn, gebe Martin durch das Wagenfenster die Hand. Wir vereinbaren ein Zusammentreffen am kommenden Wochenende. Martin rauscht mit dem Bus davon. Ich sperre das schmiedeeiserne Tor auf. Der gelbe Opel Kadett steht, wie ich ihn geparkt hatte, davor. Ich durchquere entlang der Garagenmauer den Gartenweg. An der Haustüre fällt der Schlüssel runter. Ich setze mein Gepäck, Tasche, Schlafsack, Isoliermatte ab, greife nach dem Schlüssel uns sperre auf. Meine Hände zittern. Ich bin müde und aufgekratzt. Niemand erwartet mich im Treppenhaus. Ich steige die Wendeltreppe hinauf. Ich betrete mein Zimmer, gehe zur Balkontüre und öffne sämtliche Flügel der Tür. Feuchte Luft strömt mir entgegen. Ich setze mich auf den orangefarbenen Sessel und Blicke über den Balkon hinaus über die verregnete Kreisstadt. Es ist ruhig in meinem Zimmer.

Arbeiten

Der Sonntag ist ein seltsam ruhiger Tag. Nachts um halb vier Uhr wache ich auf. Der grüne Metallwecker ist ruhig. Er steht. Er zeigt sieben Uhr an. Der Regen hat aufgehört. Ich öffne die Balkontüre. Die Luft ist noch feucht, aber es liegen keine Wolken mehr über der Stadt. Am Nachmittag bekommt Frau Stößer Besuch. Ich sitze auf der Terrasse vor meinem Zimmer. Es ist wieder richtig warm geworden. Der Himmel ist blau und völlig klar. Die Stadt liegt in klarem hellem Licht vor mir. Der Fluss glänzt wie eine messerscharf blinkende Klinge, welche die Stadt in zwei Teile schneidet. Von unten höre ich leise Gespräche zwischen Frau Stößer, ihrem Mann und einem Paar mittleren Alters, die zusammen bei Kaffee und Kuchen sitzen. Ich kann mich trotz des Traumwetters zu nichts aufraffen. Die Ruhe irritiert mich. Sie kommt aus dem Gegensatz zwischen meiner Einsamkeit und dem Remmidemmi der vergangen zwei Wochen. Es ist eine Ruhe, die nicht erholsam ist. Sie ist anstrengend, sie nimmt mir Energie. Was erst gestern endete scheint plötzlich in dieser Ruhe weit zurück, ist aber noch sehr nah. Heute Nacht habe ich die Deckenbalken aus dem großen Raum, oberhalb der Zimmer in denen zwei Wochen lang die Kinder schliefen, gesucht und nicht gefunden.

An meinem Feuer sitze ich nun wieder allein. Meine Alltagsroutine hat mich aber verlassen. Ich war ohne meine Schulbücher losgelaufen und bemerkte es erst, als ich das Feuer entfacht hatte. Allein vor dem Feuer, ohne meine Schulbücher fiel mir erst nach Minuten ein, dass die nächste Woche anders wird. Der Alltag wird anders zu mir zurückkehren. Morgen gehe ich nicht in die Schule, sondern ich habe ein Betriebspraktikum. Die Unterlagen dafür habe ich in meiner Schultasche gefunden. Sie liegen auf meinem Schreibtisch. Ich habe sie noch nicht angesehen. Mein Denken ist noch nicht hier.

Die Zeit ist vorbei, wie ein gerissener Film, der eigentlich noch nicht zu ende ist, aber nicht mehr geflickt werden kann. Zwei Wochen lang Dauereinsatz, ohne Rückzugsmöglichkeit, daran hatte ich mich erstaunlich schnell gewöhnt. Das Jetzt und Hier ist ungewohnt. Ich weiß gar nicht, was ich machen soll. Ich kann niemanden fragen, mit niemandem sprechen. Ich werde nicht angerufen. Alle sind beschäftigt. Jeder ist heute wieder in die Routine seines Alltags versunken. Diejenigen, mit denen ich zwei Wochen lang täglich sprechen konnte, sind nun unerreichbar geworden. Die Selbstverständlichkeit, die galt, indem man täglich miteinander sprach, ist beendet. Nichts mehr geht automatisch. Mich spricht niemand einfach an. Das ist ungewöhnlich. Morgen ist es für mich vielleicht schon wieder gewöhnlich.

Endlich, um vier Uhr nachmittags setze ich mich auf mein Fahrrad. Ich fahre einfach los. Doch es treibt mich die kleine Straße entlang, die ich schon einmal mit dem Rad unterwegs gewesen war. Es ist die Straße auf der ich mit Pete und Ida zum ersten Abendseminar in den kleinen Ort gefahren war. Eine andere Strecke fällt mir jetzt nicht ein. Ich trete einfach weiter. Schon nach den ersten wenigen Kurven sehe ich Pete, wie sie neben mir im Wagen sitzt und anfängt mich auszufragen. Ich habe viel Zeit sie mir im Sitz neben mir anzusehen. Sie lächelt verschmitzt bei jeder Frage, die sie mir stellt. Sie will, dass auch ich lache und ich tue es, denn ihre Fragen finde ich lustig. Ihre Art zu fragen finde ich nett. Sie fragt das alles gar nicht, weil sie das wirklich wissen will, sondern sie will mit mir ein bisschen spielen. Sie will wissen wie ich bin. Wir kennen uns kaum, ihre vielen Fragen sind ihre Art mit mir Kontakt zu suchen. Sie will mich kennen lernen.

Die Strecke durch den Wald ist angenehm kühl. Es geht durch steile, enge Kurven bergan. Ich strample und schwitze. An der ersten Anhöhe sehe ich weit unten die Kreisstadt liegen. Der noch morgens so klare Himmel ist diesig geworden. Die Sicht auf die Berge ist von Dunst verstellt. Ich trinke in großen Schlucken das Leitungswasser aus einer Glasflasche, die ich aus der Fahrradtasche nehme.

Um viertel nach sechs Uhr morgens fährt der Werksbus vor dem grauen Bahnhofsgebäude ab. Ich fahre mit dem Fahrrad durch den kühlen Morgen, vorbei am Kreiswehrersatzamt, vorbei an der Wohnung von Ida und Pete, danach aber nicht nach rechts Richtung Schule, sondern geradeaus. Dort kommt rechter Hand nach dreihundert Metern der Bahnhof. Das Fahrrad kette ich an eine Straßenlaterne, denn ich bin knapp dran. Ich sehe links vom Bahnhof einen Bus, steige beim Fahrer ein, frage, ob das der Werksbus ist, sehe ein Nicken, zeige ein Papier von meiner Schule vor und suche mir hinten im Bus einen freien Sitzplatz. Es ist völlig ruhig. Zehn bis fünfzehn Personen sitzen verschlafen da. So kann es in einem Bus also auch zugehen. Verglichen mit der Busfahrt von Samstag, mit den Kindern zurück in die Kreisstadt, wirkt der Morgen nun wie eine Fahrt zu einer Beerdigung. Das ist er also, der Montagmorgen, wenn man zur Arbeit fährt. In meinem Kopf höre ich jetzt das Lied „I Don’t Like Mondays“ von Bob Geldorf. Nein es ist nicht mein Kopf, es ist das Radio. Ganz leise höre ich es aus dem Lautsprecher über dem Sitzplatz. Jetzt weiß ich, was der meinte, als er das geschrieben hat. Diesen grauen Morgen an diesem Bahnhof in diesem Bus könnte man wirklich niederschießen, so wie Bob Geldorf da singt. Der Fahrer wirft den Motor an. Ich schnüffle an meiner Jacke, sie riecht leicht nach Rauch vom Lagerfeuer. Der Bus klappert mehrere Dörfer und Ortschaften ab. Um fünf Minuten nach sieben Uhr erreicht er in einem kleinen Ort, nahe dem großen See an dem Thomass Onkel das Grundstück mit dem Steg hat, einen großen Parkplatz. Er fährt unter einer geöffneten Schranke hindurch und dreht vor einem stählernen Eingangstor an einer großen Halle mit hohen Fenstern um. Dort öffnen sich die Bustüren.

Ich stehe von meinem Sitzplatz auf. Ich spüre, wie meine Knie leicht zittern. Ich fühle mich müde. Ich laufe einfach den Frauen und Männern hinterher. Sie schlendern größtenteils gelangweilt durch das Eingangstor. Die meisten gehen danach rechts, die wenigsten gehen geradeaus weiter. Eine Frau die dort stehen bleibt, frage ich, wo es denn hier zum Ausbildungsbereich geht. Sie zeigt mit der Rechten nach oben. Da hinten die Treppe rauf. Ich durchquere die tiefe Halle, rechts und links sehe ich Arbeitstische die mit elektronischen Geräten belegt sind. Ich sehe Platinen und Lötkolben. Dann kommt ein Fließband, auf dem Gehäuse und Bildröhren stehen. Am Ende der Halle öffne ich eine Glastüre, dahinter steige ich eine steile Treppe hinauf, wo ich durch eine Tür die Lehrlingswerkstatt erreiche.

Die Auszubildenden haben blaue Latzhosen an. Genau so habe ich mir das vorgestellt. Ich nicke, sage aber gar nichts sondern gehe schnurstracks durch einen Raum mit Werkbänken, vorbei an Auszubildenden, die dort arbeiten. An einer Glaswand öffne ich eine Glastür. Es ist das Büro des Werkstattleiters. Ich sehe dort einige bekannte Gesichter wieder, worüber ich jetzt froh und beruhigt bin. Es sind Mitschüler aus meiner Klasse. Auch Matthias ist dabei. Sie stehen rund um einen Schreibtisch. An dem sitzt ein stämmiger, leicht untersetzter Typ, der ganz freundlich aussieht, weil er beim sprechen permanent lächelt. Es ist der Werkstattleiter und Ausbilder. Ich stelle mich am Rand des Kreises zu meinen Mitschülern. Ich sehe auf meine Armbanduhr, es ist acht Minuten nach sieben Uhr. Der Werkstattleiter blickt auch auf seine Uhr. Acht Minuten sagt er und Grüß Gott. Ich sage nur: Der Bus. Ah so, sie kommen mit dem Bus aus der Kreisstadt. Ja, der hat sich anscheinend leicht verspätet. O.k., sagt der Leiter und fährt mit seinen Erklärungen fort.

Ich bin der Einzige der von der Schule zum Betriebspraktikum erscheint und täglich aus der Kreisstadt kommt. Alle anderen Mitschüler wohnen in der Umgebung der Kreisstadt und erreichen diese Praktikumsstelle über unterschiedlichste Wege. In dem Praktikum lerne ich Grundsätzliches. Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Regelmäßigkeit, Aufmerksamkeit, Sauberkeit, Ordnung, Genauigkeit, Respekt und Unterwürfigkeit gegenüber dem Vorgesetzten. Daraus ergeben sich Anerkennung, gute Bewertungen und Häkchen im täglichen Arbeitsbericht, der zwischen halb fünf und fünf Uhr Nachmittags geschrieben werden muss. Ich finde in meinem Berichtsheft positive Bemerkungen über mich, die der Werkstattleiter dort hineinschreibt. Beobachtungsgabe, Verständnis, Praktisches und theoretisches Denken, kann sich eingliedern, findet sich schnell in Arbeitsprozessen zurecht, kann räumliche und technische Zusammenhänge verstehen. Ich sehe in der Produktion, in dieser Fabrik, wie das Arbeitsleben abläuft. Es kommt mir sehr diszipliniert und sehr stupide vor. Es benötigt viel Energie und Aufmerksamkeit. Der Tag ist mit Arbeit voll ausgefüllt. Um viertel vor sehr Uhr abends steige ich gerädert uns sehr Müde aus dem Bus am Bahnhof aus. Am Freitag komme ich schon um viertel vor Drei am Bahnhof an, kann aber den Nachmittag nicht nutzen, weil ich auf dem Sofa in meinem Zimmer einfach einschlafe.

Die Arbeit in der Produktion ist so langweilig, dass ich ständig über anderes nachdenke als über die Arbeit, die ich mache. Ich sitze an Automaten, die ich bediene. Das sind Pressen, mit denen an bunten Kabeln kleine Stecker angepresst werden. Oder es werden Metallformen ausgestanzt. Manchmal sitze ich an Lötmaschinen, die automatisch Widerstände, Kondensatoren und Transistoren auf Platinen auflöten. Die Arbeit besteht darin, die Platinen und die einzulötenden Bauteile einzulegen, im Fehlerfall den roten Knopf zu betätigen, den Fehler zu beseitigen, das Ding zu reinigen und erneut Platinen und Bauteile in die Maschine einzulegen.

Ich denke bei dieser Arbeit an vieles. Ich lenke mich ab, denn sonst vergeht die Zeit nicht. Ich erinnere mich an den nahen See, der von dieser Fabrik nur wenige Kilometer entfernt liegt. Ich denke zurück an die kurze Fahrradtour und an den schönen Abend mit Thomas, Ida und Pete am Lagerfeuer direkt am Wasser. Die Zeit seitdem ist schnell vergangen. Jetzt, wo Sommer geworden ist, sehe ich Ida und Thomas nur noch in der Arbeitsgruppe, die immer öfter ausfällt. Thomas hat seither keinen gemeinsamen Ausflug mehr vorgeschlagen. Sogar der Verkaufsstand findet nur noch selten statt. Das liegt daran, dass Thomas viel bei seinen Eltern in deren Töpferwerkstatt arbeitet. Ab Herbst wird er seine Ausbildungsstelle wechseln. Am Dienstagabend erzählten er und Ida mir und Martin in der Arbeitsgruppe, dass er eine Ausbildungsstelle als Holzkunsthandwerker gefunden hat. Das sei das, was ihn wirklich interessiere, was er schon immer lernen wollte. Die Schule für diese Ausbildung nimmt aber jedes Jahr nur wenige Schüler auf. Er habe sich schon vor Jahren beworben, und sich seitdem immer wieder gemeldet. Das sei ein Riesenaufwand, weil man immer eine große Mappe mit Zeichnungen zur Bewerbung abgeben müsse. Das habe er Jahre lang getan und das habe sich jetzt gelohnt. Er hat eine Zusage. Er habe seine Schreinerlehrstelle heute gekündigt. Das muss gefeiert werden! Ida hat eine Sektflasche dabei. Der Korken knallt an die Dachschräge in meinem Zimmer. Den Sekt müssen wir aus Teebechern trinken, denn ich habe keine Gläser. Das macht aber nichts. Wir freuen uns mit Thomas, lachen und gratulieren.

In der zweiten Praktikumswoche arbeite ich mit Matthias zusammen in der Endmontage und Kontrolle. Dort werden Fernsehgeräte, Radios und Kassettenrecorder abschließend zusammenmontiert, getestet und am Fließband verpackt. Während ich in der Endmontage die Gehäuse von Radios an einer Maschine mit deren technischen Inhalt zusammenfüge, weist mich Matthias auf eine junge Frau hin. Sie sitzt uns gegenüber. Sieh sie dir genauer an. Sie arbeitet an einer Druckmaschine. Die Maschine bedruckt die Gehäuse. Dazu legt die Frau die Gehäuse in eine Form ein, schiebt die Form unter eine Stanze und zieht einen Hebel. Nach einem Zischen ist der Druck in das Kunststoffgehäuse eingebrannt. Die Gehäuse laufen dann auf einem Förderband zu mir. Ich verschließe sie an meiner Maschine mit deren Inhalt. Von mir laufen die Radios auf dem Band dann weiter zu Matthias und anderen, die einen genau vorgeschriebenen Funktionstest durchführen. Danach gehen die Geräte in die Verpackung. Zuerst verstehe ich Matthias nicht. Warum soll ich die Frau ansehen? Dann sehe ich genauer hin. Ich erkenne, dass die Frau blind ist.

Matthias hat gemerkt, dass ich lange gebraucht habe um das zu erkennen. Er muss frühzeitig bemerkt haben, dass die Frau da drüben nicht sehen kann. Er scheint mir zeigen zu wollen, wie schlecht ich sehe, was vor meinen Augen geschieht. Erst jetzt erkenne ich die Frau. Sie fährt täglich in meinem Bus. Sie sitzt jeden Morgen direkt hinter dem Busfahrer. Matthias zwinkert mir zu.

Er hat einen großen Kopfhörer auf, das gehört zu dem Funktionstest. Der hängt um seinen Hals. Damit testet er, ob auch die Steckerbuchse für den Kopfhörer an dem Radio funktioniert. Matthias sieht mit dem riesigen Kopfhörer und den weißen Kunststoffhandschuhen ganz lustig aus. Er könnte sehr gut einen überdrehten Clown spielen. Wie er mit den Handschuhen das Radio genau abtastet, jeden Schalter nach Vorschrift betätigt, das Batteriefach öffnet, Batterien einlegt und herausnimmt, den Stromstecker anschließt, den Kopfhörer auf die Ohren schiebt, das Radio dicht vor die Augen hält um zu sehen, ob die Senderbeleuchtung bei der Sendersuche automatisch ein und ausgeschaltet wird. Matthias hat ein Lächeln, das ihn mit diesen großen Kopfhörern auf seinen Ohren aussehen lässt, wie ein Pausenclown im Zirkus, er versucht, sich mit der Bedienung eines neuartigen Gerätes zu Recht zu finden. Einmal fällt Matthias dieses Ding tatsächlich runter. Weil er sich entgegen der Vorschrift mit seinem Stuhl zu weit hinter die Tischkante begeben hat, droht das Radio auf den Boden zu krachen. Doch Matthias fängt das Teil, bevor es aufschlagen kann, flink mit der linken Hand ab. Das wirkt wie eine lange einstudierte Nummer. Er blickt sich nach diesem Vorfall in alle Richtungen der Halle um. Schließlich lacht er mir zu, weil er feststellt, dass keiner außer mir ihn beobachtet hat.

Am vorletzten Tag des Praktikums spricht Matthias mich an. Ob ich nicht Lust hätte mit ihm zusammen in der Mittagspause an den See zu fahren. Er habe ein Auto auf dem Parkplatz stehen. Ich sehe ihn verdutzt an. Das habe ich nicht erwartet. Ich nicke und sage, na klar komme ich da mit.

Um halb Eins verlassen wir die Werkshalle durch den Haupteingang. Matthias fährt einen roten VW-Golf. Ich sitze neben ihm und frage ihn, wie er zu diesem neuen Auto kommt. Das gehört meiner Mutter. Sie leiht es mir nur solange ich dieses Praktikum machen muss, weil es aus unserem Ort keine Busverbindung hierher gibt. Matthias fährt schnell und routiniert. Er hat seinen Führerschein, so wie ich, seit seiner Volljährigkeit. Auch er hat exakt an seinem achtzehnten Geburtstag das Papier bekommen. Ohne Führerschein kommt man hier in der Gegend nicht weiter. Ich stimme zu. In der Großstadt ist das anders. Aber vor dem Studium muss die Schule in der Kreisstadt absolviert werden, erst danach geht es in die Großstadt. Dort braucht eigentlich keiner wirklich ein Auto. Ich stimme Matthias zu, obwohl ich die Großstadt kaum kenne. Matthias hat sich dort schon die Uni angesehen. Aber leider, so meint Matthias, dauert es bis zum Studium ja noch ein weiteres Schuljahr und dann noch mal zwei Jahre für den Wehrdienst. Ob ich auch schon die Musterung hinter mir hätte?

Matthias parkt auf einem Parkplatz direkt am Wasser. Die Sonne spiegelt sich auf dem bewegten Wasser. Wir laufen ein Stück entlang dem Wasser. An einem kleinen Strand, den Matthias zielstrebig ansteuert, setzen wir uns auf die Steine. Dort essen wir unsere mitgebrachte Brotzeit.

Das ist das schönste an diesem langweiligen Praktikum, sagt Matthias. Ich nicke zustimmend, sehe dabei hinaus auf das Wasser. Zwei Segelboote dümpeln unweit vom Strand entfernt vor sich hin. Warst du schon auf so einem Boot? Nein, antworte ich. Ich war öfter schon auf dem Wasser, auf einem alten großen Windsurfbrett habe ich das Fahren gelernt, aber Segeln, davon habe ich keine Ahnung. Dann kannst du es ganz schnell lernen. Die Technik ist anders aber die Theorie ist die gleiche. Natürlich ist die Segelprüfung schwer aber die braucht man eigentlich nicht unbedingt. Hast Du ein Segelboot? Nein natürlich nicht, aber mein Vater hat eins, hier am See. Das liegt nicht weit weg. Sonntags sind wir oft draußen. Gerade jetzt, bei dem herrlichen Wetter ist das traumhaft.

Ich erkenne Matthias kaum wieder, er schwärmt von der Natur am See, erklärt mir, welche Vögel hier nisten, wo ein Wasserschutzgebiet ist, wie die Berge in der Gegend heißen, welches die schönsten Wandertouren sind, wo am wenigsten Touristen herumlaufen und um welche Zeit welche Berghütte noch geöffnet hat. Mir wird klar, dass ich ihn im Grunde nicht kenne. Ihn kenne ich so wenig, wie alle anderen Mitschüler.

Diese Schule ist kein Ort, um sich kennen zu lernen, sagt Matthias. Dort gibt es keine Zeit, die Pausen sind kurz und, wie ich erst in diesem Praktikum bemerkt habe, kommen die meisten Schüler gar nicht aus der Kreisstadt. Sie wohnen in alle Richtungen verstreut. Mein erstes Gespräch mit einem Mitschüler führe ich heute, vier Wochen bevor dieses Schuljahr beendet wird. Auch mit Matthias könnte ich mich nachmittags gar nicht verabreden und treffen, weil er ziemlich weit entfernt von der Kreisstadt hinter diesem See wohnt. Die Busverbindung gibt es nur morgens, mittags und am späten Nachmittag. Die zwei Nachmittage in der Woche, an denen Nachmittagsunterricht stattfindet, hat Matthias mit zusätzlichen Nachhilfestunden belegt, die er gleich neben der Schule bei einem Mathematiklehrer von einer anderen Schule nimmt.

Matthias macht auf mich großen Eindruck. Ich habe ihn völlig falsch eingeschätzt. Ein einziges Gespräch in der einen Stunde Pause am See genügt, damit ich ihn in völlig anderem Licht erkennen kann. Er hat wie ich große Schwierigkeiten mit dieser Schule. Er sagt, es sei dort kaum auszuhalten. Aber, weil er wisse, dass es ja nur noch ein Jahr ist, sei ihm das inzwischen egal. Die ersten Wochen hat er kaum ausgehalten. Die Lehrer, aber auch die Schüler seinen unglaublich abweisend und verschlossen dort. Die Forderungen seien völlig überzogen. Was dort gelernt werde, könne niemals wieder hervor geholt werden. Das zusammenhangslose Pauken sei größtenteils unbrauchbar. Das Praktikum sei bestes Beispiel. Die Schule passe da nicht dazu. Was der Werkstattleiter jeden Morgen erzähle, sei zusammenhängendes Denken, damit habe die Schule nichts am Hut.

Abends denke ich an das Zusammentreffen mit Matthias in der Pause am See. Mit wenigen klaren Worten hat er Kontakt zu mir aufgenommen. Hauptsächlich hat er von der herrlichen Umwelt geschwärmt, die seine Heimat ist. Er hat prägnant mit wenigen Worten gesagt, dass seine Haltung zu dieser Schule nahe der Meinen liegt. Was bedeutet das für mich? Kann ich eine Haltung wie Matthias einnehmen. Nur noch ein Jahr? Danach ist diese Schule eh vorbei. Sollte ich so zu denken lernen?

Nachts an meinem kleinen Feuer kommen mir die Worte von Matthias schon sehr weit entfernt vor. Hat er sie überhaupt gesagt? Waren wir überhaupt diese eine Stunde an dem See gewesen und haben miteinander gesprochen? Wenn man einen Menschen kaum kennt, beziehungsweise nur in einer Situation, wie in dieser Schule kennt, da ist es schon sehr komisch, wenn dieser sich plötzlich ganz anders nähert und zu erkennen gibt. Matthias Worte erinnern mich an eine Aussage meiner Pflegemutter. Später fragt dich keiner mehr, welche Lehrer du hattest. Es kommt nur auf das Ergebnis an. Matthias sagte das zwar ganz anders, meinte es auch anders, aber das Ergebnis ist das gleiche. Es ist nur noch ein Schuljahr, da fragt dich im Studium keiner, auf welcher Schule du die Zugangsberechtigung bekommen hast. Matthias findet nicht gut, was auch mir an der Schule negativ aufgefallen ist. Aber er blendet das mit der Perspektive aus, die er sich in den Kopf gelegt hat. Bei mir aber fehlt diese Perspektive. Das könnte mein Problem sein. Deshalb kann ich da vielleicht nicht so leicht drüber hinwegsehen, wie Matthias das tut.

Der letzte Praktikumstag. Der Werkstattmeister lässt uns heute viel Zeit in der Werkstatt, damit wir unsere Berichtshefte fertig schreiben können. Er unterschreibt alle Tagesberichte und versieht sie mit Häkchen und teils Kommentaren. Mittags verabschiedet er sich. Er wünscht uns alles Gute für unsere Zukunft. Er erinnert uns daran, dass alles was wir hier gesehen haben nur ein winziger Ausschnitt unserer Zukunft gewesen sei. Jeder von uns habe die Aufgabe, sich zu überlegen, ob er das wirklich machen will, wovon er hier einen kleinen Teil kennen lernen konnte. Die Worte geben allen zu denken. Sie wirken ganz anders als die Rausschmeißerkommentare der Lehrer in der Schule. Es geht darum, genau zu überprüfen, ob die Richtung stimmt. Es geht darum genau hinzusehen, denn die Richtung ist, so der Lehrmeister, eine Festlegung der Grundlage, die dem Beruf dient. Niemand soll rausgeschmissen werden, sondern jeder soll nachdenken.

Politik

Montags in der Schule ist es, als habe kein Praktikum stattgefunden. Auch die Pfingstferien hatte es nie gegeben. Die Praktikumshefte werden eingesammelt. Sie kommen in eine Akte. Sie gehören als Nachweis zu den Unterlagen die notwendig sind um die Versetzung in das nächste Schuljahr zu schaffen. Der Inhalt des Praktikums und des Heftes wird nicht besprochen. Das hat mit dem Schulunterricht nichts zu tun.

Mir fehlen noch zwei gute Noten in abschließenden Arbeiten, die in dieser Woche geschrieben werden. Ich habe deshalb das gesamte Wochenende vor meinen Büchern verbracht. Ich habe, wie eine Maschine in der Fabrik, alles in meinen Kopf hinein gehämmert, was in den letzten entscheidenden Prüfungen behandelt werden könnte. Heute in der sechsten Stunde steht der erste Test an. Er läuft genau so ab, wie ich das an dieser Schule kenne. Eines ist anders. Matthias fehlt. Er ist heute einfach nicht gekommen. Am Freitag hatte er noch zu mir gesagt, dass kommenden Montag und Mittwoch ja noch zwei wichtige Prüfungen anstünden. Wir haben darüber gescherzt, dass wir uns über das Wochenende die Birnen mit Wissen zudröhnen würden. Danach wäre das Schuljahr dann ja wohl endgültig gelaufen.

Ich denke nicht darüber nach, wo Matthias geblieben sein könnte, sondern ich sitze und schreibe die Prüfung. Ich kotze alles auf das Papier, was mir annähernd mit dem Lösungsweg und der Materie tu tun zu haben scheint, die in der Prüfung abgefragt wird. Ich wende meine stupide und konsequent eingeübte Methode an. Um jede Aufgabe zu bearbeiten habe ich nur eine bestimmte Zeit zur Verfügung. Ich deute bei allen Aufgaben den Lösungsweg an. Schreibe die dazu passenden Formeln hin, die mein Hirn ausspuckt. Ich habe am Wochenende viele Formeln auswendig gelernt. Dann beginne ich Lösungen zu errechnen. Auf halbem Weg, meist komme eh nicht weiter, springe ich zur nächsten Aufgabe. Zum Schluss habe ich alle Aufgaben irgendwie abgearbeitet. Mir bleiben noch knappe zehn Minuten Zeit. Ich gehe diejenigen Aufgaben noch mal kurz an, zu denen mir, während der Arbeit an anderen Aufgaben, zwischenzeitig eine Erinnerung an das am Wochenende in mein Hirn mit Gewalt hinein gehämmerte Wissen kommt. Ich ergänze diese Aufgaben mit diesen Einfällen.

Die ganze Klassenarbeit hindurch wende ich meinen Kopf, meinen Blick nicht von den karierten Blättern auf dem Tisch vor mir ab. Mein Blick geht nicht nach rechts, nicht nach links zu dem leeren Platz von Matthias und nicht nach vorne zum Mathematiklehrer. Alles um mich herum blende ich von der Sekunde an aus, ab der der Lehrer seine Stoppuhr am Handgelenk betätigt hat. Als der Lehrer ruft: Schluss jetzt, keiner schreibt mehr, lasse ich mechanisch den Stift einfach fallen, um mich keine Sekunde lang der Gefahr auszusetzen, dass er meine Arbeit einkassiert und mit der Note sechs bewertet. Erschöpft lasse ich mich in den Stuhl zurück sinken. Mein Blick fällt auf den leeren Stuhl von Matthias.

Im Sekretariat ist um diese Uhrzeit Mittagspause. Eine schlecht gelaunte Mitarbeiterin, hinter einem hohen grauen Tresen raunst mich an: Warum woins denn des wissen? Is des a Verwandter von erna oder wos? Sand sie der Bruader vo dem? In was für a Klass geht jetzt der? Was hamms gsagt?

Ich verlasse das Sekretariat nach wenigen Minuten. Von der Frau bekomme ich keine Auskunft. Matthias geht mich nichts an. Weder Adresse, noch Telefonnummer kann ich über diesen Weg herausfinden. Ich verlasse das Schulgebäude, laufe meine tägliche Strecke in Richtung Stadtmitte. Erst an der Telefonzelle kurz vor dem Discounter fällt mir ein, dass ich morgens mit dem Fahrrad gefahren war. Das habe ich jetzt vor der Schule stehen lassen. Im Telefonbuch finde ich im regionalen Bereich das Verzeichnis über den kleinen Ort den Matthias mir als seinen Wohnort genannt hatte. Ich suche nach seinem Namen. Nichts. Ich gehe den Buchstaben noch einmal langsam mit dem Zeigefinger durch. Doch! Da ist er! Heißt Matthias Vater mit Vornamen Michael? Keine Ahnung, aber das ist der einzige Name in diesem Ort, der passt. Ich krame in meiner Tasche, wo ich mehrere Zehnpfennigstücke finde.

Das Telefon ist alt. Es ist noch nicht so ein silbernfarbiger, kleiner Kasten, wie sie von der Post am Bahnhof inzwischen in einer Reihe angebracht worden sind. Ich sehe, wie die Münzen in dem Apparat hinter der Sichtglasscheibe entlang rollen und schließlich hintereinander aufgereiht liegen bleiben. Ich erinnere mich an meine früheren Anrufe am Sonntagnachmittag bei Oma. Der schwarze Apparat, der schwere schwarze Hörer, das gelbe Telfonhäuschen. Alles in dieser Telefonzelle ist so, wie es noch vor sechs Jahren und die Jahre davor gewesen war. Jeden Sonntag hatte ich bei Oma angerufen. Selbst der Geruch dieses Telefons kommt mir genauso vor.

Das Freizeichen höre ich sieben, acht mal. Ich lege auf keinen Fall auf. Ich lasse es so lange läuten, bis entweder jemand abhebt, oder ein Belegt – Signal kommt, dann versuche ich es eben noch mal. Dazu kommt es nicht. Ich höre eine tiefe Männerstimme. Ist das sein Vater? Vielleicht ist das sein Vater, oder ist es sein Großvater? Was ich von Matthias will, der sei nicht da. Warum ich wissen will, wo er ist? Ob ich ein Lehrer sei? Nein ich bin ein Mitschüler. Es gehe mich zwar überhaupt nichts an, aber der Junge, komme künftig gar nicht mehr in diese Schule. Er macht ab Herbst eine Ausbildung. Das bringe doch nichts in dieser Schule. Der ganze Stress jeden Tag, das viele Geld für die Nachhilfe und trotzdem diese saumäßigen Noten, damit sei jetzt endgültig Schluss. Dem Buben sei es zum Schluss richtig schlecht gegangen mit dieser Schule. Das Betriebspraktikum letzte Woche, das sei gut gewesen, da gings ihm richtig gut. Jetzt habe er einen Lehrvertrag unterschrieben. Einen guten Platz im Installationsbetrieb, direkt im Ort habe er gefunden. Alles ist unterschrieben und damit unter Dach und Fach. Jetzt sei Schluss mit dieser Arschplattsitzerei in der Schule. Bis September werde Matthias in einem guten Job arbeiten. Er habe ihm einen super Job in einer Fabrik verschafft. Danach geht’s los mit der Ausbildung. Das sei jedem jungen Mann zu empfehlen, auch mir. Lassens die depperte Schule sein! Das ist doch nix, da verdienen’s nix und da lernen’s nix! Das ruft der Mann in den Hörer. Ich gebe ihm die Telefonnummer von Frau Stößer und sage, dass ich mich freuen würde, wenn Matthias anruft, wenn er dazu einmal die Zeit hätte.

Ich hänge den schwarzen Hörer auf. Die zwanzig Pfennig rollen hinter der Sichtglasscheibe weiter, klick und weg sind sie. Die schwere Telefonzellentür geht nur auf, weil ich alle Kraft anwende und unten am Metalltürrahmen, er hält die schwere Glasscheibe, mit dem rechten Fuß nachhelfe. Es ist genau die gleiche Bewegung, die ich früher nach den Gesprächen mit Oma eingesetzt habe, um die gelbe Telefonzelle zu verlassen.

Langsam laufe ich die Wegstrecke zurück Richtung Schule. Matthias sehe ich vielleicht nie wieder. Sein Vater oder Großvater ist überzeugt absolut das Richtige zu tun. Vielleicht sieht das auch Matthias so. Denn warum sonst hat er einen Lehrvertrag unterschrieben? Das hat sicher nicht sein Vater getan, denn Matthias ist, wie ich, volljährig. Aber warum hat Matthias nichts davon in der Mittagspause am See erzählt? Vielleicht war die Zeit dafür zu knapp. Wir haben vorher nie miteinander gesprochen, da gab es viele andere Dinge zu besprechen. Aber eine Lehre, das ist doch so wichtig, das hätte er doch gesagt. Vielleicht wusste er noch nichts davon. Aber was war am Freitag, beim Abschied nach dem Praktikum vor der Fabrik, als ich zum Werksbus ging und wir noch über die zwei Prüfungen dieser Woche sprachen? Vielleicht hatte er da auch noch keine Ahnung. Wahrscheinlich hat er erst am Freitagnachmittag die entscheidende Post bekommen. Vielleicht wollte er mit niemanden darüber sprechen, bevor es nicht sicher war. Der unterschriebene Lehrvertrag lag erst am Freitagnachmittag in der Post. Damit war das Wochenende für Matthias frei geworden für alles Mögliche, nur nicht für die folgende Schulwoche, denn die gab es nicht mehr. Vielleicht ist es so gewesen. Matthias schwärmte mir von der Großstadt und dem kommenden Studium nur vor, weil er noch nicht wusste, dass der Lehrmeister seine Bewerbung mit einem Vertrag für ihn quittieren werde.

Abends um halb sechs Uhr wendet der Jugendleiter seinen VW-Scirocco auf dem Parkplatz vor dem Moulin Rouge. Er steigt aus und läutet bei Frau Stößer. Ich laufe sofort die Wendeltreppe hinunter, erkenne durch das Fenster an der Haustür draußen den Jugendleiter vor dem schmiedeeisernen Tor und entschuldige mich bei Frau Stößer, die ihre Wohnungstür öffnet. Ich erkläre, dass ich abgeholt werde. Ich begrüße den Jugendleiter und setze mich im Wagen neben ihn. Die gesamte Fahrt über diskutieren wir über den Nachrüstungsbeschluss der Nato und über die desolate Situation der deutschen Friedensbewegung. Der Jugendleiter flucht mehrfach über die neue Bundesregierung und deren Übertreibungen betreffend der russischen Bedrohung. Der Verteidigungsminister sei unglaubwürdig, er habe wichtige Analysen der alten Bundesregierung nicht beachtet, vielleicht sogar verschwinden lassen, welche den Doppelbeschluss aus deutscher Sicht noch einmal in erheblich zweifelhaftes Licht rücken würden.

Ich interessiere mich insgesamt dafür, habe aber von den Details nicht wirklich Ahnung. Trotzdem begleite ich den Jugendleiter in die Großstadt. Dort findet abends ein ausgedehntes Treffen einer politischen Arbeitsgruppe statt. Diese Treffen gibt es etwa monatlich, ich war schon auf vielen dabei. Wir sind sozusagen eine Delegation aus der Provinz. Die Diskussionen sind meist hitzig und ziehen sich oft bis Mitternacht hin. Der Jugendleiter lädt mich eineinhalb Stunden später, so lange dauert die Autofahrt zurück, wieder vor der Tür bei Frau Stößer aus. Um diese Uhrzeit, das ist meist zwischen halb zwei und zwei Uhr nachts, wendet er dann auf dem Parkplatz vor dem Moulin Rouge, wo er mich auf die Landräte, Stadträte oder andere Politiker hinweist, deren Autos er angeblich vor dem Puff wiedererkennt. Das geschieht heute Nacht nicht, denn ich habe meine kleine Reisetasche dabei, in der mein Schlafsack und meine Zahnbürste stecken.

Der Politische Arbeitskreis findet mitten In der Großstadt statt. Um halb ein Uhr nachts ist er beendet. Der Jugendleiter fährt ohne mich zurück. Ich übernachte in einem Raum neben dem Zimmer, in dem der Arbeitskreis stattgefunden hatte. Morgens um viertel nach acht Uhr weckt mich eine Putzfrau. Sie versucht das Zimmer von außen aufzuschließen. Sie ist überrascht, dass es offen ist und sie ist überrascht davon, dass ich auf einem Sofa, das an der Wand neben einem Besprechungstisch steht, in meinem Schlafsack liege. Morgen, gähne ich und erkläre, dass ich hier übernachten durfte und gleich aufstehe und verschwinde. Die Putzfrau nickt. Sie zieht die Tür wieder zu. Ich erhebe mich von dem Sofa, fühle mich wie gerädert und so als habe ich abends Alkohol getrunken. Das Treffen am Vorabend war lang und anstrengend. Der Raum war von Tabakrauch völlig verqualmt. Das könnte die Kopfschmerzen verursachen, die ich jetzt spüre. Ich habe nur Wasser getrunken. Auf solchen Sitzungen gibt es immer nur Wasser und Kaffee. Den könnte ich jetzt brauchen. Ich öffne ein Fenster und spüre einen kühlen Luftzug. Von draußen höre ich Verkehrslärm. Ich ziehe meine Klamotten an, schüttle den Schlafsack aus, rolle ihn ein und verstaue ihn in meiner Tasche. Ich schließe das Fenster und verlasse den Raum. Ich sehe in einen langen, finsteren Gang. Die Putzfrau dröhnt mit einem Staubsauger hinter einer offenen Bürotüre. Ich gehe auf die Toilette. Dort putze ich mir die Zähne.

Danach gehe ich vorbei an dem Raum in dem abends zuvor die Besprechung stattfand. Ich war noch nie am hellen Tag in diesem Gebäude. Ich kenne es von langen-, aber, wegen meiner stets sehr kurzen abendlichen Aufenthalte in dieser Stadt zusammen mit dem Jugendleiter, irgendwie unwirklichen Besuche in dem politischen Arbeitskreis. Das Haus ist mir mit Tageslicht fremd. Ich kenne diesen Gang. Aber ich kenne ihn nur bei Nacht. Er sieht ohne eingeschaltete Deckenbeleuchtung völlig verändert aus. Der Raum, in dem der Arbeitskreis gestern getagt hatte, steht offen. Ich betrete ihn kurz. Alle Fenster sind geöffnet. Es stinkt nach kaltem Rauch. Die Stühle, die Tische, die Sitzecke, alles sieht tagsüber anders aus. So habe ich das noch nie gesehen. Es ist leer, kalt und miefig. Abends, bei der Ankunft mit dem Jugendleiter war dieser Raum stets voll besetzt. Wir waren immer die letzten, die dazustießen, denn unser Weg ist am weitesten. Ich kenne diesen Raum laut und voll. Ich sehe die leeren Stühle, in denen in meinem Kopf die Menschen aus dem Arbeitskreis sitzen. Jeder hat seine feste Position auf einem Stuhl von dem aus er seine feste politische Überzeugung lautstark in die Diskussion einwirft. Jetzt wirkt dieser Raum fremd. Er ist leer, schäbig und kalt, lauter Verkehrslärm dringt durch die hohen, geöffneten Fenster. Ich stehe vor der Ausgangstür. Sie ist verschlossen. Ich bitte die Putzfrau aufzusperren.

Am Bahnhof frage ich mich, was ich hier will. Die gesamte Hektik dieser Stadt ist mir fremd. Trotzdem verstaue ich die Tasche in einem Schließfach. Meine Unterlagen stecke ich in die Jackentasche. Zu Fuß habe ich zum Bahnhof gefunden. Mit Hilfe eines Passanten habe ich die Richtung ausfindig gemacht. Es ging immer geradeaus. Ich will die Stadt erleben, das geht nur, wenn ich an deren Oberfläche laufe. Nun aber muss ich hinunter in die U-Bahn, denn mein Ziel an diesem Vormittag ist zu weit um pünktlich dort anzukommen. Im Stadtplan habe ich mein Ziel mit einem kleinen Kreuz markiert. Ich werde die U-Bahn und danach den Bus nehmen. Die Fahrkarte ist teuer. Das System durchblicke ich nicht. Ich frage einen Mann, der den Automaten auch nicht versteht. Gemeinsam finden wir heraus, wie wir dem Automaten entlocken, was wir wollen. Die U-Bahn ist um diese Zeit leer. Auch ich müsste jetzt in der Kreisstadt in der Schule sitzen. Ich habe mich für heute gestern im Sekretariat offiziell abgemeldet. Mein Eindruck war, dass die Frau im Büro nicht wirklich interessiert war. Sie schrieb meinen Namen, das Datum des heutigen Tages und eine Stichwort zu meiner Begründung auf einen Zettel. Das wars. Was sie mit diesem Zettel tat, weiß ich nicht, denn wegen der schlechten Laune der Frau verließ ich umgehend das Sekretariat.

An der Bushaltestelle dröhnt der Verkehr. Morgens fährt der Bus alle fünf Minuten. Mittags zwischen ein und zwei Uhr auch. Ich warte eine viertel Stunde, dann kommt er. An der Endstation, sie kommt schon nach fünf Haltestellen, steige ich aus. Dort wendet der Bus vor einem riesigen Gebäude, das aus grauem Beton erst vor fünfzehn Jahren errichtet wurde. Ich finde es hässlich und finde, dass es aussieht, als könne es bald einstürzen. Ich betrete eine riesige Aula, mit schwarzem, genopptem Gummifußboden. Rechts finde ich eine große schwarze Hinweistafel. Das Sekretariat ist im dritten Stock. Dorthin suche ich jetzt meinen Weg. Es gibt mehrere Treppenaufgänge. Ich nehme den falschen, laufe im dritten Stock einmal rings um das ganze Gebäude und finde schließlich eine Schlange wartender junger Leute. Das ist das Sekretariat. Ich stelle mich hinten an. Ich stehe fünf Minuten, höre die Menschen in der Warteschlange sprechen, beobachte nervöses auf und ab Getapse, sehe jungen Frauen in der Schlange beim Stricken zu, und höre coole Sprüche, die ich auch von meiner Schule in der Kreisstadt kenne.

Die Tür öffnet sich. Zu meiner Überraschung spricht mich eine Frau, sie trägt eine riesige Brille, mich, der ich ganz hinten in der Schlange stehe, an. Sie blickt aus dem Türspalt, lotst die vordere Person in der Warteschlange durch die Türe und sagt danach zu mir: Sie sand der Letzte! Die Anmeldefrist ist jetzt abgelaufen, es ist zwölf! Die Frau sieht auf ihre Armbanduhr, die sie nach oben in meine Richtung hält, und mit dem Finger darauf tippt. So signalisiert sie die Uhrzeit. Nach ihnen keiner mehr! Das ruft sie mir zu. Sie verschwindet hinter der Tür, die sie wieder zu zieht.

Ich kenne das aus dem Discounter. Wird eine Kasse dichtgemacht, bittet die Verkäuferin den Letzten an der Kasse darum, Nachfolgende an eine andere Kasse zu schicken. Doch was hat die große Brillenträgerin vor? Wohin soll ich die Nächsten, die kommen schicken? Eine junge Frau, sie wartet direkt vor mir, lacht mich an. Na da haste dir ja nen tollen Job an Land gezogen! Diese Ansprache erschrickt mich, denn ich kenne hier niemanden und habe heute noch mit keinem Menschen außer der Putzfrau gesprochen. Aber ich reagiere prompt. Mit verschränken Armen stehe ich am Ende der Warteschlange, blicke in Richtung Sekretariatstüre und sage zu der Frau, die mich da abgesprochen hat: So geht das nicht, ich werde hier niemandem sagen dass er zu spät ist. Ich merke, dass Blicke auf mich gerichtet sind. Jeder in der Warteschlange muss gesehen haben, welchen Auftrag mir die Brillenträgerin gegeben hat. Deshalb entschließe ich mich zu einer schnellen Reaktion. Ich gehe an der Schlange wartender Menschen vorbei, bis vor an die Türe. Dort klopfe ich, sage dabei den dort wartenden: Hab nur kurz da drin was zu klären, stelle mich gleich wieder hinten an.

Ich öffne die Türe, sehe drinnen die Brillenträgerin, sie steht hinter einem hohen Tresen, wie die Sekretärin in der Schule in meiner Kreisstadt. Ich sage zu ihr: Entschuldigen Sie, aber sie meinten sicherlich nicht, dass ich hier irgendwelche Nachzügler wegschicken soll? Die Brillenträgerin sieht mich verdutzt an. Was wollen sie? Warten sie draußen! Aha. Ich merke, dass die Atmosphäre in diesem Büro etwa so ist, wie um ein Uhr Mittags im Schulsekretariat in der Kreisstadt. Deshalb gebe ich einfach auf. Ich schließe die Tür, sage den ersten Wartenden an der Tür: Lässt sich nicht klären! Und stelle mich wieder nach hinten in die Schlange. Dort sind inzwischen zwei eingetroffen. Ich stelle mich hinter ihnen an.

Zehn Minuten später, bis dahin sind zu der Warteschlange noch weitere fünf Leute hinzugestoßen, holt die Brillenträgerin alle Wartenden in das Zimmer. Die Schlange steht nun in dem Zimmer vor dem Tresen.

Eine Stunde später verlasse ich das Gebäude. Meine Papiere waren vollständig, meine Anmeldung in dieser Schule wurde angenommen. Es gab mit mir keine große Diskussion. So wie es manchem in der Schlange ergangen war, erging es mir nicht. Einige hatten schon bevor sie dran waren den Raum wieder verlassen, denn dadurch, dass jeder mitverfolgen konnte, welche Unterlagen zur Anmeldung zwingend vorzulegen waren, hatte jeder seine Papiere auf Vollständigkeit überprüft. Drei, vier Leute merkten, dass ihnen wichtige Papier fehlten. Das Verkürzte die Wartezeit für den Rest, auch für mich.

Zurück zum Bahnhof bleibe ich an der Oberfläche. Ich fahre nicht mal mit dem Bus. Ich will alles laufen, um ein Gefühl für die Stadt zu bekommen. Ich sehe auf meinen Plan, vergleiche die Straßennahmen und schlage die Richtung zum Bahnhof ein. Leider hat sich der Himmel zugezogen, es ist bewölkt und dunkler geworden. Deshalb sieht die Stadt jetzt fast grau aus. Ich laufe an einer großen Straße. Der Verkehr tobt und es stinkt. So stelle ich mir die Großstadt vor. Aber schon nach zehn Minuten führt mein Weg mich rechts ab von der Straße, durch kleine Straßen. Dort stehen Häuser, die zum Teil wenig größer sind, als die Häuser in der Straße beim Haus von Frau Stößer. Dann wird die Strecke richtig grün. Sie führt mich durch einen Park. Der ist im Stadtplan mit einem riesigen grünen Fleck eingetragen. Ich finde den Weg durch den Park, so wie er im Stadtplan steht. Ich komme vorbei am riesigen Stadion und weiteren Hallen. Dort sehe ich eine Gruppe von Touristen, Japaner, alle mit Fotoapparat um den Hals. Ich kenne das aus Berchtesgaden. Dort kamen viele ausländische Touristen an. Sie wurden aus Bussen ausgespuckt, für einen Tagesausflug mit Führung. Tatsächlich höre ich im Vorbeilaufen eine Touristenführerin. Sie ist klein und schreit laut. Ich verstehe gar nichts. Später überquere ich einen großen Parkplatz. Dort stehen Busse und ich sehe ein- und aussteigende Gruppen von Touristen. Durch enge Straßen verlasse ich den Park. Ich finde den Bahnhof nach einer weiteren knappen Stunde. Um fünf Uhr sitze ich hungrig mit meiner kleinen Tasche im Zug. Ich verschlinge meine zwei Käsebrote, die ich mit abends zuvor in der Küchenzeile geschmiert hatte und trinke aus meiner Wasserflasche. Der Zug fährt los. Es hat alles geklappt. Aus dem Zugfenster sehe ich die Stadt an mir vorbeifahren.

Um viertel vor sieben Uhr klimpere ich mit meinem Schlüsselbund an Frau Stößers Haustür. Wieder fällt der Schlüssel runter. Wie oft ist er mir wegen diesem schwergängigen Schloss schon runter gefallen? Ich krieg den Schlüsseln nur ins Schloss, nachdem ich die Tasche ablege. Nicht ärgern, es ist bald vorbei. Ob das wirklich gut ist, dass es hier bald vorbei ist? Der Schlüssel ist jetzt drin, ich öffne leise und vorsichtig wie immer die Tür. Auf dem Treppenabsatz liegt ein kleiner Notizzettel. Frau Stößer schreibt, dass Karin angerufen habe. Sie meldet sich morgen wieder. Ich nehme die Tasche, schließe die Tür und steige die Wendeltreppe nach oben.

Mein Berchtesgaden an einem Abend und Morgen 1983

Die Schularbeit am Mittwoch gehe ich völlig anders an. Ich sitze vor den Aufgaben, die ich genau studiere. Ich denke daran, welche Lösungen für die Aufgaben notwendig wären. Obwohl ich keinerlei Vorbereitung getroffen habe, könnte ich einiges hinschreiben. Stattdessen verwende ich einen Teil des Papiers, um einen Brief zu schreiben. Ich richte ihn an Pete. Ich schreibe ihr, was mir in der Zeit, seitdem wir uns nicht mehr gesehen haben, alles passiert ist und was mir alles klar geworden ist. Ich plane ihr den Brief nach der Schule in ihren Briefkasten zu werfen. Es wird ein langer Brief, denn ich habe neunzig Minuten Zeit, so lange dauert die Klassenarbeit.

Ich schreibe davon, dass ich sie auf der Kinderferienmaßnahme vermisst hätte und davon dass ich sie erst jetzt, nach Wochen und Monaten richtig verstanden hätte. Ich schreibe davon, dass ich mir über uns viele Gedanken gemacht hätte und dass ich die Autostrecke, die wir das erste Mal gemeinsam fuhren mit dem Fahrrad abgefahren sei. Ich schreibe, dass sie mir oft begegnet wäre und ich ihren leeren Stuhl in der Arbeitsgruppe selbst besetzen musste.

Nachdem ich glaube, der Brief sei fertig, lese ich ihn noch einmal genau durch. Es sind drei Seiten geworden, die ich voll geschrieben habe. Ich gehe den Brief durch, als habe ich die Aufgaben der Klassenarbeit gelöst und nutze nun die letzten zehn Minuten, um jede Aufgabe noch einmal zu überfliegen und Dinge einzutragen, die mir noch eingefallen sind. Diesmal ist es aber anders. Ich erkenne, dass ich vieles eindeutig falsch bearbeitet habe. Zum Glück ist das nicht die Klassenarbeit, sondern der Brief an Pete, denn sonst würde mir jetzt richtig heiß werden, bei den vielen falschen Dingen, die ich da lese. Zum Glück habe ich in dieser Schule nichts mehr verloren, deshalb wäre ein Schweißausbruch vor Aufregung auch unnötig, auch wenn dieser falsche Brief an Pete die Klassenarbeit wäre. Ich denke daran, dass ich hier bald weg bin. Ich lache erleichtert. Zum ersten Mal blicke ich nach vorne. Dort sehe ich den Physiklehrer. Den lächle ich jetzt an. Der lässt seine Augen aufmerksam durch den Raum wandern und beachtet mein Lachen nicht.

Es ist falsch was ich geschrieben habe. Deshalb streiche ich in dem Brief weite Passagen durch. Ich habe Pete während der Kinderferienfreizeit nicht vermisst. Nur am ersten Abend habe ich an sie gedacht, weil sie und Ida ursprünglich mitkommen wollten, dann aber abgesprungen waren. Ich streiche das alles durch. Ich habe Pete nach Wochen und Monaten erst richtig verstanden. Das stimmt nicht, denn ich verstehe sie immer noch nicht. Ich kann sie deshalb nicht verstehen, weil wir nie wieder miteinander gesprochen haben. Das ist richtig. Ich habe mit ihr nie wieder gesprochen, seitdem wir das blaue Haus besucht hatten. Das wäre richtig. Das habe ich aber nicht aufgeschrieben. Ich habe auch nicht geschrieben, dass ich mit ihr reden will. Davon ist in meinem Brief gar keine Rede! Stattdessen schreibe ich davon, dass ich sie verstanden hätte. Wie soll das denn funktionieren? Wie kann ich sie verstehen, wenn ich wochenlang nicht mit ihr rede? Ich streiche das alles durch. Welche Gedanken habe ich mir über „uns“ gemacht? Keine. Ich habe mir Gedanken über mich gemacht. Da habe ich Pete dazugemischt. Hauptsächlich sind es aber meine Gedanken gewesen, die mich betrafen. „Uns“ gibt es gar nicht. Es hat „uns“ nie gegeben, dazu kam es gar nicht, denn nie waren wir zusammen. Ich streiche das alles. Die Autostrecke war ich mit dem Fahrrad abgefahren. Dort habe ich an sie gedacht. Aber hat das wirklich ihr gegolten? War das nicht eine Einsamkeit, die wegen der Ruhe an dem Sonntag nach der lauten Kinderfreizeit eingetreten war. Ich hatte auch an diesem Tag nicht den Gedanken gefasst, Pete anzurufen um mit ihr zu reden. Also streiche ich auch das. Übrig bleibt der leere Stuhl in der Arbeitsgruppe. Ich habe mich tatsächlich dort hinein gesetzt.

Der Lehrer ruft seinen Schlussatz. Ich lasse wie immer den Stift sofort fallen. Nehme aber das Papier in die Hand, falte es ordentlich zusammen und stecke es in meine Hemdtasche.

Der gelbe Opel-Kadett klappert, wenn ich Gas gebe und einen Berg hinauf fahre. Das sind die Ventile. Sie müssten mit einem ganz feinen Messblatt neu eingestellt werden. Ob sich das bei dem Wagen noch lohnt glaube ich nicht, deshalb kümmert es mich nicht. Bei jeder Steigung erinnert mich das Klappern daran. Ich weiß nicht, wie weit ein Auto so fahren kann. Ich parke oberhalb der Kneipe. Man kommt dort nur zu Fuß hin. Das sind aber nur knappe hundert Meter. Die Kneipe ist sicherlich voll, wie ich das von Früher kenne. Einerseits ist die Idee von Karin gut, sich hier zu treffen, denn ich war lange nicht da, andererseits ist gerade in dieser Kneipe ein ruhiges Gespräch ausgeschlossen. Ich laufe den Schotterweg vom Parkplatz hinunter. In der Kneipe kenne ich viele, die da jeden Samstag sitzen. Ich muss versuchen mit Karin die Kneipe zu wechseln oder ich schaffe es mit ihr ein paar Schritte zu laufen, um in Ruhe mit ihr zu sprechen. Ich will ihr sagen, dass ich wegziehe. Aber auch die nächsten Wochen, so lange ich noch in der Kreisstadt wohne, kann sie mich nicht mehr besuchen. Ich schaffe das nicht mehr.

Ich könnte oder müsste auch mit ihrem Mann Paul reden, aber ich rede mit ihr. Obwohl mich an den zurückliegenden Wochenenden nie jemand angerufen hat, um sich nach ihr zu erkundigen, möchte ich das nicht weiter. Vielleicht versteht Karin das. Ich bin spät dran, das weiß ich. Ich habe fast ein Jahr gebraucht, um ihr heute zu sagen, dass ich das nicht mehr möchte. Soll ich ihr sagen, was Paul auf der Kinderferienfreizeit zu mir gesagt hatte? Soll ich ihr meinen Eindruck von Paul schildern, bringt das was?

Die Kneipe ist übervoll. Es ist kein Platz mehr frei. Es ist laut und es ist verraucht. Ich sehe einige winkende Hände. Ich winke zurück und ich nicke Leuten an verschiedenen Tischen zu, die mich begrüßen. Ich sage Hallo und ich schüttle Hände. Hinter die Bar winke ich Martina zu. Sie arbeitet immer noch hier, heute ist sie wieder schwer beschäftigt. Jetzt kommt Karin auf mich zu. Ich habe sie bisher gar nicht gesehen. Sie kommt von Hinten. Sie schüttelt mir die Hand, lacht mich an, begrüßt mich, wie ich finde, fast etwas überschwänglich und lotst mich in die linke Ecke der Kneipe. Dort stehen viele Menschen mit Biergläsern in der Hand.

Der Laden ist ja knallvoll, rufe ich Karin zu, die sich vor mir durch die Menschentraube arbeitet. Dahinter erreichen wir einen Bistrotisch. Dort steht Paul zwischen einigen anderen Leuten. Auf die Idee bin ich nicht gekommen. Mir schießt das jetzt durch den Kopf. Na klar! Die zwei sind verheiratet, sie wohnen hier im Ort zusammen, also gehen sie auch mal zusammen in die Kneipe! Das ist doch klar! Ich lache Paul an, schüttle ihm die Hand. Ich finde, dass er sehr schlecht aussieht. Er kommt mir bleich vor und er hat wohl auch abgenommen. Na, alles klar? So frage ich. Paul nickt, lächelt, antwortet aber nicht. Ein Bier? Ich nicke. Ja, klar! Karin winkt. Hinter mir steht Martina mit einem runden Tablett. So schnell geht das hier? Schon habe ich ein kühles Bierglas in der Hand und stoße mit Paul und Karin an.

Die beiden werden sich scheiden lassen. Das erfahre ich Stunden später. Der Laden ist leer geworden, wir sitzen zu dritt am Tisch. Der Abend war lang, ich habe viele Leute gesprochen, die ich von früher in diesem Ort kenne. „Früher“ endete für mich in dem Ort erst vor nicht ganz einem Jahr, als ich mit Dorit und der Abiturientengruppe nach Griechenland unterwegs gewesen war. Kurz davor war ich von hier nach Traunstein gezogen. Es ginge nicht mehr, erzählt mir Karin, als erzähle sie mir das alles zum ersten Mal, als wüsste ich nicht, dass sie ihn schon lange Zeit betrogen hat, als habe ich sie darin nicht unterstützt, indem ich sie durch ihre Besuche bei mir gedeckt habe. Seit Paul von der Kinderferienfreizeit zurückgekommen sei hätten sie viel und lange darüber gesprochen. Es sei aus zwischen ihnen. Sie würden Freunde bleiben. Die Scheidung sei zwischen ihnen besprochen. Sie wohnten schon nicht mehr zusammen. Vor zwei Wochen sei Karin zu ihren Eltern zurückgezogen. Paul sagt nichts. Er sitzt am Tisch und trinkt. Ich finde, er sieht deprimiert aus.

Gegen halb zwei Uhr morgens, schenkt Martina das letzte Bier aus. Es reicht auch, finde ich. Sie sieht müde aus, von dem langen Abend. Als letzter Gast betritt Thomas den Laden. Eigentlich ist bereits geschlossen, aber er darf noch reinkommen, weil wir alle eh gleich gehen. Er war auf einem Musikkonzert und kommt deshalb erst so spät. Ich habe mit ihm vor Tagen telefoniert. Er setzt sich zu uns an den Tisch.

Er beschreibt, wie die Wohnung aussieht. Sie bestehe aus zwei Bereichen. Im ersten Stock seien Küche, Toilette, Wohnzimmer und sein Zimmer. Durch das Treppenhaus gehe es in den zweiten Stock, dort seien ein weiteres WC, das Bad und zwei kleine Zimmer mit Dachschrägen. Eines der beiden Zimmer könnte ich mieten. Er zeigt mir den Mietvertrag. Wenn ich wolle, könne ich ihn gleich behalten. Ich müsste ihn nur unterschreiben und an den Vermieter schicken. Der einzige Haken an der Sache sei, dass die Wohnung am Stadtrand der Großstadt liege. Genau dort beginnt die Autobahn. Der Lärm in der Wohnung sei aber halb so schlimm. Daran gewöhne man sich, wie an alles. Thomas lacht und alle andern am Tisch lachen mit. Die Miete für mein Zimmer sei echt ein Schnäppchen für die Großstadt. Dort gäbe es ganz andere Preise, da seien dreihundert Mark ein Witz, zumal ich eine ganze Wohnung mitbenutzen könne. In den Sommerferien ginge es los. Ab August zahle er Miete und beginne mit den Renovierungsarbeiten. Ich könnte ab dem ersten August jederzeit einziehen, müsste aber vorher mein neues Zimmer noch streichen.

Das Angebot von Thomas ist in Ordnung. Es hört sich gut an, sagen alle am Tisch. Problem sei halt die Autobahn vor meinem Zimmerfenster, aber was soll das, die Stadt sei nun mal kein Kuhdorf. Der Preis sei wirklich o.k. Also stecke ich den Mietvertrag ein und sage Thomas zu. Die Sache geht klar, sage ich. Ich komme ab ersten August zur Renovierung und ziehe danach ein.

Um zwei Uhr morgens verlassen wir die Kneipe. Martina gibt mir einen Schlüssel der zu unserem ehemaligen Jugendkeller passt. Ich soll ihn morgen früh dort in den Briefkasten einwerfen. Wir verabschieden uns alle auf dem Parkplatz voneinander. Ich lehne das Angebot ab, die paar Meter im Wagen von Martina mitzufahren. Ich brauche jetzt die frische Luft. Ich möchte durch den Ort laufen. Ich will sehen, wie es dort aussieht, obwohl es dunkle Nacht ist und sich im Ort sicher so gut wie nichts geändert hat. Aus dem gelben Opel-Kadett nehme ich meine Tasche mit dem Schlafsack. Dann gehe ich los. Auf der Straße sehe ich noch die Rücklichter der Autos von Karin, Paul, Martina und von Thomas. Sie sind alle in unterschiedliche Richtungen abgebogen. Jetzt ist es ruhig. Nachts um diese Uhrzeit ist im Ort nichts los. Kein Mensch ist unterwegs. Und es stimmt, nichts hat sich verändert, seitdem ich vor einem knappen Jahr weggezogen war. Das stimmt nicht, es hat sich vieles verändert, bei den Leuten, aber davon sehe ich nichts. Karin hat sich von Paul getrennt, Thomas zieht in die Stadt, ich komme hier wieder mal vorbei.

Der Jugendkeller müffelt wie früher. Die Matratzen stapeln sich in der Ecke hinter dem Vorhang. Ich hole mir da drei Stück herunter. Mitten im Raum lege ich sie aus. Der Plattenspieler steht an der alten Stelle im Schrank, den ich vor Jahren einmal gebaut hatte. Das Schloss im Schrank ist das gleiche geblieben. Ich sperre mit einem winzigen Schlüssel, den ich am Schlüsselbund von Frau Stößers Haus befestigt habe, auf. Die Schallplatten sind alle noch da. Ich lege eine Platte auf und drehe den Verstärker leise auf. Es erklingt die Musik, die ich früher hier gehört habe. Die Gruppe, die sich hier jede Woche getroffen hatte, gibt es nicht mehr. Ich habe heute Abend von vielen aus der Gruppe gehört. Einige habe ich getroffen. Manch einer wohnt nicht mehr im Ort. Andere bereiten sich vor, weg zu ziehen. In Jahren werde ich hier niemanden mehr kennen. Ich verkrieche mich in meinem Schlafsack. Es ist richtig spät geworden. Geht schon die Sonne auf? Nein, es ist der Mond, den ich von draußen durch das Oberfenster in den Raum hinein scheinen sehe.

Der Sonntagmorgen ist richtig ungemütlich. Ich höre Schritte, Klappern und Schlüsselklimpern aus dem Treppenhaus. Ich stehe auf und spüre einen schweren Kopf. Heute ist es der Alkohol des gestrigen Abends und der Rauch der den ganzen Abend schwer in der Kneipe hing. Martina hatte mich gewarnt. Sie gebe mir den Schlüssel nicht mehr so gerne wie früher, denn im Haus neben dem Jugendraum sei nun eine neue Pfarrerin eingezogen. Die wäre etwas unberechenbar. Sie wüsste nicht, wie oft und wann die den Jugendraum nutze, um dort mit Jugendlichen aus Salzburg Gesangsstunden, Bibelstunden und solche Dinge zu veranstalten. Ich hatte zugesichert vorsichtig zu sein und den Raum frühzeitig zu verlassen. Ich schalte Plattenspieler und Verstärker aus und sperre den Schrank wieder ab. Danach ziehe ich mich an und staple die Matratzen auf den Haufen hinter dem Vorhang. Jetzt packe ich den Schlafsack in die Tasche. Im Treppenhaus höre ich Schritte und Schlüssel. Trotzdem gehe ich noch auf die Toilette. Ich verlasse das Haus durch den hinteren Ausgang. Die Tür geht nur von innen auf. Draußen ist es noch kühl und sehr ruhig. Es ist nicht einmal halb acht Uhr. Ich gehe um das Haus herum, stecke den Schlüssel in den Umschlag von Martina und werfe den am Eingang in den Briefkasten des Jugendraumes. Der zweite Briefkasten trägt den Namen der Pfarrerin von der Martina sprach. Aus dem Keller höre ich jetzt Geräusche, das Fenster unter dem ich gerade noch lag wird geöffnet, ich hatte es gekippt gelassen. Ich drehe mich um und gehe langsam die Straße hinauf in den Ort.

Ich spüre meine schwere Müdigkeit und die Kopfschmerzen. Ich atme tief durch, denn ich hoffe, dass die frische Luft vielleicht den Kopfschmerzen zusetzt. Der Parkplatz ist leer, nur ein Auto steht noch dort, es ist der gelbe Opel-Kadett. Ich lasse mich schwer hinter das Lenkrad fallen. Durch die Windschutzscheibe sehe ich, wie die Sonne einige Berggipfel schon in helles Licht getaucht hat. Das Tal, in dem der Ort liegt, hat noch keine Sonne, die kommt erst in zehn Minuten. Das warte ich nicht ab. Ich starte den Motor.

Wochenendbesuch

Das Treffen am Wochenende kann jetzt stattfinden. Immer wieder hatten wir es verschoben. Jetzt, wo ich am Wochenende nichts mehr für die Schule lerne, weil ich die Zeit dort neben dem leeren Stuhl von Matthias nur noch absitze, um am Schuljahresende eine vollständige Schulbesuchsbestätigung für das Amt erhalten, von dem ich Zahlungen aus dem sogenannten Jugendwohlfahrtsgesetz erhalte, weil ich die Schule regelmäßig besuche, habe ich Zeit. Martin hat vorgeschlagen, auf dem Balkon vor meinem Zimmer zu grillen. Das ist eine gute Idee. Frau Stößer meinte dazu, dass ihr das egal sei, solange wir dort oben kein wildes Gegröle veranstalten und mit dem Grill sorgsam umgehen. Sie leiht mir sogar ihren Grill, der elektrisch funktioniert. Ich wundere mich ein bisschen über so viel Freundlichkeit, denn nie hatten wir seit meinem Einzug mehr miteinander zu tun gehabt als kurze Gespräche wegen Anrufen für mich auf ihrem Telefon. Ich denke daran, dass das vielleicht damit zu tun hat, dass ich mein Zimmer zum Monatsende gekündigt habe. Noch während ich das denke, merke ich ein schlechtes Gewissen, weil ich so denke, denn das bedeutet, dass ich meiner Vermieterin misstraue, obwohl sie seit fast einem Jahr immer freundlich war. Sie hatte ohne Murren akzeptiert, dass ich meine Schrottkarre, den gelben Opel stets direkt vor ihrem schmiedeeisernen hohen Gartentor geparkt habe, sie hat immer Nachrichten geschrieben wenn ich angerufen wurde, sie hat mich stets im Flur ihrer Wohnung im Erdgeschoss mit Karin telefonieren lassen. Es gäbe noch mehr Beispiele für deren Vertrauen in mich, trotzdem denke ich, dass sie nichts dagegen hat, dass ich nun bald ausziehe.

Ich spreche mit Martin darüber, dass ich auch Ida, Thomas und vielleicht sogar Pete einlade. Das findet Martin super. Er wird Würstchen einkaufen und sogar einen Kartoffelsalat von seiner Mutter mitbringen.

Von der gelben Telefonzelle am Discounter erreiche ich Ida. Obwohl es regnet und recht frisch geworden ist, schwitze ich. Mir ist richtig heiß. Das ist immer so, wenn ich aufgeregt bin. Ich hätte genauso gut Pete erwischen können. Ida hat Zeit und sie weiß, dass auch Thomas Zeit haben wird. Pete habe vielleicht Zeit, genau wisse sie dass nicht, aber sicher wird sie es ihr sagen.

Martin findet die Idee nicht so gut den Elektrogrill zu benutzen. Er könnte einen guten Holzgrill mitbringen. Ich sage ihm: Das lassen wir lieber, denn ich weiß gar nicht wohin ich vom Balkon aus die Grillkohle entsorgen soll. Darüber macht Martin einen Witz. Haben die Stößers nicht einen Pool im Garten? Weil ich darüber nachdenke, wie ich es am besten erkläre, dass ich wegziehe, schaffe ich es nicht, darüber zu lachen. Ich sage nur: Ja den haben sie.

Pünktlich um sieben Uhr stehen alle zusammen vor der Tür. Pete ist tatsächlich mitgekommen. Es fällt mir sehr schwer sie anzusehen. Sie lacht mich an, wie während der Autofahrt. Wir stellen das Sofa einfach auf den Balkon. Der ist doch groß genug und hat ein schönes Dach, meint Thomas. Martin übernimmt die Grillerei mit dem Elektrogerät. Ich habe Bier besorgt, wir stoßen miteinander an und Pete fragt völlig unbefangen, im gleichen Tonfall in dem Sie mich im Auto gelöchert hatte: Was haben wird denn heute Schönes zu feiern? Alle sehen mich an. Die machen mir das aber leicht. Ich werde wegziehen, ich ziehe bald in die Großstadt.

Nein, wirklich? Ich sehe Pete jetzt sehr genau an. Sie sieht nicht traurig aus, sondern sie ist genauso überrascht, wie alle anderen. Das finde ich einerseits sehr gut, andererseits spüre ich, dass ich mir ein bisschen Traurigkeit gewünscht habe. Lange habe ich sie nicht gesehen, nichts war zwischen uns, trotzdem wünsche ich das. Es hätte mir gezeigt, dass sie nicht mit einem anderen zusammen ist. Das denke ich jetzt. Was ist das? Ist das mein verletzter Stolz? Ich hätte ihr am Feuer sagen können, dass ich sie liebe. Das habe ich nicht getan, also habe ich sie auch nicht geliebt. Dass sie mich zu diesem Zeitpunkt geliebt hat, hat etwas ausgelöst in mir. Was? Seitdem hänge ich ihr nach, obwohl ich sie nie wieder getroffen habe. Und jetzt sogar noch das: Ich erwarte von ihr ein Zeichen der Traurigkeit, weil ich wegziehe. Was stimmt da nicht? Ich weiß es nicht, aber ich spüre es. Was ich denke passt nicht zur Realität zwischen uns, die ich und sie geschaffen haben.

Ist es gut das durch meinen Wegzug aufzulösen? Oder haben wir beide noch etwas zu klären miteinander? Hätte ich das besser offen mit Pete geklärt, anstatt es jetzt mit einem Wegzug zu regeln? Würde es Sinn machen, Pete das was ich denke zu sagen? Ich kann nur vermuten, dass es mir wehtun würde, denn dadurch würde sich für mich nichts ändern. Sie würde ich wahrscheinlich verunsichern. Denn was soll sie mit so einer Botschaft anfangen? Seitdem du mir gesagt hast, dass du mich liebst und ich das verneint habe, denke ich oft an dich, obwohl wir uns nie mehr sehen. Was soll das einem Menschen sagen? Vielleicht spinne ich einfach. Das könnte es sein. Ich unterliege dem Wahn, Frauen dann hinterher zu weinen, wenn die mir gesagt haben, dass sie mich lieben, ich das aber abgelehnt habe und sie daraufhin verschwinden. Das ist mein Irrsinn! So denke ich jetzt.

Ich begründe meine Entscheidung damit, dass die Schule in der Kreisstadt mich echt geschafft habe. Ich müsste da raus, weil ich dort sonst krank werde. Deshalb habe ich eine andere Schule in der Großstadt gefunden, in der das hoffentlich besser wird. Alle finden es schade, dass ich gehe, aber sie verstehen, dass ich die Schule schaffen muss und wenn das in Traunstein nicht sicher ist, etwas verändern muss.

Der Abend gerät zu einer Art Abschiedsabend, denn auch Thomas ist im Kopf schon damit beschäftigt, nach Berchtesgaden an seine neue Lehrstelle umzuziehen. Ida hat die Schule ziemlich gut abgeschlossen. Sie wird nach Salzburg gehen um dort zu studieren. Ida und Thomas haben sich vor zwei Wochen getrennt. Weil die Arbeitsgruppe nicht mehr stattfand und auch der Verkaufsstand eingeschlafen ist, habe ich davon nichts mitbekommen. Sie haben miteinander noch telefonischen Kontakt gehabt und in zwei Gesprächen geklärt, dass die Trennung endgültig ist.

So wird der Abend kein lustiger Grillabend, wie ich das eigentlich nach der Kinderfreizeit mit Martin besprochen hatte, sondern die Gespräche an dem Abend werden immer ruhiger. Gegen ein Uhr Nachts erheben sich meine Freunde und ich begleite sie hinunter bis vor die schmiedeeiserne Gartentüre. Ich spüre, dass es nun vorbei ist mit uns. Das ist endlich die Situation, in der ich Pete umarme. Sie küsst mich auf die Wangen.

Umzug

Der Deutschlehrer kommt nach wochenlanger Erkrankung heute ein letztes Mal in die Deutschstunde. Er kommt um mit uns zusammen die letzte Prüfung des Schuljahres in seinem Fach zu korrigieren. Er verteilt die Ergebnisse zu Beginn der Stunde und bespricht mit uns das Thema des Textes der Textanalyse. In dem Text geht es um einen Schmied, der versucht sein Glück zu schmieden. Der Schmied scheitert daran, dass ihn in seiner nächsten Umgebung niemand unterstützt. Er scheitert daran, dass er anderes gelernt hat, als das, was in seiner Umgebung nun notwendig geworden ist. Sein Scheitern hängt schließlich auch damit zusammen, dass die vielen Ideen die er hat, um an seinem Glück zu arbeiten, von niemandem gutgeheißen oder anerkannt werden. Seine Ideen, so stellt der Schmied schließlich fest, sind einfach nicht zeitgemäß, sie passen nicht zum Zeitgeist. Der Zeitgeist regiert seine Welt, so denkt der Schmied, aber er hat Ideen, die zu weltoffen sind für den Zeitgeist. Manchmal flucht der Schmied wütend über diesen, wie er findet, komischen Geist. Dann schreit er laut in seiner Werkstatt herum und trampelt darin auf und ab.

Der Schmied will zum Beispiel in seiner Arbeit nicht nur für sich allein Arbeiten, sondern er versucht ein Team zu gründen, in dem er zusammen mit anderen arbeiten möchte. Aber alle Kollegen, die er für sein Team zu gewinnen versucht, begegnen dem Schmied mit Misstrauen. Ständig wird der Schmied gefragt, was er eigentlich im Schilde führe, welche Tricks hinter seinen Ideen steckten, hinter welches Licht er die Menschen nun führen wolle, um mehr Geld zu verdienen, um einen Vorteil zu erreichen, um besser zu sein, als die Konkurrenz. Er findet keinen Weg seine Ideen umzusetzen, denn der Zeitgeist, auf den er stößt, ist eine völlig anderer. Er ist geprägt von Abgrenzung, Konkurrenz und Ablehnung der Menschen.

Schließlich erklärt der Schmied sein Schmieden für gescheitert. Er zieht sich zurück und beginnt in einer anderen Stadt von vorne. Dort will er sich von Beginn an dem Zeitgeist unterwerfen. Er schmiedet nicht mehr an Glück, sondern er will nur noch arbeiten um zu produzieren, er will gewinnen, er will an Anderen vorbeiziehen, anstatt zu versuchen sie mitzunehmen. Das ist nun sein Ziel: Er wird sein Glück suchen indem er den Zeitgeist in sein Leben integriert, anstatt ständig eigene Ideen zu entwickeln und zu verfolgen. Am Glück zu schmieden, das funktioniert nicht. Glück ist etwas anderes, es ist schon da, man muss es nur finden, dazu braucht man den Zeitgeist, es muss nicht erst geschmiedet werden. So denkt der Schmied nun.

Im Laufe der Deutschstunde wird mir klar, dass der Deutschlehrer einen Text ausgesucht hatte, der große Teile seiner eigenen Situation beschreibt. Auch der Deutschlehrer wird die Schule verlassen, dann er ist an ihr gescheitert. Er verabschiedet sich mit einer letzten Unterrichtsstunde und einer letzten Prüfung in der er seine eigene Situation aufgreift. Aber im Gegensatz zum Schmied erklärt er, dass er nicht nur die Kreisstadt verlässt um in eine andere Stadt zu gehen, sondern er wird das Bundesland wechseln. Er hofft darauf, nicht eines Tages neu beginnen zu müssen wie der Schmied, sondern er versucht es noch einmal. Deshalb wechselt er das Bundesland. Erst wenn er auch dort scheitert, bleibt ihm nichts anderes als sich, so wie der Schmied es plant, dem Zeitgeist bedingungslos anzupassen.

Es ist die Unterrichtsstunde des großen Interesses. Nie zuvor hatte ich in der Schulklasse solch interessierte Augen gesehen. In dem Klassenraum herrscht keine Ruhe aus Zwang, so wie dass üblicher Weise der Fall ist, sondern die Ruhe entsteht aus Erstaunen darüber, was hier vorgeht. Im Gesicht von manchem Mitschüler beobachte ich höchste Spannung und Aufmerksamkeit.

Was der Lehrer tut ist ungewöhnlich. Spannung entsteht, weil er nicht davon spricht, dass er gescheitert ist, sondern davon, dass er weitermachen wird. Aber er wird anderen Ortes weitermachen. Darin sieht der Lehrer Sinn. Sein Ziel ist nicht gescheitert, sondern er ist an seiner Umgebung gescheitert. Auch ich sehe, genauso wie viel Mitschüler den Lehrer ungläubig und überrascht an. Noch einmal versuchen, was hier nicht funktioniert? Die Umgebung wechseln, weil die Umgebung schlecht ist? Das finde ich interessant. Vielleicht gibt es für mich auch eine bessere Umgebung? Vielleicht ist auch meine Entscheidung zum Wechsel dieser Schule völlig richtig. Vielleicht ist das Klima der Menschen an dieser Schule so stark vom Zeitgeist geprägt, dass Menschen wie ich einfach keine Chance haben. Wenn das stimmt, ist es vollkommen richtig, nach anderen Chancen zu suchen, denn die können sich hier, an dieser Zeitgeist-Schule, nicht entwickeln.

Die letzte Deutschstunde ist für mich die interessanteste Stunde an dieser Schule. Sie hat Inhalt, Aussage und Perspektive. Sie ist zumindest für zwei Leute, dem Deutschlehrer und mir, voll von Bestätigungen für wichtige Entscheidungen. Sie rüttelt mindestens dreißig andere Mitschüler zumindest kurzzeitig auf. Sie regt die Mitschüler zu Überraschung, Erstaunen und schließlich Nachdenklichkeit an. Auch wenn das zunächst nichts ändert, könnte die letzte Deutschstunde zumindest ein winziges Sandkorn im Getriebe der Gleichgültigkeit, Anpassung und schlichten Unterwerfung unter den Zeitgeist aus selbstherrlicher Konkurrenz und Ausgrenzung, die an der Schule täglich gelebt wird, sein. Aus derartigen Erlebnissen könnte sich für manchen Mitschüler eines Tages eine hübsche Handlungssumme ergeben.

Der rote Bus vom Jugendbüro ist bis unters Dach vollgestopft mit meinen Sachen. Das alte Sofa haben wir nun endlich zum Sperrmüll gebracht. Den alten Fernsehapparat, er hatte schon seit Wochen nur noch Ton aber kein Bild mehr von sich gegeben, versenkte ich früh morgens nach der letzten Rückkehr von meiner Feuerstelle in der großen Mülltonne neben dem Moulin Rouge. Dort parken keine Autos mehr, sondern auf dem Parkplatz wurde vor Tagen ein großer Kran aufgebaut. Das Moulin Rouge hat das Zeitliche hinter sich. Dort werden keine angeblichen Kreis- und Landräte mehr ein und ausgehen. Es wird abgerissen. An seiner Stelle entstehen neue Einfamilienhäuser. Die Bautafeln, die das bewerben, stehen bereits.

Der gelbe Opel-Kadett hat seine letzte Fahrt hinter sich. Sie führte mich zu einem Feuerwehrfest. Dort habe ich die Kennzeichen abgeschraubt und das Auto den Feuerwehrleuten überlassen. Die bauten das Auto in eine Sicherheitsvorführung ein. Zum Schluss erkannte ich den Motor, der aus einem Haufen zerschnittenen, gelben Blechs herausragte. Am Motor erkannte ich aus sicherer Entfernung die Lichtmaschine, die ich mir am Straßenrand für wenig Geld hatte einbauen lassen.

Frau Stößer verzichtet auf die halbe Monatsmiete für die Hälfte des Monats August. Sie hat verstanden, dass ich die neue Wohnung erst renovieren muss und deshalb nicht sofort umziehen kann, aber in der Stadt schon Miete bezahle. „Das ist der Zeitgeist!“ So rief Frau Stößer und dass es in der Großstadt eben anders zuginge. Ich könnte ruhig noch bis Mitte des Monats bleiben, so schnell finde sie eh keinen Nachmieter für mein Zimmer. Sie überlege, ob sie das Zimmer überhaupt weiter vermieten werde, eigentlich könne sie auch ein Gästezimmer daraus machen für Besucher.

Martin fährt den roten Jugendbus dicht an die Haustür meiner neuen Bleibe heran. Das Ausladen ist in eine knappen halben Stunde geschafft. Ich wohne, wie bei Frau Stößer im zweiten Stock, aber die Aussicht ist unvergleichbar. Anstatt der Kreisstadt mit dem Fluss, sehe ich aus meinem Fenster heraus die tosende Autobahn mit sechs Fahrspuren. Martin stellt mit mir zusammen Schrank und Schreibtisch in meinem neuen Zimmer auf. Nach der Arbeit lässt er sich erschöpft in den orangenfarbenen Sessel fallen. Martin kennt die Stadt, denn hier hat er seine kaufmännische Ausbildung gemacht und währenddessen in einem Wohnheim gewohnt. Hin und wieder führt ihn sein Weg in die Stadt zu alten Bekannten. Er versichert mir, dass er mich anrufen und besuchen wird.

Von Thomas, meinem neuen Mitbewohner in der Stadt sehe ich nichts, er ist offenbar in einem Baumarkt unterwegs. Die Renovierung der Wohnung ist noch nicht abgeschlossen. Die Küche ist noch nicht fertig und das Wohnzimmer steht voll mit Tapeziertisch und Farbeimern. Deshalb sitze ich mit Martin in meinem neuen Zimmer, das kleiner als die Hälfte meines Zimmers bei Frau Stößer ist. Wir sprechen über meine neue Schule, die im Herbst beginnt und über Martins alte Freunde, die er in der Stadt besucht. Er sitzt mir gegenüber, im orangenfarbigen Sessel, der mich an Pete erinnert. Ich denke, dass ich den Sessel wegwerfen werde.

Zusammen tragen wir den orangenfarbenen Sessel über die zwei Stockwerke durch das Treppenhaus hinunter. Martin fährt den roten Bus dicht vor die Tür. Draußen ist es dunkel geworden und es regnet. Wir laden den Sessel in den leeren Laderaum. Martin befestigt ihn rechts und links mit einer Schnur. Martin schüttelt mir die Hand und wirft einen prüfenden Blick durch die Fenster auf den Sessel im Laderaum des Jugendbusses. Den kann ich in meinem Zimmer gut gebrauchen. Vielen Dank! Der hat halt jetzt eine kleine Reise in die Stadt gemacht! Martin lacht mich an, während er das sagt. Bis bald, wir telefonieren!

Der rote Jugendbus verschwindet im Verkehrsgetümmel der Autobahn. Ich steige die zwei Stockwerke hinauf in mein neues Zimmer. Ich habe es gelb gestrichen. Gelb wie die Farbe vom Opel-Kadett. Ich schalte das Licht ein. Ich setze mich an meinen Schreibtisch. Es ist ein grelles Gelb. Jetzt bin ich hier.

Nach der Entlassung 1983/84 – Erzählung 2021 von Bernd Thümmel

Nach der Entlassung 1983/84 – Erzählung von Bernd Thümmel

Eine Reise nach Griechenland gerät zur Identitätssuche. Die findet der Protagonist indem er die Reisegruppe verlässt und einen neuen Freund findet. Durch einen Rollentausch kommt Bewegung ins Leben.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

In der Aula

Nils und Mark

Nils Ralf und Rolf

Nils in der Autobahn-WG

Abends am Kneipentisch

Die Abreise

Eine Nacht am Grenzübergang, Harry der Tramper

Gedanken zum Schweigen im Auto

Trennung

Nils, allein in Wald und Gebirge

Nils traf Julian

Ein Künstler

Julian dachte an seinen Vater, Nils wachte wieder auf

Julian übte Nils

Julian auf Nils Spuren

Julian wartete auf Menschen, die Nils kannten

Julian traf Menschen, die Nils kannten

Julian feierte für Nils

Julian suchte ein neues Zuhause für Nils

Ein neues Zuhause für Nils

Julian saß für Nils in der Kneipe

Julian saß für Nils in seinem neuen Zimmer

Julian saß für Nils im Cafe Notfall

Julian saß für Nils auf der Schulbank

Julian war nicht Nils, er traf sich mit mir

Julian hörte in der Schule zu

Julian wollte wieder Nach Haus

Julian und ich am Donnerstag vor dem Allerheiligenwochenende

Durch eine Amtsstube nach Hinweiler

Julian stieg in sein Gebirge, über die Stadt dachte er nach

Eine Kettenreaktion

Julian war zurück in seinen Bergen

Ein Bericht in einem grauen Aktendeckel

Nils und Julian in den Mühlen der Justiz

Meine planmäßige Abreise aus Hinweiler

Nils und Julian: Aussteiger auf freiem Fuß

Das Ende der Geschichte von Julian und Nils und Assya

Prolog

Nils sitzt gemütlich auf dem braunen Kunstledersofa in seinem Zimmer. Er lehnt sich zurück, ein Bierglas in der Hand. Auf dem Tisch: drei offene Bierflaschen. Eine lange Nacht steht bevor. Nils lässt sich darauf ein. Er will sich das anhören. Julian sitzt neben ihm. Ebenfalls zurück gelehnt. Auch ein Bierglas in der Hand. Verträgt er das Bier heute? Ich habe für ihn Tee mitgebracht. Eine Tasse habe ich bereits vor ihn auf dem Tisch hingestellt. Bisher ignoriert er sie. Auch Julian will sich alles anhören. Von Anfang bis zum Schluss möchte er die Geschichte hören. Ich werde ihn wohl erst zum Schluss etwas fragen.

Julians Hündin Assya liegt in ihrem Körbchen in der Ecke. Sie begrüßte mich schwanzwedelnd. Ich vergaß für sie etwas mit zu bringen. Auch sie wird bleiben, während ich lese. Ab und zu wird sie aufstehen, schwanzwedelnd zu uns kommen, uns beschnuppern. Sie wird sich ab und an bei Julian oder Nils auf den Schoß setzen.

In der Aula

Als ich Nils 1983 zum ersten Mal traf, begann mein Eindruck, er könnte ein “lockerer Typ” sein. Das betrachtete ich so, weil ich das so betrachten wollte. Ich dachte: Aus meiner Sicht betrachtet, glaube ich jetzt einfach mal, dass er ein “lockerer Typ” ist. Was so ein „lockerer Typ“ ist, was ich darunter verstehe, das hatte ich damals nicht geklärt. Vielleicht blieb es ungeklärt, weil es nichts weiter als eine belanglose Redensart in meinem Kopf gewesen war. Mit ihr verschaffte ich mir die Sicherheit, die ich damals brauchte, um mich diesem Menschen nähern zu können.

Die Schüler und Schülerinnen der Klasse waren meist volljährig, manche hatten abgeschlossene Ausbildungen. Sie waren also „erwachsen“, wie ich mir damals so schön dachte und mancher Mensch damals ab und an so schön sagte. Am ersten Schultag standen sie etwas verängstigt und nicht wissend, welche Räume aufzusuchen waren, welche Bücher wo abzuholen waren, in der Aula herum.

Nils stand zunächst ruhig. Nach etwa zehn Minuten agierte er. Er beeinflusste. Er sah kein Problem darin, die Schülerinnen und Schüler, nicht herum zu kommandieren, sondern zu dirigieren. Dies tat er aus einer Selbstverständlichkeit heraus, deren Herkunft ich nie hinterfragt habe oder gar zu ergründen versucht hatte. Was er tat und sagte wirkte auf mich selbstverständlich, überzeugend, einfach, klar, offensiv beinahe offenbar und daher fertig, deshalb korrekt, gut, irgendwie logisch.

Er fand sich schnell in der für uns alle neuen Situation zurecht. Die sah so aus: Neue Schule. Ein unbekannter Betonbunker. Grau in trister Landschaft, eintönig in der schönen Großstadt. Ein hohes Haus, normal, zwanzig Stockwerke hoch, außen weiß, mit winzigen Fenstern die wirkten wie Schießluken.

Da standen sie in Gruppen herum und wirkten auf mich wie gestylte, nicht gestylte, bewusst gut gedresste, bewusst schlecht gedresste, oder unbewusst gedressete, so wie ich es einer von vielen gewesen war. Es gab dort in der Aula kreischende, sogar grölende Schülerinnen und Schüler, sie waren groß gewachsen, andere wiederum waren eher klein, einige waren auffällig, aber es gab auch sie, die unauffälligen, wie mich, doch die interessierten mich nicht. Ich interessierte mich wenig für meines Gleichen. Was ich damals wissen und lernen wollte, war anderes gewesen, als meines Gleichen kennen zu lernen. Ich wollte neues kennen lernen. Ich war auf der Suche, auf einer eigentlich niemals enden wollenden Suche. Die Suche nach Menschen, nach Kontakten, nach Leben.

Leben ist immer das, was anders ist, als das eigene Leben. Interessant war, was anders wirkte als das was ich mir am schnellsten, am einfachsten und damit wohl am besten vorstellen konnte. Aber so dachte ich nicht. Nicht an diesem Morgen in der Aula, nicht in dieser Zeit, eigentlich nie. Sondern so lebte ich. Einfach ohne das zu denken. Ich erinnere mich, dass ich darüber überhaupt nicht nachdachte. Sondern ich suchte einfach, und fand das, was anders war, als ich selbst. Mitten in der Hektik, in dem Geplärre und Geschnattere von jungen Menschen die mich wartend laut umgaben stand ich suchend herum. Lehrer dieser neuen Schule sah ich nicht.

Die zu kurzen, faulen Ferien waren schnell vorbei gewesen. Das Ergebnis der sechs freien Wochen war, dass ich noch fauler geworden war. Ich verspürte überhaupt keine Lust, wieder in diesen, meinen Alltag des Denkens und des Lernens einzusteigen. Wochenlang hatte ich es genossen, weder denken, noch lernen, noch lesen, noch schreiben oder rechnen zu müssen. Ich hatte die Ferien verlebt, als sei ich im Sommer nochmal dreizehn geworden. Ich tat so als wäre ich nicht erwachsen und verantwortlich für meine Zukunft.

Ich wollte einfach so tun, wie ich tat. Ich wollte mich auflehnen und wollte das  ablehen, was ich nicht mag. Mein Alltagsleben, mein Pflichtleben, mein schlecht durchdachtes Leben. Ich wusste, Menschen lernen und Denken. Aber so fand ich, das Leben ist schlecht durchdacht trotz viel Denken und Lernen. Ich glaubte, weil es wohl einfach schlecht ist, weil es prall gefüllt ist mit Widersprüchen und sehr viel Heuchelei.

Das alles zu denken wollte ich in den Ferien des Sommers 1983 einfach mal wieder richtig schön ignorieren. Das waren meine Ferien: Organisierte absichtliche völlige Ignoranz meiner Welt. Ich ignorierte, was ich zu tun hatte, was ich anzustreben hatte, dass ich mich auszubilden hatte, dass ich meinem Land zurück zu geben hatte, indem ich lernte, indem ich dachte, indem ich mich anpasste, indem ich leistete für das, was ich bisher bekommen hatte und für das, was ich künftig vom Leben in meinem Land erwarten durfte. Ich ignorierte, dass ich bald zu arbeiten hatte, dass ich gut zu funktionieren hatte, dass ich angepasst an alle Erwartungen zu sein hatte, denen ich mich gegenüber sah. Meine Zukunft war, zu leisten, was junge Menschen im Land der Leistung zu leisten hatten, um ein funktionierendes angepasstes Rädchen zu werden. Das waren, so fand ich damals, sehr schöne Ferien, gedankenlose Zeiten in denen ich mir nahm wovon ich glaubte es stünde mir zu: Faul in den Tag hinein leben, Regeln ignorieren, sie einfach nicht wahrnehmen, lange schlafen, spät zu Bett gehen und wenn was los war einfach was mitnehmen.

Der frustrierende Teil dessen bestand in dessen Ende, das absehbar am Morgen dieses Tages gekommen war. In Nils erkannte, oder interpretierte ich Eigenschaften, die geeignet schienen die regellose Zeit zu verlängern oder irgendwie in die nächste Zeit zu integrieren. Kurz gesagt: In der Aula spürte ich meine Unlust den Vormittag in in diesem Betonklotz zu verbringen. Nils war ein mir willkommener Lichtblick.

Nils steuerte und beeinflusste. Das sah leicht aus. Sicherlich war es schwierig. Er hatte die Funktion eines Gruppenleiters einer Gruppe, in der er nicht als Leiter vorgesehen war. Ein Leiter den es gar nicht gab. Er leitete etwas, das nicht mit Leitung rechnete. Ein zusammengewürfelter Schülerhaufen, der wartete. Er übernahm einen Teil des Haufen. Eigennutz? Eine Utopie? Angriffslust? Ungeduld?

Ich spürte, dass Nils hier etwas wollte. Er wollte sich abheben aus der plärrenden Masse. Er hatte dazu aber keine Befugnis, er hatte kein Amt, dass ihn berechtigte. Über sein Leiten dachte er, dass es nichts mit einem Amt zu tun hatte. Obwohl alles um ihn herum, nicht nur die Schule, sondern das alltägliche Leben “veramtlicht” war.

Nils Leben und Denken spielte in üblichen, bekannten deutschen Strukturen. Es lag unweit der Ämter. Es war stark strukturiert. Es war von einem Wunsch nach Logik und Erklärbarkeit geprägt. Er strukturierte alles was er sah und dachte so, wie er es von seiner Kindheit an gewohnt war: Deutsch, genau. Wichtig war Logik, Genauigkeit, amtliches Denken und Sprechen. Nils deutsches Leben war nicht spontan, beinahe unmenschlich. Was er sagte und dachte, verdeckte Menschlichkeit. In seinem Kopf gab es in der deutschen Stadt kaum Menschlichkeit. Stattdessen gab es Amtlichkeit, Undurchschaubarkeit, Strukturiertheit als Zweck. Überhaupt gab es nur “-keit” und “-ung” in seinem Kopf, seiner Umgebung. Worte, die Farben und Formen beschrieben, waren in dem Leben unnötig. Die Millionen deutschen Schubladen, die seinen Kopf füllten, brauchten keine Verben.

Er leitete nicht wegen eines Amtes. Eigentlich dachte er, gehöre er zu einer Art Manövriermasse der Ämter. Manchmal fühlte er sich wie ein alter grauer Gaul in einer verstaubten, leicht vermoderten grauen Akte. Er, der leise wiehernde Amtsschimmel im grauen Blechaktenschrank.

In Träumen erkannte er manchmal etwas, das so gewesen war, wie er seine Wirklichkeit erlebte. Er sah sich sitzend auf einem winzigen, wackeligen, hölzernen Stühlchen zwischen tausend anderen. Die quatschten und nuschelten. Er war der einzige, der schrie. Er plärrte auf seinem Stühlchen. Keiner kümmerte sich um sein Geschrei. Nils wirkte auf mich auffällig, weil er unzufrieden war, mit seinem Leben. Das sah ich. Das interessierte mich.

Ich sah ihn an diesem Morgen. Unscheinbar, unbeteiligt, uninteressiert, fast gelangweilt – nicht provozierend, besser gesagt nicht willentlich provozierend. Ich sah seinen Blick. Er wirkte vielleicht wegen dessen Unscheinbarkeit trotzdem provozierend.

Nils lehnte an einem grauen Betonpfeiler. Seine Schultern waren schmal und hingen herunter. Nils blickte, eine Zigarette rauchend, auf fünf plappernde, plärrende, quakende Schulklassen. Sie drängten sich in dem von Zigaretten vequalmten Betonrondell in der Mitte der Aula.

Um Viertel nach acht Uhr stand er kurze Zeit im Sekretariat. Um zehn vor halb neun Uhr im Vorzimmer des Direktors. Dort erkannte er auf einem Plan welcher Raum für unsere Klasse vorgesehen war. Er griff nach einer Bücherabholliste, die auf einem hohen Tresen vor ihm lag und verschwand damit aus dem Zimmer. Die Sekretärin, im Gespräch mit dem Direktor, wollte, -konnte aber nicht- nach dem Grund seiner Anwesenheit in diesem Zimmer fragen, denn Nils war nur sekundenlang dort, er war sehr schnell wieder verschwunden.

Nils führte uns zu unserem Klassenraum. Er lotste die neue Schulklasse zur Bücherausgabe. So leitete er. Keiner fragte warum er das tat. Ungefragt begründete er sich. Er und alle anderen Schülerinnen und Schüler dieser Schule seien erwachsene Menschen. Deshalb wäre keine Zeit mit unnötiger Warterei zu verlieren. Schuld sei die verfehlte Organisation dieser Bildungseinrichtung. Nils agierte und urteilte.

Seine Tat, bei genauerer Betrachtung, war arrogant vielleicht überheblich. Was er an dem Morgen tat, stand ihm nicht zu. Aber wir alle machten mit.

Nils schlüpfte kurz in die Rolle der Personen, die sagten, was zu tun ist. Weil die Personen ausnahmsweise zu spät kamen, weil sie eine ihrer Tugenden selbst missachteten, übernahm Nils deren Funktion. Er war pünktlich an diesem Morgen. Niemand, kein Lehrer, kein Direktor konnte ihn stoppen, sie alle waren zu spät.

Nils war frech an diesem Morgen. Irgendwie kann man das so sagen. Er war an dem Vormittag jemand, der sich ein wenig aufrührerisch verhielt. Was er tat war aber nicht revolutionär. Es gab keinen Grund zur Revolution. Wir alle waren frei. Was Nils an diesem Morgen tat war eher ein Auswuchs unserer Freiheit. Was er tat war nicht angepasst, es war eigenmächtig. Vielleicht sogar selbstsüchtig, eventuell egozentrisch. Er tat es, denn es war seine Zeit, die er nicht vergeuden wollte. Wir machten mit, das war nichts besonderes. Wir waren einfache Schüler, es ging uns einfach zu gut. Die meisten von uns hatten faule Ferien hinter sich gebracht. Wir waren Wohlstandsspinner in einer freien Welt, könnte ich sagen.

Nils hatte gewisse Strukturen und deren Tugenden angenommen, verinnerlicht. Er musste stets pünktlich sein, er musste immer vernünftig sein. Um komplexe Zusammenhänge seines Alltags in der Stadt zu verstehen, musste er strukturiert denken. Alles was er uns, seinen noch fremden, künftigen Mitschülern, an diesem Vormittag in der Schule zu tun vorschlug, wozu er uns drängte, klang deshalb in meinen Ohren vollkommen normal, geradezu logisch, einfach selbstverständlich.

Nils sagte: “Warum stehen wir eigentlich hier wie bestellt und nicht abgeholt herum, Leute? Heute ist zwar unser erster Schultag in dieser Schule, deshalb kann man zwar behaupten, dass wir in diesem neuen Laden hier, von Tuten und Blasen keine Ahnung haben. Das kann aber kein Grund sein, uns hier Stunden lang in dieses „kotzige siebzigerjahre Betonrondell, genannt Aula“, zu pressen! Wir sind erwachsene Menschen. Wir müssen vernünftig handeln. Deshalb wollen wir vernünftig behandelt werden!”

Die Worte sprach Nils gelassen aus. Ich glaube, er übernahm sie von Erwachsenen. Er selbst war inzwischen erwachsen. Sein Sprechen ließ keinerlei Aufregung oder Aufgewühltheit vermuten. Er selbst betrachtete seine Haltung als normal, angemessen und gewöhnlich. Nichts Besonderes. Warum war er der einzige, der so auftrat? Hätte er das nicht getan, wäre ein anderer an seine Stelle getreten?

Nils organisierte, dass uns ein Unterrichtsraum als erste Klasse zugeteilt wurde. Er teilte zu. Als erste erhielten wir unsere Bücher in Händen, als einzige sahen wir unseren zukünftigen Klassenleiter, Herrn Gephart, und den Direktor an dem Vormittag nicht. Alles ging sehr schnell.

Um elf Uhr verließ Nils das Schulgelände. Er war nicht allein. Einige Mitschüler, auch ich, schlossen sich gerne an. Die Auffassung, man sei zwar Schüler am ersten Schultag, aber deshalb noch lange nicht in der Rolle eines Bittstellers, kam bei mir und einigen anderen gut an. Über unsere Zeit konnte nicht grenzenlos verfügt werden. Niemand wollte über Gebühr lange in der Aula herumstehen. Der Bittsteller wollte sich keine salbungsvolle, kultusministerielle, Begrüßungsansprache des Direktors anhören. Darauf zu verzichten fand unter einigen Schülern Zuspruch: “Die Rede muss man sich eben nicht anhören! Man besucht schließlich die Schule um einen höheren Abschluss zu erreichen. Ansprachen, von wem auch immer, sind da unnötig.”

Keiner zweifelte daran. Die Ansprache des Direktors war unnötig, obwohl keiner von uns den Redner an dem Vormittag gesehen, oder gehört hatte. Auf die Ansprache verzichteten wir.

Eine Gruppe von fünf, sechs Vertretern dieser Auffassung fand sich vor dem Schulhof zusammen. Wir beschlossen, die übrig gebliebene Zeit des kühlen Septembervormittages anders zu nutzen. Wir fuhren auf ein “Kennenlernpläuschchen” ins Cafe Notfall nach Haidhausen. Sechs Personen zwängten sich in den hoffnungslos verrosteten VW-Polo von Mark.

Nils und Mark

Nils betrachtete ich erst in der Kneipe etwas genauer. Ein sehr magerer Typ. Ich schätze ihn auf etwa 1,75 Meter. schulterlange, dunkelbraune, glatte Haare. Rechts und links hingen zwei Zotteln herunter. Das schien mir wie eine Imitation von Koteletten. Sie sahen jedenfalls irgendwie künstlich aus. Ich war im Laufe des Vormittags im Cafe mutig geworden und fragte einfach. Nils behauptete die Koteletten seien echt. Ich ließ mich aber davon nicht überzeugen. Mittelpunkt im Gesicht von Nils bildete eine auffällig lange, spitz zulaufende, leicht gerötete Nase. Sie ragt unter seinen dunkelbraunen Augen heraus. Seine Augen, von feinen Wimpern und ebenso feinen Augenbrauen umgeben. Die Lippen schmal und blass, der Mund klein, die Backen mager und bereits faltig.

Beim Sprechen bewegten sich seine schmalen Lippen kaum. Er sprach sehr schnell und pflegte dabei eine fehlerfreie, nicht lispelnde oder stotternde oder sonst irgendwie auffällige, akzentfreie, nicht betont hochdeutsche, sondern eher dezent hochdeutsche Aussprache. Sein Ton war unauffällig. Stattdessen gestikulierte er mit beiden Händen. Seine Zeichen wirkten nicht übertrieben. Er benutzte mir bekannte Handzeichen: Schnell griff er sich an den Kopf, wenn er etwas für verrückt hielt. Die rechte Hand riss er hoch und drehte sie, wenn er eine Frage nicht beantworten konnte. Mit der Hand fuhr er vor seinen Körper, sein Gegenüber sah seine glatte Handfläche, den Arm streckte er dabei aus. Das war seine Abwehrbewegung. Sie bedeutete, dass er nicht weiter wollte. Er wirkte nicht wie ein wilder Gestikulierer. Er sprach zu einem Thema, das er kannte, zu dem er Stellung beziehen wollte, aber lange, ausführlich, genau und engagiert.

Am Vormittag im Cafe Notfall trank Nils zunächst eine Tasse Kaffee und danach einen Apfelsaft. Später erfuhr ich, dass er gerne und häufig Kneipen besuchte und dort Bier trank. Allerdings tat er das nicht tagsüber. Vor allem nicht Vormittags, sondern am liebsten Abends.

Nils war ein politischer Mensch. Er war nicht parteipolitisch engagiert. Er war der Meinung, dass alles was man spricht und tut irgendwie politisch ist. Er sagte: “Fast alles kann irgendwie in einen politischen Kontext gebracht werden. Man muss diesen Kontext nur herstellen. Manchmal muss man ihn den Leuten erst klar machen.” Was Nils mir und den Anderen am Tisch damit sagen wollte, wusste ich nicht. Es wirke ein bisschen besserwisserisch und siebengscheit. Das schien er zu wissen, damit schien er zu spielen, denn seine Worte waren von einem ironischen Lächeln begleitet.

Mark, der uns mit seinem alten Auto her gefahren hatte, dachte und redete auch politisch. Er war allerdings deutlich radikaler unterwegs als Nils. Er sagte: “Ich schleppe grundsätzlichen Hass gegenüber Konservativem und Spießigem in dieser Stadt mit mir herum.” Er erklärte nicht, was er unter den Begriffen verstand. Er ging von einem Nenner aus. Jeder in der Runde musste verstehen, was er meinte. Ich verstand nichts. Ich fragte ihn aber auch nicht. Ich spürte, dass es unangebracht war, so etwas zu fragen. Ich hatte zu kapieren. Mark erwartete, dass seine Zuhörer schnell verstehen was er für konservativ oder spießig hielt und warum er sich als politischen Menschen begriff. In der Gruppe hätte ich mich auf bestimmte Weise geoutet, wenn ich da nach gehakt hätte.

Sofort bannte er die Aufmerksamkeit der Gruppe am Tisch indem er einen abgehobenen Monolog über die, zum damaligen Zeitpunkt, “abgewrakte Münchner Kulturszene” lostrat. Mark sprach von: “permanenten Angriffswellen auf die Betreiber diverser Musikkneipen, Bühnen und Hallen”. Nils hielt sich zurück, er hörte zu. Er dachte, er habe dazu nichts zu sagen. Kulturerfahrungen hatte er in der Stadt noch nicht gesammelt. Zumindest noch nicht, in dafür vorgesehenen Räumen. Seine persönliche Kultur, lebte er täglich. Doch die interessierte Mark wohl mit seinem Monolog nicht.

Nils Ralf und Rolf

Nils war erst wenige Wochen lang in der Stadt. Er lebte lange Zeit in einem Oberbayerischen Provinznest. In die Stadt kam er, um in einem anonymeren Rahmen, als er auf dem Land „gegeben sei“, seine „schulische Karriere“ zu Ende zu bringen. Er verließ das Nest, weil ihn seine dortigen Freunde und Bekannte permanent nach Drogen bedrängten. In seiner Wohnung fanden regelmäßig Festivitäten und “Spontanveranstaltungen”, wie er das nannte, statt, in deren Verlauf seine “angeblichen Freunde” (wie er sie nannte) ihm „die Bude mit Marihuana und Haschisch einnebelten“ (so bezeichnete er das). Auf dieses Zeugs habe er “keinen Bock mehr”.

Er erzählte: “Ich habe es damals mehrfach ausprobiert, konnte der Wirkung aber nichts Angenehmes oder Positives abgewinnen. In dem Nest blieb ich deshalb nicht länger als ein Jahr. Mir wurde klar, dass meine angeblichen Freunde, eben nur angebliche waren. Mich beschlich immer öfter das Gefühl, dass die in erster Linie die Möglichkeiten meiner Wohnung schätzten. Bei so mancher Party in meiner Wohnung konnten die das Leben einfach Leben sein lassen. Angestunken hat mich, dass meine angeblichen Freunden, nachdem sie sich regelmäßig zugedröhnt hatten, keinerlei Gespräche mehr führen wollten. Morgens wühlten Gäste in meinen Abfalleimern herum. Sie vermuteten dort Restbestände von Pieces”. Tagelang beseitigte ich eine riesig große Sauerei.

Am Tisch im Cafe Notfall saßen auch Rolf und Ralf. Rolf hatte lange schwarze, ungefärbte Haare, war groß und kräftig. Ralf war klein und gedrungen und von allen am Tisch am besten genährt. Ich dachte: “Ralf ist fett”. Ralf sagte: “Ich bin ganz gut genährt!”

Ralf verbarg seine Einstellungen und Neigungen nicht. Jeder am Tisch musste Ralf nicht erst aus der Nase ziehen, dass er ein Fan von harter- aber auch schmalziger Rockmusik und von coolem Texasblues ist. Ralf gab der Bedienung ein “gutes Tape”, und bat sie es ein zu legen. Zu der Rockmusik, die daraufhin das Cafe Notfall beschallte sagte er: “Ich liebe diesen Sound Leute!” Dabei faltete er seine dicken weißen Finger ineinander, blickte zur Decke und streckte die Arme wie zum Gebet hinauf. Anschließend steckte er sich ruhig eine Zigarette an. Genießerisch zog er daran, stützte den Zigarettenarm auf dem Tisch ab und blickte in die ihm an diesem Vormittag noch unbekannte Runde. Dabei lächelte er. Die fülligen roten Backen in seinem rundlichen Gesicht, bildeten grobe Grübchen. Ich glaubte ihm das Wenige, das er sagte. Seine Worte passten zu seinem Gesicht. Seine Züge an der Zigarette, sein Trinken aus dem Bierglas, sein Lächeln zu seiner geliebten Musik. Er strahlte Ruhe und Zufriedenheit aus.

Ralfs Welt war ruhig und in Ordnung. Wo er auftauchte, gestaltete er mit. Und wenn es nur “sein Tape” war, das er einlegte, das zu ihm gehörte. So ließ er seine Person auf uns wirken. Die Wirkung unterstützte er mit seiner Musik. Er kannte niemanden an dem Tisch. Trotzdem musste er nicht viel reden. Er musste sich nicht aufregen wie Nils und Mark. Er musste niemanden provozieren. Er saß lächelnd da, blies Rauchwolken in den Raum, nippte ruhig am Glas, sonst nichts. Er rauchte lange Zigaretten, die er mit seinen dicken Fingern langsam aus der goldenen Packung pulte. “Big Sunrise” stand darauf. Langsam führte er das Feuerzeug an den Mund, die Flamme stand ruhig vor seinem runden Gesicht, seine Augen glänzen. Ralf brachte seine persönliche Atmosphäre mit. Der klinisch weiße Raum, das Café Notfall, die polierten Tische und Spiegel strahlten kalt. Ralf zog genüßlich, nippte lächelnd, blinzelte aus glänzenden runden Kinderaugen, wie an Weihnachten. Er winkelte den rechten Fuß mit dem Wildledercowboystiefel an und legte ihn aufs Knie. Die weiße Neonatmosphäre im Cafe Notfall interessierte ihn nicht, für ihn war überall Weihnachten. Nach dem Vormittag wusste ich, dass man ihn Abends um acht Uhr an der Theke in “Sammys Finest” findet. Eine Rockdisco, unweit vom Hauptbahnhof. Er lehnte dort und trankt “Blue Eyes”. Wie Ralf trank und rauchte, so sprach er. Seine Worte: “ich bin Abends in Sammys Finest”, sprach er weich und langatmig aus.

Der langhaarige Rolf stellte sich als Bassist in einer “Speed- und Powermetallband” vor, die kürzlich auf “Undergroundsound” umgesattelt habe. “Diese Musik liegt mir viel mehr, es schont meine empfindlichen Finger!” Die Bühne auf der ich Rolf sehe ist schwarz wie sein Hemd und seine Hose. Schwere Rauchwolken hängen darüber, die Beleuchtung schimmert dürftig. Der Saal ist voll, dunkel, verqualmt und laut. Kein nerviges Fankreischen. Ich höre dumpfe, tiefe Lautstärke. Das Publikum scheint einige Zentimeter über dem Boden zu schweben. Ich stehe mittendrin und habe das Gefühl gleich ab zu heben, wie die Band auf der Bühne. Der Boden unter meinen Füßen ist glibberig, weich. Ich gehe, nein ich wate langsam durch die Menge. Ich komme an vielen schwarzen Rücken vorbei. Lederjackenrücken. Über jeden Rücken hängen schwarze, lange, gelockte Haare. Jetzt geht der Lärm richtig los. Der Sound ist beinahe undefinierbar. Er ist schnell. Er ist laut. Es ist wie ein Wallen. Der Schlagzeuger haut in irrsinnigem Tempo drauf. Der Gitarrist am vorderen Bühnenrand, knallt sofort auf die Knie. Ein schwarzer, langer, dünner Sänger neben ihm. Greift das Mikrophon mit samt Mikroständer. Reißt den in die Höhe, starrt an die dunkle Decke, schiebt sich das Mikro in den Mund, holt tief Luft durch die Nase. Das ist seine Art zu singen. Schaurig brummt es. Das Publikum zappelt. Die Bewegungen der Tanzende sind kurz und schnell. Ein nervöses Zappeln. Das Zappeln braucht wenig Platz. Sofort ergreift es auch mich. Zappelnd arbeite ich mich durch den Nebel zur kaum beleuchteten Bühne vor. Ich gleite an Lederjacken und schwarzen Haare vorbei. Streifende Berührungen. Die Musik ist schnell. Ich spüre: Aggression. Ich rieche: abgestandenes Bier, Schnapsfahnen und dichten Zigarettenqualm. Der Schlagzeuger haut noch kräftiger. Es ist eine hektisch gespielte Musik. Rolf scheint der wichtigste Mann in der Band zu sein. Die Adern seiner Arme schwillen an. Sein Gesicht glänzt. Das weiße Unterhemd färbt sich in einem runden Bogen um den Hals dunkler. Die Gitarre kreischt. Der Sänger verschluckt sich, sein Mikro sehe ich nicht mehr. Seine weißen Backen sind fettig, das Mikro ist weg. Mein Körper wird erfasst von dumpfem, tiefem Wallen. Ein Wallen, das mich durchdringt. Es ergreift meine Organe, ich spüre sie, sie vibrieren. Ein Wallen, das den ganzen Raum ergreift. Ich erkenne es nicht aber ich spüre es. Ist es hörbar? Was lässt mein Herz galoppieren?

Es sind Schläge von vorne, von der Bühne und vom Boden. Sie ergreifen meinen Körper. Der Griff wird fester, je näher ich der Bühne komme. Ich stehe jetzt ganz vorne. Ich will wissen, was es ist. Ich reiße meine Augen weit auf. Ich sehe den Gitarristen, er kniet vor mir, die Gitarre auf dem Bauch, sein Blick verzerrt, wie sein Gitarrenklang. Der lange Sänger: ich könnte nach seinen schwarzen Beinen greifen, so nah ist er. Das Mikrokabel hängt vor seinem Körper. Es fällt aus seinem Mund, er starrt nach oben. Was ist da oben? Ich sehe hoch und sehe die dunkle Decke. Der Schlagzeuger knallt noch kräftiger. Seine Stöcke zersplittern. Sofort zieht er den nächsten Stock heraus und drischt damit weiter auf sein Instrument ein. Sekundenschnell rast er mit den Stöcken über die Hi-Hat, das Ride und kracht in das Crashbecken. Das klirrt und scheppert, es bummpert und dumpert. Das knallt laut. Der Rhythmus stößt mich ab. Das beeindruckt mich. Woher kommt das tiefe Wallen in meinem Körper? Ich muss es finden. Jetzt reiße ich meine Augen noch weiter auf.

Und endlich spüre ich eine klare innere Erleichterung. Ich atme tief ein und aus. Das Wallen bleibt, wird ein wenig schwächer, ich sehe, wo es herkommt. In der dunklen rechten Ecke: ein schwarzer Verstärker. Darauf sehe ich ein halbvolles Glas. Bier schwappt darin hin und her. Neben dem Bierglas, in rhythmischer Bewegung, es ist der Rhythmus des Schlagzeugs, ein dunkler, hölzerner Hals mit vier, im Scheinwerferlicht spiegelnden, silbernen Drehknöpfen. Es ist der Hals des Baßes. Rhythmisch erscheint und verschwindet er hinter dem langen Sänger. Jetzt schiebe ich mich rechts am vorderen Rand entlang. Der Sänger würgt und schluckt, er zieht das Mikro aus dem Mund. Reißt den Kopf zur Seite. Endlich sehe ich ihn. Schwarz gekleidet, er qualmt eine Zigarette , sie steckt in seinem Mundwinkel. Er sorgt für das Wallen. Der Bassist. Rolf.

 

Nils in der Autobahn-WG

Mark, der Exzentriker viel mir kurzfristig stärker auf als Nils. Im Religionsunterricht sagte er über die Darstellung der Geburt des Kindes der Jungfrau Maria: “..dann hat sie ihr Kind wohl irgendwie ausgeschissen!” Damit schockierte er den katholischen Lehrer und die jungen Schülerinnen, die in der vorderen Reihe saßen. Mark regte sich leicht, schnell und viel auf. Er konnte sich kaum zurückhalten. Er stand durch krasse Beiträge und Kommentierungen im Mittelpunkt. Schnell war er bei allen Lehrern, bis hin zum Direktor negativ bekannt.

Nils blieb zwar auch kein unbeschriebenes Blatt, liebte es jedoch eher, bestimmte Situationen durch eine ruhige, dezente, persönlichere Art auf den Gipfel zu treiben. Nach einem Dreivierteljahr war es normal, dass er den Mathematiklehrer und Klassenleiter Gephart, regelmäßig in ruhigem doch sehr bestimmtem Ton darauf hinwies, dass sein militärischer Ton unnötig ist.

Nils viel mir außerhalb des Unterrichtes auf. Was war das für eine WG, in der Nils wohnte? Ich besuchte ihn dort und sprach mit ihm.

“In die Autobahn-WG zog ich, nachdem ich das ruhige, Oberbayerische Provinznest mit der spießigen Vermieterin verlassen hatte. Ich bezeichne meinen Umzug gerne als Wohnkontrast. Die achtspurige Autobahn vor meinem Fenster ist ein unglaublicher Kontrast zur oberbayerischen Idylle.”

“Warum bist du überhaupt in die Stadt gezogen?”

“Erzähl ich später. Jetzt rede ich kurz von Michael, meinen Mitbewohner. Ich kenne ihn aus einem anderen Oberbayerischen Gebirgsdorf, in dem ich früher lebte.”

“Warum sagst du nicht, wie das Dorf heißt?”

“Weil’s unwichtig ist. Wenn ich’s sage, verbindest du meine Erlebnisse mit diesem Namen. Wenn du in dieses Dorf kommst, würdest du an mich denken. Das finde ich doof. Du solltest lieber etwas eigenes über neue Orte denken.

Also weiter zur Entstehung der Autobahn WG: Michael ist ein phantastischer Schlagzeuger. Echt geil, sein Rumgehämmere, ich fahr total darauf ab! Aber, das ist unwichtig, es war so: Sein Können gibt er in mehreren Bands zum Besten. Ich bin als Zuschauer und Fan natürlich bei jedem Gig dabei. Bei einem dieser Bandauftritte besprach ich spontan mit ihm das Thema Wohnungssuche. Michael wollte in München die Berufsoberschule besuchen. Wohnungsmäßig kannte er einen Typen. Der Wirt einer Kneipe. Der wollte eine gepachtete Wohnung untervermieten. Wie du siehst, liegt sie über einer Pilsbar. In der Wohnung stehst du gerade!”

“Und dann?”

“Was dann? Alles war klar! Der Typ erhielt von der Brauerei die Genehmigung zur Untervermietung und meldete sich bei Michael wieder. Michael und ich waren die gesamten Sommerferien mit der Bewohnbarmachung, sprich Renovierung, beschäftigt. Eine komplette Wand haben wir neu eingezogen. Jetzt siehts hier schon einigermaßen wohnlich aus. Was ich zu spät merkte: mich stört der Autobahnterror und der Vermieter. Ich hasse Lärmstreß und Ausbeuter.”

“Wieso? Was ist mit dem Vermieter? Er ist doch ein Kumpel von Michael oder?”

“Ja, klar, das stimmt schon. Aber trotzdem stresst der Typ. Er ist ein halbstarker Angeber. Und er säuft zu viel. Leider. Das ist schade. Er ruiniert sich. Vielleicht ist er auch ein wenig dumm. Die Kombination ergibt, dass ich ihm nicht helfen will. Im Gegenteil, ich beginne langsam ihn zu hassen, trotz seiner Krankheit.”

Wo immer er das Thema ansprach, behauptete Nils, es ginge ihm in der Autobahn-WG “nicht schlecht”. Mit Michael, verstand er sich gut. Er entpuppte sich als wunderbarer Begleiter für abendliche Kneipen- und Musiktouren. Mit einem schrottreifen gelben Käfer fuhren beide Nächte lang durch die Straßen und Kneipen der Stadt.

Probleme zwischen beiden gab es kaum.

“Probleme? Was sind schon Probleme? Überall gibts welche, wenn man will!”

“Nein, das meine ich nicht, ich meine konkrete Probleme, im Zusammenwohnen, zwischen dir und Michael. Gibt es die?”

“Konkret? Aha, sehr gut! Sowas gibts fast nicht mehr! Ha, ha, hi hi,(Nilslachen). Also ok. Probleme: Michael hat einen wesentlich höheren Lebensstandard als ich. Das ist manchmal ein Problem. Ich lebe von der Stütze, von Geld, das ich kriege, solange ich noch zur Schule marschiere.”

“Was ist das für Geld?”

“Ja, mein Geld natürlich! Ich hab kein schlechtes Gewissen dabei. Obwohl ich weiß, man sollte eines haben. Gell?”

“Wie meinst du das?”

“Ich folge nur den Worten eines neuen, reißerisch – meiner Meinung nach auf Boulevardzeitungsniveau – aufgemachten, angeblichen Nachrichtenmagazins hier in München. Ich bin Sozialschmarotzer! Ist doch alles ganz einfach! Jeder der Stütze kriegt, ist ein Abkassierer! Das Blättchen sagt: diejenigen, die am wenigsten haben sind die größten Abkassierer! Gemeint bin ich. Das finde ich gut. Denn wer wenig hat, soll ruhig mal was einsammeln! Spaß beiseite, das ganze ist natürlich furchtbar traurig, einfach hundsgemein! Niveaulose Propaganda.”

“Was ärgert dich wirklich?”

“dass die damit ihre Kohle machen. Die wahre Schmarotzerkohle verdienen sich die Boulevardschmarotzer! Sie machen fiesen Wind und kassieren dafür ab.”

Michael arbeitete relativ gut bezahlt in einem Squashcenter. Den Job nahm er wichtiger, als seine Schulkarriere. Die Berufsoberschule schmiß er nach drei Monaten hin. So hatte er mehr Zeit zu arbeiten, verdiente mehr und kaufte viel und gerne ein.

“Meine Kohle reicht hinten und vorne nicht. Meinen Beitrag an den Kosten in der WG kann ich mir nur deshalb leisten, weil ich kaum Kleidung, Schallplatten oder ähnliches kaufe.”

Ein Jahr lang wohnte Nils in der Autobahn-WG. Er lebte ständig am Rande eines überzogenen Bankkontos. Trotzdem geschah es niemals, dass ein Teil der monatlich einlaufenden Stütze, vom bis dahin anfallenden Überziehungskredit der Bank, gefressen wurde. Nils verlor nicht den Überblick über die eigene finanzielle Lage. Er hasste die Banken. Deshalb lebte er nach seinem Motto: “Lieber hungern bevor die Banken dich auffressen! Eine meiner geliebten Übertreibungen! Ihre Kandidaten für die gewinnbringende Überschuldungsproblematik müssen sich die Banken wo anders suchen. Ich bin nicht naiv genug, um auf sie herein zu fallen. Sie sind profitgeile Geschäftemacher.”

Nils liebte spontane Feste. Er nannte sie: “Sessions” und “Happenings”. Die Begriffe bezeichneten immer das gleiche: es handelte sich um Partys in deren Verlauf dem Gast klar wurde, dass seine Spontaneität der wichtigste Faktor für die Gestaltung des Ablaufs war.

“Eine Fete ist gut, wenn die Leute gut drauf sind und sich entsprechend einbringen. Ein richtig schlechtes Fest gibt es nicht.”

Während der ersten und letzten Autobahn-WG-Party, die ich miterlebte, verstanden sich Rolf und Sofia sehr gut. Sofia erwartete ein Kind. Der werdende Vater lebte mit einer anderen Frau zusammen. Beide unterhielten sich ausgiebig über alle möglichen Dinge. Sie betrafen die Welt und Gott. Ich glaube, das war eher ein Weltverbesserergespräch. Sofia entschied, den Mann an diesem Abend nicht ungeküsst gehen zu lassen. Sie entschied bereits, bevor Rolf klassisch männlich zu denken begann. Ihre Absicht kam trotzdem zu spät, denn Rolf dachte weder klassisch noch männlich. Er dachte überhaupt nicht. Er küsste. Sofia, vorbereitet, ließ sich ein. So verbrachten beide den Abend, eng aneinander geschmiegt auf einem kleinen roten Zweisitzersofa in der linken Ecke des Wohnzimmers.

Nils unterhielt sich ausgiebig mit Christine. Beide tauschten sich über jede Menge Dinge aus: darüber wo sie herkommt, was sie gemacht hat, was sie auf der Schule wollte, was sie danach tun wollte, was Nils für ein Typ sei, warum er sich mit den Lehrern in der Schule auseinandersetze und anlege und so weiter. Ich glaube, das war eher ein Weltfrustgespräch. Nils interessierte nicht, dass Christines Aufmerksamkeit über den Inhalt des Gespräches hinausging. Die Beziehungsebene. Auf diesem Auge gab Nils sich blind. Damit machte er sich für Christine interessant.

Was sollte dieser “Smalltalk”?

“Was für’n Smalltalk?”

“Na der mit dieser Frau, komm schon du weißt schon wen ich meine!”

“Achso Christine. Das war kein Smalltalk, es war ein Informationsaustausch. Ganz normal! Jetzt kenne ich sie besser und sie kennt mich besser. Kein Problem. Kein Smalltalk, normales Gespräch!”

“Meinst du nicht, sie wollte an diesem Abend mehr von dir als nur quatschen?”

“Nö, wieso denn auch? Ich habe da nichts gemerkt. Ich gebe zu: vielleicht auch, weil ich kein Interesse an ihr hatte. Bestimmt sogar. Ok, stimmt, ich geb’s zu, ich habe da ein bißchen geblockt. Aber ich find es scheiße, wenn die Leute auf Festen plötzlich anfangen miteinander rum zu knutschen. Meist bereuht man es im Nachhinein.”

“Hättest du gerne gleich rumgeknutscht?”

“Find ich echt dumm die Frage! Das täten wir doch alle gerne. Oder nicht? Aber es ist eben nicht immer richtig. Ok, du hast recht, ich habe nicht gemerkt, was Christine von mir wollte. Aber: warum hab ich’s nicht gemerkt? Ganz einfach: weil ich nichts merken wollte. Also: kein Smalltalk!”

Michael organisierte die Instrumente seiner Band. So kam es zu einer ausgiebigen Musiksession. Michaels Schlagzeug, Rolfs Baß, Ralfs Gitarre und Nils Gesang ergaben eine ohrenbetäubende Mischung. Die Wohnung zitterte. Bilder vielen von der Wand. Der Boden vibrierte. Die Gäste, nicht mal zwanzig Leute, waren restlos begeistert. Sie johlten, gröhlten und stampften. Aschenbecher und Bierflaschen kippten um. Der grüne Teppich aus den Siebzigern ergraute. Der Lärm überdröhnte die acht Fahrspuren vor dem Fenster. Mehrmals wurde die Polizei abgewiesen. Man verwies auf den Lärm den die Autobahn herbeiführte. Dafür ernteten wir verständige Blicke.

Drogen wurden konsumiert. Ausgerechnet im kleinen Zimmer von Nils im zweiten Stock. Er roch es sofort als er nach oben ging. Natürlich nahm er die Tatsache, dass auch auf diesem, seinem ersten Fest in München, wieder dieses Zeug konsumiert wurde, gelassen in Kauf. Sich aufzuregen wäre eindeutig schlecht gewesen. Nils: “Taktisch praktisch völlig daneben.” Deswegen eine Szene hätte nichts und niemandem etwas gebracht. Nils: “Die Fete wäre definitiv den Bach runter gegangen und in einem abgewrackten, miesen Ende versackt.” Er öffnete das Fenster seines Zimmers und ließ etwas Luft, Lärm und Gestank herein.

Das Fest endete erfolgreich gegen vier Uhr Morgens. Begleitet von einer Aktion, die mit der Party nichts zu tun hatte. Drei Einsatzfahrzeuge der Polizei fuhren mit Blaulicht und Martinshorn an der Pilzkneipe, unterhalb der Wohnung auf dem Autobahnpannenstreifen vor. Sämtliche Besucher der Kneipe, einschließlich des Wirtes, wurden mitgenommen. Am nächsten Tag hörte Nils, dass unten eine der üblichen Schlägereien stattfand.

Im Verlauf des Jahres in der Autobahn-WG entstand zwischen Nils und dem Vermieter, ein handfester Streit. Von den Auseinandersetzungen erlebte ich einige persönlich mit. Hin und wieder saß ich Nachmittags bei Nils Zuhause. Wir tranken Kaffee, rauchten Zigaretten und hörten Musik.

Jedes mal wenn wir kamen lag der besoffene Sigi auf dem Sofa im Wohnzimmer und quatschte angeregt mit Michael. Der arbeitete Abends und konnte Sigi tagsüber nicht abweisen. Sigi war alkoholabhängig. Sein Gesicht war rot und zerfurcht. Er war Kettenraucher. Täglich lag er schon Nachmittags um zwei Uhr besoffen da. An das Sofa in der Autobahn-WG gewöhnte er sich schnell. Sigi lallte. Er prahlte mit Schlägereien in seiner Kneipe. Mit denen hatte er natürlich nichts zu tun. Sie entstanden aus dem “Nichts”. Seine Kneipengäste sollten froh sein, so lallte er, dass er ein solch friedfertiger, aufgeschlossener Wirt war. Er greife, wenn es notwendig werde auch mal in Schlägereien ein. Seine Kundschaft bezeichnete Sigi als “Grattler” ein bayerischer Ausdruck dessen genaue Bedeutung Sigi nicht erklären wollte. Er war der Meinung, dass, wer in Bayern lebe, wissen müsse, was unter dem Begriff “Grattler” zu verstehen ist. Auch ein “Zuagroaster”, wie Michael, habe das zu lernen. Es bestünde eine Verpflichtung, sich eingehend damit zu befassen, wolle man schon in Bayern leben (was man sich schließlich freiwillig ausgesucht hat). Wer hier wohne, so Sigi, müsse sich dem Land anpassen, oder: “soid er hoid sei depperte Bappen hoiten! Wenn er des need duad, gibt’s oans auf’s Mei!” Solche Schlägereien seien keine “Übergriffe” der Stammgäste seines Lokales auf die amerikanischen Besucher der benachbarten US-Kaserne, wie Michael es einmal behauptete. Sondern, so erklärte der Wirt: “wenn da Amerikana sei schwarze Goschen z’weit aufreißt, kriagt da oans drauf! Genauso wie irgend a andana dreckada Ausländaa!”

So lallte Sigi besoffen auf dem Sofa. Ich verstand, dass Nils das nicht ertrug. Es störte ihn derart, dass er den ersten Stock der Wohnung, Mittags, wenn er von der Schule kam, nie betrat. Nils Zimmer lag im Dachgeschoß. Bad und Toilette waren ebenfalls oben. Auf die Küche und das Wohnzimmer, mit dem “ausländerfeindlichen Betrüger-Sigi” verzichtete er.

Nils Wut auf Sigi entstand nicht nur wegen dessen besoffener Herumliegerei und der Parolen auf dem Sofa. Er beschuldigte Sigi, maßgeblich an der Höhe der Stromrechnung ihrer Wohnung beteiligt zu sein. Seine Untersuchungen der Stromanschlüsse im Keller ergaben, dass Sigis Getränkekühlanlage am Stromzähler ihrer Wohnung angeschlossen war.

Naiv (was mich überraschte), äußerte er seinen Verdacht gegenüber Sigi. Nur dank Michael, der geistesgegenwärtig sein gesamtes Körpergewicht auf Betrüger-Sigi warf, kam Nils ohne blaues Auge und gebrochene Rippen davon. Wegen der Atmosphäre, von der er trotzdem, nach wie vor optimistisch feststellte: “die Autobahn-WG ist toll, ein Erlebnis!”, wollte er so schnell wie möglich ausziehen. Ein Problem: der relativ niedrige Mietpreis.

Ungeachtet der Wohnungsnot und hohen Mieten kündigte Nils trotzdem seinen Mietvertrag. In der Schulpause erzählte er:

“Also ich hab dem ausländerfeindlichen Ausbeuterhalbstarken jetzt meinen Mietvertrag zum 31.Juli gekündigt. Er ist einfach unerträglich geworden.”

“Und wo willste hinziehen, nach dem Einundreißigsten?”

“Völlig unklar, völlig unorganisiert! Das werde ich locker auf mich zukommen lassen und irgendwie hinbiegen. Ich habe da son paar Kumpels, in einem riesen Haus mit Garage, dort kann ich mein Gerümpel zunächst mal verstauen und mich unter deren Adresse anmelden. Im Laufe der Sommerferien werde ich schon irgend eine Bleibe finden. Ich sehe das alles relativ gelassen.”

Diese Art von Nils imponierte mir. Sah er die Dinge tatsächlich so wie er sie nannte? Jedenfalls zog er seine Pläne entsprechend durch. Zum Zeitpunkt unserer Unterhaltung hatte er einen entscheidenden Schritt ja bereits unternommen. Er hatte gekündigt. Damit war ganz klar, dass er ab dem ersten August auf der Straße saß.

Seine Absicherung waren die Sollner Freunde. Die Garage als Lagerplatz genügte. Vielleicht war es auch der persönliche Kontakt, der in ermutigte. Er plante mit einigen von denen die ersten vier Sommerferienwochen nach Südfrankreich zu fahren.

Nils: “Das wird eine heizige Fahrradtour.”

Diese Leute schienen sein Selbstbewusstsein zu stärken. Obdachlosigkeit. Den Gedanken fand ich existentiell. Er nannte ihn: “Das übliche alltägliche Leben. Man nimmt Nachteile in Kauf und hat dafür das Gefühl, nicht permanent gebückt durch die Gegend zu rennen.”

“Hast du da keine Angst gehabt, plötzlich völlig ohne Zimmer?”

Nils: “Naja, ich hab das verdrängt, hab es nicht überbewertet. Meine Abhängigkeit vom Betrüger-Sigi war schlimmer. Ihn los zu werden, war mir wichtiger, als mein Dach überm Kopf zu behalten.”

“Also keine Angst?”

“Angst, was heißt Angst? Sicher war das nicht so locker, wie es sich sagt. Aber, es war Sommer, draußen wars warm. Und ich dachte einfach: warum nicht? Ok, ich gebe zu, ich dachte nicht viel darüber nach. Hätte ich ausführlich gegrübelt, vielleicht hätte ich soviel Angst bekommen, dass ich in der Autobahn-WG geblieben wäre, bis ich ein neues Zimmer gefunden hätte.”

In den letzten sechs Schulwochen vor den Sommerferien blieb sein Verhalten unverändert. In den Unterricht brachte er sich ein wie eh und je, kommentierte dies und das. Er redete mit, wie immer.

Das Café Notfall wurde für die Gruppe zum Stammlokal. Man lief es regelmäßig Donnerstag Abends an. Analysen und ausufernde Diskussionen über die Situation in Schule und Schulklasse, aber auch die sogenannte Gesellschaft und Politik fanden statt. Jede Menge Ideen wurden entwickelt, an deren Umsetzung niemand dachte.

Abends am Kneipentisch

Zum Schuljahresende war Sofia im sechsten Monat deutlich schwanger. Rolf mit ihr, mehr oder weniger fest befreundet. Von wem Sofia das Kind erwartete, wusste aus der Notfall-Runde, keiner. Nur Rolf wusste bescheid. Nils hatte Interesse an Rolfs Situation. Er unterhielt sich häufig und lange mit ihm. Ursprünglich planten beide für die Sommerferien eine Urlaubstour nach Griechenland. Rolf zog jedoch kurzfristig zurück. Er wollte sich nicht so lange von Sofia trennen.

Eines Abends, es war Mitte Juli 1984, traf ich mich mit Nils und Rolf in einer Kneipe in Giesing. Zu diesem Zeitpunkt war klar, dass Nils, nachdem er seinen Umzug in die Sollner Garage, abgewickelt hatte, mit vier seiner Sollner Kumpels nach Südfrankreich fährt. Zuerst drehte sich das Gespräch um die letzte Musiksession, die Rolf und Nils in der Autobahn-WG veranstalteten. Nils schwärmte die Idee vor, im Sollner Haus seiner Kumpels mit dem Schlagzeugspiel zu beginnen.

Nils: “Die Session war wirklich genial!”

Abgesehen von Autolärm und Gestank, schloß auch ich mich dieser Meinung an: “wirklich toll”, sagte ich.

Nach zwei Bier pro Nase, war die erste Euphorie gewichen. Der Gesprächsstoff zum Thema Musik ging uns aus.

Nils griff ein anderes Thema auf.

Er fragte Rolf: “Na, wie geht’s dir mit deiner Entscheidung, wegen der Sommerferien? dass es nicht nach Griechenland geht?”

Das musste eine rhetorische Frage sein, dachte ich. Er warf sie aus Langeweile hin. Er dachte, es müsse irgend etwas gesagt werden. Er dachte: es kann nicht sein, zu dritt schweigend an einem Kneipentisch zu sitzen und ins Bierglas zu starren.

Aber, er sprach ein Reizthema an. Rolf blieb nicht der Bassist im Hintergrund. Er fuhr Nils an:

“Ich sehe nicht ein, warum ich gerade dir Erklärungen zu meiner Motivation, Situation oder sonst was in Zusammenhang mit den Ferien geben sollte! Du hast ja sowieso keinen blassen Dunst davon, wie es funktionieren kann mit einer Frau eine Beziehung zu haben, die gerade ein Kind von einem Anderen erwartet. Das interessiert dich doch nicht!”

Nils stammelte: “Oh Gott was ist jetzt los? Ich konnte ja nicht ahnen, dass dir das Thema so ans Eingemachte geht! Die Sache scheint wirklich fatal zu sein! Ich wollte nur vermeiden, dass Sofia mich für den Obertrottel hält! Einer, der ihrem Freund verklickert, er soll doch lieber mit mir in Urlaub fahren. Ich wollte mich nicht einmischen! Ein grobes Mißverständnis!”

Rolf schien diese Erklärung nicht zu beruhigen.

Ich sah, wie er sich erhob. Dichte Rauchschwaden über der schwach beleuchteten Bühne. Er legte den Baß beiseite. Er griff zu den Drummsticks und ließ sich auf dem Hocker des Drummers nieder. Sein erster Schlag traf den Metallrand der Snare. Der Stick zersplitterte. Scharfe Holzsplitter zerschnitten den Qualm. Er rupfte einen neuen Stick aus dem Eimer am Boden. Fest schlug er zu. Die Becken tönten grell. Die Baßtrommel trat er mit aller Kraft. Sein Blick verkrampft, volle Konzentration auf den Schlagrhythmus. Beide Hände und Füße in rhythmischer Aktion. Das war laut, es schepperte, wie zwanzig zerberstende Teller, die der Wirt absichtlich, kraftvoll auf den Steinboden wirft. Die Leute an der Bar sahen neugierig auf. Rolf interessierte das nicht, er schlug weiter, rhythmisch, laut, exakt:

“Du denkst ich sei nicht dazu in der Lage für mich selbst Entscheidungen zu treffen? Wenn ich dich um einen Rat frage, dann tue ich dies nicht, um mich in meiner Entscheidung anschließend nach deiner Antwort zu richten! Lediglich deine Meinung will ich hören! Du nimmst deine Rolle bei weitem zu wichtig! Wenn Sofia glaubt, dass meine Entscheidung, mit euch nach Griechenland in den Urlaub zu fahren, von deiner Stellungnahme abhängt, dann ist das ihr Problem. Und dein Problem ist: deine subjektive, vermutlich undifferenzierte Auffassung! Sie hat mit der Realität nichts zu tun! Du überschätzt dich mein Herr! Ich kann Entscheidungen für mich selbst treffen. Auf deine Meinung lege ich höchstens als Meinung wert!”

Von diesem Zeitpunkt an hatte ich das Gefühl fehl am Platz zu sein. Deshalb versuchte ich mehrmals, mich aus dem Staub zu machen. Beide reagierten auf meine Versuche, mit der Frage ob ich nicht noch ein Bier trinken möchte. Sie fragten, warum ich plötzlich so “ungemütlich hektisch” wäre.

Nils wollte die Debatte schnell beenden. Er erklärte: “Du siehst das völlig falsch! Nichts was du gesagt hast stimmt! Ich wollte mich nie einmischen! Niemals käme ich auf die Idee, dich zu beeinflussen. Alles hat sich einfach so ergeben!”

Darauf Rolf ironisch: “Fatal, fatal.”

Er trommelte weiter. Es wurde lauter und lauter. Der Rhythmus unerträglicher. Er trommelte kompromisslos. Er ließ sich nicht stoppen. Es musste sein. Er nagelte Nils fest:

“Der wahre Grund ist, dass du, Nils überhaupt kein Interesse daran hast, dich mit der Lebenssituation von mir und Sofia näher auseinander zu setzen. Außerdem willst du viel lieber mit deinen Sollner Kumpels wegfahren. Solch einfache Dinge kannst du nur nicht zu geben! Gibs zu! Unser ursprünglicher Plan, mit Griechenland und so, war von vorn herein ein Witz für dich!”

Mit seinem lauten Getrommel beeindruckte Rolf Nils schwer. Der sah plötzlich winzig, ein wenig zerknittert aus. In Rolfs Band wäre Nils höchstens noch der Putzlappen auf der Bühne oder der verdreckte Teppich auf dem das Schlagzeug stand. Nicht einmal einen Posten als Rowdy, der Verstärker tragen durfte, blieb.

Wieder wollte ich gehen. Wieder ging es nicht. Ein neues Bier musste her. Nils, der ebenfalls bereits einige Biere in sich hatte, schlug vor:

“Ok alles klar, mein Vorschlag zu dieser Sache ist, dass ich mir, vorausgesetzt du bist überhaupt noch daran interessiert, nochmal eingehend Gedanken mache. Ich frage mich, ob ich wirklich mehr Bock habe mit den Sollner Burschen, als mit Dir und unserem Kumpel Moritz wegzufahren. Sollte ich bis morgen Abend zur Antwort “nein” kommen, so schlage ich vor, dass ich meine ganzen Planungen nochmal kurzfristig umschmeiße. Ich erledige meinen Garagenumzug und wir drei, Moritz, du und ich fahren wie geplant nach Griechenland. Was hältst du davon?”

Ich sah, wie Rolf vom Schlagzeughocker sprang. Mit den Füßen trampelte er wild herum. Kräftig sprang er auf die Trommeln. Er trat sie von der Bühne. Die Becken warf er um. Er riß sie mit samt Ständern vom Boden hoch in die Luft und schleuderte auch sie hinunter. Auf der hölzernen Baßtrommel trampelte er wütend herum. Er nahm den schweren Elektrobaß. Mit dem zertrümmerte er die Baßtrommel. Zerborstene Holzteile, an denen Fell und Metall hing, stieß er von der Bühne. Er nahm sein Feuerzeug. Die Flamme drehte er voll auf. Mit wütendem, aggressivem Blick wandte er sich zu Nils:

“Der reine bodenlose Schwachsinn, den du da von dir gibst! Dieser Bockmist scheint alkoholbedingt aus dir heraus zu sprudeln. Ich kann das für kein ernstgemeintes Angebot halten. Was bist du überhaupt für ein Typ? Stimmt etwa alles, was ich dir vorwerfe? Kapierst du das erst heute Abend? Unglaublich!”

Nils bestellte bei Bob, dem Wirt, ein weiteres Bier und meinte, beinahe lallend:

“Du hast vollkommen recht, mein Freund!”

Rolf verzichtete darauf, das zertrümmerte Schlagzeug in Flammen auf gehen zu lassen. Mit kleiner Flamme zündete er eine Zigarette an. Er ließ sich in seinen Stuhl sinken. Seine Aufregung hatte er von sich gebrüllt.

Die Diskussion ging in die Endrunde. Rolf saß und schwieg einige Minuten. Plötzlich ein Lachkrampf. Der zog sich über mehrere Minuten hin. Dann ein Fehltritt von Nils. Zu eilig versuchte er den Weg zur Toilette. Mit samt Stuhl stürzte er um. Die letzten Gäste der Kneipe, einschließlich des Wirtes, blickten noch aufmerksamer. Wir wirkten wie besoffene Teenies. Konsequenzen zügelloser Selbstüberschätzung. Körper gerieten außer Kontrolle. Peinlicher Slapstick, völlig ungeprobt. Nils stand wieder. Stolperte über den Stuhl, lag am Boden, riss die Tischdecke vom Nachbartisch. So versuchte er den Sturz zu bremsen. Nichts bremste er. Biergläser und Aschenbecher ergossen sich über ihn. Die Nachbarn waren schon vorher gegangen. Ihr Kreischen erlebten wir nicht.

Ein Gast an der Bar: “Wahrscheinlich kotzen die Burschen dem Wirt jetzt noch die Bude voll, damit wäre der Höhepunkt des Abends erreicht!”

Keiner von uns reagierte, obwohl wir das alle drei hörten. Wir waren voll. Nils begab sich schnell wieder in aufrechte Körperhaltung und setzte seinen Versuch die Toilette zu erreichen fort. Die Tür riss er zu schwungvoll auf. Knallte mit ihr gegen einen Mann am Geldspielautomaten. Der war schon lange vorher geladen, packte ihn aggressiv am Kragen. Ich dachte: jetzt ist es aus, jetzt geht’s hier so weiter, wie jeden Abend in Betrüger-Sigis Kneipe! Doch: es kam anders. Der geladene hörte es laut klingeln. Was war das für ein Klingeln? Er ließ Nils los. Der viel auf die Füße. Zuvor hing er in der Luft. Damit rechnete er nicht. Ging in die Knie und sank vor dem Mann auf den Boden. Langsam arbeitete er sich an dessen Barhocker empor. Er setzte den Weg zur Toilette fort. Beachtete den Mann nicht weiter. Froh, dass der von ihm abließ. Was war das Klingeln? Dann rasselte es, dann schepperte es.

Während Nils im Klo war, lachte Rolf. Grausam. Das schlug erbarmungslos auf den dröhnenden Kopf ein. Rolf sagte: “Das Ganze ist einfach unglaublich! Es muss aber wohl wahr sein!” Damit meinte er nicht die Szene in der Kneipe. Die hielt ich für unglaublich. Rolf und Nils waren zu beschäftigt um das zu bemerken. Rolfs Lachpause dauerte nur Sekunden. Die Fortsetzung hielt bis zur Rückkehr von Nils an unseren Tisch an.

Schließlich bewegte auch Rolf sich, auf Anhieb erfolgreich, sicheren Trittes, in Richtung Toilette. Nils ließ sich vorsichtig auf seinem Stuhl nieder. Zügig leerte er sein Bierglas:

“Wenn das ganze nicht ein unglaublicher Hammer ist, dann kann eigentlich nur eines der Fall sein: es ist nicht wahr! Da nagelt mich Rolf auf irgendwelches blödsinniges Zeug fest, das auch noch zutreffen könnte! Unglaublich! Ich dachte er fährt nur seinen schrottigen VW-Bus und spielt Baß!”

Diesen letzten Satz sprechend, riss er plötzlich den rechten Arm in die Luft und winkte aus dem Handgelenk. Es war sein Signal für Bob. Der möge zu unserem Tisch kommen. Dabei blickte er weder zu Bob, noch zu mir. Sein Blick haftete stumpfsinnig an seinem geleerten Bierglas. Mir schwante Fürchterliches.

Dann sah ich einen alten Herrn, in dunkelgrauem Trenchcoat. Von der Klotür bewegte er sich geradlinig auf unseren Tisch zu. Mit der rechten Hand fuhr er in die Innentasche des Trenchcoat. Jetzt erkannte ich ihn. Es war der geladene. Was tat die Hand im Trenchcoat? Wollte er die Waffe aus der Innentasche ziehen? Schließlich hatte Nils ihm die Klotür in den Rücken gehauen. Er trug einen grauen Bogart. Sein Gesicht tief verdeckt. War es Wut oder Begeisterung, die zwischen der langen Nase hervor blickte?

Schnell riss er die Hand aus der Innentasche: Er knallte einen Fuchzger auf unseren Tisch. Nils erschrak. Blickte zum Bogarthut auf. Der räusperte: “Danke, der Herr!” Er drehte sich um und ging. Ungläubig schaute Nils auf den Fuchzger. Er sah mich an und fragte: “Was soll das?” Ich bewegte meine Schultern, schüttelte den Kopf und sagte nichts.

Rolf kam von der Klotür und brachte Bob von der Bar mit.

Bob zückte, erleichterten Blickes, seinen Block. Er fragte das Übliche. Nils, wie aus einer Pistole: “Hier geht nichts mehr zusammen! Getrennt! Aber warum eigentlich? Müssen wir schon gehen?”

Rolf, der hinter Nils stand, nickte Bob heftig zu. Darauf Bob: “Ja, wir machen gleich dicht.”

Bob schrieb schnell, Rolf gab ihm den Fuchzger und leerte sein Bier.

Draußen regnete es heftig. Zu kühl für Juli. Eine Fortsetzung der Diskussion zwischen Nils und Rolf entstand nicht. Beide konnten kaum mehr stehen, aber reden. Sie vereinbarten, weitere Details am nächsten Tag in der Schule, oder am Telefon zu klären.

Zwei Wochen später saßen Rolf, Nils und ich in Rolfs schrottreifem VW-Bus. Wir transportierten die paar Möbel und genau fünf Umzugskisten von der Autobahn-WG in eine Garage nach Solln. Wir verstauten das Zeug in der hintersten Ecke. Eng stapelten wir bis zur Decke.

Zwei Tage vorher fragte mich Nils, ob ich bei der, “neuerdings geplanten Urlaubstour” als vierte Person mit dabei sein wolle. “Moritz, Rolf und ich planen einen Spontanausflug für vier Wochen nach Griechenland. Wobei klar ist, dass, in Anbetracht des technischen Zustandes von Rolfs VW-Bus, nicht sicher ist, ob wir dort jemals ankommen.”

Nachdem ich die Ferien über weder arbeiten wollte, noch mich mit sonst irgend etwas Sinnvollem beschäftigen wollte, kam dieses Angebot nicht ungelegen. Ich plante meine Ferien an einem Münchner Baggersee. Griechenland schien da wesentlich interessanter. Ein Problem war meine Kassenlage. Auf Rückfrage, wovon ich das bezahlen solle, wie viel der Spaß, nach seiner Schätzung etwa kosten werde, antwortete Nils:

“Also das teuerste an der Tour dürfte wohl der benzinschluckende Kübel von Rolf werden. Deshalb haben wir auch schon beschlossen, dass wir bei jedem Gefälle den Motor abschalten. Die Bremsen haben wir letzte Woche neu belegt. Sie funktionieren einwandfrei! Ich habe genau 350 Mark die ich mir an Miete für den Monat spare und 250 die ich sonst hier in München fürs Leben verbraten würde. Damit muss, und werde, ich auskommen.”

“Also genau 600, soviel wird mich ein Leben am Baggersee nicht kosten”, sagte ich darauf.

Nils: “Jetzt rechne mal nicht so spießig rum! Vielleicht brauchen wir ja auch keine 600. Wenn die Karre nicht auseinanderfällt zum Beispiel! Das ist zwar unwahrscheinlich, aber dennoch möglich. Ich sehe das Ganze optimistisch. Dann sind nach der Tour von den 600 noch 250 übrig. Außerdem ist das eine einmalige, topgünstige Möglichkeit aus München zu verschwinden und diese ganze Spießer- und Juppimetropole sich selbst zu überlassen! Das sollte dir doch einiges Wert sein. Also räum deine sämtlichen Konten, Sparkonten und sonstigen Geldbestände ab. Treib alle offenen Schulden ein!” Wenn ich vier bis fünfhundert “Märker” zusammenbringe, würde dies vermutlich “locker” reichen.

Die Abreise

Die Möbellagergarage in Solln war nun der neue offizielle Wohnsitz von Nils. Vor der Garage befand sich ein kleiner privater Parkplatz. Dort gab es die wunderbare Möglichkeit den Bus von Rolf genauer auf krasse technische Mängel zu untersuchen. Rolf kurvte auf dem Platz herum und bremste scharf. Er wechselte die Zündkerzen und den Keilriemen. Wir überpinselten die gröbsten Rostflecken mit weißem Lack. Das gab viele weiße Flecken. Damit wollten wir Auffälligkeit vermeiden. Das hielt ich für aussichtslos. Das Fahrzeug war alt und rostig. Es war auffällig, weil es anders war. Wem es auffallen wollte, viel es auf. Unser Herumgepinsle konnte nicht viel verschönern. Die frischen weißen Lackflecken glänzten aus Rost, Dreck und mattem alten Lack hervor.

 

An diesem Tag lernte ich Moritz kennen. Ein korpulenter, jedoch sehr beweglicher Knabe. Lebhafter Gesichtsausdruck. Ein Lächeln wie das eines kleinen Kindes, das gerade aus der versteckten Süßigkeitenkiste in Mammas Küchenschrank genascht hat. Sein ständiges, unvermeidliches Lächeln verriet die verbotene Tat sofort. Ein schelmisches Kinderlächeln, die Fäustchenbacken, leicht rötlich, ein wenig glänzend wie ein roter Apfel, und diese langen, schwarzen, gelockten Haare, vorne fast kahl rasiert: das musste provozieren. Es passte nicht zusammen. Es gehörte eine blonde, kurz geschorene, vielleicht vom Spiel im Sandkasten leicht verstruppte Frisur zu seinem Gesicht. Aber diese schwarzen Haare? Sein Gesicht? Was wollte Moritz damit sagen?

Für seine schwarzen Haare konnte er nichts. Sie waren nicht gefärbt. Aber seine Frisur! Warum diese Frisur in dem schelmischen Kindergesicht?

Moritz war siebzehn Jahre jung. Seine Bewegungen waren hektisch. Er sprang und hüpfte, turnte um den Bus herum. Dabei strahlten seine großen braunen Augen. Die roten Fäustlingsbacken drückte er aus dem Gesicht. Deshalb übersah ich seine kurze, breite, leicht gerötete Nase beinahe. Seine langen Haare standen im Laufwind, als föhnte er sie. Er freute sich auf unsere Reise wie er sich auf den Nikolaus, Weihnachten oder seinen Geburtstag freute. Laufend und hüpfend pinselte er auf Rolfs Bus herum. In den Dreck auf dem Fahrzeug malte er weiße, lachende Kreisgesichter mit abstehenden Haaren.

In den Kassettenrecorder schob er sofort seine mitgebrachte Musikkassette. Rolf und Nils erzählten mir, dass Moritz auf “gröbere Rockmusik” abfährt. Was Moritz zappelnd und springend in den Recorder legte, kannte ich. Es war Jim Morrison und Doors. Ich fand das nicht so schlimm. Wichtiger war für mich die Frage: Wie wollte der Knabe die lange Reise hindurch still im Auto sitzen?

Wegen seines zarten Alters versuchte Rolf ihn ein wenig auf die Schippe zu nehmen. Er stand auf einem Felsbrocken und erklärte:

“Da wir ja nun für die kommenden vier Wochen die Verantwortung für dich, den Minderjährigen übernommen haben, müssen wir uns noch vernünftiger und verantwortungsbewusster als es ohnehin schon unser Markenzeichen ist, verhalten! Wir werden uns bemühen. Aber du kannst helfen. Also, reiß dich zusammen, Bub!”

Rolf lächelte von oben herab. Gönnerhaft blickte er zu Moritz. Seinen rechten Arm wie Napoleon angewinkelt in der Innentasche der Jacke. Überlegen thronte er herunter. Seinen Spruch fand er lustig. Sein Grinsen beherrschte sein Gesicht. Ich erwartete einen Lachkrampf.

Moritz fand das nicht so lustig. Er saß auf dem Beifahrersitz im Bus und schnitt mit einem langen Klappmesser eine grüne Melone auf. Die roten Wassertropfen auf die Bodenmatte störten ihn nicht. Von einer Melonenecke biß er ein großes Stück heraus. Mit samt Kernen im Mund, kauend, ging er zum Thronenden. Ehrfürchtig verbeugte er sich vor seinem König. Langsam erhob er sich, und atmete durch die Nase tief ein. Er stand aufgerichtet vor seinem Herrn, blickte in dessen Gesicht. Plötzlich entleerte er mit einem festen kräftigen Ruck seine roten dicken Backen. Sofort sprang der König vom Thron. Doch zu spät. Seine weiße Kleidung war rot und nass. Der Schelm und Hofnarr lachte frech. Ein tiefes langes Grunzen, das nirgendwo hin passte. Der Mensch wandte sich lachgebeugt ab, mit der Linken hielt er den dicken Bauch, die Rechte, in die er hinein grunzte vor dem Mund.

Doch der König, überraschend beweglich und schlau! Er pirschte rot von Melone verschmiert hinter dem Rücken des Hofnarren vorbei. Gebückt bestieg er sein Vehikel fahrerseitig. Ergriff mit der rot triefenden Hand die aufgeschnittene Melone. Behielt den immer noch gebeugt lachenden Narren beifahrerseitig im Blick. Sprang blitzschnell, hielt die halbe Melone in der Rechten, landete leise neben dem Fahrzeug. Umrundete es gebückt wie ein listiger Gauner beim Hühnerstehlen. Die halbe, feucht triefende rote, hielt er beidhändig vor sich. Pirschte sich leise, gemein und listig von hinten an. Hüpfte noch einen Meter vor. Erhob sich hinter dem immer noch närrisch grunzenden. Tippte mit der Linken auf dessen Schulter, warf blitzartig einen überlegenen Blick ins Publikum, denn sein Volk sollte wissen wer der König war, und drückte bereits jetzt, bevor der Narr sich aufrichten oder los rennen konnte, die rote kräftig in dessen Gesicht.

Das triefte, glitschte und spritzte. Der Narr schüttelte sich schockiert und schleuderte das kalte, feuchte, glibberige, rote muss von sich. So traf es den König auch nochmal. Überlegen thronte der sogleich wieder auf seinem Felsen. Die Schlacht endete für ihn triumphal erfolgreich. Kleine Opfer mussten sein.

Der Narr schüttelte sich und schleuderte weiter nasses Rot von sich. Die Zuschauer nahmen weiten Abstand. Sie versuchten der Feuchtigkeit zu entgehen. Die fliegenden roten Glibberteile trafen auch sie. Närrische Zentrifugalkraft ließ niemanden verschont. Dennoch war das Publikum begeistert. Es spendete heftigen Beifall. Standing Ovation! Dann schallte es sogar noch ausgelassen lachend über den Platz. Zu närrisch für den Narren!

Der blickte in die Reihen. Sein närrisches Lachen war gewichen. Er hasste närrisches Lachen bei anderen! Vor allem, wenn es einem echten Missgeschick galt. Das Publikum grölte noch närrischer weiter. Die roten Faustbacken des Narren klebten und trieften. Roter Saft tropfte auf das helle Hemd. Die Zuschauer sollten seine närrische Kunst honorieren, nicht jedoch den Schaden den der König ihm zufügte, höhnisch grölend begleiten.

Rot triefend sprang er schwungvoll zur Beifahrertür. Die Zuschauer warteten gespannt wie die Rache am König aussehen werde. Der Narr ergriff den Rest der Melone. Mit einem blitzschnellen Satz hüpfte er aus dem Wagen. Er kam, in die Knie gehend auf. Rannte vor den Felsen des Königs. Ängstlich erschrak der. Stürzte herab, versank kopfüber in einem riesigen Laubhaufen. Begann sofort, mit den Beinen in der Luft strampelnd, sich frei zu kämpfen. Aus dem Haufen erklang königliches Geplärre. Das Publikum deshalb wieder ausgelassen närrisch grölend und begeistert klatschend. Der Narr, erneut in die Knie gehend, sprang jetzt schwungvoll seitlich in die Zuschauer. Dort rieb er mit der nassen roten kräftig um sich. Wieder klatschte, schmierte und tropfte es. Vom Volk wollte er nicht verlacht werden! An ihnen nahm er Rache, die dem König galt.

Moritz ließ sich keinen Versuch, als Kind behandelt zu werden, gefallen. Jeder sollte wissen, dass irgend etwas unangenehmes geschehen werde, wenn man ihn angriff. Bei seiner Verteidigung kannte er keine Grenzen.

Als Bekleidung plante er für den ganzen Urlaub zwei kurze, abgeschnittene und deshalb ausgefranste, Jeans-Shorts. Eine davon kleidete ihn bereits. Moritz war nicht ungepflegt, obwohl er sich stets sehr sparsam wusch. Er sagte: “Wasser ist ein Grundnahrungsmittel und deshalb zu wertvoll, um es einfach am eigenen Körper herunter laufen zu lassen.”

Moritz, fast immer lächelnd. In jeder Situation einen gewissen Witz findend. Fand er keinen, bohrte und kramte er, bis ein Witz entstand. Das Hauptvergnügen daran hatte er.

Der König durfte sich nur vergnügen, wenn auch er, der Narr Spaß hatte. Der Hofnarr wollte nicht nur andere animieren, er war hauptsächlich sein eigener Animateur. Seine Begleiter freilich entkamen seiner Animation nicht. Sie war laut: Er legte ständig seine Kassette ein. Sie war unruhig: Er zappelte auf dem Beifahrersitz.

Seine Frisur, sein rundes Bübchengesicht, der Gesichtsausdruck, seine Zappelei, sein nervöses Gehüpfe, sein lautes grunziges Lachen, dazu seine Musik, die permanent aus dem Recorder dröhnte, erst in letzter Sekunde vor dem Grenzübertritt herunter gedreht wurde. Das war Moritz, der Narr.

Ein Dienst schiebende Beamter, durchnässt, vom kalten Regen, an der lauten Autobahn. Ein nieder gerosteter VW-Bus. Junge Leute, die in Urlaub wollen. Daran hat man sich seit Jahren gewöhnt.

Aber: Das Kindergesicht eines Halbwüchsigen eines lächerlichen Schelms, eines arroganten, jugendlichen Narren?

Das ist unglaublich! Wie der mich anschaut, dachte der Grenzbeamte. Ja, wo gibt es denn so was? Der lacht mich rotzfrech, wie Michel aus Löneberger an! Nein schlimmer, viel schlimmer! Der lacht mich aus! Unglaublich so ein rotzig freches Zigaretten-Bürschel! Na, dem werd ich’s zeigen! Der findet mich lächerlich? Ganz klar! Kein Respekt mehr diese jungen arroganten Pfurzer! Gestern noch Windeln an, heute hier auf der Autobahn! Unglaublich! Hat keine Ahnung vom schweren Grenzerleben. Ein lächerlicher Zwerg!…..Ja, das gibts nicht, der lacht immer weiter! So ein Narr! Ja tut denn der das absichtlich?…Ja klar! Der will…der will…ja was will er denn?…Er will provozieren! Er haßt Menschen in Uniform! Deshalb hat er auch so versiffte Klamotten an! Wahrscheinlich glaubt er sogar, dass mein Job lächerlich und nutzlos ist! Na, dem Knaben wird das Lächeln schon vergehen! Nun sollen die Burschen erst mal aus ihrer verdreckten Hippiekarre aussteigen! Sie sollen alle Türen, Kisten, Taschen und so weiter aufmachen! Will doch mal sehen ob ich da nicht ein bisschen Shit finde! Irgendwas werden diese lächerlichen Kleinkinder schon dabei haben!

Der Übertritt an jedem Grenzübergang kostete Zeit. Moritz behielt sein Lächeln. Er genoss die Situationen, fand sie unterhaltsam. Manchmal reagierte er mit Ironie.

In seiner Tasche befanden sich lediglich einige Unterhosen, drei T-Shirts, zwei paar Socken, eine Zahnbürste, ein Kamm, eine winzige Seife und seine zweite abgeschnittene Jeans. Auf die Bitte sie zu öffnen, lächelte er freundlich weiter: “aber äußerst selbstverständlich! Sehr gerne!”

Die Beamten fanden in unserem Fahrzeug kein Gramm von irgend etwas, das wir nicht hätten mitführen dürfen. Selbst die Hunde, die zahlreiche Haare im VW-Bus hinterließen, konnten nicht fündig werden. Nach dem zweiten Grenzübergang ließen wir alle unsere Taschen geöffnet. Der Inhalt der hinteren umklappbaren Sitzbank blieb auf dem Boden liegen. So sparten wir das ewige Aus- und Einräumen. Die Beamten fanden nichts, selbst das weiße D-Schild hatten wir. Auch seine Größe stimmte. Die Reifen nicht abgefahren, selbst der TÜV im Jahr zuvor erneuert. Rolfs Vehikel war verkehrssicher. Das war ärgerlich!

Der Beamte verschwand mit unseren Pässen in seinem “Kabüffchen”, wie Moritz es nannte. Nicht vor Ablauf einer Viertel Stunde kam er wieder raus. “Die schieben hier nur ihren Dienst”, beruhigte Nils. “Das muss langweilig sein, ich hätte dazu keine Lust. Mir wärs zu kalt und stinkig hier. Und dann immer noch die Hippies, die lange schon ausgestorben sind! Aber immer wieder tauchen welche in verdreckten Bussen und Klamotten auf. Ärgerlich!”

Der Beamte erschien nicht wieder. Wir gingen Kaffeetrinken.

Nils: “Im Urlaub sollte man jeglichen Aufenthalt, auch den an den Grenzübergängen, so angenehm wie möglich gestalten.”

Wir saßen im Café und beobachteten. Zehn Minuten später kam der Beamte. Das Fahrzeug parkte leer. Ein Zettel an der Windschutzscheibe: “Sind nur eben mal Pinkeln, kommen gleich wieder. Unterwürfigst: Moritz.”

Das bereitete dem Narren spaß. Moritz lächelte närrisch. Eine halbe Stunde später ging er ins Kabüffchen und holte die Pässe. Moritz zu uns: “Wir parken hier vorschriftsmäßig! Wir beleidigen keine Beamten! Wir sind ruhig und unauffällig! Also kann uns fast nichts passieren. Österreich und Deutschland sind schöne Länder. Alles hat seine Ordnung!”

Eine Nacht am Grenzübergang, Harry der Tramper

Niemand glaubte an ein erstes Etappenziel unserer Reise. Niemand wollte an diesem Tag irgendwo ankommen. Dafür gab es Gründe. Die Aufenthalte an der Grenze. Das klapprige, alte Auto. Wir fuhren langsam. Die Nadel bewegte sich nicht über 80. Höheres Tempo wollte Rolf seinem Wagen nicht zumuten. Von jedem Reisebus und Lastwagen wurden wir überholt. Wir nahmen uns die Zeit. Vier Wochen. Keinen interessierte es, wann wir irgendwo an kamen. Selbst die Frage war offen, ob wir die Griechische Grenze je erreichten.

Die erste Nacht verbrachten wir bei strömendem Regen und Kälte in Österreich. Am Grenzübergang. Es gelang nicht, das Land zu verlassen. Nils versuchte vorne im Führerhäuschen zu schlafen. Rolf und ich lagen hinten auf der umklappbaren Sitzbank. Moritz lag in seinem Schlafsack auf dem Dach des Fahrzeugs, wo er offenbar gut schlief. Das war hörbar.

Es regnete stark. Das Fahrzeug parkte unter einer Unterführung neben der Raststätte. Damit setzten wir uns freilich der Gefahr aus, einem Beamten, einem an der Raststätte arbeitenden Österreicher, oder sonst irgendeiner Person aufzufallen.

Moritz hüpfte und sagte: “Wir parken nicht verkehrswidrig, ich sehe kein Verbotsschild! Hier darf man pennen! Wir sind ruhig und unauffällig! Österreich ist ein freundliches, demokratisches Land. Die Luft ist frisch und rein. Ich schlaf auf dem Dach!”

Hinten auf der Pritsche liegend, hörte ich deutlich Moritz dröhnendes Schnarchen. Das Blech der Fahreugdecke übertrug und verteilte das. Der Lärm erfassten das ganze Auto. Ein metallisches Röcheln. Mein Gehör ortete die Lärmquelle aber nicht mehr wirklich. Nur weil ich wusste, dass Moritz oben lag, wusste ich woher der Lärm stammte. Er schlief fest. Ich fragte mich, wie er das schaffte. Sein eigener Lärm und der Lärm der vorbeirauschenden Autobahn. Der schwere Regen. Die Autos auf der nassen Strasse, die lärmend durch die Unterführung an uns vorbei donnerten.

Am Morgen plärrte Moritz: “Moin, Moin! Gut geschlafen allerseits”? Ein frisch erholter Bübchenblick strahlte durch die halb geöffnete Schiebetür. Bereit zu neuen Taten. Ein geübter Griff an den Recorder. Noch bevor ich meine Augen ganz öffnete, erklang das Keyboard der Doors. Die Lautsprecher schepperten leicht überfordert. Das war Moritz, der Schelm, der nervige Hofnarr. Ich lag wie ein Brett auf dem Rücken, fühlte mich gerädert. Nachts schlief ich kaum. Lärm und Lichtkegel vorbei fahrender Autos hielten mich ab. Mein Kopf dröhnte. Das lärmende Keyboard surrte durch meinen Schädel.

Im Supermarkt gab es Brötchen. Der Kaffee stand auf dem Kartuschenkocher. Wasser kochte. Selbst Eier besorgte Moritz. Kurz war er nicht der nervige Hofnarr sondern der ausgehungerte Heranwachsende, der schnell sein Frühstück brauchte. Der Regen war vorbei. Der Wagen trocknete in der Sonne. Mein Kopf surrte nicht mehr, dröhnte auch nicht mehr, jetzt brummte es leise. Die Autobahn dröhnte laut. Wir standen vor der geöffneten Schiebetür des Wagens, hielten dampfende Kaffeebecher, lachten und quatschten.

 

Da stand plötzlich einer neben mir. Es war Harry aus Tirol. Ich knabberte auf meinem Brötchen, es war hart. Ich tunkte es in den Kaffee und lutschte daran. Harry war blond und kurz geschoren. Sein Gesicht, schmal und blass. Ein Bübchen, aber nicht Michel aus Löneberger, sondern eins aus der Stadt. Gestresst, bleich wie Plätzchenteig. Schmale Augen, aber deutlich blau. Schmale Lippen. Blasse abstehende große Ohren. Lang und mager. Sein Körper sah hungrig aus.

Weit riß er die schmalen Lippen auseinander: “Hobd’s no an Sitz frei? Bis auf Dubrovnik obi?”

Der Tonfall war fies. Der Ton selbst hoch. Zuviel für das Brummen in meinem Kopf, es surrte wieder.

Nils blickte scharf, genervt, fragend. Er fixierte den Österreicher. Sanftes Hochdeutsch erklang.: “Wie bitte werter Herr? Welches Ansinnen hätten sie gerne vorgebracht?”

Der Fremde entgegnete: “Geh heards! I hoab mir denkt ihr waards aus Minga! I seiber bin a waschechter Estarreicha, hoab aber scho zehn Joar lang in Minga gwohnt und da hod mi no a jeda vastondn!”

Nils wandte sich von dem Fremden ab und seinen Begleitern zu. Seine Worte, garnierte er mit typischem Nilslächeln: “Tja liebe Leute, ich habe es mir eigentlich schon immer gedacht: da fährt man in das benachbarte Ausland und dort versteht man plötzlich die Menschen nicht mehr. Schade, obwohl sie im Grunde die gleiche Sprache sprechen. Naja, man lernt nie aus im Leben!”

Er schenkte Harry keine weitere Beachtung. Er nippte von seinem dampfenden Kaffee. Der Unbekannte verstand.

“Mein Name ist Harald Litzelberger, meine Freunde nennen mich Harry. Das dürft ihr auch tun! Ich stamme aus Tirol und hätte vorgehabt, wenn möglich heute noch, oder zumindest morgen, bis nach Dubrovnik zu kommen! Deshalb wollte ich Sie fragen ob Sie eine Mitfahrgelegenheit für mich hätten?”

Sein Österreichischer Tonfall blieb. Die Ansage stieß auf Verständnis.

Moritz legte ein gekochtes, dampfendes Ei auf seinen Löffel. Mit dem Ei auf dem Löffel rannte er einmal um das Auto. Vor dem Fremden blieb er stehen. Das Ei dampfte vom Löffel. Moritz sah es an. Sah dem Fremden ins Gesicht. Sah nochmal auf das Ei, das immer noch dampfte. Drehte noch eine Runde. Stand wieder vor dem Fremden. Sah nochmal auf das Ei. Es qualmte noch leicht. Sah zu dem Fremden und sagte: “Du spricht unsere Sprache. Gut! Du willst dahin, wo auch wir hin wollen. In Ordnung! Deine Richtung ist unsere Richtung. Nicht schlecht!”

Mit dem Ei auf dem Löffel drehte er sich zu uns: “Sollen wir den mitnehmen?” Er stieg auf das Trittbrett von Rolfs Bus, schlug das Ein mehrmals auf das Dach.

Darauf der König zum Narren: “Na na, mein Herr! Vorsicht, vorsicht! Wir brauchen meine Kutsche noch!”

Moritz pulte am Ei herum, die Schale klebte, denn er hatte es nicht abgeschreckt. Zu uns sagte er: “Um meine Frage eindeutig beantworten zu können, sollten wir zunächst seine Gesinnung genauer überprüfen! Wir sollten vermeiden, dass wir unterwegs von ihm ausgeraubt werden. Denn ich habe schon oft von schrecklichen Wegelagererschicksalen entlang der europäischen Autobahnen gelesen. Ihr wisst schon, in den üblichen Blättern.”

Darauf sagte der König: “Gute Idee! Doch, wie könnte eine solche Gesinnungsprüfung aussehen? Der Herr wird keinerlei amtlich beglaubigtes Führungszeugnis mit sich führen, das einen einwandfreien Leumund bescheinigt.”

Der Fremde wurde plötzlich laut. Mein Kopf brummte wieder. Schnell sagte er: “Ihr scheint a bisserl abgedreht zu sein Leute! Habt ihr euch irgendwelche Drogen rein geschmissen?”

Darauf lachte der Hofnarr närrisch. In bekannter Posse hielt er Bauch und Mund. Gebückt stand er vor dem Fremden. Er richtete sich langsam auf. Das gepellte Ei steckte in seinem Mund. Die roten Fäustlingsbacken glänzten und bewegten sich rhythmisch. Er atmete tief durch die Nase ein. Durch sie atmete er auch wieder aus. So geschah nichts.

Von dem Fremden wandte er sich wieder ab. Das Ei verschluckte er. Wie bitte? Ja, es war einfach weg!

Das Volk fragte er: “Wie kommt der Bub auf die Idee wir wären Kiffer? Sehen wir so aus oder was?”

Lauter, tiefer, zu dem Fremden gewandt brummte er: “Sehen wir so aus oder wooos?”

Nils zu dem Hofnarren: “Nein, die Perspektiven sind nicht günstig! Fehlende Vertrauenswürdigkeit. Finde ich. Den einfach mitzunehmen ist zu riskant. Die Sache ist klar!”

Ich sagte: “Eine vernünftige Gesinnungsprüfung läßt sich nur mit jemandem durchziehen, der auch einsieht, dass seine Gesinnung überhaupt einer Prüfung zu unterziehen ist! So ein Einsehen scheint hier nicht gegeben.”

Der König knallte blechscheppernd den Kaffeebecher auf sein Vehikel. Dagegen war das Narrenei ein Witz. Deshalb blinzelte der Hofnarr dem König schelmisch zu.

Der König beachtete den nicht, er stellte sich vor den Fremden: “Eine andere Möglichkeit zur Lösung unseres Problemes wäre ein gewisses Entgegenkommen. Ein Fremder, der mit uns reisen will, bietet es von sich selbst aus an. Das ist im vorliegenden Fall nicht geschehen. Also Leute…alles bestens!” Er wandte sich seinem Volk und dem Hofnarren zu, und streckte die rechte Hand zum Gruß aus. Ein königlicher Beschluss war gefasst, durch Handschlag wurde er besiegelt.

Harry verstand das Urteil sofort. Er sagte: “Hey Leute, das war alles nicht so geplant! Ich werde nicht versuchen euch auszunehmen! Außerdem seht ihr nicht nach besonders viel klauenswerter Kohle aus. Für Kiffer halte ich Euch auch nicht! Ich will nur nach Dubrovnik, sonst nichts. Also überlegt nochmal, ich würde euch auch ein bißchen Benzingeld rüber wachsen lassen!”

Der König ließ die Hände seines Volkes sofort los. Sein Gewandt wehte im Wind. Sein Körper drehte sich schnell. Der König war gutmütig. Der Fremde bat nur ein Mal um Gnade: “Das sind natürlich realistische Perspektiven! Denn meine Kutsche müssen wir gleich nach der Grenze volltanken. In der Landeswährung macht das mindestens fünfhundert Schilling!”

Nun stürmte der Hofnarr freudig vor. Er feierte das Ganze. Laut knallte es, wie Sektkorken. Weder Flasche noch Korken waren zu sehen. “Ok Harry, willkommen im Team!”

Wir stellten uns gegenseitig mit Handschlag, Tasse Kaffee und Vornamen vor. “Wenn du dich damit einverstanden erklärst, dass du bis Dubrovnik eine Tankfüllung bezahlst und unsere zweite Bedingung auch akzeptierst, ist alles klar!”

“Welche zweite Bedingung?”

“Die, dass es passieren könnte, dass wir mit unserer Schrottkiste nie dort ankommen werden. Falls dies eintritt, blechst du trotzdem deinen fälligen Benzinanteil. Und du machst dich nicht mit irgend einem Diebesgut von uns aus dem Staub. Damit das gut geht, konfisziert der Fahrer, das bin ich, deinen Ausweis. Im Bedarfsfall ist eine erfolgversprechende Verfolgung sicher gestellt. Alles ganz einfach, oder?”

Diese Bedingungen spielten keine Rolle mehr. Harry war dabei. Sofort zückte er seinen Ausweis, und gab ihn Rolf.

Gedanken zum Schweigen im Auto

Zu viert setzten wir unsere Tour in Richtung Meer fort. Harry prahlte, er sei ein ganz toller Diskjockey in einer Tiroler “Doofdisco”, wie Moritz das Wort aussprach. Harry traf diese Aussprache wie ein verbaler Hammerschlag. Er brachte ihn zum Schweigen. Er zog sich zurück, hörte zu. Nichts erzählte er von sich aus. Er beantwortete Fragen.

So die Frage, was er eigentlich in Dubrovnik wolle. Er unterdrückte seinen Österreichischen Dialekt: “Ich weiß das selbst nicht ganz genau.I hob ghärt und glesen, dass Dubrovnik a sehr hübsche, historisch und kunsthistorisch interessante Stodt am Meer is”. Harry sah nicht nach dem aus, wovon er sprach.

Weil er sein Nachbarland noch nie besucht hat, fasste er den Entschluß eine kleine Tramptour zu machen. Er nahm sich zwei Wochen von seinem Job in der Disco frei. Was ihn in Dubrovnik und überhaupt auf dieser Reise, außer uns, noch so erwarte, wisse er nicht. “I glaub da konn i mi no auf wos gfasst macha!”

Warum er das glaubte? Dies glaubte er erst seit einer knappen Viertel Stunde. Seit er mit uns vieren auf dem Parkplatz ins Gespräch kam. Vorher verschwendete er keinerlei Gedanken daran. Auf überraschende oder interessante Menschen und Situationen war er nicht gefasst.

Moritz: “Du findest uns also interessant? Mich etwa auch?”, dabei lächelte er.

Harry antwortete: “Durchaus Moritz, durchaus.” Er äffte das Lächeln von Moritz nach.

Moritz: “In welcher Beziehung findest du mich interessant?”

Harrys bleiches Gesicht sah jetzt genervt aus. Was soll man auf so eine Frage antworten, wenn man erst vor fünf Minuten in das Auto dieser Leute stieg?

Harry antwortete nicht. Er sah zum Fenster hinaus. Ein krasses Verhalten, das den nervösen fiebrigen Hofnarren noch mehr zappeln ließ. Das merkte Harry und flüchtete: “Nein, tschuldigung, war nicht so gemeint. Ich meinte, ich finde vor allem meine Reise interessant.”

Er war genervt. Nicht nur wegen des Hofnarren, sondern wegen uns allen. War es unser Verhalten? Wir saßen ruhig auf den Sitzen im Bus. Abgesehen von Moritz, der saß vorn, zappelte und hörte Doors. War es unsere allgemeine Ausstrahlung? Wir waren Freunde. Wir waren Fremde. Er war Österreicher. Für uns ein Ausländer. Für ihn waren wir Ausländer in seinem Land. War er zu alt für uns? Er war höchstens dreißig. Immerhin, fast zehn Jahre älter. Sein Gesichtsausdruck? Sein blasses Gesicht bewegte sich nicht. Er schaute starr nach vorne auf die Autobahn.

Er kannte uns nicht. Das kann nerven. Es kann verunsichern. Harry wirkte verunsichert. Ich kannte sein blasses Gesicht nicht. Es sah so starr aus, das konnte nicht immer so sein. Das gibt es nicht. Ein Gesicht spricht. Harry sprach nicht.

Vermutlich machte er sich über vollkommen falsche Dinge Gedanken. Über die Frage, warum wir nicht in Begleitung von Frauen waren. Der Männerstaat war allein unterwegs. Der König lud ein, der Hofnarr unterhielt. Warum?

Oder er bekam Angst, weil Moritz so direkt war. Er fürchtete die Aufdringlichkeit des Hofnarren. Vielleicht war seine blasse Gesichtsfarbe auf seine Angst zurück zu führen. Vielleicht blickte er starr, bewegte weder Augen noch Mund, weil er sich fürchtete.

Oder: die Angst, die man hat, wenn man bei drei unbekannten Leuten im Wagen sitzt? Wie ist das? Vorher haben sie noch munter geplaudert, ein Spielchen mit dem Fremden getrieben. Jetzt sitzen sie, der Fahrer fährt und schweigt, die Beifahrer schweigen auch. Was soll das? Da kann man schon Angst kriegen.

 

Wir waren mit vier Frauen in Igouminitsa verabredet. Eine spontane Verabredung. Frauen, die ich nicht kannte. Alte Bekannte des Fahrers. Rolf nannte sie: “meine alten Schulfreundinnen”. Sie waren nicht unsere Lebensgefährtinnen. Einfach nur alte Bekannte, eben frühere Freundinnen von Rolf.

Das konnte ich dem Fremden unmöglich erklären. Harry fragte nicht danach. Er starrte und sprach nichts. Vielleicht hatte er Angst, etwas dummes zu sagen. So muss es gewesen sein! Klar! Er saß zwischen drei Freunden. Er saß draußen. Fremd. Man hat Angst sich vor zu wagen. Er wagte sich vor, sofort schlug der Hofnarr zu, nannte seine Disco “Doofdisco”. Das war das vorläufige Ende der Eigeninitiative des Fremden. Er outete sich als Angeber. Klar, da kam sein Starren und Schweigen! Drei gegen einen!

Seit wie vielen Jahren kannten wir uns? Der Fremde kannte uns erst Minuten.

Eine simple Idee ging mir durch den Kopf: Der Fremde braucht vor uns keine Angst zu haben! Wie mache ich ihm das klar? Wir wollen ihn nicht dumm anmachen. Das tun wir nicht!

Obwohl? Wir haben es schon getan. Na klar! Mit unserer Show am Grenzübergang haben wir ihn schon verunsichert. Er war ein einfacher Tramper, wollte einfach nur fragen, ob er dabei sein darf. In Rolfs Wagen, Richtung Dubrovnik, mehr nicht. Er fragte ganz einfach, nicht ganz verständlich, wegen seines Dialekts, aber einfach. Wir machten eine Szene daraus. Danach sprach er nicht mehr viel. Mit uns im fahrenden Bus sitzend schwieg er endgültig.

Wie das Schweigen brechen? Eine neue Szene beginnen?

Es störte mich extrem, einen schweigenden Tramper im Auto zu haben. Er tat nichts als zum Fenster hinaus zu blicken. Was dachte er? Was steckte hinter seinem Schweigen? Vielleicht hat sein Denken etwas mit meinem Denken zu tun? Er schwieg.

 

Am Tag zuvor unterhielten wir uns rege. Wir plapperten wild durcheinander. Manchmal brüllten wir. Es war laut, wir übertönten den lauten Motor und den lauten Doorssound, den Moritz brauchte. Wir lachten. Wir blickten zum Fenster hinaus und machten uns über das was wir sahen lustig. Wir sahen einen arbeitenden Metzger vor seinem Laden und lachten. Weil wir Urlaub machten. Wir sahen einen geschäftigen Polizisten und lachten. Wir sahen einen genauen Grenzbeamten und lachten. Nun herrschte Ruhe. Und lauter Doorssound schallte durch den Wagen, wie am Tag zuvor. Das Lachen fehlte. Das durcheinander Plärren fehlte. Die Urlaubsstimmung fehlte!

Der unbekannte Fremde hatte das ausgelöst.

Moritz drehte seinen Sound auf unerträgliche Lautstärke hoch. Die Orgel schmerzte. Sie fieberte in einem hochtönigen qääääää und quuuuu permanent auf und ab. Jetzt wusste ich, warum Moritz so fiebrig nervös war. Er fieberte mit der Orgel. Die Band hatte es ihm angetan. Sie ließ ihn zappeln. Er war abhängig. Wer solche Lautstärke dieser Orgel brauchte, täglich, musste abhängig sein.

Störte mich das qääääää und quuuuuu oder war es das Schweigen? Vielleicht überhörte ich das qääääää und quuuuuu am Vortag. Wir unterhielten uns so ausgiebig, da blieb es im Hintergrund.

Nein, es musste der Fremde sein.

Warum war er in der Lage, unsere Stimmung im Urlaubsauto so zu verändern? Ich musste das Schweigen im Wagen brechen. Eine neue Szene beginnen.

Vielleicht war er ein Mitglied der Österreichischen Drogenpolizei! Die Grenzbeamten hetzten ihn uns auf den Hals. An der Grenze beäugten uns argwöhnische Blicke. Ich ignorierte sie. Ein Fehler, wie ich jetzt merkte. War es schon zu spät für uns? Saßen wir schon in der Falle? War die Schlinge erst gelegt, noch nicht fest gezogen? Konnten wir, mit einem riesigen Narrensprung nochmal entkommen?

Dies war der richtige Ansatzpunkt um das Schweigen zu brechen!

Warum ihn nicht einfach fragen ob er anstatt Discjockey, wie er behauptete, in Wahrheit Drogenfahnder war?

Zu dieser Frage fielen mir zwei mögliche Abläufe ein: man kann sie als unterhaltsamen Scherz sehen. Sollte er Drogenfahnder sein, war er schnell entlarvt. Wir hatten nichts dabei, das einen Drogenfahnder interessierte. Wir hatten nichts vor uns, das ihn interessierte. Wir sahen nach Drogen aus, ok. Aber: wer sieht schon nicht nach Drogen aus? Ein Drogenfahnder in unserem Wagen also durchaus angebracht!

Die Frage war unverfänglich! Sie war distanziert, unpersönlich. Sie hatte nichts mit unseren Plänen im Urlaub zu tun. Ein überzogenes, persönliches Mitteilungsbedürfnis konnte mir niemand vorwerfen. Sie war nicht aufdringlich, höchstens ein wenig komisch.

Also fragte ich, ohne noch mehr darüber nachzudenken. Ich sah Harry in sein blasses Gesicht:

“Bist du vielleicht bei der Österreichischen Drogenbullerei, weil du absolut nicht mit uns sprichst? Willst du uns ausschnüffeln, ich meine ausspionieren?”

Auf diese Frage war niemand im Wagen gefasst. Mein Tonfall war falsch. Er war aufdringlich. Er wirkte verdächtigend.

Trotzdem sprang Nils sofort auf meine Frage an. Er überbrüllte den Doorssound:

“Eine super Frage! Das kann ja noch interessant, vielleicht sogar heiter werden!”

Harrys Gesichtsausdruck war nicht mehr starr. Falten bildeten sich auf der Stirn, dünne Backenknochen stachen heraus. Er verfiel in seine gewohnte Heimatsprache:

“Woos soid do no interessont wern? Weda des aane! Noo des ondane! Weda schniffin! Noa schpionien! No Drogn! Der ganze Mist interessiert mi need!”

Nach einer kurzen Atempause:

“Wieso, habts ‘a Ladung Shit im Motor versteckt?”

“Ja, ja klar..”, brüllte daraufhin Moritz, dem nun die eigene Musik zu laut wurde. Spitzbübig lachend sah er Harry an. “Wir machen haufenweise Kohle damit! Sind da etwas anders drauf. Wir transportieren das Zeug von Norden nach Süden. Wir wollen es da unten gewinnbringend an die Griechen verhökern!”

Harry überwandt sich. Er legte die genervte Haltung ab. Der Alte begab sich auf die Ebene der Jungen. Es sprach mit ihnen. Auch, wenn es dummes Zeug war, das sie sprachen. Er war zu Scherzen bereit. Deshalb wurde er nicht dumm. Er verlor nichts dabei, wenn er dem Hofnarren antwortete:

“Aha dacht ich’s mir doch gleich, dass mit euch Burschen was nicht stimmt! Wenn ich könnte würde ich jetzt meine “Zivilbullenknarre” zücken und Euch zum Anhalten und öffnen des Motorraumdeckels zwingen! Aber erstens kauf ich Euch den Mist, den ihr hier redet, nicht ab, und zweitens hab ich keine Knarre!”

Hochdeutsch. Unmutsäußerungen von Nils unnötig.

Rolf, der König, der seine Kutsche selbst steuerte:

“Es ist gefährlich, unbewaffnet in die Kutsche fremder Leute ein zu steigen! Hast du keine Angst?”

Harry: “Extreme Angst sogar! Deshalb habe ich vorher an der Raststätte, anstatt pinkeln zu gehen, nochmal schnell meine Tiroler Oma angerufen. Dein Autokennzeichen ist bei ihr schon gespeichert. Falls die, innerhalb von drei Tagen, kein Lebenszeichen von mir hört, wird die sehr ungemütlich! Sie ist schrecklich, meine Oma. Mit Gangstern geht sie grausam um! Kompromisslos. Sie hetzt alle möglichen Leute hinter euch her. Sie setzt alle erdenklichen Hebel in Bewegung. Davon hat sie sehr viele! Sie ist eben meine Oma! Sie tut alles für mich. Vor allem wenn sie denkt, ich bin in Gefahr, da riskiert sie alles! Das wird schauderhaft, Leute! Omas können schrecklich aufbrausen! Sie sehen nur alt und tatterig aus. Das täuscht! Auch mit vielen Knarren habt ihr keine Chance. Nicht gegen meine Oma! Sie macht sich Sorgen um ihr schutzloses Enkelkind! Und jetzt müßte ich mal pinkeln gehen! Können wir irgendwo an halten?”

Auf dieser Grundlage entstanden Gespräche mit Harry. Es ging um nichts, manchmal tauchte seine Oma wieder auf. Er fragte uns zu unseren Urlaubsplänen aus. Angst hatte der vor uns nicht.

Das Problem wegen dem Schweigen war gelöst.

Meine Frage löste die Spannung. Mein Denken war erfolgreich.

“Wie hört man auf zu denken?”

Ich dachte weiter. Ich dachte an die Langeweile. Wie langweilig das war, was wir trieben. Alles war langweilig. Die reine Langeweile. Warum fahren wir in Urlaub? Aus Langeweile. Langeweile, die Motivation für unsere Taten? Grauenvoll! Wir wollen uns nicht langweilen? Ok. Aber: wenn ein unbekannter Mensch, wie dieser Harry in unseren Tagesablauf kommt, wäre das doch spannend. Aber, wir wollens langweilig. Wir wollen Sicherheit. Wir klären mit dem Fremden alles ab. Wir wollen keine Überraschung erleben. Wir wollen Langeweile.

Morgens aufzuwachen und plötzlich ohne Geld, Papiere, Auto vielleicht sogar Klamotten da zu stehen, das wäre Spannung. Wir wollen Langeweile! Wir minimierten die Wahrscheinlichkeit von Überraschungen. Wir sicherten uns ab. Das Ergebnis: der üblichen Langeweile entkommen wir nicht.

Das Sicherheitsverhalten, die Langeweile besteht unser ganze Leben hindurch. Furchtbar! Pervers geradezu! Was soll das? Andere müssen um ihr täglich Brot betteln und wir langweilen uns? Fahren in den Urlaub?

Eine Gewissensfrage, dachte ich. Mein Gewissen war jetzt schlecht. Sehr schlecht sogar. Es war so schlecht, dass dieses Sicherheitsverhalten: nur alles genau absichern, damit nichts unvorhersehbares geschehen kann, mich in diesem Moment ungemein ankotzte! Unsere ganze Tour: geplantes Ziel Griechenland, die wir gerade unternahmen, die reine Perversion! Nur aus der Langeweile heraus! Unsere Motivation zu der Reise, alles: Langeweile! Schlimm!

Warum blieben wir nicht in München? Passten wir dort nicht am besten hin? Wir sprachen nie über das Ausland, in das wir reisten. Wir bereiteten uns auf die Menschen dort nicht vor. Was wollten wir dort? Wir sprachen eine andere Sprache. War es nur die Wärme, das schöne Wetter, das warme Meer? Reichte das als Grund?

Wir hofften auf Erholung!

Das war es.

Endlich, ich atmete auf. Ich lehnte mich zurück und sah hinaus. Ich sah grüne Wiesen, helle Maisfelder flogen vorbei. Jetzt wollte ich an Mais und Wiesen denken.

Es ging nicht.

“Wie denkt man nicht ausgerechnet das, was man gerade nicht denken will?”

Ich dachte weiter: Wir wollten nur unseren üblichen Stiefel durchziehen und hofften darauf, uns dabei auch noch zu erholen. Aber warum zu diesem Zweck soweit weg fahren? Ich fragte nach einem winzigen weiteren Grund der Reise. Ich konnte nichts mehr finden!

Was war hier interessant?

Ich war völlig phantasielos. Dann litt ich darunter, dass die ganze Welt so schlecht war: an jeder Ecke Krieg und Umweltzerstörung, Mord und Vergewaltigung. Und mir ging es so gut, dass ich mich langweilte! Es war pervers, das in den Urlaub fahren. Und überhaupt, warum ausgerechnet Urlaub, und warum mit diesen Leuten, meinen Schulfreunden?

Urlaub kannte ich als Erholungsphase, dringend erforderlich, um den Alltagsstreß und Alltagstrott zu bewältigen. Aber warum brauchten ausgerechnet wir Urlaub?

Wir, die wir nur die Schulbank drückten! Eigentlich sollten wir darum dankbar und froh sein!

Wovon mussten wir uns erholen?

Unser ganzes Schülerleben war doch die reine Erholung!

Wir hatten doch nichts vernünftiges, geschweige denn verantwortungsvolles zu tun, von dessen Belastung wir uns zu erholen hätten!

Der Song “come on baby light my fire” von Jim Morrison war beendet. Moritz schickte sich an, das Band zu wenden. Die Seite B, welche er bereits in vollen Zügen genoss, wollte er noch einmal hören. Rolf hielt die Tachonadel exakt auf 80. Harry schaute nicht mehr starr, sondern interessiert zum Fenster hinaus.

Plötzlich hörte ich mich laut und deutlich fragen: “Warum fahren wir hier eigentlich herum? Was soll das Ganze?”

Erst nach dem Sprechen merkte ich, dass die Frage wie aus einer anderen Welt klang. Sie war unfassbar unpassend, zusammenhangslos, unverständlich, verunsichernd. Sie war nicht ernst zu nehmen.

Sofort lachte Rolf lauthals los. Versehentlich riß er das Steuer nach rechts. Korrigierte sofort. Lenkte den Wagen vom Pannenstreifen zurück auf die Spur.

“Bist du besoffen? Hast du etwas geraucht? Haben wir doch ein paar Grämmer Shit dabei? Ich dachte, Drogen hätten wir nicht an Bord.”

Für den König war das also keine ernste Frage.

Harry blickte mich interessiert an, sagte jedoch nichts.

Niemand sagte etwas. Keiner nahm meine Frage ernst. Das beruhigte mich. Ich hatte nur laut gedacht. Versehentlich.

Nils beschäftigte die Frage. Erst fünf Minuten später, die Musik von Moritz beschallte in voller Lautstärke das Auto, sagte er:

“Ja genau, das finde ich auch interessant. Was soll diese Tour hier eigentlich?”

Der König konnte nicht vom Thron, seinem Volk ins Gesicht springen. Er musste das Lenkrad seiner Kutsche halten. Sein Lachen presste er in sich hinein. Das ging nur kurz. Die Kutsche musste er stoppen. Deshalb lenkte er diesmal absichtlich auf den Pannenstreifen. Er bremste das Fahrzeug ab, schaltete die Warnblinkanlage ein, den Motor aus, zog die Handbremse an. Erst jetzt ließ er seinem Bedürfnis freien Lauf. Er lachte. Unkontrolliert. Es war ein Anfall. Der König außer sich, schockiert. Das Lachen war es, mit dem er die Fehler seiner Getreuen und Ungehorsam und Unverständlichkeit seines Volkes ertrug. Das Lachen strengte an, es nervte, es war nicht lustig, höchstens man erlebte es betrunken. Wir waren nüchtern. Die gleichen Lachtöne wiederholten sich grausam oft. Sie rollten auf ein Neues an, wo man auf ein Ende hoffte. Sie kamen von Tief unten und wollten ganz oben heraus. Sie überschlugen sich in der Luft, prallten an der nahen Wand ab und erreichten das Ohr erneut, etwas leiser. Doch das entspannte nicht, denn sie vereinten sich vorher mit neuen monotonen Lachtönen, welche die Wand noch nicht erreicht hatten. Ein grausames, ohrenbetäubendes Schauspiel!

Nils überbrüllte das Lachen angesäuert: “Es ist unglaublich wie schwachsinnig du lachen kannst!”

Sogar Moritz stellte seinen Doorssound ab. Die Mischung war zu grausam.

Nils fragte ruhiger: “Welche Dinge gibt es, die dich so amüsieren? Die ich übersehe? Was ist das, was ich nicht sehe, wegen dem du so lachst?”

Das hörte Rolf nicht. Er lachte.

Nils: “Dann muss ich halt warten, bevor ich beginnen kann, mich ernsthaft mit euch über meine Frage zu unterhalten!”

Moritz drehte sich ungläubig zu Nils nach hinten. Kein schelmiges Lächeln. Keine roten glänzenden Fäustlingsbäckchen, die er heraus drückte. Keine freudig funkelnden, großen braunen Kinderaugen. Der Blick eines beleidigt fragenden Jugendlichen, dem man seine geliebte Musikkassette weg nehmen will.

Auch Harry richtete seinen Blick fest auf Nils. Er war wieder erstarrt. Am liebsten hätte Harry gesagt, dass Nils seine blöde Klappe halten soll. Ihm lag nichts daran, dass der Fahrer einen Lachkrampf erlitt. Er wollte die Pause auf dem Pannenstreifen am wenigsten. Er wollte nämlich schnell nach Dubrovnik. Er sagte nichts.

Trennung

Der Kaffee schmeckte grauenvoll, er sah dünn aus.

Ein langer Typ in einem grauen Anzug fegte draußen auf dem Gehsteig ein kleines Häufchen Abfall vor sich her. Dazu benutzte er einen, aus dünnen Ästen gebundenen, Besen. Neben einem Mülleimer ließ er den kleinen Haufen liegen und begann von der anderen Seite des Gehsteiges. Er fegte noch ein Häufchen zusammen. Dieses Häufchen fegte er auf ersteres zu. So vereinten sich die beiden Häufchen. Sie fanden sich zusammen. Die Plastik- und Papiertüten, Eisstiele, Coladosen und Hozstöckchen und Flaschen, die Plastikbecher und Fastfoodtüten. Sie lagen ineinander verwunden, verschlungen, zusammen geknüllt. Als gehörten sie schon immer zusammen.

Plötzlich geschah etwas grausames. Das gerade noch friedlich liegende Häufchen begann zu rauchen. Dunkle feine Qualmstriche stiegen aus ihm empor. Jetzt erst sah ich ein kleines loderndes Flämmchen zwischen den Blechdosen aufflackern. Papier und feine Holzstöckchen verbrannten. Klein lodernd und schnell. Dunkler Ruß ergraute, schwärzte die roten Blechdosen und grünen Glasflaschen. Sie wollten nicht brennen. Sie konnten nicht. Trotzdem loderte das Häufchen leicht weiter. Grau saß der Täter daneben auf dem hohen Bordstein. Er zog an seiner Zigarette. Sein Werk betrachtete er nicht. Er starrte müde vor sich hin. Sein Blick fiel auf den grauen Asphalt. Sein Besen ruhte neben dem lodernden Häufchen. Jetzt rollten erste Dosen und Flaschen auseinander. Die Umschlingungen lösten sich. Sie zerfielen in Asche. Der graue erhob sich qualmend. Er nahm den Besen. Erneut fegte er zusammen, was jetzt nicht mehr zusammen bleiben wollte.

Ich beobachtete das. Blickte durch ein milchiges, schmutziges Fenster. Nippte an der Kaffeetasse und rauchte eine Zigarette.

Harry sagte, dass er sich nun entschieden hat. Ihm reichte es. Er wollte nicht noch Stunden warten. Er wollte nach Dubrovnik. Schnell. Rolf verließ mit ihm das Fastfoodrestaurant. Beide standen vor dem weiß beschmierten VW-Bus. Er gab ihm seinen Rucksack, seinen Schlafsack und sein Zelt. Schüttelte die dünne bleiche Hand. Zog den Ausweis aus seinem Geldbeutel. Gab auch den zurück. Schüttelte nochmal. Rolf lächelte kurz, gezwungen. Harry blieb starr, warf den Rucksack auf und ging. Benzingeld zahlte er nicht, das war klar. Er saß nicht einmal hundert Kilometer bei uns im Bus. Vorher sagte Harry: “Ich werde mir einen anderen Lift besorgen. Dann rufe ich meine Oma an und gebe ein neues Nummernschild durch”.

Dann sah ich beide. Sie bewegten sich langsam am lodernden Feuerchen vorbei. Harry gestikulierte mit beiden Händen. Drehte sich immer wieder zu Rolf. Er verstand nur Bahnhof. Rolf schüttelte den Kopf.

Drinnen saßen wir, bei ganz schlechtem Kaffee. Wir diskutierten.

Es ging um Nils. Er saß auf einem alten, wackligen Holzstuhl. Beide Arme lagen auf der runden grauen Tischdecke. Seine Hände umklammerten den grünen Kaffeebecher. Dampf stieg aus dem auf.

Er sagte, er hat keine Lust mehr. Es reicht ihm. Die Tour sei nichts für ihn. Er wusste es schon vorher, wollte es nicht glauben. In Giesing in der Kneipe, mit mir und Rolf, ließ er sich nochmal überreden. Er nahm das an. Machte es zu seiner Wahrheit. Doch es ging nicht. Er log. Das wisse er erst jetzt.

Nils sah traurig aus. Er sprach langsam. Er schaute in seinen Becher.

Er hat alles wegen seinem Gewissen getan. Es ist schlecht geworden, nach dem Säuferabend in Giesing. Er wollte mit seinen Sollner Freunden weg. Jetzt war er hier. Er merkte erst jetzt, dass das nicht gut ist. Weil es nicht zusammen passte. Er spürte, wie es ihm schlechter und schlechter ging. Während der Fahrt. Deshalb stoppte er den Fahrer. Bat ihn, er solle diese Raststätte ansteuern.

Er machte einen Fehler. Er ließ sich was einreden. Er achtete nicht auf sich selbst. Er hörte nicht, was sein Körper sagte. Sein schlechtes Gewissen überrumpelte ihn. Wegen Rolf fuhr er mit. Er ließ sich fest nageln. Er sah ein Chaos in seinem Kopf. Wirwarr. Er wollte an der Cote Azur beraten. Jetzt saß er an der Österreichischen Autobahntankstelle. Mit uns. Das war grausam. Es stimmte ihn traurig. Deshalb war es für ihn schlimm.

Moritz lag auf der Eckbank. Er döste vor sich hin. Die Augenlider geschlossen. Sie zitterten und zappelten. Er zwang sich so zu liegen. Auf dem Rücken. Seine Hände unterm Kopf. Zusammengefaltet. Die Füße angewinkelt. Aufeinander verschränkt. Jedes Wort von Nils hörte er. Er zwang sich, noch zu schweigen. Er verstand die Worte, und kapierte sie nicht. Er richtete sich kurz auf. Zuzelte an seinem Strohhalm, fiel zurück auf die Eckbank. Die Lieder blieben geschlossen. Zitterten. Er blinzelte leicht unter ihnen hervor. Sah nur die grüne Flasche auf dem Tisch.

Der Hofnarr war dem Volk nahe. Ok. Aber, der Hofnarr versetzte sich nicht in das Volk des Königs. Nicht wenn es so sprach. Diese Worte aus dem Volk waren zu anstrengend. Traurig?

Der Narr musste lustig sein. Er musste unterhalten. Er musste Ideen haben, die König und Volk unterhielten. Er musste lebendig sein, wenn König und Volk sich langweilten wenn sie traurig wurden oder gar starben.

Doch was war mit dem Narren jetzt?

Da saß doch einer und sprach. Traurig. Er langweilte sich mit uns. Er war frustriert. Er war das Volk.

Warum hüpfte der Narr nicht herum? Schnappte den Traurigen und tänzelte mit ihm durch das Lokal? Warum schlug er kein Wagenrad für ihn, sprang nicht zur Decke, warf nicht mit bunten Bällen um sich?

Plötzlich erhob sich Moritz. Stützte sich mit den Ellenbogen auf die Eckbank. Schaute zu uns. Seine Backen drückte er nicht heraus. Seine Nase sah ich. Seine Augen glänzen nicht. Seine Stirn plötzlich faltig! Einatmen durch den leeren Mund. Seine Stimme erhob sich aus der Tiefe, sie brüllte laut und dunkel:

“Das ist allerdings echt zum Abkotzen! dass du jetzt plötzlich, nachdem wir bereits einen Tag im Auto hinter uns haben, deine Sollner Juppifreunde als Argument gegen unsere Tour bringst! Du tust, als wärst du ein armes abgeschlachtetes Opferlamm! Dieser Mist hätte dir wirklich früher einfallen können!”

Es war die Mine eines wütenden Heranwachsenden. Seine Kassette war geklaut! Einfach weg. Jetzt musste er grimmig am besten aggressiv wirken. Was er sagte, war sein Ernst. Es war nicht der Schelm. Aber, seine Frisur? Sie passte auch nicht zum ernsten, beleidigten Heranwachsenden. Sie stammte von einem Hund, der ausgestellt wurde. Der springen sollte. Dem sein Herrchen sagte: “spring jetzt! spring jetzt endlich, du feiges Viech! Wir wollen einen Preis gewinnen!”

Ein Boxer? Mit so einer Mähne? Nein. Irgend ein kleiner. Eine Promenadenmischung. Erst in Jahren erweist sich, welcher es werden sollte.

Auch Nils erwartete die Regung von Moritz nicht. Er erwartete den Narren. Trotzdem verlor er seine Traurigkeit.

Seine Absicht formierte sich.

Er sagte: “Das übliche in Leben. Hinterher ist man immer schlauer als vorher. Das ist jedem zu zu gestehen. So geht es eben auch mir. Ich spürte nach dem Abend in Giesing eben nicht, dass ich lieber mit meinen Sollner Kumpels weggefahren wär. Rolf überzeugte mich. Vielleicht zog er mich auch einfach über den Tisch!”

Da war der König wieder:

“Aha jetzt bin ich also Schuld daran! Dir fällt jetzt erst ein, dass du in Wahrheit keinen Bock hast, mit uns zusammen weg zu fahren! Und ich hab dich über den Tisch gezogen! Klar! So einfach kann man sich’s natürlich auch machen!”

Der König saß auf seinem Thron. Er musste etwas für sein Volk vorschlagen. Wie sollte es weiter gehen?

“Rolf, Moritz und ich finden diese Tour hier ganz gut. Wir wollten miteinander weg fahren. Du hast inzwischen eine Art Legitimations- und Sinnkrise. Du fragst nach dem Sinn von Urlaub mit uns. Ich hab dich davon abgehalten, dich frei zu entscheiden? O.k., kann sein.”

Eine Sprechpause des Königs. Er erhob sich. Stützte sich mit den Fäusten auf den Tisch. Sein Gesicht war rot. Seine Ohren auch.

Er sprach leise, denn sein Volk saß nahe:

“Um nicht den Rest unseres Urlaubs auf dieser Tankstelle zu verbringen schlage ich vor, dass wir eine bestimmte Uhrzeit ausmachen zu der sich alle, die damit einverstanden sind, die Reise fortzusetzen, am Auto treffen. Klar muss sein, dass dieses Thema damit erledigt ist. Wer zu der vereinbarten Zeit nicht da ist, fährt einfach nicht weiter mit!”

Das war des Königs Vorschlag und sein Urteil.

Der Hofnarr sprang auf, um es zu feiern.

Wieder knallten Sektkorken, ohne dass ich sie sah. Er hüpfte von seiner Bank. Turnte um den Tisch. Versuchte ein Rad zu schlagen. Der Boden war zu glatt. Er rutschte aus. Versuchte sich am Tisch zu halten. Ergriff die Tischdecke. Stürzte zu Boden. Der König stand immer noch aufgestützt am Tisch. Nur sein Gewicht hielt die Decke, verhinderte eine kleine Narrenkatastrophe. Der Narr beachtete sein Missgeschick nicht weiter. Er zog sich am Tischbein hoch. Er zappelte neben seinem König. Er plärrte:

“Super! Bin absolut damit einverstanden! Sagen wir zwölf Uhr Mittags: Abfahrt! Das ist eine gute Uhrzeit! Ich kenne sie aus Filmen! Toll! Eine Zeit zum Handeln!”

Aus dem Gesicht des Königs wich langsam die rote Farbe. Es war die Erregung. Sie schwand.

Zunächst war der König nicht sicher, ob sein Volk folgen werde. Der Narr unterstütze ihn. Der Narr kannte das Volk. Der König stand entfernt vom Volk. Das Volk folgte.

Nils verließ das Fastfoodrestaurant. Ich sah ihn draußen. Langsam ging er an dem grauen qualmenden Häufchen vorbei. Der Besen lag am Bordstein. Der Graue saß noch da. Er rauchte. Nils bückte sich. Der Graue gab ihm Feuer.

Drinnen begann eine muntere Diskussion. Thema: Geld. Wir drei wälzten unsere Reisekassen. Es ging um Benzinkosten, Campingplatzgebühren, Mautgebühren. Nicht um die Entscheidung des Königs. Ein neuer Tramper sollte gefunden werden.

 

Der Vormittag an der Tankstelle endete um zwölf Uhr. Nils stand am Bus. Der König sperrte den Wagen auf. Nils nahm seinen Rucksack heraus. Er sagte: “Tschau liebe Leute und noch viel Spaß”. Jedem von uns schüttelte er die Hand. Er wandte uns den Rücken zu. Auf dem Gehsteig ging er zum Grauen und seine lodernden Häufchen.

Nils, allein in Wald und Gebirge

Nils erzählte später, dass er zwei Tage und zwei Nächte an der Tankstelle herumlungerte. Dann nahm ihn endlich ein Österreicher bis Salzburg mit.

Im Salzburgerland stieg er einsam hinauf. Er war Wochen unterwegs. Er wanderte und kletterte einsam im Gebirge herum. Dabei dachte er klar. Er wollte auch nicht mit seinen Sollner Kumpels in den Urlaub. Es war eine billige Notlüge. Er schob sie an der Tankstelle vor.

Harry der Tramper beeindruckte ihn. Der war einfach allein unterwegs. Er brauchte niemand. Dabei ging es ihm gut. Er war munter und sprach lustig von seiner angeblichen Oma. Er hatte kein Ziel, außer Dubrovnik. Er ließ es auf sich zu kommen. War offen und dabei allein.

Das hat er nie in seinem Leben getan. Dann sagte “sein Inneres”: tu es! Der Zeitpunkt ist gut! Sehr gut sogar!

dass er ungünstig war, mag sein. Die Freunde reisten ohne ihn weiter. Es war getan. Er war völlig auf sich selbst gestellt.

Es regnete ihn an der schmutzigen, windigen, kalten Tankstelle zwei Tage lang voll. Er ärgerte sich über den Gestank, die lauten Autos. Keiner nahm ihn mit. Er triefte von kaltem Regenwasser. Im Bus von Rolf war es trocken und warm. In Griechenland war es sonnig und heiß. Er fror.

Das Laufen im Gebirge strengte an. Nach zwei Tagen schmerzten seine Beine. Blasen und Muskelkater. Seine Kräfte waren gering. Seine Lunge verraucht. Tief atmete er durch. So setzte er einen Fuß vor den anderen. Er zwang sich nicht, bewegte sich, wie der Schmerz es zu ließ. Er musste keinen Pokal gewinnen, nicht als erster am Ziele sein. Das Ziel lag weit, es war noch garnicht gesteckt.

Er hörte, was geschah. Das rauschte und knackte. Es flatterte und huschte. Tiere, die raschelten, andere die flogen und piepsten. Äste zerbrachen. Auch er tapste, raschelte dabei, knisterte und krachte. Wind strich vorbei, Blätter flogen herab. Der Weg hellbraun vom Laub des letzten Herbstes. Sonnenstrahlen drängten durch das Walddach. Erreichten den feuchten vermoosten Boden um die Baumwurzeln.

Der Dauerregen war vorbei. Der nasse Boden trocknete.

Das Waldleben lief ruhig, obwohl es huschte, knackte und raschelte. Das gehörte sich so. Er passte sich der Ruhe an. Das tat er gern. Hier wollte er nicht der Störenfried sein. Warum auch? Es war die normale Waldruhe. Er konnte sie lassen. Er genoss sie sogar.

Einmal hoppelte er wie ein Hase, dann sprang er wie ein Reh. Er saß wie ein Käfer, knabberte sein Brot. Wie ein Eichhörnchen kletterte er, saß auf dem Ast und blickte hinunter. Groß war er und dann wieder klein. Er war fremd im Wald, passte sich an und gehörte ein wenig dazu.

Am Waldrand im Wind stand er und lachte. Seine Hand stützte ihn am Baum. Die steil abfallende Blumenwiese blickte er hinunter. Hob seinen Rucksack vom Boden auf und schnallte ihn um. Durch die Blumen, das grüne hohe Gras rannte er hinunter, stürmte unten wieder in den Wald. Seine Beine trugen ihn. Seinen Rucksack konnte er tragen. Er trug alles, was er brauchte.

Nachts lag er am Waldrand auf der Wiese. Der Wald machte ihm im Dunklen ein wenig Angst. Der Rand eröffnete einen weiten Blick hinab ins leise rauschende Tal. Und hinauf zum klaren Sternenhimmel. Die Sicht war hell und offen. Der dunkle Wald lag neben ihm. Es konnte nichts geschehen. Auf dem Rücken lag er, schaute nach oben. Aus dem Wald hörte er das Rascheln und Laufen, ein Kratzen, ein Nagen, ein Piepsen, ein plötzliches Hüpfen. Von der Wiese hörte er ein Rauschen. Es trug den Blumengeruch heran. Oben sah er helle Wolkenfetzen, sie zogen. Die Sterne blinkten. Langsam zog der Mond hinter einer Bergkette hervor.

Einsamkeit. Alles lebte.

Um das zu erleben, brauchte er Szenen, wie an der Tankstelle. Sie durchbrachen die langweilige Bahn. Sie scherten aus, aus der Linearität. Seine Linearität. Der hektische Lauf des Stadtlebens war ihm irgendwie doch zu ruhig, zu gerade. Er liebte Szenen, wie an der Tankstelle. Sie mussten kurz und ergebnisreich sein. Auch wenn sie traurig aussahen. Abschiede sind immer traurig. Doch er sieht seine Freunde wieder. Es war kein Abschied für immer.

Er verhielt sich “unkonventionell”! Er leistete sich solche Abschiede. Er musste noch keine vierzig und mehr Stunden in seinem Beruf “rackern”! Alltagstrott ertragen. Noch konnte er ausbrechen! Er tat es.

Und: Der Preis dafür sah hoch aus! Von Außen betrachtet! Es sah trübselig aus, wie sich die Freunde an der Tankstelle verabschiedeten. Wie sich alles entschied, als müsse es so sein. Es musste auch so sein! Doch dieses Bild war der Preis! Das war alles! Teurer wurde es nicht!

Jetzt lag er in der klaren Sternennacht am Waldrand. Er sah alles, hörte alles. Er freute sich, er lachte, er fühlte sich wohl, es ging ihm gut. Das war der Lohn! Er genoss ihn. Er gestaltete ihn.

Er ging langsam, er ging schnell. Er stieg hinauf, stieg hinab. Er lag, er sah, er sah die Ferne und sah das Nahe, den winzigen Käfer auf dem Waldboden.

Was war hier unkreativ? Nichts. Alles lebte, bewegte sich, tat wie es tun musste. Er stieg hinein und mischte mit. Seine Kreativität spürte er. Er musste nichts schaffen, was er später in der Hand hielt und sagte: “Hier Leute, schaut mal, das habe ich geschafft!” Was er tat musste nicht sichtbar werden. Niemand musste es sehen. Es musste nicht schwer wiegen. Es musste kein bestimmtes Gewicht, keine bestimmte Größe erreichen, damit es Anerkennung fand. Seine Kreativität war, wie er war, wie er den Tag lebte. Was er sah, was er hörte, was er beachtete. Wie er lief, wo er sich setzte. Wo er verweilte. Was er tat blieb unsichtbar. Nichts zum Vorzeigen. Nichts zum Verkaufen. Nichts zum Messen.

Wie leicht es war, dabei zu sein. Im Wald, auf der Wiese, im Mondschein unterm Himmel voll mit Sternen. Er machte mit, lebte und kochte spärlich. Hinterließ keine Spur seiner Zivilisation. Machte Feuer das er benutzte und wieder löschte. Trug Wasser das er brauchte. Er trank es. Aß, was er essen musste. Er hatte Hunger. Er spürte den Hunger.

Durch den Wald ging er und piepste dabei, wie die Vögel, die er hörte. Er trainierte nicht sein Anpassungsverhalten. Er machte es nicht wie in der Schule. Er tat nichts, was die Medien ihm sagten. Er dachte nicht daran.

 

Nils irrte im Gebirge herum. Ziellos. Begeistert von grünen Blättern, brauen und schwarzen Rinden. Rauschenden Bäumen. Knacksenden Hölzern.

Er bestieg die hohen grauen Felsen. Fest griff er zu. Seinen Körper zog er hinauf. Seine Muskeln spannten. Später schmerzten sie. Er sah hinunter in die Tiefe. Graue zerfurchte Felswände vielen steil hinab. Gamsböcke und Bergziegen bewegten ihre Mäuler. Winzigste Grasbüschel am Gipfel, kleinste Büsche rissen sie zerrend ab und ließen sie sich schmecken. Sie schnupperten an seiner Hose, an seinen dreckigen Schuhen.

Er saß im kühlen Wind. Rings herum war der Himmel blau. Verstreute Dörfer und Städte lagen unten, plötzlich nicht mehr zu hören. Lange dicke Striche durchschnitten das Land. Es lag flach zwischen immer steiler ansteigenden, unten grünen, dann grauen Bergen. Je näher sie an den blauen Hintergrund gelangten, desto schärfer spitzten sie sich zu. Bis sie in den Hintergrund hineinstachen. Er stellte sich auf den Gipfel. Sein Kopf stach hinein.

Nils traf Julian

Nach vier Tagen, traf er, durch einen Zufall, auf einen Schafhirten. Er hieß Julian. Dem glaubte er nicht, dass er wirklich Schäfer war. Warum?

Nils glaubte an anderes. Schäfer gab es hier nicht. Sie waren Aussteiger. Ehemalige Hippies. Sie konnten mit dem zivilisierten Leben nicht mithalten. Sie stiegen aus. Sie stiegen in andere Breitengrade. Aussteigen hieß: nicht bei uns bleiben. Weit weg steigen!

Mit lebenden Schafen und Schäferstöcken hatte Nils nichts zu tun. Er wusste nicht, wie man Schafe zusammenhält, wie man sie zusammentreibt. Er hatte keinen Hund. Er kannte keinen Schäferhund, der Schäferhund war, weil er Schafe hütete.

Urteilen, verurteilen, aburteilen, beurteilen, vorurteilen, das war Nils.

Trotzdem war Julian Schäfer. Trotzdem lebte er nicht in anderen Breitengraden. Und er hatte einen Schäferhund, der Schafe hütete, der ihn ständig begleitete, den er liebte.

Unglaublich für Nils: Julian lebte schon immer dort! Hatte eine Hütte und eine Höhle und ein kleines Feld und seine Hündin und seine Schafe und eine kleine Koppel. Schon immer war er Schäfer, schon immer lebte er in den Bergen. Hippies kannte er nicht, er war keiner. Aussteigen kannte er nicht, er war Schäfer, wie sein Vater, wie sein Großvater.

Julian war Österreicher, liebte seine Heimat, in der er schon immer lebte. Er züchtete seine Schafe in seinem gebirgigen Heimatland.

Julian war ein gewöhnlicher Schäfer, lebte in der Natur, die seine Heimat war, hatte Gründe so zu leben. Seine Familie lebte so. Schon immer. Nie lernte er etwas anderes. Er wuchs mit Schafen auf. Nichts anderes interessierte ihn. Zumindest beruflich.

Die Zivilisation kannte er schon. Er stieg regelmäßig hinab ins Tal. In Hinweiler, seinem Heimatdorf kaufte er ein und trank an der Theke im Hotel Zur Post einen Schnaps. Dort sah und hörte er die Zivilisation. Man kannte ihn aber traf ihn selten.

Vieles erfuhr er aus dem Radio. Ein kleiner Empfänger in seiner Hütte. Er verriet, was unten im Tal und auf der Welt los war.

Warum sprach er nicht den Österreichischen Dialekt seines Vaters?

Der Vater war seit einem Jahr tot. Im Radio hörte er kein Österreichisch, nur selten. Er übte Hochdeutsch. Er sprach viele Sprachen. Nicht ausländisch. Es waren Dialekte, unterschiedliche Dialekte und Hochdeutsch. So verbrachte er seine einsame Freizeit. Er hatte viel Zeit. Er sprach mit Assya, seinen Schafen und sich selbst. Und manchmal mit dem alten Förster. Er liebte es, verkleidet zu sprechen und er liebte es, sich selbst zu verkleiden und sich zu maskieren.

 

Nils war froh, nach Tagen jemanden zu treffen. Er freute sich über das Zusammentreffen. Er verstand Julians Sprache. Er fühlte sich inzwischen ein wenig einsam. Zwei Tage und zwei Nächte traf er keinen Menschen, sprach mit niemandem.

Julian beeindruckte ihn. Wie der Wald, wie die Wiesen, wie die Berge. Er sah diesem alten Mann in sein faltiges, schmales Gesicht. Er dachte: Der muss nichts mehr lernen! Der ist alt! Der kann schon alles! Warum dachte Nils an Lernen?

Ihm fiel sein “schulischer Trott” ein. Der ärgerte ihn. Er war jung und musste lernen. Seine grauen Gehirnzellen kratzten in seinem Kopf herum. Das taten sie so lange, bis sie irgendwo Zugang fanden. Sie nisteten sich ein. Sie lagerten zwischen, bis sie in schulischem Trott abgeprüft wurden. Danach hüpften sie wie Kobolde durch sein Gehirn. Sie schlugen gegen die Wände der Windungen und zerstörten dabei einiges. Gehässig lächelten die kleinen Grauen. Kreischend sprangen sie in eine riesige schwarze Blechtonne. Scheppernd stürzten sie hinab. Manche krallten sich innen am glatten Rand fest, versuchten wieder hinauf zu klettern. Es gelang nicht. Andere flogen von oben nach. Sie rissen die kletternden laut scheppernd mit in die Tiefe. Es war eine Mülltonne. Sie füllte sich täglich. In einer Ecke stapelten sich die vollen Tonnen. Die Grauen in den Tonnen lagen tot. Helfergraue versiegelten die Tonnen mit Schweißbrennern. Sie wuchteten sie auf die Stapel. Der Lagerplatz war begrenzt. Die Endlagerstätte bald überfüllt. Neue Graue, vollgestopft mit neuem Wissen brauchten einen Endlagerplatz.

Der Kopf des alten Julian musste über und über gefüllt sein. So alt wie der aussah! Trotzdem fand er noch Platz, Nils zu zu hören. Er interessierte sich für den Fremden in seinem Gebirge. Julian fragte, antwortete, erzählte, hörte zu.

 

Seine Schäferhütte war spartanisch eingerichtet. Wenig Mobiliar. Ein Holztisch in der Ecke. Eine Eckbank. In der Mitte ein Trog. Groß genug für einen Menschen um darin zu baden. Daneben ein großer alter Ofen. Der Großvater schleppte ihn zu Beginn des Jahrhunderts, zusammen mit anderen Schäfern und einem Lastenesel, aus dem Tal herauf. Das Ofenrohr ging nach oben durchs Dach hinaus. Niedrig. An Balken schlug sich Nils den Kopf an. Er vergaß sich zu bücken.

Draußen: Idylle. Saftig, grüne Bergwiesen. Ein umzäunter Getreideacker neben der niedrigen Hütte. Eine flache Wiese vor der Hütte. Eine gemütliche Bank vor der Hütte. Ein Plateau. Hoch oben, versteckt, weit hinter dem Bergwald. Weit abgelegen von den gewöhnlichen Pfaden eines Wanderers. Herrlicher Ausblick auf benachbarte Gipfel. Weitsicht. Hinter der Hütte eine riesige steile Felswand, die sich majestätisch erhob. Stand man vor ihr und blickte hinauf, sah man ihr Ende weit entfernt in den blauen Hintergrund stechen.

Ging man rechts entlang, kam man zu Julians Höhle. Sie war sein Lager. Lebensmittel, Holz, Heu, Stroh, Getreide. Kleidung aus Schafleder und Wolle, überhaupt, viel viel Schafwolle. Schafwolle und Leder steckte auch in der Hütte. Unter der Decke, an den Wänden, unter dem Boden. Es isolierte. Die Winter in den Bergen sind eisig. Stürmischer Herbst. Früher Schneeinbruch. Später Frühling. Kurzer idyllischer, trügerischer Sommer. Seine Schafe ließ er im Winter in die Höhle.

Ging man links entlang, stoppte man schnell, den das Plateau stürzte steil in die Tiefe. Man sah in eine dunkle Felsspalte.

Julian sagte: “Der letzte Wanderer kam hier vor drei oder vier Jahren vorbei”.

Julian war der letzte Schäfer in diesem Gebirgsteil. Das Leben war karg, der Beruf uneinträglich.

 

Julian sah aus wie ein Sechzigjähriger. So sah ihn Nils. Er trug einen Schäferbart. Bis zur Brust lang. Zerzaust. Ungepflegt, mit grauen Strähnen. Nicht wie ein Nikolausbart. Grau wie Schafwolle. Ein alter schwarzer Hut. Bogart. Darunter eine faltige Stirn. Graue Haare vielen seitlich aus dem Hut. Die rote Nase breit und rund. Seine Backen faltig, rötlich, herabhängend, zerfurcht. Kleine runde Augen, buschige Lieder. Braun. Kein Schäfermantel. Eine alte, zerschlissene Latzhose aus ehemals blauem Jeansstoff. Aufgerieben, durchlöchert und geflickt. Helle Lederfetzen. Ein Kariertes Hemd, rote Karos, alt, herunterhängend.

Er rannte abseits eines Wanderweges durch den Wald. Er versuchte es leise. Wollte wissen, ob er wie ein Reh übers Unterholz kam, ohne zu lärmen. Es knackte und krachte. Das Laub raschelte. Blätter wirbelten auf. Die Ruhe des Waldes war gestört. Er machte Lärm. Er rannte hektisch. In der Stadt wäre das leise gewesen. Im Wald war er ohrenbetäubend. An einem dicken Baum stoppte er. Hörte. Sein Rascheln und Knacken war verstummt. Er musste lange stehen, um das leise Rauschen des Waldes wieder zu hören.

Plötzlich, hinter seinem Rücken, schoss zufällig Assya die Hündin nah an ihm vorbei. Er erschrak. Sein Herz pochte, begann zu rasen vom Schreck. Rechts vom Baum sah er einen buschigen, grauen Schwanz übers Waldlaub fliegen. Assya jagte davon.

Der Erschrockene schwitzte heftig. Schweiß rann über die Innenseite der Arme, tropfte an den hängenden Händen hinab. War es ein Wolf? Ein Hund? Ein Fuchs? Wohin jagte es?

Nils rannte los. Es krachte und knallte unter seinen Füßen. Er war der Mensch im Wald. Es gab keine andere Möglichkeit. Er verfing sich im Unterholz, stolperte, stürzte. Er robbte auf allen Vieren, griff zur Baumrinde und arbeitete sich hoch. Zwei lange Beine machten ihn im Wald zu einem lahmen, stürzenden, unbeholfenen Wesen. Die Hände blutverschmiert, aufgerissen am scharfen Geäst. Er rannte weiter. Das Tier war längst weg. Nur die Spur, die Richtung in die der Schwanz verschwand, sah Nils. In seinem Kopf. Diese Richtung behielt er bei. Knackte, knallte, flog, rumpelte gegen Äste, Baumwurzeln, ganze Bäume. Stürzte über Büsche, blieb daran hängen, schlug kopfüber in einen Laubhaufen. Blieb, außer leichten Schürfungen, unverletzt, zog sich am Ast hoch, stürmte weiter. Unglaublicher Lärm, den er einfach ignorierte.

Das Ende: der Waldrand. Er stand oben. Trat blutend, dreckig, zerschürft, mit schmerzendem Knie heraus. Langsam schritt er am Waldrand entlang, sah was unten vor sich ging. Wischte mit der blutenden Hand an der Hose, danach im Gesicht.

Sein Schmerz lohnte sich. Es sah die Schafherde von Julian. Julian lag neben der Herde im Gras. Der Auslöser der panischen Jagd durch den Wald lag daneben. Ein Hund, grau wie ein Wolf.

Julian sah Nils sofort oben am Waldrand humpeln. Er stand auf, hob seinen Stock, winkte und rief: “he he, hallo hallo!”

Nils schrie runter, winkte zurück: “jaa, jaa!” Er stieg durch die hohe Wiese ab. Er ging auf Assyas sichtbarer Spur.

 

Nils wusste nicht, was er von Julian wollte. Er blieb einfach bei ihm. Tagsüber wanderte er weiter durch die Wälder. Unbeobachtet übte er weiterhin, leise wie ein Reh zu rennen. Obwohl er wusste, dass es unmöglich war. Abends kam er zu Julians Hütte.

Sie saßen am Feuer, plauderten, aßen und tranken.

Romantik? Traumhafte Idylle? Etwas sehen. Vieles übersehen. Das war Nils.

Julian fühlte sich wohl in seinem Gebirge. Sein Leben genoß er. Die Ruhe brauchte er. Seine Schafe und seine Hündin liebte er.

Den Fremden lud er an sein Feuer ein. Er hörte ihm zu. Er wollte wissen, wer er war, was er im Gebirge wollte, was er dachte.

Nils sagte: “Ich weiß nicht was ich hier eigentlich will. Es könnte sein, dass ich hier bin, weil ich woanders nicht bleiben wollte. Vielleicht laufe ich gerade vor meinem Leben davon!”

“Das hört sich interessant an. Erstaunlich”, sagte Julian, “darüber müssen wir reden.”

Warum wollte Julian darüber reden? Nils hatte Tage mit niemandem gesprochen, und jetzt gleich so etwas gesagt. War Julian Esoteriker, Wunderheiler?

Nils kannte solche Leute nicht. Er wollte sie nicht kennen.

Warum sagte der Mann, den er nicht kannte, dass ihn das interessiert?

Daran war er, Nils, selbst Schuld!

Er hätte auf dessen Frage nicht solchen Quatsch antworten sollen. Vielleicht, so fürchtete er, ist der Typ wirklich Wunderheiler und will den “dicken Reibach” machen. Die Geschäfte im abgelegenen Gebirge gehen für solche Leute nicht besonders gut. Da wird jeder einsame Wanderer, der in die ausgeworfene Schlinge tappt, sofort gefangen. Nils legte sich die Schlinge selbst aus.

“Guter Trick”, so viel es ihm wie Schuppen von den Augen: die Sache mit dem Hund, den man im Wald streunen lässt, bis ihm ein abenteuerbesessener Wanderer hinter her jagt.

Nils fand zurück in sein Leben. Es steckte voller Mißtrauen. Das Unbekannte war das gefährlichste. Es verunsicherte. Es durfte nicht sein. Wo es ging, beseitigte man es. Unsicherheitsfaktoren vermied man im Leben. Man schaltete sie aus, bevor sie einen ergriffen.

Die Erholung im Wald war vorbei. Die Einsamkeit war vorbei. Er begann wieder zu denken. Die Realität, wenn auch im Gebirge war zurück gekehrt.

 

Nils und Julian saßen mehrere Abende zusammen am Feuer. Sie sprachen miteinander. Nils erzählte die Story von seinen drei Freunden an der Autobahnraststätte und dem Tramper Harry.

Sie rauchten Julians Zigaretten. Den Tabak nannte Nils “Gebirgstabak Marke Eigenbau”. Eine neue Wortschöpfung für Julian. Er baute ihn neben der Hütte auf seinem Feld an. Dort wuchs er. Spärlich aber er wuchs. Nils schmeckte er. Es war die erste Zigarette aus echtem Österreichischem Gebirgstabak, die Nils in seinem Leben rauchte.

Julians Gesicht war rot in den Flammen. Die vielen Falten warfen leichte Schatten. Die Falten waren tief.

Er zog an der Zigarette. Er fragte: “Was willst du hier?”

Die Frage beantwortete Nils nicht klar. Er sagte zuerst nichts. Schwieg. Minutenlang. Starrte in die Flammen. Ohne auf zu blicken sprach er leise: “Ich habe das Gefühl in einem Film zu sein. Der Sinn ging verloren. Vielleicht gab es ihn auch nie.”

Patsch! Ein weiterer Fuß in der Schlinge des esoterischen Wunderheilers!

Julian antwortete: “Ich weiß nicht, was du damit meinst. Du vergleichst deine Situation mit einem Kinofilm. Ich kann dir nicht folgen. Ich war noch nie in meinem Leben in einem Kino.”

Noch nie in einem Kino gewesen! Unglaublich! Das konnte sich Nils nicht vorstellen.

Er sollte überlegen, wie es früher war, als auch er noch nie in einem Kino war. Das wusste Nils nicht mehr. Wie alt war er damals? Welcher Film war es? Keine Ahnung.

“Unglaublich!”, rief Julian, “das würde ich nie vergessen!”.

Ein Künstler

Julians Vorschlag war unvorstellbar. Nils dachte an einen Witz. Er saß am Feuer, lachte. Konnte nicht mehr sitzen vor Lachen. Stand auf. Lief um die Flammen. Hielt Bauch und Mund, wie sein Freund Rolf und lachte närrisch.

Der alte Greis Julian, mit tausend Falten im alten Gesicht wollte er sein? Wollte sich in ihn verwandeln? Lächerlich! Irrsinnig lächerlich, die Vorstellung!

Er, Nils würde gerne Julian sein! Ok. Der Wald, die Ruhe, die Berge, die Hütte, die Schafe, die Hündin Assya und Julian. Das alles gefiel ihm! Er kannte jetzt die Berge, Julian zeigte sie ihm. Er wusste jetzt, wie man Schafe hütet, wie man sie zusammen hält, wie man sie Abends zurück zur Hütte führt. Es machte ihm Spaß. Es entspannte. Der Lärm der Stadt, die Anspannung, der Mief, das fehlte ihm nicht. Gerne würde er bleiben. Doch, wie? Dieser alte Greis konnte nicht seine Rolle übernehmen! Sicher, er war nicht tattrig und klapprig. Er war beweglich. Wendig pirschte er im Wald einem Schaf hinterher, wenn eins flüchtete. Sofort sah er, wenn ein Schaf einem Felsspalt zu nahe kam. Er stürzte sich auf es, bevor es hinab stürze. Zerrte an Fell, Beinen und Schwanz, rettete das kreischende Tier vor dem sicheren Tod.

Er sah einfach alt aus. Sein Gesicht, gezeichnet vom gesunden Leben im Freien. Schon viele Jahre. Egal ob Sommer oder Winter.

Doch seine Idee war sein Ernst.

Tagelang führte er Nils durch die Berge. Spürte dessen Verunsicherung. Hörte die Worte, die er über die Stadt und sein Leben sprach. Hörte genau hin. Merkte, dass Nils sich bei ihm wohl fühlte, vielleicht sogar frei. Er sah, wie Nils sich in ein kleines Reh verwandelte, plötzlich geräuschlos hinter Bäumen hervor sprang. Wie ein Hase durch das Laub hoppelte. Hurtig auf einen Baum kletterte, um Wald und Berg von Oben zu überblicken.

Neben ihm stapfte Nils auf seinen alten Pfaden. Er zeigte sie Nils, wie das sein Vater tat. Wie sein Vater, blieb er mit Nils an jedem Hang stehen, wo vor Jahren ein Schaf hinunter stürzte. Er zeigte jede Höhle, die Unterschlupf bei Sturm und Gewitter bot. Erzählte die Geschichten vom Großvater, die er vom Vater hörte. Er sagte: “Stell dir vor, in dieser Höhle, hausten während des Krieges Menschen, die sich verstecken mussten. Mein Großvater führte sie her!”

Nils interessierte sich. Fragte nach jedem Detail. Wollte die Schafe scheren. Führte sie über steile Berggrate. Schwamm mit ihnen durch kalte Gebirgsflüsse. Zog sie einzeln an den Vorderfüßen über Felsbrocken, die den Weg durch enge Schluchten versperrten. Jede Wiese auf denen sie weideten sah er.

Glaubte er sich unbeobachtet, spielte er mit Assya. Tollte mit ihr durch den Wald. Warf Stöcke. Hoppelte wie der Hase. Spielte den Fuchs. Das war Nils.

Julian ahnte, worüber Nils sich ärgerte. Die Stadt. Die Zwänge. Die Strukturen. Die Ämter, denen er sich ausgeliefert fühlte. Das Stadtleben, ein unrhythmisches Hin und Her. Heute so, morgen anders, übermorgen ganz anders. Keine Harmonie. Keine Ruhe. Viele Häuser. Hohe Mauern. Viel Gestank. Und der Lärm. Unvorstellbarer Lärm!

Wie war das? Wie lebte man das? musste man es mühselig ertragen? Oder trug es sich von selbst?

Nils musste wegen seiner Idee lachen. Julian sah zu alt und verschrumpelt aus. Das war klar.

Warum war Nils plötzlich so naiv? Er passte sich dem Wald- und Wiesenleben des Schäfers an. Er öffnete seine Augen. Er sah alles. Fast. Seine Naivität öffnete ihn für alles, was Julian zeigte und sagte. Darauf konzentrierte er sich.

Sie verschloss seine Augen vor Julians Maskierung. Er sah ihn, wie er war. Wie er aussah. Alt. An etwas Trügerisches, Verunsicherndes, dachte er nicht. Die Natur war, wie sie aussah. Klar. Alles war, wie es war. Eindeutig. Julian lebte mit der Natur. Nils verschloss eine Schublade. Darin war Julian.

 

Julian wiederholte seine Worte: “Ich will wissen, wie du lebst. Ich will deine Stadt sehen, erleben. Ich verkleide mich. Ich gehe für dich zurück! Dann sehe ich es. Du bleibst hier. Du lebst für mich hier! Nur eine Zeit lang, dann komm ich wieder. Willst du?”

Assya stand auf. Wedelte ihren Schwanz wild. Rannte um die Flammen. Schnupperte an seinem Herrchen. Schnupperte an Nils. Hüpfte auf Nils Schoß. Sprang gleich wieder runter. Schlug ihm den Schwanz ins Gesicht. Schleckte sein Gesicht. Ihre Aufregung beunruhigte Nils. Abende lag sie ruhig. Jetzt sprang sie. Rannte, hüpfte, bellte. Es war Freude. Sie hatte zwei Herrchen. Nils war ihr vertraut. Die Hündin spürte das, bevor es Nils wusste.

 

“Aber wie soll das praktisch funktionieren? Es geht nicht einen Tag gut!”. Assya sprang ihn an, warf ihn um. Nils lag auf dem Rücken. Die verspielte Hündin stand über ihm und schleckte sein Gesicht. Nils ruderte, drehte sich und robbte im Gras. Rettete sich auf allen Vieren vor der Freude des Tieres. Beruhigte die Hündin. Setzte sich neben sie, streichelte und kraulte ihren Nacken. Nils war ihr Herrchen. Sie freute sich.

“Ich sehe anders aus als du. Ich habe ein viel schmaleres Gesicht als du. Du bist alt. Ich bin viel jünger als du!”

Julian stand auf. Hob Äste von einem Holzhaufen. Warf sie in das Feuer. Sofort flackerten helle Flammen auf.

“Wieso? Wie alt bis du denn?”

“Einundzwanzig Jahre jung!”

“Ich bin vierundzwanzig!”

Assya sprang jetzt Julian an. Der wehrte mit der Rechten ab. “Sitz!” Das Tier saß. Julian kraulte.

Nils lehnte an einem Holzhaufen.

“Das glaube ich nicht. Du siehst älter aus. Viel älter.”

Seine Worte sprach er ruhig. Er wollte sich nicht aufregen. Er vertraute Julian. Was er sagte, musste stimmen. Die vergangenen Tage waren stimmig. Nils saß, schaute zu Julian auf, wartete gespannt.

Der Greis sagte: “Ich bin Künstler. Ein Teil meines Leben ist meine Kunst. Ich hüte meine Schafe. Pflanze meine Lebensmittel an. Pflücke im Wald Beeren. Koche aus meinem Getreide mein Gebirgsgofio. Das ist ein Teil meines Lebens.

Der andere Teil ist meine Sprache und mein Aussehen. Der alte Förster kommt alle zwei Monate. Er ist der Einzige, der mich hier oben besucht. Er erkannte mich nur einmal nicht. Aus der Ferne. Als er näher herantrat kannte er mich. Du erkennst mich nicht. Weil du mich nicht kennst. Für dich bin ich der Greis. Weil du mich nicht anders kennst.”

Assya saß neben ihrem Herrchen. Sie sah ihm aufmerksam zu. Ihr Schwanz lag nicht ruhig. Immer wieder wedelte er unruhig auf. So wartete sie. Es musste etwas kommen. In ihren Augen funkelte Vorfreude. Die rote Zunge fuhr ständig aus dem Mund, feuchtete die Nase.

“Ich bin Maskierungskünstler. Es macht mir Spaß, andere Gesichter zu tragen! Ich hab es für mich selbst erfunden. Meine Unterhaltung. Meine Freizeit. Ich tu es für mich. Ich lebe einsam. Keiner sieht es. Mir macht es Spaß!”

Unverändert lehnte Nils am Holzhaufen. Äußerlich.

Er spürte Verunsicherung. Zum Ersten Mal, seit seinem Anstieg ins Gebirge. Was war das für eine Kunst? Julian maskiert? Angabe? Kein Greis? Vierundzwanzig?

Nils Scherers Stadtdenken: Wo war er gelandet? Bei einem ausgeflippten Österreichischen Schafhirten? Ist die Gebirgsidylle echt? Perfekt nachgebildet? Animation? Julian vorgetäuscht? Computersimuliert? Alles Täuschung? Wie kam er hier her?

Ein Traum! Gleich das Erwachen! Im Traum denkt man nicht an Traum! Es musste kommen!

Es musste kommen! Nur noch wenige Sekunden.

Nils wartete.

Es kam nicht.

Der Traum ging weiter.

Plötzlich hielt Julian ein scharfes Messer in der Hand. In der Klinge blitzten die Flammen.

Nils saß regungslos.

Julian Schwieg. Nils schwieg. Assya wedelte nicht.

Schweiß lief aus den Achseln. Langsam. Eine kühle Bahn auf der Innenseite der Oberarme. Er tropfte herab an den Ellenbogen. Angewinkelt. Spitz standen sie über Nils Knie heraus. Seine Hände hielten seinen Kopf. Möglich, mit ihnen sofort die Augen zu verdecken.

Ein Messer!

Traum hör auf!

Hör endlich auf! Schluss! Aufwachen! Jetzt, sofort!

Nichts.

Nur Schweigen und Julian mit dem Messer. Knistern im Feuer, sonst Ruhe.

Kein Erwachen.

Julian stand regungslos.

Plötzlich hob das scharfe Messer. Richtete die glänzende Kling gegen sich. Der Hals, seitlich neben dem rechten Ohr.

Jetzt aufspringen Nils! Er darf das nicht tun! Im Sprung endet dein Traum!

Das frische Holz knisterte heftig. Funken flogen. Sonst Stille.

Nils blieb regungslos. Erstarrt.

Julian schnitt. Die scharfe Klinge fuhr in seine Haut. Er traf sie neben dem Ohr.

Nils saß. Tat nichts. Sein Mund weit offen. Spürte nichts. Nicht sein Gesicht, nicht seine Hände, nicht seine Beine. Nur den Schweiß, die Hitze seines Körpers. Sah was geschah.

Ein scharfer Schnitt um das Kinn. Der Bart löste sich, viel herab.

Nils zitterte. Heftig. Das kam plötzlich! Sein Kopf, seine Augen, seine Hände. Was spürte er noch? Nichts!

Plötzlich viel er auf die Seite. Wie ein Sack. Er lag. Reglos.

Julian ließ sein Messer fallen. Hüpfte Assya hinterher. Die schleckte schon in Nils Gesicht. Julian betastete den Hals. Die Ader schlug. Leicht. Leise röchelte Nils.

“Vielleicht bewusstlos”, beruhigte Julian Assya und kraulte sie.

Nils spürte nichts. Er war weg. Um ihn alles schwarz. Die totale Verunsicherung. Er schaltete ab.

Julian zog ihn vom Feuer weg. Legte seinen Schlafsack über ihn. Nils röchelte tief. Er schlief.

 

Es war keine Computeranimation, wegen der Nils zusammenbrach. Es war die Realität. Das Hobby Julians. Er demaskierte sich. Nils reagierte empfindlich. Spürte seinen Körper. War seinem Körper nah. Ließ die Natur an ihn heran. Nils verdeckte nichts. Ließ seinen Körper machen. Julian schockierte, verunsicherte schwer. Mitten in der Natur!

Nils schlief fest.

Stadtdenken von Nils Scherer: Wie in einem Horrorfilm! Ich hasse sie. Ich nehme die Fernbedienung. Ich schalte weiter.

Das geht nicht? Aha! Ich sitze im Kino. Ich vergaß!

Nein? Aha, eine dreidimensionale Computersimulation. Alles klar! Ich mitten drin in einer virtuellen Szene! Wahnsinn! Alles echt! Toll!

Trotzdem hasse ich Horror. Hasse Nervenflattern! Künstlich erzeugt! Einfach nervig! Ich hasse diese Unterhaltung. Diese miese Mystik. Diese irreale Darstellung.

Aber: Sie wirkt echt! Ich kann sie beeinflussen, bin voll dabei. Alles ECHT virtuell! Komm schon, tritt ihn nieder! Nimm ihm das Messer weg! Verhindere die Tat! Du kannst auch selbst Taten anrichten, wenn du willst!

 

Das war sein Ende. Er hob den Kopf. Die Nase voll Dreck. Grashalme wischte er weg. Das Feuer, ein riesiger Haufen Glut. Es funkelte. Es bewegte sich, wie ein rot glühender Haufen Ameisen. Hell und doch dunkel. Leichter Qualm stieg auf. Kein Knistern. Keine Geräusche. Nur ein Rauschen. Wie im Wald. Es war die Wiese, die Gräser rauschten im leichten Wind. Der war warm. Sommerlich. Am Himmel Wolken. Bedeckt. Keine Sterne, der Mond verschwunden. Finsternis, nur das rote Ameisenglühen. Er lag seitlich. Vom Schlafsack zugedeckt. Ein eigenartiger Tod. Ein Traumtod. Schmerzfrei. Unergründlich. Wie kam er? Wie war er? Wo spielte der Tod? Wo war er? Warum dieser Gluthaufen? Warum rauschende Gräser? Warum leichter Sommerwind? Warum Dreck auf der Nase? Warum Gräser in der Nase? Warum in seinem Schlafsack? Sein Kopf ging hoch. Ein Blick über die Glut. Absolute Finsternis. Spürte er Schmerzen? Spürte er irgend etwas?

Nein. Er lag matt. Er schloss die Augen. Der Schlaf ging weiter.

 

Nils saß hinten auf der Sitzbank. Neben Harry. Der sprach von seiner Oma. Sie war alt aber sehr lebendig. Sie beschützte ihn, kümmerte sich um ihn. Schon immer. Harry schaute Nils an. Blass war sein Gesicht. Er lächelte, schwärmte wegen seiner Oma, die er liebte. Die ihn stets rettete. Selbst diese Entführung wird er überleben. Die Oma holt ihn raus. Sie schafft es. Sie setzt alle Hebel in Bewegung. Es gibt viele Hebel. Die Oma kennt alle.

Ein Scheinwerfer blitzt durch die Windschutzscheibe. Nils geblendet, sieht nichts mehr. Harrys blasser Kopf weg. Einfach weg. Blut spritzt. Knallt an die Decke. Glassplitter schneiden in seinem Gesicht. Nils reißt die Arme hoch. Will die Augen schützen. Es geht nicht. Jetzt, ein lauter Knall. Rolf und Moritz fliegen an ihm vorbei. Rolf hält das Lenkrad in der blutigen Hand. Moritz hat einen Kopfhörer auf. Sein Gesicht blutig. Überströmt, die dicken Backen glänzen rot. Drei Menschen liegen blutend auf der Sitzbank. Die Windschutzscheibe auf ihren Körpern verteilt. Nochmal ein lauter Knall. Tiefer, dumpfer. Danach Ruhe. Keine Bilder mehr. Alles schwarz. Es ist vorbei.

 

Was geschah, während Nils schlief?

Julian steckte das Messer weg. Mit beiden Händen knetete er in seinem Gesicht.

Nils schnarchte laut. Assya sprang auf. Ging zu ihm, beschnupperte ihn. Setzte sich wieder neben Julian.

Der ergriff die Maske am Haaransatz. Einer Einschnittstelle. Langsam zog er sie herunter. Wie ein Pflaster. Sein Gesicht war bleich. Sofort sprang ihn Assya an und schleckte. Das war es, worauf sie sich freute.

Das Gesicht war jung. Vierungzwanzig Jahre alt.

Aus seinem Schaflederbeutel zog Julian eine rostige Blechdose. Der Geruch beleidigte Assyas Geruchsempfinden. Sie nahm Abstand. Legte sich neben das Feuer. Julian verteilte eine dunkle schwarze Masse auf seinem bleichen Gesicht. Es war seine Schutzcreme. Selbst hergestellt. Aus Baumrinden, Harz, Beeren, verschiedenen Blättern und Gräsern. Sein Gesicht färbte sich schwarz. Die Masse zog langsam ein. Sein Gesicht wurde wieder bleich.

“Na Assya, mit meinem echten Gesicht schaffen wir das auch nicht! Aber ich werde eine Maske auftragen, aus der ich ein schönes Nilsgesicht forme! Da wird er staunen! Was meinst du?”

Assya blickte unbeteiligt in die Flammen. Das laute Schnarchen von Nils zerriss die milde Luft. Julian kroch unter die Schlafdecke. Nils Lärm verdeckte die Waldgeräusche. Julian schlief ein.

Julian dachte an seinen Vater, Nils wachte wieder auf

Mit dem Sonnenaufgang standen Julian und Assya auf. Die Feuerstelle glühte noch. Sie trieben die Schafe einen schmalen Berggrat hinunter. Unten war eine flache Wiese. Die Schafe weideten, fraßen vom hohen saftigen Gras.

Der Platz lag nur eine Viertelstunde von der Hütte entfernt. Julian ließ die Tiere bereits im Frühjahr dort grasen. Er plante die Stelle erst im Herbst wieder aufzusuchen. Doch er nahm sie schon heute, denn er wollte schnell zu Nils zurückkehren. Wollte bei ihm sein, bevor er aufwachte. Wollte nicht, dass der Angst bekam.

Er wollte Nils nicht schockieren. Julians Gewissen war schlecht, wegen des Abends. Nils könnte krank sein. Julian trug die Schuld. Eine schwierige Situation.

Wachte Nils allein auf, musste er Angst kriegen, weil keiner da war. Wachte er im Beisein Julians auf, konnte er Angst kriegen, weil Julian völlig anders aussah.

Julian wollte ihn nicht allein lassen. Nahm eine Überraschung von Nils in Kauf. Wollte ihn schnell überzeugen, dass alles mit rechten Dingen zu ging. Wollte Vertrauen wieder herstellen.

Deshalb ging er schnell. Ließ Assya bei den Schafen zurück. Die Wiese war übersichtlich. Assya war geschickt.

Sechs Uhr, taghell, die Berggipfel glühten rot. Die Sonne kam hinter einem Felsmassiv hervor. Der Tag war klar. Die Sicht weit.

Julian warf kleine Äste in den Gluthaufen. Flamen loderten auf. Der verbeulte silberne Blechtopf baumelte langsam hin und her. Julian rührte drin herum, schüttete noch Tee nach. Der Löffel schabte im Topf.

Sein Frühstück: Gebirgsgofio. Ein Brei aus Getreide.

Vom Vater lernte er Zubereitung und Namen. Gofio ein Nahrungsmittel von Ureinwohnern. Sie hießen Guanchen. Sie lebten nicht mehr. Lange schon waren sie tot. Von Eroberern ermordet. Restlos. Das war das Leben: lange her und weit entfernt. “Doch glaube nicht, dass die Menschen heute keine Mörder und Eroberer mehr sind”, sagte der Vater. “Oft siehst du zuerst den Schein. Und der trügt. Sieh sie dir genau und lange an mein Junge! Wir Menschen lassen uns blenden. Die Nazis, von denen du in der Schule alles hörtest, blendeten! Großvater hat es erlebt und erzählt. Er selbst wäre fast ihr Opfer geworden. Zuerst sahen die Menschen ihren Schein, dann kamen die Taten, die ihr Schein überdeckte. Wer nur den Schein sehen wollte, sah ihn. Wer auch ihre Taten sehen wollte, sah sie. Großvater sah sie. Deshalb musste er leiden. Es waren nicht nur die Zeiten. Es waren auch die Menschen. Zeiten ändern sich schnell. Menschen tun das langsam. Sei auf der Hut mein Junge! Hör genau zu. Sieh genau hin. Entscheide dich erst, wenn du den blendenden Schein nicht mehr siehst! Geschichte und Geschichten haben sich oft wiederholt. Nicht wegen der Zeiten, wegen der Menschen.” So sprach der Vater. Weise, dachte Julian. Er warnte vor neuen Nazis. Unter den alten litt der Großvater schrecklich. Neue können wieder kommen, sagte der Vater. Weil die Menschen sie nicht erkennen. Viele wollen es nicht.

Der Vater war vorsichtig und er war ängstlich. Seine Angst blendete ihn nicht. “Sie öffnet Augen”, sagte er.

Er wusste viel. Er las es. Das Rezept fand er gut. Der Brei war nahrhaft, eignete sich im Sommer wie Winter. Er sättigte und gab Kräfte. Das Getreide vom kleinen Feld war optimal genutzt. “Ureinwohner waren gescheite Menschen, sie zogen alle ihre Kräfte aus der Natur! Das vergaßen sie niemals!”, sagte der Vater.

Er erzählte alles was er wusste. Julian hörte zu und fragte. Er wollte genauso gescheit werden wie der Vater. Er wollte Wissen haben wie der Vater. Er wollte es einsetzen wie er. Für sein Leben. Deshalb hörte er zu, denn er spürte, dass die Worte des Vaters stimmten. Der Vater sprach, damit Julian lernte. Er gab ihm alles was er wusste. Er suchte auf jede Frage eine Antwort. Julian fragte viel.

Der Vater war zufrieden. Julian lernte alles. Schnell und gut. Er arbeitete wie der Vater. Kannte die Schafe wie der Vater. Lebte wie der Vater. War vorsichtig wie der Vater.

Auch die Schule im Tal brachte ihn davon nicht ab. Er musste sie besuchen, das wusste der Vater. Der Vater war gescheit. Er brachte ihn hin und holte ihn ab, bis er den Weg selbst ging. Der Vater sagte nichts gegen die Schule. Er sagte, dass sie gut ist. Er sagte: “Dort siehst du wie die Menschen sind! Hier in den Bergen ist das Leben zu einsam. Zu wenige Menschen. Sieh sie dir genau an!”

Jahre lang ging er in die Schule. Er sah sich die Menschen an. Lebte mit den Schulkameraden. Brachte sie mit hinauf auf den Berg. Vielen war der Weg zu weit, zu steil, zu steinig. Julian blieb in den Bergen bei Vater und Schafen.

Der Vater trank. Auch er begann zu trinken. Schnaps. Der Vater trank zu viel. Deshalb trank Julian weniger. Er lernte vom Vater. Er wollte nicht betrunken sein. Ein Schnaps, alle zwei Monate zusammen mit dem alten Förster. Das reichte. Der Förster gehörte auf die Bank vor der Hütte. Regelmäßig. Schon immer. Schnaps und Gespräche. Sie saßen Abends vor der Hütte. Sie redeten und tranken. Sie sahen die Schafe und den Sonnenuntergang. Dann ging der Förster. Stieg hinab ins Tal, erreichte das Dorf in der Dunkelheit. Er kannte den Wald, kannte die Berge, kannte alle Wege, wie Julian. Egal ob Tag oder Nacht. Er lebte schon immer hier, wie Julian. Er wohnte nicht oben, sondern unten im Tal. Streifte jeden Tag durch einen anderen Teil des Gebirges. Alle zwei Monate saß er bei Julian, nannte sein Kommen “dienstlich”, lachte und trank. Er war Forstbeamter. Das war sein Beruf, wie Julian der Schäfer war.

Als der Vater starb, vor einem Jahr, half der alte Förster. Er tröstete und trug den Toten mit Julian hinab ins Tal. Es war der Schnaps der ihn tötete. Das schrieb der Arzt auf den Schein. Der Vater trank zuviel.

Er saß am Tisch, die leere Flasche neben sich. Der Kopf lag auf den verschränkten Armen. Die grauen Haare vielen vorne herab. So saß er oft, Nachts. Schlief am Tisch bis die Sonne aufging. Die Petroleumlampe brannte leer. Eine knappe Stunde nur blieb es Dunkel in der Hütte, dann ging die Sonne auf. Julian lag auf seiner Pritsche. Schlief. Tageslicht schien durch die spärlichen Fensterluken. Der Vater weckte ihn nicht, stand nicht am Ofen und kochte das Gofio. Die Tür war verschlossen. Assya sprang von draußen dagegen, sprang in die Hütte, schnupperte am Vater, ließ den Schwanz hängen, kam zu Julian, schleckte sein Gesicht. Sie weckte ihn, nicht der Vater.

Julian weinte. Ließ es einfach laufen. Niemand sah oder hörte ihn. Er ließ es geschehen. Assya saß auf seinem Schoß. Bewegte sich nicht, blickte zum Vater, ließ den Schwanz hängen. Julian weinte seit Jahren nicht. Das letzte Mal nach einer Schlägerei im Schulhof. Der Vater war ein Grund zu weinen. Das war klar. Er weinte Stunden, es ging nicht anders, musste sein. Die Schafe konnte er nicht treiben an dem Tag. Ließ sie in der Koppel vor der Hütte. Mit Assya lief er hinab ins Tal, suchte den Förster.

Den Schafledersack hatte der Vater selbst genäht. Julian wusste, dass er den Vater darin hinunter tragen sollte. Der Vater wollte es. Er wurde verbrannt, mit dem Vater. Er musste ein Urnengrab mieten. Das war neu. Ein Gesetz vom Amt. Die Sozialkasse zahlte. Das Amt verbot das Ausstreuen der Asche auf den Bergen. Der alte Förster war Beamter. Er half bis zum Schluß. Er vertauschte die Urne des Vaters gegen die Urne voll Sand. Er stieg mit Julian auf den Gipfel. Julian suchte ihn aus. Es war der Lieblingsgipfel vom Vater. Sie saßen oft oben. Von dort überblickten sie alles. Der Wind blies den Vater langsam vom Berg.

So wollte es der Vater.

Der Förster kannte Julian von Kindesalter an. Egal, wie er aussah. Er erkannte ihn. Ließ sich nur einmal kurz täuschen, erkannte den maskierten aus der Ferne nicht.

Die Mutter?

Sie ging, als Julian noch klein war. Sehr klein. Es war ein Mann mit einem Auto. Der Vater sprach nicht darüber, aber der Förster erzählte alles. Der Mann war reich. Die Mutter, der Vater und Julian waren arm. Die Mutter litt unter der Armut und Einsamkeit in den Bergen. Sie war keine Schäferin, sie war Durchreisende im Hotel zur Post. Dort blieb sie hängen am Vater. Ging mit ihm in die Berge. Das Hotel Zur Post war es auch, das die Mutter wieder weg brachte. Der Reiche übernachtete nur eine Nacht. Sie fuhr mit ihm. Sie ließ Petroleum und Schnaps und einen Brief für den Vater bei Charlie dem Portier.

Der Förster fotografierte die Mutter mit Julian auf dem Arm. Es war die Taufe. Der Förster war Zeuge. Das Foto ist schwarz-weiß. Vergilbt inzwischen. Julian hat es in seinem Schaflederbeutel. Stieg Julian ins Tal ab, trug er ihn immer bei sich. Nachts hing er über seiner Pritsche in der Hütte.

 

Die Gesichtsmasken fertigte Julian aus einer eigenen Mischung. Harz, einem Lehm, der sich in einem bestimmten Gebirgsteil in den vielen vorhandenen Höhlen fand, und einem geringen Anteil Gebirgsgofio. Die Gesichtsfarbe kam aus einer aufgekochten Waldbeeren- und Gräsermischung. Die Masken hafteten fest im Gesicht. Sie ließen sich etwa einen Tag lang beliebig Formen. Danach nahmen sie eine hautähnliche, luftdurchlässige Konsistenz an. Alle Gesichtsbewegungen machte die Maske mit. Sie verformte sich nicht, sie fiel nicht runter. Nach zwei bis drei Monaten nahm Julian die Maske ab, weil sie porös wurde. Er schnitt sie aus seinem Gesicht. Er zog sie langsam ab. Reste kratzte er mit dem Messer ab. Die Gesichtshaut litt nicht. Die Maske war atmungsaktiv. Die Hautzellen wurden weiter versorgt. Das fehlende Licht bleichte das Gesicht aus. Nach der Demaskierung, beschmierte er sich mit einer selbst komponierten Schutzcreme. Das blasse Gesicht brauchte einen schützenden Übergang zu Tageslicht und Luft.

 

Nils drehte sich mehrmals um. Er röchelte leise und regelmäßig. Die ersten Sonnenstrahlen wärmten seinen dunklen Schlafsack. Wieder bewegte er sich. Im Sack wurde es zu warm. Er räkelte sich, drehte und wendete sich, verdrehte den Schlafsack, rang um Abkühlung. Sein Kopf pulte sich aus der Tüte. Das Schwarze Kopfteil bedeckte ihn. Julian sah seine Augen noch nicht. Nils öffnete sie. Schloss sie gleich wieder. Öffnete sie sofort wieder. Er sah die Wiese, den weißen Gluthaufen, er war klein, die braune Hütte, ihr Dach, einen Berggipfel, grau, den blauen Hintergrund. Seinen Kopf drückte er aus der Schlafsackkapuze. Er drückte die Augen nochmal kurz zu. Riss sie gleich wieder weit auf.

Die Schaflederschlappen von Julian. Sie bewegten sich auf und ab. Der Löffel schabte im Topf. Ein raues Kratzen. Rhythmisch. Julian trug keine Socken, Dünne behaarte Beine steckten in den Schlappen. Nils Augen schlossen sich nicht mehr. Sein Blick wanderte die dünnen Beine hinauf. Eine abgeschnittene Jeans. Ein graues T-Shirt. Eine Hand, Julians Hand. Sie rührte im hängenden dampfenden Topf. Der Oberkörper, der Hals, das war Julian. Wo war der Bart? Er hing nicht vor der Brust.

Ein junges Gesicht, bartlos, nur einige Stoppeln, bleich, sehr bleich!

Der Tod trat schmerzlos ein, zum Glück dachte Nils. Harry der Tramper war sicherlich auch Tod. Es war zu viel Blut auf der Rückbank. Die anderen drei Freunde? Vielleicht überlebten sie, schwer verletzt.

Wie ging es jetzt weiter? Was wollte der Junge, in Körper und Kleidern von Julian? War Julian auch gestorben? Nein, das konnte nicht sein. Er musste von Anfang an ein Toter gewesen sein. Aber warum plötzlich völlig verändert? Was ging hier vor?

Nils schob den Schlafsack weg. Saß im Schneidersitz. Lehnte am Holzhaufen. Sah Julians Körper mit fremdem Gesicht. Er blieb ruhig. Wartete ab.

Nichts geschah.

Julian blickte zu Nils. Er sagte: “Morgen Nils! Na gut geschlafen? Erholt von den Anstrengungen gestern Abend?”

Nils blieb sitzen. Fragte:

“Wer bist du? Warum hast du die Klamotten und den Körper von Julian? Warum sprichst du mit seiner Stimme? Was soll dieses Theater? Ich bin gestorben im Auto von Rolf. Wo komme ich hin? In die Hölle?”

Und zu sich selbst sprach Nils:

“Ich glaub das einfach nicht!”

“Ich auch nicht”, erwiderte Julian.

“Warum sprichst du mit der Stimme von Julian?”

Julian antwortete darauf nicht. Er fragte mit der Stimme von Julian: “Du glaubst, du bist tot?”

“Ja. Ein schwerer Autounfall. Mit Rolfs Schrottmühle. Ob die auch tot sind weiß ich nicht. Ich glaube Harry ist auch umgekommen. Wo ist er? Ist er hier?”

Julian: “Nein, den kenne ich nicht. Und du bist auch nicht tot. Ich bin Julian. Ich sehe nur anders aus. Ich war maskiert. Du hast einen Schock gehabt, gestern Abend. Bist eingeschlafen, als ich meine Maske abnahm.”

“Aber ich hab den Unfall gesehen, im Auto. Es hat gekracht und Scherben flogen. Harry hat geblutet, auch Rolf und Moritz.”

“Aber du lebst. Ganz sicher! Ich bin Julian, ich weiß es.”

“Wie soll ich mir das erklären?”, fragte Nils.

“Erinner dich doch! Ich hab’s dir erklärt. Ich bin Maskierungskünstler. Ich verkleide mich und maskiere mich. Meine Stimme hat verschiedene Klänge. Ich bin eine Art Schauspieler!”

Nils rieb sich den Schlaf aus den Augen. Aufmerksam beobachtete er den “neuen” Julian.

“Du warst gestern einfach total überrascht. Total verunsichert. Du konntest nicht glauben, was geschah. Du hast einfach nicht damit gerechnet. Da bist du in eine Art Ohnmacht gefallen und eingeschlafen! Du bist nicht tot! Soll ich dir beweisen, dass du nicht tot bist?”

“Wie willst du das machen?”

“Na ganz einfach: Ich hau dir mit der Hand ins Gesicht. Zwicke dich ein paar Mal, brülle dir laut ins Ohr, gebe dir danach was zu essen und zu trinken. Du darfst an Schafkacke schnuppern. Dann überlege ich, was mir sonst noch so einfällt! Du wirst schon merken, dass du alle deine menschlichen Sinne noch beieinander hast. Das sollte dir Beweis genug sein.”

Darauf antwortete Nils: “Das kannst du dir sparen! Ich versuche, dir zu glauben. Jetzt erzähl mir mal, was gestern geschah. Habe ich geträumt?”

“Nichts davon war ein Traum”.

Julian erzählte alles ganz ruhig. Er wollte Nils nicht weiter beunruhigen. Nils musste sich an den neuen Anblick gewöhnen. Nils verstand, dass die Situation am Abend einfach ungewöhnlich war. So ungewöhnlich, dass sein Körper nicht mehr mitmachte. Sein Zusammenbruch, eine Schutzreaktion.

Er glaubte Julian alles. Der erklärte glaubhaft. Er nahm Nils die Verunsicherung. Versicherte, alles ging mit rechten Dingen zu. Nils musste glauben. Es ging nicht anders.

Trotzdem blieb Nils ein wenig unsicher, ein bißchen verunsichert. Sein Glaube an die Welt in der Natur der Berge, dem Leben dieses Schäfers war erschüttert. Seine traumhafte, verträumte, einfach träumerische Vorstellung von dieser Idylle, die er ein Stück mit erlebte, war zerbrochen. Auch hier stieß er auf Unsicherheit, auf sichtbares, das verwirrte. Es war nicht das künstliche, das bewegte, computersimulierte, virtuelle Leben der Stadt, das er als Angabe erkennen musste. Er musste es mitten in der gebirgigen Pampas erkennen. Mitten in der Natur, stieß er auf menschliches Suchen und herumirren. Auf einen neugierigen Menschen, der wie er, schaute, sich suchend umblickte, zweifelte, an sich selbst, und den Dingen die er wahrnahm.

Julian der Schäfer, der Naturverbundene, genauso suchend, wie Nils, der Städter, der an Lärm und an Abgase gewohnte, der beurteilte und verurteilende, der Wissen fressende und ausspuckende? Warum verließ Julian seine Haut? Warum maskierte er sich?

Suchte auch er? Wollte er jemand anderer sein? Litt er unter seinem Schäfersein?

Das Thema beschäftigte die beiden. Sie trieben die Schafe, saßen am Feuer und auf der Bank vor der Hütte, suchten nach Beeren im Wald. Dabei sprachen sie.

Julian wollte wissen, wie man anders lebt. Nils wollte das gleiche. Das wussten beide.

Julian übte Nils

Am dritten September standen Julian und Nils am Salzburger Bahnhof. Sie kauften eine Fahrkarte nach München. Gemeinsam standen sie am Zug. Etwas verkrampft. Letzte Überlegungen.

Welche Informationen vergaßen sie? Welche Instruktionen fehlten, waren in letzter Minute für Julian noch wichtig?

Außer wildem Herzklopfen und nervösem Auf- und Ablaufen am Bahnsteig kam nichts heraus. Trotzdem warteten sie gemeinsam auf Julians Zug nach München. Die Ferien waren noch nicht ganz vorüber. Es blieb noch eine Woche Zeit. Es wäre Zeit gewesen, noch einmal gemeinsam zurück zur Schäferhütte zu gehen. Man hätte die Abfahrt verschoben, wären Zweifel entstanden. Notfalls hätte man das Ganze aufgegeben.

 

War es nicht von vorn herein ein Wahnsinn? Eine verrückte Idee? Ein verrückter Film? Zwei orientierungslose Spinner? Die der Zufall zusammen brachte? Außerplanmäßig. Die zufällig zum gleichen Zeitpunkt die gleiche Identitätskrise durchlebten? Eine alte Idee in einem ganz miesen Film?

Darüber sprachen beide tagelang. Ihr Training unterbrachen sie immer wieder, wegen solcher Zweifel.

Durften sie ihr Vorhaben als Spiel sehen? Oder war es Ernst? Etwas, womit niemals gespielt werden darf? So wie Eltern dem Kind sagen: “Spiel nicht mit deinem Essen! Andere Kinder müssen hungern!”

“Spielt nicht mit eurem Leben! Was soll die Spinnerei?”

Solche Eltern waren nicht da. Julian und Nils reizte die Idee. Sie sahen es als Spiel. Warum nicht? Sie tauschten ihre Rollen, weil es möglich war. Julian konnte sich perfekt maskieren. Einmalig. Eine einmalige Gelegenheit im Leben. Warum sie nicht nutzen? Für einen befristeten Zeitraum. Sie vereinbarten drei Monate. Etwa bis Weihnachten. Zu den Weihnachtsferien sollte Julian zurück kommen. Genug Zeit, Nils Leben kennen zu lernen. Für Nils genug Zeit, Julians Leben kennen zu lernen.

 

Gemeinsam waren beide drei Wochen lang, nahezu täglich, in verschiedenen Orten im Tal unterwegs. Training für Julian. Er sollte das hektische Leben in größeren Orten, Städten kennen lernen. Assya hütete die Schafe. Täglich kehrten beide zurück, in der Dunkelheit.

Die Orte, die sie als “maskierte Touristen” besuchten, lagen wegen des Zeitmangels nicht weit vom Heimatgebirge Julians. Nils trug eine Maske, die das Gesicht des sechzigjährigen Schäfers Julian, wie er ihn ursprünglich kennenlernte, darstellte. Dazu dessen Schäferbekleidung. Julian war Nils. Trug dessen Kleidung. Trug dessen Gesicht. Sprach dessen Sprache.

Das Training in den Dörfern im Tal war notwendig. Julian brauchte Gelegenheit zu erproben wie es ihm in der “Haut von Nils” in belebten Ortschaften ging. Er wollte spüren, wie es in München sein werde. Nils Gesicht war kein Problem. Nicht die Sprache, nicht die Gestik, nicht die Mimik, nicht das typische Nilslächeln. Julian war geübt. Nils musste viel mehr üben.

Anstrengend war der Verkehr, der Lärm, der Gestank in den Orten. Nach Ablauf der ersten drei Tage quälte sich Julian mit starken Kopfschmerzen.

 

Nils sollte sich wie ein Sechzigjähriger verhalten. Das gab viel mehr Probleme. Und: es war schlecht durchdacht. Warum der Sechzigjährige? Warum nicht der vierundzwanzigjährige Julian? Gleich am ersten Tag erregte Nils Aufmerksamkeit.

Ein Gendarm am Busbahnhof. Nils und Julian verpassten ihren Bus zurück nach Hinweiler. Nils vergaß sein Alter. Rannte los. Seinen Stock unterm Arm. Julian griff nach seiner Hand, wollte ihn bremsen. Zu spät. Nils fetzte davon. Der Busfahrer gab Gas. Nils sportlich rennend, winkte mit dem Stock.

Plötzlich spürte er die beobachtenden Blicke. Ungläubige, überraschte Blicke der wartenden Menschen am Bahnhof. Wie konnte der graubärtige Opa noch so schnell losfetzen? Warum plötzlich der Stock unterm Arm? Vorher darauf gestützt. Fußkrank. Jetzt rennend, mit dem Stock winkend. Ein Greis? Reine Angabe! Maskerade! Der Junge und der Alte ein flüchtendes Gaunerduo?

Die Szene: absolut unglaubwürdig.

Deshalb musste Nils stürzen. Ein Greis, der sich überschätzte. Glaubte er könne noch, doch konnte nicht mehr. Seine alten Knochen ließ er auf den schwarzen Asphalt fallen. Stützte sich freilich ab, wie es ein Greis vielleicht nicht getan hätte. Das wusste Nils nicht. Wollte sich nicht verletzen. Nils war verunsichert. Merkte jetzt erst, dass es schwachsinnig war, den Sechzigjährigen zu spielen. Er wollte doch Julian sein! Der war in seinen Augen immer noch ein Sechzigjähriger! Nur weil er ihn so kennenlernte! Die perfekte Täuschung.

Wie bewegt sich ein Sechzigjähriger in der Öffentlichkeit? Er lag auf dem Asphalt, blickte nach oben. Das Interesse der Beobachtenden nahm zu. Keiner bot Hilfe an. Der Polizist eilte heran. Natürlich war auch Julian, der Enkel, zur Stelle.

“Hast du dich verletzt Opa? Tut das sehr weh?”

“Nein, ich glaube es geht. Nur eine leichte Prellung.”

“Ich helfe dir auf. Gib mir deinen Arm.”

Der Bus stoppte nicht. Der Lenker hatte Vorschriften. Klar. Was Nils wollte, war ausgeschlossen. Die Vorschriften verbaten es. Verspätetes Zusteigen nicht gestattet. Zu gefährlich. Ein Unfall möglich. Nicht versichert. Deshalb die Vorschrift auf deren Missachtung Nils hoffte. Nils Rennen deshalb unangebracht. Grundsätzlich. Nicht nur als Greis. Niemand durfte erwarten, dass ein Busfahrer stoppte. Ein Fahrgast hat pünktlich zu sein. Ein Bus fuhr pünktlich, alle zwei Stunden.

Sofort standen mehrere Menschen um den liegenden Greis. Interesse. Kein Angebot. Der Polizist wollte helfen. Dienstlich. Eine Amtsfigur in der Öffentlichkeit. Vorbildliches Verhalten.

Der Enkel winkte ab. Dankte. Der Opa dankte. Gestützt von Julian erhob er sich. Der Enkel tastete die alten Knochen des Großvaters ab. Der Großvater war unverletzt. Kein Problem. Nichts geschehen. Der Sturz hätte schlimmer enden können. Der Opa stand, lief langsam wieder. Die Aufmerksamkeit der Umstehenden schwand. Der Polizist verabschiedete sich freundlich.

Der Großvater wieder auf dem Stock gestützt. Fester Fuß auf dem Asphalt. Langsam gingen beide. Setzten sich in ein Café und warteten.

Danach erst war klar: Nils wollte nicht den Opa spielen, er wollte Julian spielen. Doch in seinem Kopf blieb Julian ein Opa.

 

Wegen solcher und ähnlicher Situationen ließen sich beide nicht von ihrer Idee abbringen. Ihre Rollen miteinander zu tauschen war schwer. Das musste so ein. Klar. Wem es schwer fällt, die eigene Rolle zu spielen, fällt es doppelt schwer, eine andere ein zu nehmen, dachte Nils.

 

Die Trainingszeit dauerte vier Wochen. Kurz, um das Verhalten und Denken eines anderen zu lernen.

Julian sollte Nils genau kennen lernen. Er musste wissen, wer Nils in seiner Stadt war. Wen er traf, wie er lebte. Wie er war. Was er sagte, wie er es sagte. Wann er lachte, wie er lachte. Wie er ging, wohin er ging.

Viele Menschen. Tausende Situationen. Für Nils war alles möglich. Doch er sah sein Leben trotzdem linear. Fast langweilig.

Es gab welche, die er traf und andere, die er niemals traf. Es gab tausende Widersprüche und eben so viel Klares. Millionen von Schubladen. Große, kleine.

Die Zeit war zu kurz. Nils Worte zu lang. Trotzdem versuchte er es. Beide spielten Theater. Nils erklärte. Sprang auf den Tisch in der Hütte. Hielt eine Rede. Gestikulierte. Saß ruhig. Gab Anweisungen. Dachte nach. War er so? Oder anders?

Jede erdenkliche Situation, auf die Julian treffen könnte, als Nils Scherer. Das ging nicht. Es waren Millionen.

Jetzt waren die Schubladen wichtig. Standardisierung. Was war am ehesten möglich? Wie sollte sich Julian am ehesten verhalten? Welche Situationen waren am wahrscheinlichsten? Nils Scherer standardisierte sich selbst. Das ging nicht. Trotzdem tat er es.

Er tat etwas, dass er hasste: Er packte sein Verhalten, sein Leben in überschaubare Schemen.

Wie ging sein Leben in der Stadt weiter? In den nächsten drei Monaten. Welche Varianten gab es? Welche waren die wahrscheinlichsten? Was war Zufall? Was steuerte er? Berechnende Reflexion. Keine Emotionen. Keine Gefühle. Menschliches Verhalten als Schema F. Überschaubar, gefühllos, gefahrlos, leblos.

Trotzdem ließ sich Nils ein. Es war zu interessant. Wie würde Julian zurecht kommen? Könnte er sein Leben ruinieren? Ja. Nein. Sie beschlossen sich zu vertrauen.

 

Täglich schrieb Julian in der Hütte bei Petroleumbeleuchtung etwa zehn Seiten Text. Nils diktierte. Tausende Worte, die in der Schule vorkamen. Julian schrieb alles auf. Nils erzählte von seinen Freunden, seinen Bekannten in der Stadt. Auf wen würde Julian dort treffen?

Julian lernte Nils Schrift. Lernte seine Unterschrift. Schreibend lernte er Namen und Gesichter. Schreibend sah er mit Nils Augen. Er stellte sich vor, malte sich aus. Sein Handgelenk schmerzte.

Von Nils Konto sollte er Geld abheben.

Täglich stießen sie auf neue Probleme, die sich ergeben konnten. Julian blieb optimistisch. Er wollte unbedingt wissen wie das Leben in der Stadt war. Er wollte wissen wie die Zivilisation war. Er wollte sehen, erleben, was er im Radio hörte.

Er lernte alles was Nils bat. Er lernte schnell und genau. Nur eines konnte er nicht lernen: seine Augen waren dunkelbraun. Die von Nils hellbraun. Die Stimme ahmte er perfekt nach. Die Tonlage war unerreichbar.

Julian auf Nils Spuren

Julian saß im Zug nach München. Er fühlte sich gerüstet für Nils Scherers Leben in der Stadt. Und er fühlte sich nicht gerüstet für dieses Leben. Das war Nils.

Die Ausweiskontrolle im Zug. Ein routinierter Beamter. Er blätterte zackig im Ausweis von Nils. Blickte Julian ins Gesicht. Kurz, routiniert. Dienstlich sein Blick. Bewegungslos. Nicht lächelnd, nicht fragend, nichts sagend. Keine Belästigung, keine Störung, überhaupt keine Zweifel. Alles klar, reine Routine. Das musste sein, vorschriftsmäßig. “Vielen Dank. Aufwiedersehen. Gute Reise Herr Scherer.” Keine Fragen. Das Dokument war einwandfrei.

Im Abteil saß eine alte Dame. Mit Lesebrille, graue Haare, Dauerwelle. Hinter einer Tageszeitung. Sie blickte kurz hervor, nickte. Bestätigte Julians Frage. Alles kein Problem. Selbstverständlich darf er sich setzen. Sie verschwand hinter der Zeitung. Ruhe.

Gedämpftes Rattern. Ventilatoren. Die Fenster getönt. Verschlossen. Klimatisierte gedämpfte Atmosphäre. Die grüne Landschaft flog vorbei. Schnell. Kühe, Häuser, Autos, Straßen Bäume. Er fuhr auf einem Strich, den er von oben oft sah. Weit entfernt.

Die zweite Bahnfahrt. Die erste ratterte noch richtig. Sie schepperte, der Wagen schob sich ruckartig über die Weichen. Er und Nils hielten sich fest. Standen im Gang. Blickten in die Abteile. Eine kurze Fahrt. Zehn Minuten. Übungszweck. Wie fuhr man mit der Bahn?

In der Hütte erklärte Nils, wie sich Julian im Zug zu verhalten hatte. Das tat er nun.

Er ging durch den Wagen. Er öffnete die Tür eines Abteils. Ein unauffälliges Abteil. Möglichst eins mit älteren Herrschaften. Frauen, die waren zurückhaltend, verwickelten ihn nicht in Gespräche. Er öffnete. Lachte kurz. Fragte schnell, weiter freundlich lächelnd: “Entschuldigen Sie, darf ich mich setzen?”

Einen Platz in der Ecke. Nicht die Mitte. Den Rucksack nach oben. Über dem gewählten Platz. Keine weiteren Fragen. Nicht die Leute anblicken. Zum Fenster hinaus sehen. Durch Herausziehen der Zeitung, die Julian am Bahnhof erworben hatte, ein Gespräch verhindern.

Julian sprach nicht mit der Dame. Sie las Zeitung.

 

In München am Hauptbahnhof lief er schnell durch die Menge. Der Lärm, die vielen Leute, die vielen Züge, das alles interessierte nicht. Er wusste es. Nils erzählte es. Schnell ging er nach links. Durch die Halle, hinunter ins Untergeschoss.

Wie sahen die Leute ihn an? Fiel er auf? Wie wird ein Mensch von anderen in der Stadt angesehen? Was dachten diese Tausend, die ihn sahen, am Bahnhof? Nichts? An sich selbst? An ihre Jobs, von denen sie gerade nach Hause hektikten? Was für ne Hektik? Das war normal! Alle gingen eilig wie er! Jeder wusste, wo er hin wollte! Es war alles klar! Kein Chaos! Alles ordentlich. Jeder hatte sein Ziel, das er schnell und sicher zu erreichen suchte.

Unten stand er in der Schlange am Schalter. Nils erklärte alles genau. Julian traute sich nicht an den Automaten.

Vor ihm: gefärbte Haare, blond, lang gelockt. Kurze Sommerröcke, bunt geringelte T-Shirts. Männer in Muskel-Shirts, ebenfalls gefärbte Haare, schwarz, blond braun. Ein Rauschen. Nicht wie im Wald. Alles Stimmen. Laut, leise, hoch tief, aufbrausend, gelassen.

“Eine Blaue bitte!” Unter der Glasscheibe schob er den Geldschein durch. “Danke!”

Auf dem Boden am Rand saßen bärtige Menschen mit schwarzen fettigen Haaren, auch grauhaarige, sie rauchten und hatten Flaschen in der Hand. Keine gefärbten Haare, keine Ringel-T-Shirts. Nichts buntes. Sie saßen auf dem Boden. Ihre Kleidung grau und schmutzig. Hüte oder Pappschachteln standen vor ihnen. Sie lehnten am Beton, neben der Bahnhofstoilette. Julian ging vorbei. Blickte nur kurz hinunter. Warf sein Restgeld von der Fahrkarte in eine Schachtel. Der Mann nickte und dankte. Es stank.

Es waren die Armen und Obdachlosen der Stadt. Auch von ihnen erzählte Nils. “Das tägliche Bild. Ganz normal. Du wirst es sehen, wenn du es sehen willst! Willst du es nicht sehen, wirst du es übersehen! Die Armen sitzen und saufen, während die Reichen in ihren offenen Karossen mit Funktelefonen protzen. Schlimm. Aber wo ist da der Unterschied? Keine Angst, die Stadt ist lange noch nicht so schlimm, wie andere Orte auf dieser Welt. Es gibt immer noch schlimmeres! Ganz klar. Eine einfache Logik! In München gibts keine Slums! Darüber freuen sich die Bewohner, wie die Politiker! Was für eine Welt? Mein Welt!”

Die blaue Karte knickte er. Schob sie hinein, wie Nils es sagte. Es klingelte, er zog sie heraus. Ein Stempel war drauf.

Die S-Bahn. Es gab nur eine Rolltreppe. Wie Nils sagte. Hinter ihm eilige Menschen mit Taschen und Aktenkoffern. Schwarze, rote, gelbe grüne. Waren es Hundert? Tausend? Er ließ sie vorbei. Wartete neben der Treppe. Er musste aufspringen. “Schau genau auf die Stufen! Geh drauf. Schieb die Füße genau so hin, dass beide auf einer Stufe stehen. Halt dich am schwarzen Gummigeländer fest, das fährt mit. Schau vor dich, damit du merkst, wann du unten bist. Dann runter steigen.” Julian wollte das tun. Aber er traute sich nicht drauf. Wann sollte er aufspringen? Es kamen zu viele Stufen heraus. Zu schnell.

“Notfalls suchst du einen Aufzug.”

Wo war der? Julian ging und suchte. Entgegenkommende Menschen sahen ihn an. Oder sahen sie an ihm vorbei? Tausend Gesichter, tausend Masken. Unglaublich, aber wahr. Alles unter der Erde. “Die alltägliche Normalität besteht aus Hektik. Die Menschen laufen schnell und sprechen schnell. Wenn sie dich etwas fragen, dann antworte schnell, sonst gehen sie weiter. Sie haben keine Zeit. Das ist sowieso das wichtigste. Zeit. Das teuerste, was es gibt!”

“Die schnelle Hektik ist laut. Menschen reden, plärren fast. An jeder Ecke rattert es und brummt es. Baustellen. Es dröhnt und surrt die ganze Zeit. Autos, Busse, Lastwagen, Straßenbahnen. Am schlimmsten ist es, wenn es regnet. Die Autostraßen sind noch lauter, alles ist dreckig. Pass auf, dass du nicht naß gespritzt wirst.”

Auf dem Bahnhofsvorplatz knatterte und ratterte es. Eine Baustelle. “Vierzig Mark, ungefähr! Vielleicht fünfundvierzig!”, sagte der Taxifahrer. Er sprang aus dem Wagen und öffnete den Kofferraum für einen Mann mit Trenchcoat auf dem Arm und schwarzem Koffer in der Hand. Diesen nahm er, wuchtete ihn in den Kofferraum. Julian stand am Gehsteig, wurde nicht weiter beachtet. “Ja, selbstverständlich, City Hilton!” Er öffnete dem Herrn die Wagentür, zeigte Julian den Rücken. Umrundete die Limousine vorderseitig. Sprang rein und war weg.

Also doch der Aufzug. Wo war er? Auf der anderen Straßenseite, neben dem Postamt, sah er ein kleines Häuschen glänzen. Das könnte er sein. An der Ampel drängten sich die Menschen. Einkaufstüten knisterten und rieben aneinander. Ätzende Abgase lagen in der Luft. Julian atmete nicht mehr voll durch. Atmete anders als in den Bergen. Grün. Die Masse ging los. Schnell. Er eilte mit. Drüben sprang er auf die Seite, eilte in Sicherheit. Trotzdem bekam er ein, zwei Stöße ab. Hielt sich am Geländer hinunter zur U-Bahn. Wurde nicht umgestoßen.

Der Glaskasten war der Aufzug. Viele Leute stiegen aus. Mit vier, fünf anderen schob er sich hinein. Stellte sich neben die Tür.

“Moanst mir kriang des im Hertie?”

“Ja, freilee, wenn need dann foama hoit zum Marienplotz! Do kriang mas sicha!”

“Jetz druck a moi, dass ma obee komma.”

“I hob scho druckt!”

“Jo warum foard a nan need?”

“Wos woas i?”

“Ah so! Jetzad! Sie passens auf! Eana Fuaß is in da Lichtschrankn!”

Der Schnautzbärtige schaute Julian an. Was wollte er? “Wie bitte?”

“Ja woos! Froangs hoit need so deppad! Dans a moi ernan Haxn aus da Tier!” Julian verstand zwar, es ging ihm aber zu schnell. Nochmal fragte er: “Wie bitte?”

Der Schnautzbärtige griff Julian an der Schulter und zerrte ihn zu sich. Mit der rechten Hand zeigte er auf den Boden. Julian sah hinunter.

“Do schauns, jetzt gehts zua! Sie san in da Lichtschranken gstandn!” Der Schnautzbärtige ließ von Julian ab.

“Da hätt ma ja no Stundn gwart! Nur zwengs am soichanen Deppen! Mir hamm unsa Zeit need gstoin!”

Unten stieg Julian aus dem Aufzug. Der Herr und seine Begleiterin eilten schnell davon. Der Aufzug fuhr nicht bis zur S-Bahn runter. Wieder stand er an der Rolltreppe.

Er gab sich einen Ruck, sprang drauf. Hielt sich am schwarzen Gummi fest. Es ging. Von hinten drängte die Masse hinunter. Sie überholten. Er stand falsch. Sie schoben ihn zur Seite. Jetzt stand er richtig. Unten sah er auf seine Füße. Stieg ab, sprang sofort zur Seite. Trotzdem wieder ein Stoß von hinten. Ein Mann, in grellem gelben T-Shirt, sprang in die stehende S-Bahn. Sein Rucksack klemmte in der Tür. Die Tür riss er nochmal auf. “Verdammte Scheiße!” Hörte er von drinnen. Der Mann zerrte den Rucksack durch die Tür.

 

Die Bahn nach Solln war überfüllt. Schwarze, braune, silberne Aktentaschen. Parfüm- und Schweißgeruch. Karierte, weiße, bunte Hemden. Krawatten, Fliegen und Schleifchen. Kurze bunte Röcke. Bunte T-Shirts. Jacken über Schultern auf den Armen. Helle Flanellhosen. Gebügelte Falten. Ausgefranste Jeanshosen. Die Menschen drängten sich dicht an dicht. Man stand wie Sardinen in ihrer Büchse liegen. Haare, Hemden, Jacken, Arme, Nasen, Augen, Rücken, Brillen, T-Shirts, Schultern, Hälse dicht vor den Augen. Kein Entkommen. Leise ratternd durch die Dunkelheit. Neonbeleuchtung. Plötzlich wieder Tageslicht. Eine dreckige Betonmauer flog vorbei. Grausame Hitze. Schweiß lief an den Armen hinunter. Die Beine zitterten leicht.

Ruhe, keine Gespräche. Schweigende, stinkende, aneinandergedrückte Masse. An den Knien: Aktenkoffer, Einkaufstaschen, Rucksäcke, Taschen, Flanellhosen, Jeanshosen, Rockfalten.

Nur Kinder sprachen, sie brüllten laut.

“Du Peter, hast du so gepfurzt? Es stinkt nach einer ganzen Schafherde!” Plärrendes Lachen. Julian sah nur die Brillen und Nasen vor sich. Seine Gesichtsfarbe wurde rot. Die Hitze unerträglich. Niemand sah das Rot unter der Maske. Die Betonmauer war zu Ende. Viele Gleise sah er draußen. Hackerbrücke. “Lassens uns bittschön aussteign!”, wurde von hinten gedrückt. Ein Mann vor Julian riss am Hebel, die Türen öffneten sich. Mit der Masse schob sich Julian durch die Tür. Mit ihr ging er langsam am Bahnsteig entlang. Ein Stoß von hinten. Auf einer Bank ließ er sich nieder.

Die Menge strömte vorbei. Bunt, viel zu bunt. Die Türen schlossen sich. Quetschten die Leute ein. “Verdammter Mist!” An Aktenkoffern wurde gezerrt. Sie klemmten in der Tür. Surrend fuhr die Bahn ab.

Tausend Gleise, dazwischen bunte Werbepklakate. Viel Farbe. Die Plakate zeigten: Frauen in Unterwäsche. Sie rissen ihre Morgenmäntel auf, und standen zu allem bereit. Kein Gesicht, nur Haare. Fliegend. Männer in Unterhosen. Muskulöse Körper, die zerfurcht aussahen. Zerzauste Körper, die glänzten. Was wollten die Nackten auf den Plakaten in der Stadt? Andere Plakate: lachende Menschen mit Zigaretten und Biergläsern. Die Stadt im Hintergrund. Warum lachend? Wer lachte in dieser Stadt? Er sah noch keinen der lachte, außer den Plakaten.

 

Er blieb einfach auf der Bank sitzen. Eine Stunde lang, zwei Stunden. Beobachtete. Nils Rucksack neben sich. Die Bahngleise, Häuser, vorbeifahrende S-Bahnen, Züge. Menschen, eilige Schritte, herumirren auf dem Bahnsteig, in der Stadt. Die Nackten auf den Plakaten standen still. Der aufgerissene Morgenrock viel nicht zu. Die Frau drehte den Kopf nicht, damit man ihr Gesicht sah. Es war unwichtig. Es gab zu viele davon in der Stadt.

Lärm, Knattern, Rattern, Scheppern, Kreischen, Rufen, päng päng päng. Abgase, Autos, dumpfes Grollen der Straße über die Brücke. Donnern, Gas geben rrrrrr. Qualm, rauchende Menschen. Die lachten aber nicht, so wie die auf den Plakaten. Schnell, abgehetzt eilten sie. Ziele, große Ziele lagen vor ihren Augen. Sie mussten zeitig erreicht werden.

“Du nimmst meine Uhr. Vergiss nicht sie auf zu ziehen. Täglich. Sie ist alt, pass auf dass du sie nicht verlierst! Wenn du am Bahnhof bist, stell sie. Sie geht immer nach. Pünktlich musst du sein! Das Wichtigste ist Pünktlichkeit! Um Acht geht die Schule los. Wenn du zu spät bist, gibts Ärger. Mayer der Schulleiter fängt dich am Eingang ab. Er motzt und verteilt Verweise. Das sind Papiere, die schlecht und wichtig sind. Ein Wecker ist in einer meiner Kisten!”

Jetzt viel ihm ein, was er vergaß: “Im Bahnofsuntergeschoss siehst du gleich unten rechts einen Buchladen. Geh rein, kauf einen Stadtplan von München.”

Wie sollte er die Adresse in Solln und überhaupt die ganzen Orte finden, die Nils in München regelmäßig aufsuchte?

 

“Hei Nils, was machst du denn hier, ich denke du hängst unter Griechischen Palmen rum?”, rief eine hohe Stimme in dem Moment als er noch über den Stadtplan nachdachte. Er drehte sich um und setzte, noch bevor er nachzuforschen begann welche der von Nils geschilderten Personen nun vor ihm stand, das lange eingeübte freundliche Nilslächeln auf.

Sofort entfuhr ihm ein: “Aha Hallo!”, und weiter: “du bist es, na wie geht’s?”

Welches exakt richtig war, dann die sofortige Antwort lautete:

“Ja, mir geht’s gut und wie geht’s dir?”

Einen Bruchteil einer Sekunde bevor die Frau dies sagte, wusste Julian, wer es war. Christine. Die Beschreibung von Nils passte nur auf diese Frau. Schlank, ungefähr genauso groß wie er, blonde lange Haare, nach hinten abfallend, vorne Pony, schmales Gesicht, spitze Nase, hübsche dunkelbraune Augen, schmale Lippen, dazu eine hohe Stimme, ein wenig piepsig.

“Mir geht’s soweit ganz gut! Bin nur etwas früher zurückgefahren, als die anderen. Ich war nicht in Griechenland, hatte plötzlich die Schnautze voll. Ich habe einige Bergtouren in Österreich hinter mich gebracht. Super wars!”, antwortete Julian, im eingeübten Tonfall von Nils.

“Na das wundert mich ja nicht, dass du’s mit den Chaoten nicht sehr lange ausgehalten hast!”, zwitscherte Christine und setzte sich neben ihn.

“Wo solls denn hingehen?”

“Ich? Jetzt?”

Christine nickte.

“Ach ich düse nach Soll. Hab da mein Gerümpel in der Garage meiner Kumpels lagern. Weißt schon, bin doch aus der Autobahn-WG ausgezogen. Wegen diesem fertigen Vermieter. Der hat uns wie Weihnachtsgänse ausgenommen.”

“Ach ja, klar ich weiß schon. Und was machste heute in Solln?”, Christine fragte schnell. Zackig wie aus einer Pistole schossen ihre Worte in Julians Gesicht. “Du musst schnell reden und antworten. Immer wissen, was du willst, wohin du willst, was los ist. Für jede Frage eine Antwort parat haben. In der Schule und überhaupt! Antworte schnell, wie aus der Pistole geschossen. Das ist das Leben! Das ist die Stadt. Alles geht ruck zuck!”

Julian stammelte ein wenig verunsichert:

“Ich? Ach so,ja, äh, fahr da eben mal so hin, um nach dem rechten zu sehen. Ob mein Zeug da noch rum liegt und so weiter. Außerdem haben die mir vor den Ferien durch die Blume angeboten, ich könnte dort vorübergehend wohnen. Bis Ferienende zumindest. Die haben ein winziges Gästezimmer. Da wollte ich jetzt mal nachfragen. Vielleicht war das ja ernst gemeint.”

Julian wartete auf den nächsten Pistolenschuss. Er kam nicht. Christine fragte nichts.

Sie schnüffelte an Julian herum. Schnupperte das ausgeleierte T-Shirt von Nils ab.

Jetzt schoss Julian pistolenschnell: “Ich hab die letzten zwei Nächte in den Bergen in einem Schafeunterstand gepennt! Konnte bisher nicht duschen. Bin gerade schon einigen Kids in der S-Bahn grob aufgefallen. Deshalb sitze ich jetzt hier! Ich muss mich etwas lüften!” Nilslächeln.

“Aha, Schaf!” Stöhnte Christine. Sie stöhnte, als habe Julian etwas gesagt, dass sie schon lange wusste. Ein gelangweiltes Stöhnen. “Dacht ich’s mir doch!”

Sie wechselte das Thema: “Willste heute Abend zur Party von Helli kommen? Weist schon Helli Hauch, der spießige Streber, gleich vorne in der Mathestunde. Der immer direkt vor Gepharty unserm Mathenervier sitzt. Helli der Schleimer, weißt schon, kennste doch, den Typen!” Sie meinte ein geplantes Fest bei Helmuth Hauch. Von dem erzählte Nils: “Ein immer perfekt gedresster Juppisohn! In der Mathestunde sitzt er direkt vor dem Lehrer, vorne in der ersten Reihe. Gephart. Dann fließt der Schleim. Der Typ singt mehr, als er spricht. Er schmeichelt sich ein, bezirzt und macht Gephart an. Er hofft auf gute Noten. Dabei helfen ihm die jungen Mädchen. Er versammelt sie um sich, in der ersten Reihe. Sie finden ihn toll. Er hat Geld. Jede Menge.”

Julian wusste, wer gemeint war. Er kannte die Sprache von Christine. Er wusste von ihr, was Nils sagte. Er sprach mit ihr, wie das Nils tat. Sie bemerkte nicht, dass er nicht Nils war. Zumindest sah das so aus.

War die Maskierung perfekt? Die gelungene Täuschung?

Christine deutete keine Zweifel an. Dazu sah und hörte er nichts von ihr. Sie fragte und sprach klar und schnell. Wie Nils es beschrieb. Sie fragte nicht, warum er so komisch aussehe. Sie sagte nicht, dass seine Hände oder Haare anders aussähen. Übersah sie das? Traute sie sich nicht? War sie zu sehr beschäftigt mit sich selbst und mit dem Leben in der Stadt?

Der Rollentausch war gelungen. Julian spürte Triumph. Er hatte es geschafft. Er war nicht nur Maskierungskünstler, der sich irgendwie maskierte. Er war Imitationskünstler! Er imitierte perfekt. Oder nahmen die anderen zu schlecht wahr? Sahen sie schlecht? Hörten sie schlecht? Oder verdrängten sie das Anderssein einfach? Vielleicht war es zu vieles, das man in der Stadt täglich sah. Die vielen Menschen, Autos, Krach und dann auch noch diese Plakate.

Vielleicht war die perfekte Täuschung deshalb einfacher.

“Bin ich überhaupt eingeladen?”

“Ja, ja klar bist du! Logisch. Die halbe Klasse ist eingeladen. Das macht Helli doch immer. Er traut sich gar nicht, bestimmte Leute nicht ein zu laden. Er ist doch reich und weltoffen. Er will seinen Reichtum vorführen. Und dabei ist er spendabel. Brauchst nichts mitbringen! Ralf und Mark kommen auch!”

Also fragte Julian nach der Adresse.

“Ich komme mit ziemlicher Sicherheit. Es sei denn, es kommt irgendwas gröberes dazwischen. Mal schaun!”

Bei Vereinbarungen von Terminen gehörte es zu seinem “Markenzeichen”, sich niemals eindeutig auf eine Sache fest zu legen. “Meine Freunde aus der Schule wissen das. Je weniger eindeutig ich mich festlege, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass ich komme. Wenn ich sage: alles klar! Ich komme ganz bestimmt! Also bis heute Abend! Dann wissen die, die mich kennen, dass es eine sichere Absage ist.”

Christine gehörte zu denjenigen, die ihn genauer kannten. Sie verabschiedete sich. Sie legte ihre Hand kurz auf Julians Schulter, zog sie sofort wieder zurück.

“Also dann tschüsschen bis heute Abend, vielleicht, ich freue mich.” Schon stand sie in der Tür einer S-Bahn.

Julian rief: “Alles klar, schauen wir mal wies läuft!”

Die Tür schloss sich.

Christine fuhr Richtung Innenstadt. Ein kurzes Gespräch. Keine Zeit zu fragen was Christine während der Ferien machte. Nicht gefragt wohin sie gerade unterwegs war. Nicht erfahren, wie es ihr ging. Keine Ahnung was sie wirklich von Helmut Hauch hielt. Keine Ahnung wer für sie Nils Scherer war.

Nils, der mit ihr immer wieder sprach, meist auf Festen und in Kneipen, wusste genauso wenig. Julian war überrascht. Nils sagte: “Das ist eben mal so in der Stadt. Das Leben läuft zu schnell. Zu viele Leute, um sich genauer auf sie ein zu lassen. Sprichst du fünf Minuten mit ihnen, sind sie schon wieder weg. Deshalb fange ich gar kein genaueres Gespräch mehr an. Da verwickelst du dich nur, und zack! Wird es wieder abgebrochen. Das ist das Leben.”

 

Er nahm den Rucksack, stand auf, ging zum Kiosk. Die nächste S-Bahn nach Solln war leerer. Die Berufsverkehrszeit war vorbei. Halb Acht. Er riß an der Tür. Automatisch ging sie auf. Er setzte sich. Sah zum Fenster hinaus. Der Morgenrock der Nackten war immer noch offen, weiß glänzte die Unterwäsche. Das Gesicht drehte sie nicht um. Es blieb unsichtbar. Ihre Haare wehten immer noch.

Häuser flogen. Drähte, viele Drähte. Sie glitten vorbei, auf und ab. Autos und Ampeln. Die Bahn zischte und surrte.

Die Zielhaltestelle fand er. Von dort aus lief er etwa fünfzehn Minuten. Den Weg hatte Nils genau erklärt. Der Stadtplan war unnötig.

Während der S-Bahnfahrt studierte er den Plan genau. Er suchte alle wichtigen Straßen. Die Autobahn-WG, die Schule, die er ab Dienstag zu besuchen hatte. Er wollte dort schon vorher hinfahren, um sich im Schulgebäude zu orientieren. Auch den Bahnhof fand er im Plan. In den nächsten Tagen musste er dort wieder hin. Er brauchte eine neue Monatsfahrkarte.

“Die Probleme wegen der Orientierung in der Stadt sind nicht so schlimm. Ich kenne mich da kaum aus. Bin ja erst seit einem Jahr dort. Wenn du dich verläufst, verfährst oder sonst was, schau auf den Stadtplan. Ich hab immer einen dabei, hab ihn aber verloren. Kauf deshalb einen neuen.”

Julian wartete auf Menschen, die Nils kannten

Julian ließ sich mit seinem Rucksack auf den Treppenstufen des Hauses in Solln nieder. Es glich einer Villa. Die Garage stand offen. Die Kisten von Nils waren noch da. Sauber aufeinander gestapelt, in der Ecke. Der Schreibtisch, sein Stuhl, die verpackte Matratze und die Stehlampe, das Mobiliar von Nils, alles da.

Julian läutete, es war niemand Zuhause. Er saß auf den Treppenstufen. Drehte eine Zigarette aus Gebirgstabak. Den Tabak pulte er aus Nils Tabakdose.

Das Haus: groß, hoch, mit vielen Rundungen und alt. Nils berichtete begeistert von diesem Haus. “Es ist eine alte Villa, voll gediegen! Fünf Studenten wohnen dort. Wohngemeinschaft. Sehr außergewöhnlich. Solche Villen werden nur von den oberen Zehntausend bewohnt. Privilegierte, abgesicherte Leute. Deren Kohle täglich einrollt. Natürlich schuften sie dafür. Sie hetzen sich von Morgens bis Abends ab. Das wirst du sehen. Sie stehen mit ihren Funktelefonen im Verkehrsstau. Alltag. Es gehört zum Leben. Anonym hinter getönten Scheiben. Selten fahren sie auch in der überfüllten S-Bahn.

Es ist gut, wenn sich dort nicht nur die Highsociety breit macht. Die Studenten sind locker drauf. Vielleicht kannst du wirklich dort wohnen.”

In der Schäferhütte spielten Julian und Nils vieles durch. Ein Zusammentreffen mit den Freunden aus der Schule im Café Notfall. Dort musste er sich mit der punkfrisurigen Regine, dem selbstsicheren Mark, dem lässigen Ralf, dem Bassisten Rolf und der hübschen Christine unterhalten. Er musste allgemeine, an die gesamte Runde gerichtete, Floskeln in die Runde werfen und die Reaktionen abwarten. Auf die musste er adäquat reagieren, so wie Nils es zu tun pflegte. Nils spielte jeweils die Rolle der Freunde am Tisch. Er gab Regieanweisungen. Stand auf dem Stuhl oder saß, brüllte oder sprach leise.

Assya hatte an den Theatereinlagen riesige Freude. Sie lag, saß oder stand auf der Eckbank und sah dem bunten Treiben schwanzwedelnd zu.

Je länger Julian die Rolle einübte, desto perfekter wollte er sie beherrschen. Mehr und mehr Details erkannte er. Plötzlich glaubte er, dass er nicht in der Lage war Nils Rolle zu lernen. Er war überzeugt, dass er es aller höchstens ausreichend lernen konnte. Dann sagte Nils:

“Es ist gar nicht erforderlich, dass du mich so genau kennst und nachahmen kannst. Denn wir haben den Vorteil, dass ich in der Stadt in keinen festen Bindungen lebe. Ich habe zwar Freunde, aber keine festen Freunde. Es sind eher lockere Bekanntschaften und man lädt sich hin und wieder unregelmäßig ein. Ich lebe in keiner Partnerschaft. Selbst meine Wohngemeinschaft an der Autobahn habe ich vor den Ferien aufgelöst. Du könntest vielleicht Michael, meinen ehemaligen Mitbewohner mal anrufen, musst es aber nicht tun. Wenn er sich bei dir meldet, oder du ihn zufällig triffst, dann machst du einfach eine lockere Kneipentour mit ihm. Am besten suchst du dir eine Bleibe, in der du allein lebst. Oder eine Wohngemeinschaft mit Leuten, die mich nicht kennen. Du wirst die Leute, die mich etwas besser kennen ja nur in der Schule, auf Festen, im Café Notfall oder zufällig treffen. Zwischendrin gibt’s genügend Zeit, wo du in deiner – eigentlich meiner – neuen Bude sitzt. – Wenn du eine gefunden hast. – Dort kannst du, falls notwendig, in Ruhe dein weiteres Verhalten trainieren und dich auf die nächste Begegnung vorbereiten.”

 

Diese bahnte sich gerade an. Das Gartentor öffnete sich. Auf Julian bewegten sich zwei junge Frauen zu. Eine schwarzhaarig, die andere blond. Beide lächelten. Die ersten Menschen in der Stadt, die lachten. Also gab es das doch! Nicht nur auf den Plakaten. Wer waren sie? Kannten sie Nils? Wohnten sie hier?

Julian stand auf. Er konnte sie keiner Beschreibung von Nils zuordnen.

“Wohnen sie hier?”, fragte die Schwarzhaarige. Sie kam so schnell auf ihn zu, dass sie bereits vor ihm stand. Julian reichte die Hand. Die Schwarzhaarige ergriff sie sofort, schüttelte heftig. Schnell ließ sie sie wieder los, damit die Blonde zugreifen konnte.

“Grüß Gott!, entgegnete Nils, “ich sitze hier und warte.”

“Wir alle sind Wartende und Suchende!”, darauf die Blonde.

Sie trat aus dem Schatten der Schwarzhaarigen hervor. Sie lächelte: “Sicherlich suchen auch Sie!”

Julian verstand nicht ganz.

“Wie bitte, ich suche? Woher wollen sie das wissen? Nein, ich sitze und warte!”

Die Schwarzhaarige stand nun neben der Blonden.

“Na unseren Herrn! Wir suchen ihn alle! Wir können Ihnen bei der Suche helfen!”

Sie sprach beinahe singend, lächelte dabei heiter.

“Welchen Herrn?”

Jetzt kam wieder die Blonde. Sie sang nicht. Sie sprach in einem langweiligen Gebetston.

“Ja, Gott unsern Herrn, der uns alle liebt, mein Sohn!”

Was war das plötzlich? Davon erzählte Nils nichts. Der Sohn! Die Mutter! Nichts erzählte er davon, dass seine Mutter auftauchen werde!

“Äh, Jawohl liebe Mutter. Äh, klar, unseren Gott, ja, ja klar, den kenne ich schon noch. Aber warum willst du jetzt über Gott mit mir reden?”

Warum war Nils Mutter noch so jung? Die war höchstens Fünfundreißig. Warum sprach sie so langweilig monoton? Sie hatte keine Ähnlichkeit mit Nils.

Die Schwarzhaarige:

“Nein, nein, wir wollen sie nicht verwirren! Wir bringen das Heil, die Ruhe, die Ordnung. Gottes Liebe auf Erden wollen wir predigen! Das ist nicht verwirrend, das ist klar! Ruhe und Frieden!”

Und die Blonde: “Nehmen Sie sich Zeit für uns.”

“Warum das “Sie”, Mutter? War das schon immer so?”

Die Blonde: “Sollen wir Du sagen? Wäre ihnen das lieber?”

“Tja, ich weiß nicht, wenn wir uns schon immer Sietzten, sollten wir’s vielleicht so lassen!”

Die Blonde: “Nein, nein, gerne können wir Du sagen. In unserer Gemeinde ist das üblich. Zwar nicht gleich am ersten Tag, aber wenn sie es so wollen, gerne!”

“Was für ein erster Tag?”

“Na, wir sehen uns doch heute den ersten Tag, Bruder!”

“Wieso plötzlich Bruder? Ich dachte Sohn?”

“Welcher Sohn?”, jetzt lachte sie wieder. “Ach so! Ich verstehe, das ist nur unsere Redensart, unsere Worte, wir sind doch alle Schwestern, Brüder und Söhne! Also nehmen sie sich etwas Zeit?”

Julian atmete durch. Das sind nur Worte! Nur Redensart! Ok alles klar Nils Scherer! Er stand auf. Sah kurz auf den Boden. Überlegte.

Zeit, das teuerste, was es gibt? Wenn stimmte, was Nils erklärte, wollten die zwei also gleich das teuerste. Wie kamen die darauf, das zu wollen? Sie konnten nicht wissen, dass er vom teuersten zu viel hatte. Julian war ratlos.

Die Schwarzhaarige, nicht mehr munter singend, sondern im Ton einer heilenden Krankenschwester:

“Dürfen wir uns einen Moment zu Ihnen setzen, mein Sohn?”

Julian nickte.

“Wir wollen mit ihnen über ihren Glauben sprechen.”

Zur Blonden: “Sind sie Nils Mutter?”

“Wer ist Nils?”

“Äh, ja, oha, das bin ich! Klar! Natürlich! Nils Scherer. Grüß Gott!” Er reichte der Dame nochmal die Hand. Sie schüttelte nochmal.

Oh Gott, dachte Julian, meinen Glauben! Was geht die mein Glaube, – im Grunde nicht meiner, sondern der Glaube von Nils – an? Sie ist nicht seine Mutter! Das ist gut, sehr gut. Mit Nils Mutter war nicht zu rechnen, sie lebte weit entfernt. Aber, wer weiß, genau jetzt, wo sie am wenigsten zu brauchen wäre, konnte sie auftauchen. Alles war möglich.

Was sollte das mit dem Glaube? Nils erzählte Julian überhaupt nichts zu diesem Thema.

Was tun in so einer Situation?

“Abblocken! Wenn’s brenzlig wird, haust du die Bremse rein! Zuerst freundlich, sehr freundlich, aber bestimmt. Klappt das nicht, wirst du so sehr eingelullt, vereinnahmt, dass du kein Entkommen mehr siehst: frech werden! Werde motzig, aufdringlich, unangenehm!”

“Es mag sein, dass sie über meinen Glauben sprechen möchten, ich möchte es jedoch nicht!” So rief Julian plötzlich, sprang einige Meter weg, drehte sich um und fixierte die Blonde. Sofort schaltete sich die Schwarzhaarige ein.

“Es ist aber unheimlich wichtig, über den Glauben zu sprechen. Das geht alle etwas an mein Herr! Wir sind offen, ehrlich und kompetent. Sie können mit uns über alles reden, was sie bedrückt.”

Und die Blonde: “Unser Herr ist gütig. Er lässt seine Schafe nicht im Stich!”

Julian überrascht. Trat zwei kurze Schritte näher. Stand vor der Blonden:

“Wieso plötzlich Schafe? Ist er Schäfer? Wie viele Schafe hat er denn?”

Die Schwarzhaarige: “Wir alle sind seine Schäflein. Er meint es gut mit uns, auch wenn wir einmal sündigen. Wir dürfen wieder heimkehren. Er führt uns Heim. Auch sie!”

Julian blickte ungläubig. Dachte kurz über seine Schafe nach.

“Schafe sündigen nicht! Schafe sind gefräßig, sie stinken und ich glaube, sie sind ziemlich dumm. Deshalb muss man immer hinter ihnen her sein, weil sie sonst irgendwo runter stürzen! Das ist das ganz normale Schafsleben! Ich glaube nicht, dass ich ein dummes Schaf bin. Ich glaube nicht, dass ich unseren Gott wegen meiner Schafsblödheit brauche! Menschen: dumm wie Schafe? Nur damit Gott Schäfer sein darf und einen Job hat? Das finde ich unglaubwürdig!”

Die Blonde: “Genau das ist es! Der Herr rettet uns immer wieder!”

“Ja ist er denn wirklich Schäfer?”

Die Schwarzhaarige: “Das kann man so sagen! Er sorgt sich um uns, wie der Schäfer sich um seine Schafe sorgt!”

“Aha, sehr gut, zwar vielleicht ein wenig dumm, aber echt gut!”, sagte Julian. Er trat wieder zurück.

Die Schafe lenkten ihn ab. Was sollte er jetzt tun?

Er sagte einfach:

“Ich will nicht über Schafe reden, auch nicht über den Schäfer, da kenn ich mich genügend aus! Bitte gehen sie!”

Die Blonde: “Aber darüber kann man nie genug sprechen!”

“Ja, aber nicht in der Stadt, wo es keine Schafe gibt und nicht mit mir. Bitte gehen sie jetzt.”

Die Blonde: “Dürfen wir ihnen unsere Karte da lassen?”

“Was für ne Karte?”

Die Blonde gab ihm ein kleines Stück weißes Papier. Darauf stand: “Die Zwölf Apostel” Telefonnummer und Adresse. Julian schüttelte die Hände. Beide verließen das Grundstück.

Er atmete tief durch. Was es alles gab! Der Herr ein Schäfer? Warum hat er in der Schule davon nichts gehört? Geschlafen? Er nahm einen kleinen Schluck aus der Schnapsflasche. Wahrscheinlich ist es in der Stadt völlig normal, dass man von solchen Leuten angesprochen wird. Nils musste diesen Punkt einfach vergessen haben.

Julian traf Menschen, die Nils kannten

Kaum war die Schnapsflasche weggesteckt und die Zigarette im Mund, erschien erneut jemand am Gartentor. Ein junger Mann, etwa in Julians Alter. Der kam auf das Tor zu, öffnete es und klimperte mit einem Schlüssel herum. Das musste ein Bewohner sein.

“Hallo Nils, na wie war’s so bei den Griechen? Hat der Uzo gemundet?”

Christoph der Biologiestudent. Blond, klein, wenige gekräuselte Haare auf dem Kopf. Blasses, breites, rundes Gesicht. Dicke Hände, fette Finger. “Er nimmt sein Studium sehr ernst. Es ist für ihn das Wichtigste. Interessiert sich sonst für kaum was. Ist ein bisschen von oben herab, weißt schon…”

“Ja, äh, ich war eigentlich gar nicht bei den Griechen”, erwiderte Julian und folgte Christoph. Der drückte ihm im Vorbeigehen schnell die Hand.

“Ich habe mich spontan von meinen Schulfreunden auf der Autobahn getrennt und bin einige Wochen im Österreichischen Gebirge unterwegs gewesen.”

“Da haste Dir ja ‘ne ordentliche Gesichtsbräune und einen deftigen Körpergeruch zugelegt! Wir haben für dich das Gästezimmer für zwei Wochen frei geräumt. Duschen kannste auch gleich oben. Kennst dich ja aus”, meinte Christoph darauf.

Julian bedankte sich. Ein freundliches Nieslslächeln. Gleich rechts fand er die Treppe. Die schritt er selbstsicher aber langsam hinauf. Dieses Treppenhaus gab es in seinem Kopf. Nils beschrieb es genau.

Julian wusste, wo das Gästezimmer war. Zweiter Stock rechts. Julian wusste, wer in welchem Zimmer wohnte. Die Namen der Bewohner kannte er. Deren gröbste Eigenarten auch. So wie sie Nils sah. Die Raumaufteilung des Gebäudes lag in seinem Kopf. Jetzt sah er sie wirklich.

Das sah völlig anders aus. Die Teppiche auf der Treppe waren zwar tatsächlich samtrot, aber darüber lag ein scheußlicher grauer Läufer. Der machte das schöne Samtrot zunichte. Die Räume waren viel höher als er es sich vorstellte. Zu lange lebte er in seiner niedrigen Schäferhütte.

Von unten rief Christoph: “Ich hab leider keine Zeit. muss an meiner Magisterarbeit brüten. Kennst dich ja aus. Bis später!”

Christoph riß die Kellertür auf. Seine Schlappen knallten auf die Steintreppe. Er rannte eilig runter in sein Zimmer.

In Ruhe sah sich Julian alles genau an. Die weißen Türen, die roten Teppiche. Schnell schlich er nochmal runter. Suchte die Küche, das Gemeinschaftszimmer. Er musste sich selbstsicher in den Räumen bewegen. Schließlich kannte Nils das Haus schon lange.

Im zweiten Stock öffnete er die rechte Tür. Tatsächlich das winzige Gästezimmer mit Dachschrägen über dem Bett.

Gegenüber fand er das Bad. Das andere Zimmer, zwischen Gästezimmer und Bad, war das von Regine, der Philosophiestudentin. Er kannte sie bereits, bevor er sie je sah.

Unglaublich, wie er schon über die Leute dachte, noch bevor er sie kennenlernte. War Christoph wirklich nur an seinem Studium interessiert? Was war das für ein Bild, das Nils von den Leuten gab? Subjektiv. Ganz klar.

Den Rucksack stellte er auf den Boden im Zimmer. Erleichtert ließ er sich auf dem Schreibtischstuhl nieder.

Er durfte in diesem Zimmer keinesfalls rauchen. Hier übernachtete der Hausbesitzer. Der kam regelmäßig zu Besuch. Mit dem wollte sich Nils nichts verscherzen. Die Bewohner hatten den überredet, sein Zimmer zu vermieten. Für ein bis zwei Wochen.

 

Wochen vor den Sommerferien lernte Nils den Hausbesitzer zufällig kennen. An einer Straßenkreuzung. Ecke Wolfratshauser-/Herterichstraße. Es war die Transportfahrt seiner Kisten in Rolfs VW-Bus. Der Vermieter stand neben einer dunklen Limousine auf dem Gehsteig. Eine Panne. Langsam näherten sich Rolf und Nils der Kreuzung. Genau als sie neben dem Vermieter standen schaltete die Ampel auf Rot. Nils kurbelte die Scheibe runter. Frech fragte er:

“Na was gibt’s werter Herr?”

“Tja, eine Panne. Ein platter Reifen. Leider!”

Zu Rolf flüsterte er:

“Der Knacker hat ne Panne! Solle ma helfe?” Dummes Nilslachen.

Rolf: “Keine Zeit, zu viel Stress, das Übliche eben in der Stadt!”

Darauf Nils zum Fenster raus, zum Vermieter: “Sollen wir ihnen helfen werter Herr?”

“Sehr gerne, ich habe rechts vorne einen Platten. Ich finde meinen Wagenheber nicht. Radkreuz finde ich auch keines!”

Rolf brummte Nils an: “Was soll der Scheiß Mann?”

Grün. Hupen von hinten. Rolf fuhr langsam an und lenkte den Wagen vor die Limousine auf den Gehsteig.

Nils, ironisch lachend: “Brav, sehr gutmütig Rolfi! Man soll sich nicht hetzen lassen. Gerade wenn man noch so jung ist wie wir. Wir haben die Hilfsbereitschaft nämlich mit Löffeln gefressen. Gell?” Breites Nilslachen.

Rolf nur noch abgeschwächt brummend, leicht ironisch: “Samariter sind wir scho, klar! Wir hamm kein Geld und brauchens auch nicht! Klar! Wir sind jung und leben von unserer Hilfsbereitschaft! Danach stecken wir unsere Hände wieder in den Mund. Davon leben wir!” Er schlug Nils auf die Schulter, lachte und stieg aus. Unter dem Sitz zog er Wagenheber und Radkreuz hervor.

Beide wechselten den Reifen, während der Herr zu sah:

“Sowas hab ich noch nie gemacht! Toll, wie sie das können!”

Rolf brummte und schraubte: “Ja, ja, der rotzigen, frechen Jugend geht’s zu gut. Die hat zuviel Zeit, gell?”

Nils wuchtete den Reifen aus dem Kofferraum. Kräftig trampelten beide auf dem Radkreuz herum. Nach einer knappen halben Stunde war das Ersatzrad montiert und die Pfoten verdreckt. Keiner der beiden steckte die in den Mund. Stattdessen gab es großzügig hundert Mark. Nils lachte, Rolf brummte.

Sie fuhren weiter. Der Pannenwagen steuerte ihr Ziel an. Vor der Garage begrüßten sie den Vermieter erneut. Stellten sich vor.

Dieser Mensch, so warnte Nils in der Schäferhütte, ist strikter Nichtraucher.

 

Julian saß in der Wanne und schrubbte. Ausgiebig. Viel Schmutz floß ab. Die Seife schäumte kräftig. Die Haare wusch er vorsichtig. Sie waren kurz. Geschoren, wie die von Nils. Die letzte Tat in der Hütte. Die Frisuren mussten übereinstimmen. Nils schnippelte stundenlang. An dem Haarschnitt durfte nichts schief gehen. Die Frisuren sollten annähernd identisch sein. Das schwierigste: die Farbe. Julian mixte eigenartiges Zeug zusammen. Alles aus dem Wald. Das kochte er kurz auf, mixte dann nochmal. Die Färbung fand er gut. Annähernd die gleiche Farbe.

Die Farbe hält lange, lässt sich nicht raus waschen. Über die Gesichtsmaske durfte nicht zu viel Wasser strömen. Julian übte den Umgang mit dem Duschkopf. Nach der Dusche fühlte er sich wie neu geboren.

Er duschte das letzte Mal in der Nacht, vor über einem Jahr, nachdem er den toten Vater den Berg hinunter geschleppt hatte. Das war im Hotel zur Post im Tal. Er musste eine Übernachtung einlegen, um Tags darauf die notwendigen Formalitäten wegen der Urnenbeisetzung zu erledigen.

In der Schäferhütte badete er wöchentlich. Ein besonderer Akt. Er nannte ihn “Staatsakt”. Wenn er zu Assya sagte: “heute Abend ist wieder ein ausgiebiger Staatsakt fällig”, so begann die Hündin freudig mit dem Schwanz zu wedeln. Sie wusste, dass auch sie, nachdem ihr Herrchen in der Mitte der Hütte im dampfenden Trog gebadet hatte, hineinspringen durfte. Assya badete, für Hundeverhältnisse außergewöhnlich gerne. Der Staatsakt war die Abwechslung der Woche. Zehn große Blechtöpfe Wasser mussten auf dem schweren Holzofen erhitzt werden. Das dauerte eine knappe Stunde.

Die Seife machte er nach altem Rezept des Großvaters. Baumrinden, verschiedene Harze. Er zog einen Stöpsel und das Wasser strömte nach unten ab. Ein Loch im Trog- und Hüttenboden. Darunter eine alte Dachrinne. Der Vater erstand sie vor Jahren im Dorf von einem Bauarbeiter im Tausch gegen ein Schaffell.

 

Die feuchten Haare kämmte er vor dem Spiegel. Das Gesicht rieb er ein. Das musste sein. Es löste sich sonst zu schnell auf. Die Creme roch nach Schafsfett. Leider. Das ließ sich nicht vermeiden. Trotzdem musste sich der Schafsgeruch gemildert haben, wegen dem Bad.

Julian ging die Treppe runter, wollte zur Garage. Christoph hielt Julian im Treppenhaus auf:

“Willst du ‘nen Happen mit essen? Es gibt klassisches Studentenfutter! Spaghetti al Olio, das Spargericht des Hauses! Dazu billigstes Bier Marke Hornabstoßer!”

Überrascht, diese Einladung von Christoph zu hören, blieb Julian stehen.

“Außerdem könntest du mir noch was von deinem Gebirgsurlaub erzählen!”

Der interessierte sich also doch für mehr als nur sein Studium. Julian: “Danke, gerne, aber nicht heute, hab mich gerade etwas aufgepeppelt wegen einer kleinen Juppiparty, zu der ich heute spontan eingeladen bin. Deshalb muss ich mir noch einige Klamotten aus der Garage holen. Um den Gebirgsgeruch endgültig ab zu legen.”

Christoph: “Aha!” Das war der Tonfall, der sagte, dass man etwas schon lange kennt.

Christoph weiter: “Kaum aus dem Urlaub zurück, schon wieder auf Vergnügungstour! So ist das bei den Schülern. Sie haben noch nichts gescheites gelernt und lassen die Welt unreflektiert an sich vorbei rauschen!”

Was sollte das? Eine Provokation? Der angehende Akademiker?

Julian: “Ok, ok. Mir ist schon klar, dass das Studentendasein sicherlich der stressigste Part im Leben ist! Der unglaubliche Stress, den man als Student hat verbietet einen ausschweifenden Lebensstil. Ganz klar! Urlaub, Feiern und Vergnügen….solche Lächerlichkeiten gewöhnt man sich da ab! Logisch!” Nilslächeln.

Und weiter:

“Als angehender Akademiker muss man gescheit sein. Oder zumindest muss man so wirken! Außerdem muss man die schwierige Kunst des Arrogantseins beherrschen. Dies übt sich am einfachsten an kleinen Leuten. Leuten, denen man überlegen ist. Das glaubt man zumindest. Aber aufgepaßt mein Herr. Manchmal täuscht man sich!” Breites Nilslachen. “In diesem Sinne, viel Spaß noch mit den Spaghetti!” Noch breiteres Nilslachen.

Was hatte er da daher geschwafelt? War das unverschämt? Zuviel? Mist? Er lachte weiter, wie Nils. Auch Christoph lachte. Der sagte nichts. War das die schnelle Pistole von Nils?

In der Garage wühlte er in den Kisten. Sie trugen Nils Handschrift. Inzwischen auch die Handschrift Julians. Er zog die Kiste mit der Aufschrift “Klamotten” heraus, trug sie ins Haus.

Er schleppte sie die Treppe hinauf. Von unten rief Christoph:

“Ich habe mir einmal dein Fahrrad leihen müssen, weil an meinem das Licht defekt ist! Du hast vorne einen Platten. Hast du das gewusst?”

Julian, der nicht einmal wusste, dass Nils in der Garage auch ein Fahrrad abstellte, antwortete:

“Ja, ja, klar, das ist schon seit Wochen platt. Die Luft entweicht, aber ganz langsam. Man muss alle drei, vier Tage pumpen. Ich werde den Mantel mal flicken. Aber sonst läuft’s gut oder?”

“Ja”, sagte Christoph, “etwas rostig und klapprig die Mühle, aber für die zwei Kilometer zur S-Bahn reicht’s leicht.”

“Stellt man keine Ansprüche an den Fahrkomfort, ist es ein super Tourenbike”, sagte Julian.

Er schleppte die Kiste nach oben ins Gästezimmer.

Für den geplanten Besuch der Party von Helmuth Hauch sahen die Klamotten von Nils ungeeignet aus. Ausgeleierte Sweatshirts, grob verwaschene, geflickte Jeanshosen, ausgewaschene alte T-Shirts, leicht durchlöcherte Unterwäsche und schwer durchlöcherte Socken. Das ist also die Ausstattung eines Städters. Alles roch leicht modrig. Es lag schon über einen Monat in der Garage. Zwar war alles sorgfältig in blauen Müllsäcken verpackt, trotzdem kam Feuchtigkeit durch.

Julian zog sich eine verwaschene Jeanshose an, dazu ein hellblaues altes T-Shirt. Das sah noch am besten aus. Andere Leute, so dachte er, zögen es höchstens noch zum Streichen einer Wohnung an. Ein dunkelblaues Sweatshirt nahm er, falls es abends kälter werde. Er legte es über die Schulter. Den Geldbeutel von Nils und dessen Tabakdose stopfte er in die Taschen der verwaschenen, ausgefransten, durchlöcherten Jeansjacke.

Unten fragte er Christoph: “Wo sind eigentlich die anderen alle?”

“Urlaub! Die sind alle in Urlaub und kreuzen irgendwann in den nächsten Wochen wieder auf.”

“Ach ja, klar!” Julian versuchte einen läppischen Tonfall. Auch er wollte einmal ausdrücken, dass er eh alles schon wusste, eh alles klar sei.

Er sagte: “Das stressige Studentenleben, verstehe! Also dann, schönen Abend noch, ich komme sicherlich erst spät wieder. Tschüs!” Christophs Schlappen knallten wieder die Kellertreppe runter. Julian zog die gläserne Haustür zu. Er ging zur S-Bahn.

Julian feierte für Nils

Helmuth Hauch trug ein frisch gebügeltes weißes Stehkragenhemd. Darüber eine hell gestreifte, ebenfalls gebügelte weiße Weste. Eine dunkelgraue, gebügelte, weite Flanellhose. Unten glänzten schwarze, schmale Lackschuhe hervor. Sie waren aus feinem Leder, von einem Muster versehen.

Die linke Hand lag auf dem goldenen Türknauf der Haustür. Eine weiße Kassettentür. Die sah schwer aus, war groß und dick. Die behaarte Hand des Gastgebers schmückte ein Goldkettchen. Das sah schwer aus, es war groß und dick. Es hing herunter. Es hing tief. Auffällig. Sofort sah es Julian, dachte an glänzende Goldberge. Sehr gewichtig.

Die Hand ließ vom Türknauf. Schnell fiel sie hinunter. Neben der Bügelfalte baumelte sie. Die Goldkette, ein riesen Gewicht. Die Fallwirkung unglaublich. Ungebremste Begeisterung nach unten. Julian, der Beobachter: zuerst begeistert, dann von der eigenen Begeisterung erstaunt. Interesse am Kettchen? Oder Interesse an diesem Mann? Julian konnte nicht entscheiden. War die Goldkette etwas besonderes? Oder war es Herr Hauch? Oder beide?

Kurzfristig glaubte Julian, der Mensch, der diese Kette trug, müsse besonders interessant sein. War das das Ziel eines Werbekonzeptes? Hauch der Mann, der von Millionen Plakaten lächelte?

Das leicht rundliche Gesicht fand Julian wenig plakativ. Es erinnerte an eine Tomate. Nichts für Millionen bunter Plakate. Der Duft schon eher. Scharf entwich der dem Gesicht. Gab es riechende Plakate?

Rasierwasser. Julian roch nach Schaf und leicht moderig wegen Nils Scherers Garagenwohnsitz. Alles kein Problem. Hauch und Julian nebeneinander auf einem bunten Plakat. Sie stehen auf einem glänzenden Goldhaufen voll mit Schafen. Der Hintergrund: eine blaue Glasflasche mit Goldrand. Der Geruch war intensiv. Schafsrasierwasser. Der Fotograf fiel in Ohnmacht. Gerüche penetrant wie bunte Plakate. Überall in der Stadt. Darunter der billige Werbespruch: “Sheep for men on earth! Fleecy clouds in the sky!” Der Fotograf erwachte auf dem Rücken liegend und sah die Schäfchenwolken am Himmel ziehen.

 

Julian öffnete das Gartentürchen. Ein weitläufiger, grüner Garten. Bunte Blumen, jede Menge. Auch Rosen. Das Gras geschoren, wie seine Haare. In der Mitte, ein Springbrunnen, weißes, helles Marmor. Daneben ein riesiges Wagenrad. Nicht aus Holz. Aus Marmor. Davor liefen Frauen, auch aus Marmor. Sie trugen Eimer zum Brunnen.

Der aufdringliche Geruch des Rasierwassers lag über dem Garten. Die Augen tränten. Julian ging langsam, sah nach rechts und links. Was war das? Eine Ausstellung? Alles leicht verschwommen. Die Augen tränten. Ordnung und Sauberkeit? Kein einziger Grashalm der Vorgartenwiese lag auf den Marmorfliesen. Die Fliesen glänzten. Julian sah hinauf zum Himmel. Dort hatten sich keine Schäfchenwolken zusammen gebraut.

Kurz vor dem Gastgeber: plötzlich Lärm. Dumpfes Stampfen. Musik drang aus dem Haus. Viele Gäste hatten die Fliesen bereits passiert. Warum waren sie so sauber?

Die Schuhe der Gäste waren sauber. Die meisten stiegen direkt aus ihren Wohnungen in ihre Autos. Und direkt aus den Autos in diese Wohnung. Die Stadt war sauber. Jedenfalls solange es nicht regnete. Und das tat es nicht. Es gab keinen Matsch, wie in Julians Bergen. Weiße Fliesen blieben weiß.

Der Gastgeber streckte den Arm aus. Er lächelte. Das zweite Lächeln, das nicht vom Plakat stammte. Es sah etwas aufgesetzt aus. Versucht freundlich. Helmuth Hauch liebte Nils Scherer nicht. Eindeutig. Das Tomatengesicht sagte es. Sofort. Verzerrt. Es wies ab. Begrüßte trotzdem. Es fragte: Was willst du denn hier? Dabei Händeschütteln.

“Grüß dich Nils, schon von den Griechen zurück?”. Die Worte waren gezwungen. Sie stolperten fast. Der Händedruck war sehr fest. Die Hand war groß. Sie zog. Langsam aber gewaltig. Julian musste ihr folgen. Gewalt zog ihn durch die Tür.

Eile des Gastgebers? Mit der Kettchenhand zog er die schwere Tür hinter Julian zu. Der Gastgeber erwartete keine Antwort. Trotzdem antwortete Julian:

“Bin leider heute erst zurückgekehrt, konnte deshalb nichts mitbringen, weil ich erst kurzfristig erfuhr, dass hier was abgeht”.

Helmuth Hauch sagte nichts. Er schob ihn mit der gleichen Gewalt einfach beiseite. Julian stand im Weg. Der Gastgeber wollte kein Gespräch. Er wollte schnell zurück ins Wohnzimmer. Er ließ Julian stehen. Er ging einen breiten weißen Gang hinunter, ins Wohnzimmer aus dem der Lärm dröhnte.

Das Interesse des Gastgebers an Nils Scherer war beendet. Sehr angenehm die Feste die Nils besuchte. Oder wäre der nie hergekommen?

Julian, vom Verhalten des Gastgebers leicht verunsichert, hängte seine Jacke nicht in die Garderobe. Legte sie lässig über die Schulter. Um wenigstens etwas bei sich zu haben.

 

Gemächlich schritt er auf die Wohnzimmertür zu. Hinter der sah er Helmuth Hauch verschwinden. Laute stampfige Musik. Der Zeitgeist? Die Generation? Sicherlich. Er kannte das aus seinem Radio. Da war von den “lärmenden Jugendlichen” die Rede. Die Jugend, zu laut, zu anspruchsvoll. Einfach verzogen. Zigarettenbürschl. Zu viel Geld.

Die Tür ging kurz auf.

Dumpfes stampfen. Schnell. Laut. Düstere Rauchschwaden. Bunte Mädchen hüpften durch den Raum. Leicht bekleidet. Sie rissen die Arme in die Höhe. Hoppelten auf und ab. Sie warfen sich den stehenden, wippenden, hübschen Jünglingen um den Hals. Zogen sie tänzelnd durch den Raum. Sie drehten sich schnell, sprangen, gingen in die Knie. Sie warfen sich an die Jünglinge und küssten. Dann schwebten sie. Der Stampfbeat ebbte ab. Getragen schleppte er sich durch die Rauchschwaden. Die Jünglinge tapsten schüchtern. Die jungen Mädchen ergriffen Hände. Legten sie sich um die Schultern und Hälse. Sie traten eng heran. Schmiegten sich an. Getragen bewegten sich bunte Paare aneinandergepresst durch die Rauchschwaden. Plötzlich Ruhe. Man ließ von einander. Ein dumpfes Grollen. Es rollte. Schneller und schneller. Es schlug, das Grollen bildete jetzt einen Hintergrund. Langatmiger hochtoniger Singsang. Jetzt sprangen die Mädchen wieder. Hoppelten erneut auf die Jünglinge zu. Zerrten sie kurz an sich, warfen sie wieder von sich. Die Küsse, sehr kurz, sehr schnell. Kräftig. Die Tür viel wieder zu.

Die Mädchen waren in glitzernden und bunten Farben gedresst. Bunt wie die Plakate. Schwungvolle Bewegungen vermischten die Farben. Begeisterung. Er hörte Lachen und Schreien. Freude. War die von den Plakaten geklaut? Gibt es lärmende Plakate?

 

Julian wollte nicht in dieses Zimmer. Das Treiben war ihm zu bunt. Zu laut. Ausgelassene Mädchen, das kannte er nicht. Hatte er Angst vor dem Unbekannten? Wäre Nils da gleich vor gestürmt?

Julian fühlte sich unsicher. Er suchte nach was, woran er sich festhalten konnte. Ein Bierglas!

Links von ihm glänzte eine weiße Tür. Sie sah schwer aus. Er nahm sie. Er stand in der Küche. Riesige Fenster, hell beleuchtet, hoch, weiß. Unbekannte Gestalten am Küchentisch. Gläser, Geschirr, Besteck, Tabletts mit Kuchen, Wurst, Käse. Alles verteilt links und rechts auf den Ablagen. Zigarettenqualm, Rauchschwaden auch hier. Gespräche, die abrupt endeten. Er sagte: “Hi Leute!” Keiner passte zu einer Beschreibung von Nils. Hinter dem Tisch erkannte er das braune Fass. Ging links vorbei, griff mit der Linken ein Glas, schob es unter den Zapfhahn und ließ es laufen.

Einige der Unbekannten grüßten zurück “hi!”, ihre Gespräche gingen weiter.

“Gestern hab ich sie montiert, Alu, sechshundert das Stück.”

“Wahnsinn, so günstig? Die für meinen 323er hamm achthundert gekostet!”, sagte ein beleibter Blonder. Sein Arm lag auf dem Faß, weiß, die Hand hing vorn runter, ein Goldkettchen. Dünner, leichter als das des Gastgebers.

“Und wie laufen sie?”

Ein Schwarzgelockter, er lehnte auf einem Küchenstuhl, ein Knie angewinkelt, aufs andere gelegt: “Super! Kaum wieder zu erkennen der Wagen! Mit hundertvierzig liegst du super in jeder Kurve!”

“Is ja echt geil Mann! Meiner zieht mit hundert schon leicht raus!”

“Kannst mal ne Runde drehn, wenn du willst! Kommt echt turbo!”

 

Niemand kannte Nils. Das Bierglas stellte er auf die Ablage, neben eine Batterie von Gläsern. Er zog seinen Tabak raus. Er wollte eine Zigarette haben. Er hoffte sich dann sicherer zu fühlen. Qualmend mit Bierglas Richtung Wohnzimmer, das sah gut aus. Nicht so nackt. Nicht so unsicher. Nicht so verloren. Lockerer.

Er sah auf den Tisch. Dort lagen goldene und weiße Zigarettenschachteln. Kein Tabak. Beim Drehen erntete er Blicke. Saubere Gesichter. Ordentlich frisierte Haare. Schwarz glänzend. Naß? Glatte Haut. Bübchengesichter, sehr gepflegt.

Die Gesichter sahen: seine Tat verachtend, völlig daneben, bist du Kiffer? Was drehst’n da Mann? Was soll das krümelige Gekurbele und Gekrame in der Tabaksdose? Wohl’n verkappter acht’nsechzger oder was?

Julians Gesicht unsichtbar rot. Schob die Dose in die ausgefranste Jacke zurück. Die Zigarette in den Mund. Mit Bierglas zum Tisch. Stand neben einem im weißen Hemd ohne Kragen. Aus dem ragte ein feines blasses Gesicht, leicht gepeelt, mit kurzer geröteter Nase. Die schwarzen Haare vielen feinstähnig, geelglänzend herab.

“Kann ich mal den Goldhaufen?”, Julian deutete neben eine weiße lange Zigarettenschachtel. Da lag ein goldenes Feuerzeug. Der Blasse blickte unverständig. “Darf ich mir mal eine zünden?”, fragte Julian weiter. Der Blasse verstand nichts. Julian griff zu, zündete und legte wieder hin. Dann verließ er die Küche mit seinem Glas. In der Küche saßen keine Freunde von Nils, das war klar. Sie verstanden ihn nicht.

 

Mit dem gefüllten Bierglas bewegte er sich langsam den Gang hinunter. Einen Schluck nahm er. Bis zum Wohnzimmer nur noch wenige Meter. Aus dem Raum schepperte und krachte es. Kein dumpfes Grollen mehr. Vielen hinter der Tür jetzt die Mädchen erschöpft scheppernd zu Boden? Oder brachen die Jünglinge vor ihnen laut knallend zusammen? Vielleicht ging der ein oder andere in die Luft? Darum die dichten Rauchschwaden.

Julian lächelte. Er dachte das, um sich zu vergnügen, seine Unsicherheit zu verschieben. Die Zigarette qualmte. Die Schritte wurden langsamer. War noch kein Freund von Nils da? Wo blieben die?

Genau jetzt, als er das dachte, öffnete sich zufällig die rechte weiße Kassettentür. Er stand gerade neben ihr. Er über sah sie fast.

Heraus kam: die Rettung der Situation.

Sie rettete ihn aus seiner Verunsicherung. Sie verhinderte, dass er ins Wohnzimmer musste. Er musste sich nicht durch die hoppelnden Mädchen und hübschen weißen Jünglinge schieben. musste nicht dichte Rauchschwaden durchblicken, suchend nach bekannten Gesichtern, die Nils beschrieb. Dem Gastgeber musste er nicht noch einmal begegnen. Es war Christine.

“Hallo Nils!”, kreischte sie laut, denn das laute Dumpfe war wieder da. Qualmende Kippe in der Rechten, leeres Bierglas in der Linken.

Leiser, weil dichter an seinem linken Ohr: “Auch schon eingetrudelt?” Sie lachte! Echtes Lachen! Das erste echte! Kein Plakat! Bewegt, vergnügt, einfach lustig.

Deshalb lachte auch Julian. Ein Nilslachen. Julians schlechtes Gewissen setzte jetzt ein. Langsam. Er merkte es noch kaum. Es tapste vorsichtig in ihm. Er war nicht Nils.

Sie schnüffelte sofort das ausgeleierte T-Shirt ab:

“Na, Schafsgruch noch nicht ganz abgelegt?”

“Nee, ich bin auf Moder und Schaf umgestiegen! Kommt deftiger, einfach satter, der letzte Schrei der City!” Nilslachen.

Christine: “Kein Problem! Absolut angemessen! Die ganze Bude hier riecht nach “Fleecy Clouds In Paradise”! Der Edelbrühe, die sich Helli als Rasierwasser gönnt! Da passt ein bisschen modrige Schafwolle ganz gut!”

“Wir sitzen im Kaminzimmer. Das Wohnzimmer hat Helli in einen nebligen Beautyaffenstall verwandelt. Mit abgespacetem Sound. Echt zum reingübeln!”

Sie empfahl Nils einen Ledersessel neben dem Kamin. Die “gestriegelten Äffchen” könnte man sich später noch anschauen. Er kenne sie eh schon alle, die komplette erste Reihe aus der Mathestunde.

Hatte die Eile des Gastgebers gar nichts mit seinem unerwünschten Eintreffen zu tun?

Julian versuchte herablassend zu antworten:

“Ich werde mir die Tierschau später ansehen.”

Die gesamte Verunsicherung verschwunden. Gerade noch ängstlich hinter Bierglas und Zigarette. Sekunden später: herablassend, motzend, angepasst, urteilend, verurteilend. Nils Scherer?

 

Er betrat das Kaminzimmer. Die Beleuchtung dürftig, schummrig.

Hinten in der Raummitte, von grünen Fließen umrandet, der Kamin. Rechts und links, Menschen im Halbdunkel, auf Sofas, davor kleine Tischchen. Vor dem Kamin: klobige Ledersessel mit breiten Armlehnen.

Sofort erkannte er in den Sesseln zwei Personen. Mark und Ralf. Nils beschrieb gut.

Korpulent lag Ralf in einem hellbraunen Sessel. Ein zum Sessel passender, hellbrauner, spitz zulaufender Cowboystiefel lagerte auf dem Knie. Er saß zurückgelehnt. Er hob langsam den Arm, ließ den Ellenbogen auf der breiten Lehne. Sah, dass Julian ihn sah, ließ die Hand auf die Lehne zurückfallen. Die andere umklammerte sein Bierglas. Aus der Umklammerung qualmte die Zigarette.

Jetzt blickte auch der andere auf. Im Sessel neben Ralf. Mark. Sein Haar schwarz gefärbt. Sehr dunkel. Am Haaransatz nachwachsendes blondes Haar.

Langsam ging Julian an besetzten Sesseln und kleinen Tischen vorbei. Wie groß war dieser vernebelte Raum?

Mark drehte den Kopf zu Ralf, sagte etwas. Was? Schaute wieder zum herannahenden Julian. Zweifelte er daran, dass sich Nils Scherer auf ihn zu bewegte? Mark lächelte. Blickte wieder zu Ralf. Sprach einige Worte, sah wieder zu Julian.

“Na, der beschwerliche Gang nach Kanossa?”, fragte Mark. Was meinte er damit? Er lachte und streckte Julian die Hand entgegen.

Ralf reichte ebenfalls die Hand zum Gruß: “Na, nicht leicht, sich durch Hauchis gestriegelte Massen zu quälen, hä?”

Julian, geübt: “Hallo Leute! Geht schon, geht schon! Alles bestens, man gewöhnt sich an einiges!… Und wie ist die Lage?”

Julian setzte sich in einen schwarzen Sessel, der neben Ralf noch frei war.

“Du dürftest uns, deinen Freunden, wohl einiges zu berichten haben! Nachdem du unseren und deinen guten Freund Rolf einfach auf der Autobahn hast sitzen lassen! Das teilte uns dieser fernmündlich aus Griechenland, wo er immer noch in der Sonne glüht, mit!”

Ralf sprach, als stünde er auf der Bühne und trage einen Text, der die Hinrichtung des Hühnerdiebes verkündete, vor. Streng, ernst, laut, zweifelsfrei.

Gehässig grinste er plötzlich hinunter in sein Publikum. Zu Mark gewandt erklärte er, in einem nervigen Singsangton:

“Man lässt seine Kumpels nicht einfach auf wildfremden ausländischen Autobahnen sitzen! Man macht sich nicht, mir nichts, dir nichts, aus dem Staub! Man verspricht nicht seinen besten, teuersten Freunden, dass man unbedingt mit ihnen unter die glühende Sonne will! Wenn man in Wahrheit mit anderen glühen will!”

Das Publikum hob darauf sein Bierglas, nickte dem Redner verständig zu und nippte.

Der Angeklagte atmete tief ein, setzte zu einer Rede an. Wollte nicht um Gnade bitten. Wollte seine Schandtat ausschweifend rechtfertigen. Wollte den Urteilenden von seiner Unschuld überzeugen. Doch dazu war es noch zu früh.

Der Redner ließ kein Wort zu. Er rollte das Urteil aus. Blickte neben dem erhobenen Bierglas vorbei, dem Angeklagten unbewegt streng ins Gesicht. Sprach nun ruhig, monoton, ernst, wieder zweifelsfrei: “Das kostet dich, wenn Rolf wieder da ist, pro Nase, ein Bierchen im Notfall!”

“Also Leute, darf ich auch mal ein paar Worte sagen?”, plärrte jetzt Julian.

“Wenn es sich nur um ein Paar Worte handelt, dann schon”, antwortete Ralf. Er verließ die Bühne. Das Urteil war klar und gering. Nicht der Rede wert.

Er sprach gelassen und ruhig weiter: “Ansonsten waren wir gerade bei Wichtigerem: der Frage, woher Hauchi so viel Knete hat, dass er sich einen so protzig ausgestatteten Laden leisten kann.”

Julian, nippte, lehnte sich zurück, nickte: “Aha!”

“Mark vermutet dazu”, fuhr Ralf fort: “Hauchiboy hat das richtige Parteibuch! Er lässt sich von den entsprechenden bayerischen Parteifreaks sponsern! Er ist mit der Aufgabe betraut, als Spion die Direktoren und leitenden Lehrer der Schule zu bespitzeln. Hauchiboy checkt durch, ob die alles schulordnungsgemäß durchziehen! Sich keine Ausrutscher leisten! Hauchiboy der Superspitzel und Grösus! Da reimt sich doch einiges zusammen, oder?”

Julian, lag inzwischen wie Ralf im Sessel. Sie luden zum Liegen ein. Er drehte sich zu Ralf:

“Interessante Mutmaßung? Grobe Anmaßung? Oder gröblichste Vorurteile? Wie dem auch sei! Reden wir darüber! Die Story von meinem Alpenausflug wäre dagegen langweilig, wie ein einstrophiger Kirchenkanon!”

Mark jetzt in einem bekannten Tonfall, der sagte, dass er alles schon wisse und nichts hören wolle: “Gut, sehr gut, verzichten wir darauf!” Dann winkte er Ralf, dass er fortfahren soll.

Darum sofort Julians Pistole: “Deshalb erkläre ich mich bereit auf längere Erlebnisschilderungen meiner Ferien zu verzichten. Abgesehen von einer wichtigen Information: Es war sehr schön! Ich hatte kein schlechtes Gewissen! Meine super guten Freunde fuhren gleich weiter! Sie hatten Auto, Zelte, Schlafsäcke, Rucksäcke und Geld. So ließ ich sie im Regen stehen! Grausam gell? Mich pritschelte es zwei Tage von oben kalt voll. Bis sich endlich ein Österreicher erbarmte.”

Jetzt piepste es:

“Erwartest du von uns Mitleid? Du armer, vereinsamter Tramper! Haben dich deine Reisebegleiter unfreiwillig an den Straßenrand gezwungen?”

Christine hob ihr Glas. Sie ließ es gegen Julians klirren, der seines nicht recht anheben wollte. Dann tat er es doch und trank.

Sie setzte sich in den Sessel neben Mark. Sie sagte:

“Oder willst du uns auf anderes aufmerksam machen? dass du am zweiten Tag im Regen am Straßenrand Wehmut und Reue für dein Tun empfunden hast?”

Was war mit der Frau? Warum ließ sie nicht Ralf und Mark weiter über Hauchiboy mutmaßen?

“Weder das eine, noch das andere”, entgegnete Julian. “Ich dachte, wir wollten über die Provenienz des Geldes unseres heutigen Gastgebers Helmut Hauch und seine politische Gesinnung reden?”

Jetzt krachte es. Hochtonig knallte Christine in diese Worte:

“Na typisch!”, sie stand kurz auf, setzte sich aber gleich wieder.

“Kaum wird dem Nils eine Frage oder ein Thema unangenehm, schon verfällt er in geschwollenen Sprachstil! Echt übel, wie billig du versuchst, von dir selbst auf andere Leute abzulenken!”

Julian lehnte nicht mehr gemütlich. Er saß nach vorn gebeugt. Ungemütlich. Er spürte Christines Aufregung. Das läppische Gequatsche über Hauchiboy war vorbei. Krampfhaft versuchte er es zurück zu holen.

“Der Vorschlag, über das Geld und die Parteifreunde von Hauch zu quatschen kam nicht von mir, sondern von den beiden Herren hier.” Er deutete auf Ralf und Mark.

“Das hast du nur nicht mitbekommen, weil du gerade in der Küche beim Bierzapfen warst.”

Julian nahm einen tiefen Schluck aus seinem Bierglas. Zog den Tabak heraus, lehnte sich wieder zurück und begann eine Zigarette zu drehen.

Mark und Ralf sagten nichts.

“Wenn es Probleme gibt, in die du persönlich auch nur im Ansatz stärker hineingezogen werden könntest, damit meine ich Probleme, die dich als Person also eigentlich mich betreffen, also einfach etwas, wo’s persönlicher werden könnte…, verstehst schon, was ich meine oder?….dann versuche dich so schnell wie möglich, am besten durch geschicktes Ablenken auf ein anderes Thema zurück zu ziehen. Merkst du, dass das nicht klappt, wenn gröber und persönlicher weiter gebohrt wird, dann bereite dezent, unauffällig aber bestimmt, deinen Abgang vor! Ergreife jede sich bietende Gelegenheit um die betreffende Runde zu verlassen! Verschwinde, sobald möglich, sehr schnell. Lass dir Ausreden einfallen! Zieh die Notbremse: dir wird schlecht und du gehst!”

Diese Erklärung verstand Julian zwei Tage zuvor in der Schäferhütte als unterstützenden Ratschlag von Nils für die Maskierungsrolle. Ein hilfreicher Ratschlag in Notfällen. Die konnten jederzeit eintreten.

Wenn stimmte, was Christine jetzt andeutete, war Nils aber anders: er flüchtete nicht nur in Notfällen. Flucht war ein Prinzip. Jederzeit musste sie möglich sein.

Julian sagte zu Christine:

“Nein, nein, du interpretierst hier einiges falsch. Gerne bin ich bereit meine Urlaubserlebnisse und so weiter näher aus zu breiten! Echt! Die zwei Herren hier, wollten das eben nicht hören!” Wieder zeigte Julian auf Ralf und Mark. Denen war das zu viel. Beide erhoben sich. Ralf hielt sein leeres Bierglas in der Hand, er sagte zu Mark:

“Schauen uns den Affenkäfig da drüben mal genauer an?”

Mark nickte, er sagte:

“Die zwei haben intimere Dinge zu besprechen.”

Pistolenschuss von Ralf: “Was gut ist, soll noch besser werden! Da wollen wir mal nicht stören!”

Dummes Lachen. Schon sah Julian die Rücken der beiden. Sie bahnten sich einen Weg zur Tür.

Julian dachte jetzt:

Wie würde sich Nils nun aus der Affäre ziehen? Er war noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden in München, schon saß er in mitten einer Juppiparty, die Nils vielleicht niemals besucht hätte. Im dicken Ledersessel, bereit zum Gespräch unter vier Augen mit einer Frau. Christine. Nils beschrieb sie als “nette Bekannte aus der Schulklasse”.

 

“Na, was haben wir beide denn so intimes miteinander zu besprechen?”, fragte Christine und lächelte. Das gab sie abrupt auf: “Die beiden sind wirklich bescheuert! Aber das macht nichts! Sie sind eben mal so! Männer! Wir sollten uns nicht die Köpfe darüber zerbrechen. Eigentlich unwichtig, was die zwei denken oder ob sie sich überhaupt irgend etwas denken. Jetzt erzähl du mal was! Wie war dein Gebirgstripp wirklich?”

Komisch, wie sprach sie mit Nils Scherer? Er war doch auch ein Mann? Ironie?

Er begann zu sprechen, dabei dachte er: im Grunde hat die Frau völlig recht. Wir sollten uns wirklich nicht den Kopf darüber zerbrechen, was die beiden, Ralf und Mark, sagten oder dachten. Vielleicht sollte er, Julian sich auch nicht die ganze Zeit darüber Gedanken machen, was sich Nils denken würde, oder tun würde. Wenn er diese Gedanken abschaltet, könnte er vielleicht freier handeln. Damit wäre mehr Spielraum.

 

Mit Christine unterhielt er sich lange und ausgiebig. Thema waren zuerst Österreichische Alpenwanderungen, Tierhaltung, speziell Schafe im Gebirge, Abgas- und Lärmbelästigung durch Autos in der Stadt, bunte, riechende, lärmende Werbeplakate, die aktuelle konservative Schul- und Bildungspolitik, die katastrophale Wohnraumsituation in München.

Kein Weltverbesserergespräch. Einfach nur ein ausgelassenes Herumgemotze. Das brauchte Christine. Und auch Nils brauchte das manchmal. Vieles ärgerte Nils Scherer in der Stadt. Und einiges betraf ihn persönlich. Beispielsweise das Problem mit der Wohnung.

Nach drei, vier Bieren sprach Julian locker, ausgelassen. Er sprach wie Julian. Freilich in der Rolle von Nils. Aber er überlegte nicht vor jedem Satz: was würde Nils jetzt sagen? Christine sprach angenehm. Sie war hübsch. Für Julian eindeutig.

 

Nach fünf Gläsern Bier wollte sich Julian von Christine, dem Gastgeber, Mark und Ralf verabschieden. Christine bot an, ihn mit ihrem Wagen nach Solln zu fahren. Julian lehnte zunächst ab. Schnell ließ er sich überreden. “Du bist besoffen, hackedicht!”, behauptete Christine. Und: “Draußen im Garten wirst du gleich über die Hauchschen Marmorgartenzwerge stolpern! Also, gehen wir zusammen?”

 

Beim Gang auf die Toilette, spürte Julian, dass er kaum mehr gerade laufen konnte. Er war schwer alkoholisiert. Im Wohnzimmer war es deutlich ruhiger. Die hüpfenden Mädchen sah er nicht mehr. Schwarze, undurchsichtige Rauchschwaden in der Luft. In den ledernen Sesseln lagen dunkle Gestalten. Sie schlürften aus ihren Gläsern. Die Party erreichte die Körperkontaktphase.

“Gegen Ende, liegt der Gastgeber mit mehreren, ihm unbekannten, Frauen im Bett. Die anderen Gäste kommen sich in den übrigen Räumen näher. Wirfst du zeitgleich einen Blick vor die Türe, siehst du aggressive Szenen. Frauen und Männer brüllen sich gegenseitig an. Sie sitzen in Cabriolets. Die Aggression des Mannes hörst du auch am Auto. Es röhrt laut, mehrmals gibt er kräftig Gas, dann donnert es tösend davon. Der Grund? Einfach: Die Frauen knutschten mit anderen, die Männer knutschten mit anderen, die zwei im Cabriolet knutschten miteinander nicht. Den ganzen Abend nicht. Jetzt fahren sie zusammen heim. So ist das Leben. Dann gibt es da noch Einzelpersonen. Du siehst sie auch in Luxuslimousinen. Auch sie geben kräftig Gas. Aber vorher öffnen sie noch die Tür. Durch einen Spalt kotzen sie dem Gastgeber auf den Gehsteig. Dann brausen sie ab. Auch das, das Leben.”

Die Wohnung war riesig, groß und hoch. Bis zur Toilette brauchte Julian Zeit. Er wankte, hielt sich an der weißen Wand. Vorbei an der Küche. Er hielt sich am weißen Türrahmen. Sah Mark und Ralf. Sie saßen am Küchentisch, lachten, tranken, redeten mit einem glänzenden Riesen im weißen Sakko.

Die Toilette war weiß. Glänzende Fließen. Geräumiger, als seine Schäferhütte, viel höher, viel heller. “Marmorambiente.” Die Klotür weiß, Kassettentür, leichter als die Haustür, dennoch schwer. Julian öffnete sie zu kräftig, sie knallte gegen den Stopper und kam zurück. Er hielt sich am goldenen Griff.

Alles war rein. Lupenrein. Hell, nichts moderte in einer Ecke. Der Spiegel glänzte. Sein Gesicht sah riesig aus. Nils Scherer strahlte ihm entgegen. Nils sah aus wie immer. Nicht besoffen. Keine rote Nase. Keine geröteten Backen. Auch nicht bleich. Er sah aus, als hätte er nichts getrunken, als wenn ihm nicht schlecht wäre.

Draußen im Gang: alles weiß. Der Boden, die Wände. Keine bunten Bilder. Strahlende Deckenbeleuchtung. Hell, fast grell. Jeder Winkel war ausgeleuchtet. Jeder Fussel auf dem Boden sichtbar. Fussel? Da waren sogar welche! Endlich!

Die Zeit war gekommen, wo sich keiner mehr um sein Outfit kümmerte. Der Fussel auf dem weißen Boden war ein klares Zeichen! Der Lippenstift war alt und verschmiert. Die Schminke erblasst, sie triefte schon leicht. Das weiße Hemd verschwitzt. Das bunte Sommerkleidchen verschmiert von Wein und Bier. Es stank nach abgestandenem Bier, Sekt, Champagner, Qualm, sogar leicht nach Schaf. Bierflaschen und Sektgläser standen, lagen auf dem Boden nahe der Wand. Zerbrochene Gläser, umgefallene Aschenbecher, leergefressene, verschmierte Teller. Halbvolle Teller in denen Gabeln steckten und Messer darauf lagen. Daneben volle Aschenbecher, qualmend. Weiße Tischdecken: ergraut, auch braun, fast schwarz. Zerknüllte weiße, verschmierte Papierservietten. Die kleinen Designertischchen dreckig, Asche und Kippen. Halbvolle Gläser. Lippenstiftverschmiert.

Die ganze Wohnung, wie das Klo? Nein, das war sauber in sauberem weißen Stil gehalten. An den Wänden entdeckte Julian plötzlich mehrere goldumrahmte Spiegel. Er blieb stehen, lachte hinein, sah Nils lachen. Das war toll.

Der Abschied vom Gastgeber erübrigte sich, denn er war nirgends zu sehen. Die Bett-Theorie von Nils Scherer richtig? Vielleicht. Julian konnte das nicht prüfen. Es war ihm wurscht. Ihm war schlecht, er wollte abfahren.

Christine kam aus dem Kaminzimmer: “Alles klar?”

Julian nickte. “Dann packe mas!”, sie reichten Ralf und Mark die Hände, in die Küche. Wankend folgte Julian über den Marmorflies durch den Garten. Den Boden suchte er nach Gartenzwergen ab. Sie fehlten.

 

Die Fahrt nach Solln. Ein Erlebnis. Sie hielt das Steuer ihres gelben Käfers in der Linken. Rechts eine qualmende Kippe.

Das Steuer ging hin und her. Julian hielt sich oben an einem Gummigriff. Mit der qualmenden rupfte sie kräftig am Schalthebel auf und ab. Abruptes Bremsen, dann anfahren. Tausend Ampeln. Alle rot. Laut heulte das Gefährt von hinten. Scharf nach rechts, dabei kräftig aufs Gas, sofort nach links, scharf auf die Bremse, quietschen, rot. Ein kräftiger Zug an der qualmenden, sofort die Hand wieder auf den Schaltknüppel, grün, kräftig nach vorne rupfen, Gas, laut dröhnte es von hinten, das Lenkrad voll nach links, vorher schnell die Bremse, kräftig, wieder Gas, gleich stehen bleiben, rot.

Endlich eine breite Straße, tausend gelbe Lampen von Oben. Taghell die Stadt bei Nacht. Das Lenkrad blieb gerade. Von hinten röhrte es gleichmäßig laut. Sie Lampen reflektierten in der Scheibe. Sie flogen über sie hinweg. Von oben kamen Drähte runter und gingen wieder hinauf. Gleichmäßig. In der Ferne sah man das rote Licht. Sie ging vom Gas, drückte am Knüppel, rupfte nicht mehr, der Gang war draußen. Es wurde grün, sie schob, der Gang war drin, von Hinten dröhnte es wieder lauter, leichtes Gasgeben.

“Heute ist echt klar geworden, das Hauchiboy ein Juppi ist. Seiner Wohnung nach, hat er Kohle, wie andere Heu. Wahrscheinlich sponsern ihn seine Alten kräftig!”

Julian nickte: “Glaub ich auch, woher sonst das Heu?”

Christine: “Scheiß Erbschaften! Jungjuppis wie Hauchiboy leben zu gediegen. Sie verlieren den Bezug zur Realität. Eine Scheißentwicklung!”

Julian nickte: “Glaub ich auch: Erbschaften, woher sonst die ganzen Juppies? Scheißentwicklung!”

Christine: “Die einen ersaufen im Schampus und wissen nicht mal, wo der herkommt. Während die Haushälterin morgen die Kotze wischt!”

Julian nickte: “Ja, ja, Schampus in die Wäsche kotzen und Haushälterinnen wischen! Eine Hand wäscht die andere. So ist das Leben!”

Die Einfahrt zum Haus in Solln verpasste sie. Kräftig auf die Bremse. Einmal nach hinten gerupft. Ordentlich Gas. Surrend fuhr der Wagen rückwärts. Nochmal rupfen, Gas, scharf lenken und rein! Julian riß die Tür auf, atmete kräftig die Stadtluft durch. Das war geschafft! Glücklich erreichte er Nils Scherers Wohnsitz.

“Nein, vielen Dank Nils! Es ist schon so spät. Also Tschüßchen, bis bald!”

Christine bog schwungvoll, mit quietschenden Reifen aus der Einfahrt.

Julian wankte auf das Gartentor zu. Es war verschlossen. Er kletterte darüber, viel innen runter. Kein Problem. Geübt stützte er sich mit den Armen ab.

Alle guten Vorsätze vergaß er an diesem Abend. Er trank wie ein Loch. Er dachte nicht mehr an Nils. Er sprach mit Christine, wie Julian. Sein erster Abend in München.

Er konnte sich nicht erinnern, wann ihm jemals so schlecht war. Unvernunft. Die reine Unvernunft. Sonst nichts.

Nichts essen aber trinken. Das musste schiefgehen. Das Verhalten von Nils Scherer? Vielleicht.

Nun wurde es ärgerlich: Schussel? Ja! Aber nein, die Frage lautete Schlüssel? Nein! Natürlich nicht. Vergessen! Einfach nicht daran gedacht! Nils Scherer? Ja.

Seine Uhr zeigte halb Drei.

Ärgern: “Was bin ich für ein bodenloser Trottel! Anstatt Christoph beim Gehen nach einem Schlüssel zu fragen, sülze ich ihn mit allgemeinen Phrasen zum schweren Studentenleben voll!”

Dabei dachte er: Genau das wäre Nils auch passiert!

Er ging in die dunkle Garage. Die war immer offen. Er nahm Kisten vom Stapel und legte sich drauf.

Absoluter Schwachsinn! Einer, der Jahre im Gebirge lebte, seit Kind an, soll plötzlich mitten in der Stadt in einer Garage schlafen?

Raus in den Garten! Ein Feuerchen gemacht! Und daneben gelegt. Noch eine Zigarette, Blicke in die lodernden Flammen, hinauf zum Sternenhimmel. Wo war der große Wagen? Sah den Nils jetzt auch? Der saß am Feuer und dachte an Julian. So war es ausgemacht. Er saß aber schon Stunden vorher. Um diese Zeit schlief der längst. Der musste Morgens mit der Sonne aufstehen, die Schafe treiben.

Trauer wegen seinem Suff? Nein, wegen der Schafe und wegen Assya. Sie fehlten ihm. Jetzt schon. Klar, das musste kommen. Nie war er so weit weg von ihnen.

Das Feuer hielt er klein, trotzdem knisterte es laut.

 

Wie sollte er diesen Schmerz aushalten? Daran dachte er Tags zuvor nicht. Er sah nur seine Neugierde. Nach dem Stadtleben. Er wollte es spüren, wollte das Leben von Nils spüren.

Warum?

Das konnte ihm doch wurscht sein! Er hatte sein Leben, Nils ein anderes. Fertig!

Stimmt eigentlich! Wenn er es sich recht überlegt, dann stimmt das! Er wollte gar nicht Nils spüren, das konnte er gar nicht, völliger Mist!

Was dann?

Nils Scherer war nur ein Vorwand! Die Wahrheit: Er wollte in die Zivilisation, in die Stadt. Er traute sich einfach nicht. Deshalb auch seine Maskerade! Schon lange war er auf den Tag vorbereitet, an dem er das tun konnte. Er brauchte die Haut eines anderen, weil er allein zu feige war! Das war es!

Aber warum? Warum überhaupt wollte er in die Zivilisation? Er war doch glücklich bei seinen Schafen!

Das stimmt. Aber: Er spürte das Ende. Der Tod des Vaters, ein klares Zeichen. Warum lebte er plötzlich allein? Warum starb der Vater so früh? Weil die Zukunft schlecht aussah. Sein Beruf hatte keine Zukunft. Der Vater sprach darüber nicht mit ihm. Er zeigte alles, Julian lernte alles. Aber: Einsamkeit und Zurückgezogenheit waren damit verbunden. Er musste flexibler werden, wie jeder andere Mensch. Er musste sehen was die Welt sonst noch bot. Für den Tag X. Er musste wissen wie die Welt anderen Ortes aussieht. Am Tag X wollte er wissen, wohin. Deshalb die Maskerade.

 

Die Nacht schlief er unruhig. Autolärm der vielen Straßen rund um das Anwesen. Julian träumte, schreckte hoch, er rief: “Assya, Assya, wo bist du?” Er wachte auf, sah, wo er war. Weder sein Geplärre, noch sein Feuer bemerkten die Anwohner. Mit der ersten Morgendämmerung setze er sich auf die Stufen des Hauseinganges.

Er starrte auf den Parkplatz vor der Garage.

Julian suchte ein neues Zuhause für Nils

Auf die Annonce des Maklers, der sich selbst als “studentenfreundlich” und deshalb auch “schülerfreundlich” bezeichnete, wies Christoph hin. Beide saßen zusammen am Frühstückstisch im großzügigen WG-Gemeinschaftszimmer.

Christoph kaute auf einem Butterbrötchen. Beim Beißen zeigte er rhythmisch die obere vordere Zahnreihe. Sie glänzte weiß. Leicht standen die Zähne nach vorne aus dem Mund. Der schmale, schwarze Oberlippenbart ging auf und ab. War der echt? Oder falsch, wie der Schäferbart in den Bergen?

“Der Makler hat oft erstaunlich günstige Angebote. Ruf den Knaben doch einfach mal an!”

Den goldenen Rand der schmalen Teetasse führte er unter den Oberlippenbart. Christoph ließ den hellen goldgelben Tee zwischen der oberen und unteren Zahnreihe über die Zunge laufen. Den schmalen Griff hielt er zwischen seinen dicken Fingern. Winzig wirkte die Teetasse. Der goldene Griff verschwand zwischen Daumen und Zeigefinger. Die übrigen drei Finger spreizte er ab. Sie stachen geradlinig neben der Tasse in die Luft. Der Oberlippenbart blieb trocken. Geräuschlos landete die Tasse auf dem goldumrandeten Unterteller. Ihr geschah nichts. Die große behaarte Pranke griff wieder zum Butterbrötchen. Auch das Tellerchen blieb unbeschädigt.

Julian: “Wie bitte?”

Christoph: “Rauch! Rauch heißt der Typ. Seine Nummer steht im Telefonbuch, ach nein, ich hab sogar noch ne Zeitung, mit seiner Anzeige!”

Er zog die Zeitung aus dem Regal.

 

“Ja klar, für Schüler und Studenten hab ich immer n Herz! Logisch! Kommen’s halt einfach mal vorbei! Heute noch! Aber hallo! Zack zack! In Eile hä? Logo! Heute geht’s! Adresse? Alles paletti!”, brüllte Fritz Rauch durch die Telefonleitung.

 

Vor dem Gartentor blieb Julian stehen. Er dachte: schon wieder ein Gartentor! Und tatsächlich: Weitläufig, grün, kahl geschoren, wie sein Kopf, so der Rasen. Daneben am Rand: Blumen, sehr bunt, sehr hübsch.

Hellweiße Damen flankierten den weiten rostroten Weg bis hinter zum schneeweißen Haus. Sie verbeugten sich ehrfürchtig vor dem Gast, der den Weg erhaben nahm.

Langsam tapste Julian über die rostroten Platten. Betrachtete die Marmordamen. Sie sahen unglücklich aus. Abgearbeitet, abgehetzt. Doch kein Schmutz im Gesicht. Sauber gepflegt. Poliert.

Die Haustür kam näher. Weißer Rahmen mit Glasscheibe.

Plötzlich ging es los! Julian zuckte zusammen. Ein Scheppern, fürchterlich laut und wuchtig. Dem folgte sofort: aggressives ohrenbetäubendes Kläffen und feindseliges Knurren. Der riesige Bullterrier hing weit oben an den Gitterstäben. Die vibrierten, schepperten klangvoll vor sich hin. Wie konnte dieses Viech so weit hoch springen? Oben waren die Stäbe nach innen gebogen.

Julian rannte zurück zum Gartentürchen. Sein Herz raste. Und: Aggression, Wut braute sich zusammen. Warum kläffte das Vieh so? Was hatte er getan? Assya kläffte nur wenn Feinde kamen, die kamen nie. War er ein Feind für dieses Drecksvieh? Julian war wütend wegen des Riesenschrecks. Ab jetzt hasste er Bullterrier! Das nahm er sich vor.

Die weißen Marmorfrauen von hinten: buckelnd, krumme abgeschuftete Rücken. Aber glänzend. Er stand wieder auf dem Gehsteig, schloss das Törchen. War es das?

Die Glastür ging auf.

Eine hochgewachsene, schmale, gelockte, blondhaarige Dame trat heraus. Sie trug ein rosafarbenes Kostüm. Die blonden Haare hatte sie hochgebunden, nur einige Locken vielen heraus.

Julian, wütend, wollte gehen. Das Herz immer noch rasend.

“Kommen sie nur näher, haben Sie einen Termin vereinbart?” Tiefe Stimmlage, sehr tief, beinahe männlich tief. Zu welcher Frau passte diese Stimme? Im Radio hörte er einmal einen Filmausschnitt der deutschen Synchronisation von Laureen Bacall. Irgend ein Steifen mit Humphrey. Das war die Stimme!

Die Frau sprach tief, stand weit entfernt, der Terrier kläffte. Er haßte den Terrier! Sollte er gehen? Die Frau sah nicht abweisend aus. Die Stimme von Laureen Bacall? Freilich nur die deutsche Synchronisation! Ok. Er griff zum Tor öffnete. Schnell schritt er an den gebeugten Damen vorbei.

Einen Blick warf er nach rechts. Er wollte den Kläffer nochmal sehen. Er sah zuerst einen kleinen Springbrunnen in den eine männliche Marmorfigur pinkelte.

Dann den Hund, ein schwarz-weißer Riese. Er rannte erregt im Käfig hin und her. Endlich war Schluss mit dem Gekläffe. Plötzlich ging es schon wieder los! Kläffend prallte er gegen die Gitterstäbe. Krallte sich fest und knurrte.

“Kommen sie nur näher”, rief die Dame. Sie streckte ihm die helle schmale Hand entgegen. Rote Fingernägel.

Julian warf dem Tier ein freundliches Nilslächeln hin. Dann ergriff er die grüßende Hand der Dame. Löste den Griff sofort und folgte ins Haus.

“Er ist eigentlich immer sehr freundlich, unser Egon.”

“Ich dachte ich bin hier bei Fritz Rauch!”

Die Frau sah Julian an. Das schmale, feine Gesicht verzog sich. Die Backenknochen herausragend. Sie zog das Backenfleisch nach Innen. Was war das? Wütende Erstarrung? War er unverschämt?

“Nur manchmal attackiert er unwillkommene Besucher, sie wissen schon, Tiere können da halt nicht so unterscheiden…”

Julian entschied sich gegen eine Debatte über das Verhalten von Hunden.

Die Eingangshalle hielt sich in hellem Weiß. Der Boden war – und das langweilte Julian nun fast schon – in weißem Marmor gefliest.

“Bitte setzen sie sich”, sagte die Dame und deutete auf drei Stühle. Sie standen rechts an der Wand. Säuberlich in einer Reihe.

“Bitte füllen sie zunächst diese Selbstauskunft für uns aus”, forderte die Dame in eingeübtem, aufgesetztem, weichem Ton.

Die Synchronisation von Laureen Bacall war lockerer. Man merkte nicht, dass sie nur Theater war. Deshalb wollte er fragen: warum so aufgesetzt? Er unterließ es.

Anderes war wichtiger: Was sollte das? Wieso eine Laureen Bacallstimme, die eine Selbstauskunft forderte? Warum überhaupt Selbstauskunft? Auskunft über Nils Scherer? Wer war das? Welche Auskunft? Er kannte ihn erst seit vier Wochen.

Julian saß. Die Frau kam, drückte ihm einen Kugelschreiber in die Hand. Die Decke war weit entfernt. Der Raum hell, sehr hoch, weiß. Keine bunten Bilder an den Wänden. Hohe Glasscheiben. Mehr konnte er nicht sehen. Er sollte schreiben. Auskunft geben über Nils Scherer. Das Papier weiß. Es fragte nach allem. Alles wurde abgehakt. Geburtstag und -ort? Eltern? Keine Ahnung. Hatte Nils Scherer Eltern? Na klar! Wo waren sie, wer waren sie? Vorherige Wohnorte? Jetziger Vermieter? Julian wusste nichts über den, den er spielte. Bürgen? Was für bürgen? Warum Bürgen? Einkommen? Das Wichtigste! Viel Platz auf dem Blatt. Bürgen und Einkommen. Klein gedruckt, unten: Zwei Monatsmieten Provision. Ganz klar. Ganz normal. Logisch! Das war der Makler Rauch. Schüler- und studentenfreundlich. Julian, total naiv! Entlarvte die Marktlücke erst jetzt! Rauchs Marktlücke: Schüler und Studenten auf dem Wohnungsmarkt. Sehr einträglich die Nische. Gut. Er lebte nicht schlecht davon. Garten und Eingangshalle sahen nicht armselig oder verkommen aus. Schüler und Studenten: keine schlechte Einnahmequelle.

Julian verstand, erhob sich. Ging mit Zettel und Stift zur Laureen Bacall-Synchronisation. Die saß hinter einem riesigen Marmorschreibtisch mit weißem Monitor. Er legte beides auf den Tisch. Spürte Ungehaltensein und Ärger, nicht nur wegen Egon, vor allem wegen Fritz Rauch. Er versuchte etwas neues: ein freundliches Abschiedsgesuch. Dieses Ansinnen verlief nicht ganz erfolgreich. Seine Ungehaltenheit übermannte ihn ein wenig. Zu schnell und laut donnerte er seine Abschiedsansprache hin:

“Leider muss ich mich schon verabschieden! Ich hatte geplant für mich selbst zu bürgen. Mein Schülerdasein wird von Ihnen offensichtlich reichlich gering geschätzt! Ich brauche keinen Bürgen, der für mich Verantwortung übernimmt. Ich wünsche noch einen schönen Tag! Beste Grüße und Glückwünsche auch an den mir leider unbekannt gebliebenen, erfolgreichen Herrn Gemahl! Auf Wiedersehen!”

Julian wandte sich mit seinen letzten Worten bereits ab. Die Dame setzte zu einer Erklärung an. Er setzte zum Sprung durch die Türe an.

“Das ist alles reine Formsache. Wir müssen uns absichern. Das ist in unserer Brache üblich. Ein Makler hat ein Recht – und gegenüber den garantiert seriösen Vermietern – die Pflicht, Auskünfte über die Bonität und Seriosität der empfohlenen Mieter zu geben!”

Julian riss die Tür zu schwungvoll auf. Sie schlug gegen den Stopper. Deshalb ein schneller Sprung über drei Stufen hinab ins Gekläffe im Garten. Sofort knallte die Tür wieder zu. In großen Schritten sprang er vorbei an den gebückten, gestressten Marmorfiguren. Die letzten Worte der Laureen Bacall-Synchronisation klangen plötzlich wie tiefes hässliches Gebrumme.

 

Schnell ging er zur S-Bahn. Froh den Makler nie gesehen zu haben. Froh seine Wut beherrscht zu haben. Froh die blonde Sekretärin nicht angemotzt zu haben. Nils hätte das vielleicht getan. Julian blieb einigermaßen freundlich.

Trotzdem wütete es in seinem Kopf und Bauch. Warum ausgerechnet Schüler und Studenten? Warum der Garten, das Haus so bombastisch riesig, so reich? Warum der Köter so gehässig?

Rauch, ein Unbekannter den er hasste. Ein Monster mit dickem Bankkonto und weißer Weste. Er entwickelte sich vor seinen Augen. Sein Reichtum in Garten und Haus, sofort erkennbar. Das Monster sah er freundlich am Telefon singend. Lehnend in seinem Marmorthron hinter einem riesigen Schreibtisch. Zigarre im Mund. “Ja logisch für Studenten immer! Klar! Kommens vorbei!”

Zwei Mieten Provision. Nils Konto war leer. Das Zimmer sah er vor sich. Mickrig, dunkel, feucht. In den Ecken: Schimmel und Moder. 350 im Monat.

Das Monster lehnte sich zurück und zählte die Scheine. “O.k.! Super toller Service! Sauber, seriös, gut! Alles paletti!” Die S-Bahn ratterte leise. Julian dachte: warum bezahlen nicht die Vermieter für den Service dieser Monster?

Julian ein naiver Schafhirte? Der Tag war grausam.

 

Nils erhielt monatlich 750 Mark Stütze. Sie lief immer zur Monatsmitte auf sein Konto ein. Das Geld zog Julian mit der Karte. Vorsichtig tippte er herum. Steckte die hundert Mark in Nils Geldbeutel. Auch einen Kontoauszug holte er. Der Drucker zischte. Alles klappte.

“Besonders teuer darf meine neue Bude nicht werden. Mein Lebensstandard ist mickrig. Spartanisch. Höchstens 350. Auf keinen Fall mein Konto überziehen. Ich hasse die Banken! Nur im äußersten Notfall überziehen!”

Wäre Nils je auf den Gedanken gekommen, wegen der Suche nach seinem Zimmer, in ernst gemeinter Absicht ein Maklerbüro auf zu suchen? So eine Aktion wäre für ihn höchstens als interessante Erfahrung in Frage gekommen. Eindrücke, Informationen, Unterhaltung. Animation? Aber keine ernst gemeinte Absicht. Kein Glaube, so wirklich ein Zimmer zu finden.

 

Also tat er, was Nils täte. Am nächsten Tag ging er zum Studentenwerk. Christoph erklärte wo es war, wie es da zu ging. Zimmerangebote auf Zettelchen im Fojer hinter einer Glasscheibe. Privatangebote. Keine Makler.

Julian notierte Telefonnummern. Sie versprachen Zimmer an Studenten zwischen 250 und 300 Mark. Von einer Telefonzelle im U-Bahnhof rief er die Nummern nacheinander durch. Das dritte Zimmer gab es noch.

Frau Nickel. Eine ältere Dame. Er, der sechste Anrufer, aber kein Problem! Vorbeikommen! Um vier Uhr Nachmittags. Frau Nickel Buchstabierte ihren Namen zum tausendsten Mal.

Julian hängte ein und wusste einiges über die Dame. Ratzinger Platz, kleines Häuschen, vermietet seit über dreißig Jahren, alleinstehend, sie liebte ruhige Studenten, Studentinnen kamen nicht in Frage.

Das dritte Gartentürchen am dritten Tag in der Stadt.

Das Haus lag in ruhiger, gepflegter Wohngegend. Kleine alte Häuschen. Der Garten: winzig, bunt. Der Gartenweg war vermoost. Granitsteinplatten. Gartenzwerge, tausende, überall.

Die Dame in der Tür: weißhaarig, klein, grüner flatternder Haushaltskittel, Hornbrille. Sie hob die Hand und winkte. Julian durfte das Türchen öffnen. Kurzes Händeschütteln.

Nils Scherer singend?:

“Grüß Gott Frau Nickel! Wir haben heute Vormittag telefoniert! Nils Scherer mein Name! Wie geht es ihnen?”

“Ja, mir ham heit scho g’sprocha! Kommen’s nur rein Herr Scheraa! Gehn’s nur vor und setzen’s erna da auf d’ Eckbank niedaa.”

Schon saß Julian in der Küche. Eine grüne Mustertapete im finsteren Gang. Kartoffelsuppengeruch. Eine orangene Blümchentapete in der Küche. Graue Storvorhänge, daneben grüne dicke Lappen. Hellgrüne Hängeschränke. Sehr eng. Julian saß auf einem dunkelgrünen Polster. Es war an der Eckbank festgebunden. Eine dunkelgrüne Wolldecke auf dem Küchentisch.

Dämmerung in der Küche, wegen der Vorhänge. In der Ecke: ein Gasherd, darauf weiße Töpfe, dampfend. Ein mannshoher Kühlschrank. Eine Spüle, daneben tropfendes Geschirr.

Frau Nickel saß auf ihrem Stuhl vor dem Tisch. Auf dem Tisch: ein Papierblock, ein Stift. Sie nahm ihn. Sie sprach leise.

“Sie san ned der erste Student der si bei mir vorsteit. Seit dreißg Joar vermiet i des kloane Zimma. Oben glei nem da Treppen! Seit mei Moo g’storm is. Wos studiern’s denn?”

“Äh, ich studier noch nicht. Ich bin Schüler. Danach will ich studieren.”

“Aha Schüler san’s! Nach’m Bund woin’s studiern! Sie geh’n doch zum Barras? Odaa? Bevor’s des Studiern ofangaa? Odaa?”

Julian verunsichert. Nickte kurz. Leichtes Nilslächeln.

“Mei Sohn, des miassen wiss’n, is mittlerweil’n Oberstleitnant! Vo dem hear ih imma ois! Wia wichtig da Bund für de junga Leit is! Wei’s da a Disziplin lerna! Heit’z doag gibt’s koa Disziplin mehr! Wiss’ns? Ned in da Schui und scho goa ned bei de Student’n! I hob ja scho Zeig’l erlebt, wiss’ns…”

Endlich ein Punkt. Julian setzte an, versuchte einen interessierten Nilsblick.

“Ja, was haben sie denn alles erlebt?”

Jetzt erfuhr er die Geschichte eines Medizinstudenten. Der studierte garnicht. Er war arbeitslos. Und Maurer. Und faul! Und Schmarotzer! Und von der Polizei wurde er gesucht! Er war ein Dieb! Unglaublich! Klaute im Kaufhaus. Die Polizei hat’s erzählt. Alles!

“Mei, wos i scho ois erlebt hob, mit de Studenten!”

Die Geschichte von zwei schwulen Studenten.

“Des woarn Filosofen! De ham fui gsoffen!”

Frau Nickel lachte, herzlich. Aber leider nur ganz kurz. Ihre Erlebnisse waren ihr Alltag. Hart und Ernst. Sie sah wenig zu lachen.

“Des Zimma, ois voi mid laare Floschen! I hobs inflagranti dawischt! Jetz kenn i an jäädn schwulen Studenten scho beim Gartentierl! De Bursch’n kenn i jetzt olle raus! Des deafas glam! De ham in meim Haus nix mehr verlor’n de Saubuam de damischn!”

Ein kurzer Bericht über einen weiteren stehlenden Studenten.

Der vergriff sich an den Lebensmitteln in der Küche. Er nahm die Seife im Bad. Er stahl ihre Kohlen im Keller.

“Jo, so sans de Studenten! Koa Disziplin need!”

Die Schilderungen gingen weiter. Julian erkannte das traumhafte Leben der Studenten-WG in Solln.

Der Tag war frustrierend, wie der Vortag bei Rauch. In der WG machte er Gebirgsgofio. Abends saß er am Feuer im Garten. Niemand da, auch Christoph weg, bei seinen Eltern.

Nils hütete seine Schafe und spielte mit Assya in den Bergen.

Das ganze Unternehmen die totale Schlappe? Julian fühlte sich so.

Ein neues Zuhause für Nils.

Christoph war für drei Tage zu seinen Eltern ins “Schwabenländle” verreist. So bewohnte Julian das große Haus ganz allein.

Christoph beim Abschied:

“Gut, dass du da bist. Hier in der Gegend wird oft eingebrochen! Zu viele Villen und so. Weißt schon. Es ist gut, wenn einer da ist und das Licht an macht. Also dann tschau!”

Einbrecher. Julian und Angst? In den Bergen hatte er das manchmal. Wenn’s brenzlig wurde, an steilen Berggraten.

Nils Scherer ein Angsthase?

Was sollte er tun, wenn solche Typen auftauchten? Vermummte Riesen mit langen Taschenlampen? Er stand in der Küche und spülte das Geschirr.

Laut läutete es. Er erschrak. Das Telefon. Scheppriges, nerviges Klingeln. Im Gang stand es. Er hob ab.

“Ja, hallo?”

“Bist du’s Nils?”, hell, hochtonig: Christine.

“Ja, ich bin’s!”

“Äh, ja hallo, ich bin’s Christine. Ich wollte dir zwei Sachen sagen: die eine ist, dass Andi, das ist einer aus der Parallelklasse, den kennst du glaub ich nicht: naja, er hat zufällig vorher angerufen und gefragt, ob ich noch ein Zimmer suche!”

Julian rief, wegen dem Begriff “Zimmer”: “Wie bitte, der Knabe hat ein Zimmer?”

Julians Hörer knallte auf den samtroten Teppich. Hoch hüpfte er wie im Wald. Immer wenn er ein Schaf vor dem sicheren Tod rettete, sprang er kurz in die Luft, wie ein Sack Flöhe. Er schlug Purzelbäume und Räder auf den Wiesen. Das ließ er jetzt. Griff zum Hörer:

“Hallo, hallo bist du noch dran?”

“Ja, ja, hier bin ich, alles klar, der Hörer ist mir entglitten, runtergekracht, aber alles ok!”

“Ja, also ein Kumpel von Andi. Der will aus seiner Schwabinger Bude raus. So schnell wie möglich. Braucht nen Nachmieter, am besten schon Gestern!”

Julian verstand, griff zu Nils Scherers schnellen Pistole:

“Ok, super, Telefonnummer?”

Julian notierte, Christine sagte nichts mehr.

“Und die zweite Sache, was war das?”

“Äh ja, ich wollte dich fragen, ob wir uns vielleicht mal wieder sehen könnten. Vielleicht einfach in ner Kneipe oder so ähnlich.”

“Ahm”, sagte Julian und dachte: um was geht es dabei? Nils Scherer? Wieder die Pistole:

“Ja ok, warum nicht! Wo und wann? Hast du schon eine Idee?”

“Wie wär’s mit morgen im Knittl im Westend?”

“O.k., alles klar um wie viel Uhr? Und wo ist das Knittel?”

“Das soll wohl ein Witz sein! Du weißt nicht mehr wo das Knittl ist? Da waren wir doch schon X-Mal mit Ralf, Rolf, Mark und Regine! Also treffen wir uns um halb acht, ok?”

“Äh ja, ach so das Knittl meinst du! Is klar, alles bestens! Passt schon! Dann bis morgen um halb acht.”

Christine: “Tschüsschen dann bis morgen und viel Glück mit der Bude!”.

Der Hörer knallte. Jetzt das Wagenrad, zuerst der Purzelbaum, ein Luftsprung, dann das Rad. Der Parkettboden im Gemeinschaftszimmer knarrte, dann knallte er. Keine Einbrecher mit Lampen!

Neben die Nummer schrieb er auf den Zettel: “Knittl Westend”.

 

Sofort griff er zum Hörer, wählte die Nummer.

Martin brüllte laut. Den Hörer riss Julian vom Ohr. Er hielt ihn mit Abstand und sprach weiter. Nach drei Minuten notierte Julian eine weitere Nummer: Der Vermieter.

Trotz Martins hoher Piepserei, seiner kreischigen hektischen Stimme, verstand Julian einiges: “Wohngemeinschaft “Zweck-WG”, drei Physikstudenten, Einzelmietverträge fürs jeweiliges Zimmer, der Vermieter trotzdem “ganz nett”, die Wohnung ohne Bad und ohne Küche, aber: eine Gemeinschaftstoilette im Gang, alles kein Problem! Duschen im Nordbad, fünf Minuten entfernt, alles kein Problem, super! Im Zimmer, ein Waschbecken, der absolute Luxus: mit Boiler! Das Zimmer: riesig, fast zwanzig Quadratmeter, hoch oben, fünfter Stock, hell, echt toll, man sieht den Himmel! Möbel? Super: Schrankbett, Tisch, Stühle, sogar Sofa, echt topp Mann! Dreihundert monatlich plus Heizung und Strom, echt zivil der Preis Mann! Ab wann? Ab Gestern Mann! Adresse? Ja du willst die Bude echt Mann? Na klar Mann! Unglaublich Mann!”

“Ohne Besichtigung?”, fragte Martin.

“Wenn das Zimmer so ist wie du es gerade beschrieben hast, unterschreibe ich den Mietvertrag sofort!”

“O.k., das ist gut! Herr Rattl, der Vermieter kommt morgen Vormittag zufällig um zehn Uhr vorbei. Ein Schaden an der Hausfassade und so weiter….”

 

Mitterwieserstraße 44 in Schwabing, U-Bahnhaltestelle Hohenzollernplatz.

Das Zimmer war groß und hell. Wie versprochen “zweckmäßig” möbliert. Ein dunkelbrauner Filsteppich. Herr Rattl, ein hochgewachsener Herr. Rot kariertes Hemd, dunkelblaue Jeans, runde Nickelbrille. Pünktlich um halb elf stand Julian im fünften Stock vor ihm.

Ein dünnes schwarzes Aktentäschchen unterm Arm. Herr Rattl legte es auf den Tisch. Öffnete es. Papiere, weiß, ein Stift, schwarz.

Mietvertragsvormulare.

“Herr Scherer, können sie eine Kaution von zwei Monatsmieten bezahlen?”

Julian dachte: oh Gott! Er nickte heftig, lachte wie Nils und sagte freundlich:

“Selbstverständlich, das ist klar!”

“Gut, überweisen sie das Geld mit der ersten Miete. Sie kriegen es beim Auszug verzinst zurück, wenn alles o.k. ist.”

Schüler? Kein Problem! Bisherige Adresse? Julian wusste sie, kein Problem! Wohnen ab sofort, Mitte September. Miete ab ersten Oktober? Kein Problem!

Unterschriften unter die Blätter. Eins für mich, eins für Sie! Alles gute weiterhin in der Schule und viel Spaß mit den anderen Studenten in der Wohnung! Bis bald und tschüs!

Die Wohnungstür knallte.

Martin schüttelte Julians Hand. Er zahlte die Miete bis Monatsende. Übergab die Schlüssel und war weg.

Der Boden vibrierte, federte. Ein Altbau. Der Raum hoch genug, für einen Überschlag in der Luft! Die Landung allerdings so knallig, dass das Schrankbett herunter krachte und zum Hineinspringen bereit lag. Um Viertel vor elf Uhr lag Julian auf Nils Scherers gemietetem Schrankbett. Ein braunes Kunstledersofa stand an der Wand. Ein brauner Tisch stand davor.

War das Theater oder die Realität? Den Schlüsselbund ließ er klimpern, wie Christoph. Durch das offene Fenster schaute er fünf Stockwerke hinunter in den Innenhof. Nils Scherers neues Zuhause.

Julian saß für Nils in der Kneipe

Das Knittl im Westend fand er. Der Stadtplan war es. Um Viertel nach sieben Uhr saß er in einer Ecke der schummrigen Kneipe. Ein volles Bierglas vor sich, er freute sich über das unglaubliche Glück des Tages. Nils Scherer nicht mehr in der Garage!

Nach einem halben Bierglas kam Christine. Er winkte, sie sah. Sie lachte und ließ sich mit einem “Hallo” gegenüber seinem Bierglas in einem Bistrostuhl nieder.

“Na wie war’s bei dir heute so?”

“Optimal dein Tipp! Ich hab die Bude. Es ist alles klar, der Vertrag schon unterschrieben!”

“Ist ja unglaublich! Wo ist das Zimmer?”

An diesem Abend tauschte er sich lange und intensiv mit Christine aus.

Sein schlechtes Gewissen formierte sich.

Er liebte sie. Das glaubte er zumindest. Was soll man auch mehr tun? Sie war hübsch, sympathisch, er liebte ihre Augen, ihr Sprechen. Und sie hatte Nils Scherer zum neuen Zimmer verholfen. Das war zu viel. Es musste geschehen. Er kam aus den weiten hohen Bergen, da gab’s kaum Frauen. Alles war eindeutig. Das musste passieren, doch keiner dachte daran. Ihre feinen Hände, ihre blonden Locken, ihr Lachen, ihre Grübchen, ihre Worte. Das war alles zu viel.

Julian saß und zitterte leicht, sein Herz ging schnell, ihm war warm.

Während Julian dies fühlte und erst langsam begann darüber nachzudenken, berichtete Christine, dass die “chaotischen Freunde”, wie sie Nils Kumpels nannte, wieder in München eingetroffen waren. Rolf rief sie an.

“Er wollte wissen ob du noch wohnungslos bist. Und wies dir geht. Ich habe ihm die Nummer gegeben”.

 

Gegen zehn Uhr war die Kneipe bis auf den letzten Stuhl voll. Die Geräuschkulisse hektisch laut. Reden, Plärren und Grölen. Hundert Leute mindestens. Rocksound aus den Boxen. Sie hingen oben. Nebelschwaden wie bei Helmuth Hauch. Kopfschmerzen.

Überfüllte verrauchte Kneipen, zu viel für Julian. Er wollte gehen.

“Mein “Markenzeichen ist es, in Kneipen zu palavern. Hin und wieder zu versumpfen. Du musst damit rechnen, dass sich meine Freunde mit dir dort treffen wollen. Dort spielt sich der unterhaltsamste Teil des Alltages ab. Das Leben an der Bar! Klar ist es ein Fehler, es kostet Geld. Ein Laster. Das halbe Leben besteht darin. Die Kneipe ist Kommunikation. Dort wird so mancher Deal im Leben entwickelt. Das ist wichtig. Es ist vollkommen egal ob diese “Deals” jemals in die Realität umgesetzt werden. Am Kneipentisch werden Alltagsideen mit anderen Augen entwickelt. Die Realität spielt eine untergeordnete Rolle und das ist gut so. So kann neue Lebensenergie aufgebaut werden.”

Von dieser Energie spürte Julian im Knittl nichts. Er spürte die Kopfschmerzen. Vielleicht war die Energie des Abends seine Nähe zu Christine. Die spürte er.

In der Kneipe war er der einzige, dem es langsam schlecht wurde. An allen Tischen saßen Leute. Vier, fünf, sie unterhielten sich angeregt. Regelmäßig nippten sie an ihren Gläsern und zogen an Zigaretten. An der Bar standen die Menschen oder saßen auf Barhockern. Nippten ebenfalls, genossen den Abend. Niemand sah aus, als wollte er gleich gehen. Keiner saß kreidebleich am Tisch. Nur Julian. Doch das sah niemand, auch nicht Christine. Nils Scherer saß vor ihr.

“Können wir langsam gehen?”

“Aber klar! Noch ein Bier bei mir, würde ich sagen!”

Julian schlug das Angebot nicht ab. Vor der Tür atmete er tief die frische Stadtluft ein. Sie gingen zum Wagen. Bei jedem Schritt wurde es besser.

Im Wagen schwiegen beide. Er sah ihre gepflegten Hände. Sie umfassten das Lenkrad. Sie legten einen anderen Gang ein. Sie fuhren durch die blonden Haare. Er traute sich kaum nach links in ihr Gesicht zu blicken. Er fürchtete, sie könne irgendwas bemerken. Was wusste er nicht. Vielleicht ein anderer Gesichtsausdruck von Nils Scherer. Der konnte verraten, dass Julian für sie etwas empfand. Sollte das Liebe sein?

 

Christine wohnte mit Regine zusammen. Eine kleine Zweizimmerwohnung. Die Küche immerhin so groß, dass man bequem zu zweit in ihr sitzen konnte. Sie lotste den Menschen, den sie für Nils hielt, durch den engen Wohnungsflur in die Küche. Vorbei an ihrer Zimmertür auf der eine Porträtfotografie klebte. Lachend. Vorbei an der Zimmertür von Regine. Eine lebensgroße Photographie von Humphrey Bogart im Nadelstreifenanzug. Am Küchentisch saßen sie. Neben Kühlschrank und Elektroherd. Christine bot dunkles und helles Bier an. Musik von den “Talkingheads”, “The Clash” oder “The Cure”?

Helles Bier und “The Cure”.

“Cure mag ich auch, aber nicht immer, vor allem nicht alles. Ich liebe Sound von Dire Staits, Joe Cocker, Neal Young, Joan Armatrading, Van Morrison, B.B. King, John Lee Hooker und noch einigen die mir gerade nicht einfallen. Der Sound ist bei meinen Freunden momentan nicht der große Renner. Macht nichts.”

Julian hörte hin und wieder in seiner Hütte nach den Nachrichten Musik im Radio. Selten. Zu selten um einen bestimmten Geschmack zu entwickeln.

Deshalb stellte er den Schallplattenspieler von Nils und dessen Schallplatten, es waren etwa dreißig Stück, aus der Garage in das Gästezimmer. Jeden Abend hörte er sich ein zwei Platten an.

Die Musik von “The Cure” war gut für den Abend. Sie eignete sich nicht für eine romantische Atmosphäre. Er wusste nicht, warum Christine ihn in ihre Wohnung schleppte.

Vielleicht bildete er sich auch nur irgendwelche “Schwachheiten” ein. Sollte die Küche eine sanfte Vorbereitung auf einen Ortswechsel innerhalb der Wohnung werden?

Nachdem die erste Seite der Cure-Kassette abgelaufen war, beendeten sie die ausgiebige Unterhaltung über Helmuth Hauch.

“Die Menschen in der Stadt denken politisch, das halbe Leben ist Politik. Du wirst es merken.”

Sie bemängelte die allgemein spießige Atmosphäre in der Stadt. Der Geldadel mache sie sich zu Eigen. Die Mieten apokalyptisch. In zehn Jahren könne sie keiner mehr zahlen. Wir haben jetzt schon kaum mehr Platz. Unsere Kohle: viel zu knapp. Unsere Wohnungen: Löcher ohne Komfort. Bad? Küche? Nix da! Luxus! Unnötig! Unbezahlbar! Studenten? Na klar, die Marktlücke! Heute die Provisionen an die Makler, morgen die Zinsen für ihren Unterhalt an die Banken! Alles Palletti, Bildung für jedermann!

Julian verstand einiges. Er erlebte schon drei Stadttage.

In vielen Jahren? Große Wohnungen für Studenten-WG’s, die reichen Eltern berappens! Die ham genug geerbt. Familien? Nix da! Wenn überhaupt, dann zu viert auf siebzig Qaudratmetern für zweitausend Lappen! Große Wohnungen? Viel zu teuer für die: entweder Juppies, Studenten-WG’s oder vereinzelte Alte, die sich’s vielleicht noch leisten können!

Christines Gründe für dieses Thema: Die Miete für die winzige Wohnung betrug über tausend Mark. Sie arbeitete dafür nach der Schule bei der Post. Regine in einer Kneipe. Eine Mieterhöhung stand an. Neue Fenster.

“Keine Ahnung, wie die zwei das schaffen! Die Schule ist stressig. Haufenweise Stoff wird dir verpasst. Darfst jede Menge büffeln. Nächstes Jahr die Abschlußklasse. Nebenbei nen Job? Das wär das sichere Ende meiner Schulkarriere!”

 

Ohne ihre Jobs müssten beide zu ihren Eltern zurück ziehen.

Christine: “Nur über meine Leiche gehe ich zurück in mein bürgerlich-konservatives-CSU-Politbüro! Ich hasse diese Heuchelei. Die totale Abhängigkeit und Unterwürfigkeit! Das gibts erst wieder in vierzig Jahren, wenn’s ab ins Altenheim geht! Ob’s die dann noch gibt?”

 

Nach dem zweiten Bier kam Regine und setzte sich zu ihnen. Sie war froh, nach einem anstrengenden Arbeitsabend in ihrer Kneipe, zwei Gesprächspartner an zu treffen. Sie schilderte ihre Tageserlebnisse.

Der Abend endete für Julian unangenehm. Ein kleiner Ausfall. Gegen halb zwei Uhr Morgens war es ihm schlecht, wie in der Kneipe. Zigarettenqualm und Bierkonsum. Er versuchte, den von Nils empfohlenen schnellen Abgang hin zu legen. Er schob den Vermieter vor. Behauptete Herr Rattl müsse ihn Morgens nochmal sehen. Formalitäten und so.

Er schüttelte die Hände, verabschiedete sich kurz.

Im Gehen zettelte sein Magen eine Art Rebellion wegen seinem ungesunden Verhalten an. Julian wackelte durch den engen Flur. Ging ins Treppenhaus. Ließ die Tür leise zufallen.

Die helle, hölzerne Treppe, die er zwei Stockwerke nach unten zu gehen hatte, erkannte er deutlich. Sie glänzte, hellbraun, war frisch gebohnert oder gewachst. Er betrat sie. Er bewegte die Füße. Wollte gehen wie immer. Runter.

Dann geschah es: alles um ihn herum drehte sich. Er verlor das Gefühl für Beine und Füße. Er verlor den Gleichgewichtssinn. Rumpelnd stürzte er vorn über. Der erste Treppenabsatz. Knall! Das Holz krachte. Knarr, knarr und nochmal knall! Die Arme und Hände konnte er noch bewegen. Zum Glück! Er riß sie vors Gesicht von Nils Scherer. Wumm! Der zweite Absatz. Er lag. Der Landeschlag war ernüchternd. Keine Bewusstlosigkeit. Klar sah er die braune Treppenhausdecke hoch oben.

Er griff ans Fensterbrett. Zog kräftig. Winkelte ein Bein an. Wum! Was war das? Es tat nicht weh!

Die Wohnungstür stand offen. Der geräuschvolle Schlag zweier hüpfender Känguruhs. Scheppernd sprangen sie auf Holzdielen. Beide hechteten, aus dem Türstock der Wohnung. Sie landeten sportlich in die Knie gehend vor der Wohnungstüre. Nochmal knall! Sie hüpften, jeweils zwei Stufen gleichzeitig nehmend, auf ihn zu. Knall,knall,knall. Und der letzte, ein Landeknall. Sechs Stufen und vor ihm standen sie.

“Um Gottes Willen, Nils!”, rief Christine. Sie ergriff seinen rechten Arm. Sie stützte den leicht Verletzten. Der humpelte die Treppe wieder hoch.

Sofort jammerte der Mann:

“Mir ist schlecht und etwas schummerig vor Augen geworden. Wohl die schlechte Luft, und der viele Alk.”

Dann lag er auf Christines Bett.

 

Alles äußerst peinlich, dachte Julian.

“Wenn’s irgendwie persönlich wird, dann fliehen!”

War das persönlich? Wie fliehen?

Eine entblößende Situation, dachte Julian. Zwei Frauen aus der Schulklasse stützten Nils Scherer. Julians dritter Abend in der Stadt. Ist ein Maskierungskünstler auch Überzeugungskünstler?

Die frische Luft tat gut. Sehr gut. Julian richtete sich entschlossen auf. Er fühlte sich wieder fit.

“Ich bin fit. Topfit! Also alles klar! Ich gehe jetzt. Diesmal klappt’s. Kein Problem.”

Entschlossen erhob er sich, schüttelte nochmal kurz Hände, dankte fürs Bier und ging.

Ein bodenloser Abgang, dachte er. Nils Scherer?

Er verließ die Wohnung gegen zwei Uhr morgens. Regine und Christine verzichteten darauf, ihn dumm, (so hätte er diese Frage an diesem Morgen empfunden, weil er sie nicht brauchen und hören wollte), nach einer S-Bahn, die um diese Zeit gar nicht mehr fuhr, zu fragen. Kein Angebot ihn nach Solln zu fahren. Sie ließen ihn gehen. Julian war froh. Er schlenderte gemütlichen Schrittes stundenlang durch die nächtliche Stadt. Hin und wieder, unter einer Straßenlaterne seinen Stadtplan studierend, erreichte er gegen sechs Uhr Morgens das Gästebett in der Sollner Wohngemeinschaft.

Julian saß für Nils in seinem neuen Zimmer

Drei Tage vor Beginn des Abschlußschuljahres wickelte er Nils Scheres Umzug ab. Eine Fahrt mit Rolf in dessen VW-Bus von Solln in die Mitterwieserstraße.

Rolf rief in der Sollner Wohngemeinschaft an. Er war nicht sauer auf Nils. Die Autobahnsituation hielt er ihm nicht vor. Er erzählte begeistert vom ganz tollen Urlaub. Nils hätte es sicher gefallen. Er verpasste jede Menge interessante Erlebnisse. Julian war davon überzeugt.

Rolf bot seine Unterstützung an.

“Umzug? Aber klar doch! Bei dir kein Problem, gerne!”

Er wusste wie viel Kisten das waren. Fünf.

“Donnerstag Nachmittag. Zwei Uhr. O.k.! Und Abends: traditionelles Treffen im Cafe’ Notfall! Alles klar!”

 

Mittwoch.

Die letzte Nacht im Gästezimmer stand bevor. Christoph immer noch weg. Julian allein im Garten. Ein kleines Feuer. Schmerz.

Wie ging es Nils? Wie ging es Assya? Wie seinen Schafen?

Das Feuer loderte in einem alten rostigen Schubkarren. Julian zog ihn aus einem Haufen hinter der Garage.

“Was tue ich hier überhaupt? Feuer mitten in der Stadt? Kann ich hier leben? Wo ein Feuer machen, wenn ich in der Mitterwieserstraße wohne, mitten in der City? Pistolenschüsse durch den Kopf. Denken. Wer bin ich? Wo werde ich leben? Wie werde ich leben? Wer ist Nils Scherer? Wo und wie wird er weiter leben, wenn das alles vorbei ist? Etwas Geschehenes wegdenken? Warum weiter darüber nachdenken, wenn es irgendwann Vergangenheit ist? Nicht mehr denken. Oder: einfach mal denken, was man denken will! Und: nicht das denken, was man nicht denken will!

Warum ich und Nils Scherer? Ein Abenteuer? Ein Spaß? Freizeitvergnügen? Zufall?”

Ein schlechtes Gewissen. Jetzt fast fertig geformt. Rolf der nächste dem er glauben machte, er sei Nils Scherer.

Warum: Ein Reiz? Ein Kitzel? Lust auf Abenteuer, Überraschung, Täuschung?

Was täte er, wenn Rolf auf ihn zu käme und sagte: “Hei Nils, was ist mit dir los? Hast du dir ne Maske aufgesetzt? Du siehst so verschrumpelt aus!”

Rolf zog an der großen, vorgetäuschten Nilsnase. Kräftig riß er daran. Zack! Schon hielt er sie in der Hand. Julians blasse Nase strahlte zwischen Nils Scherers rauen Backen hervor.

Rolf plötzlich schockiert: “Teufel, wer bist du?”

Springt einige Meter von Julian weg. Sieht ihn genauer an. Enttäuschung, Misstrauen, Wut! Reißt den schweren Wagenheber aus dem Auto. Kommt auf Julian zu. Wutentbrannt. Rechts den Wagenheber.

“Wo ist mein Freund Nils? Wo? Wer bist du? Hast du ihn ermordet?”

Julian erstarrt. Kein Wort. Keine Bewegung.

“Du Schwein! Mörder! Du hast es getan! Gib es zu! Du hast in gekillt und sein Gesicht geklaut!”

Rolf im Gesicht rot. Zitternde Hände. Julian nach vorn gebeugt, schweigend. Keine Erklärung. Angst. Eisige Kälte. Rolf dunkel, ein Riese vor ihm. Hallende Schreie wie aus der Tiefe: “Du hast ihn ermordet! Du! Du warst es! Du!”

Rolf einen Meter zurück. Zitternd beide Arme in die Höhe. Schwarzer Stahl. Julian schaut hoch. Oben der Schwarze. Er stürzt herab. Krach im Kopf. Dumpfes heulen. Das schwillt an. Eine Sirene. Nochmal Krach im Kopf. Jetzt ein schrilles Läuten. Kein Schmerz. Dunkelheit.

“Rolf! Nein! Nein!” Julian riß die linke Hand an sich. Eine leichte Brandwunde. Das Feuer knackste. Er blickte um sich. Hell erleuchtete Häuser um das Grundstück. Keine Menschen an den Fenstern. Keine Blicke. Ruhe. Nur das Dröhnen der Straße hinter den Blocks. Niemand interessierte sein Geplärre.

 

Der Umzug verlangte Organisation. Es waren nicht nur die fünf Kisten. Eine neue Adresse. Briefe schreiben. Nachsendeantrag, Bank, Krankenkasse, Schule. Nils erklärte alles. Julian saß in der Mitterwieserstraße an Nils alter grauer Schreibmaschine. Rolf polterte über die Holzdielen die hunderfünfundreißig Treppenstufen hinunter. Unten kam er an: Wumm! Die Tür des Hinterhauses krachte.

Julian tippte noch nie, fand es interessant, brauchte Stunden für vier Briefe. Dann fand er das Kohlepapier in der Kiste mit den Umschlägen. Dachte an den Vater. Die Formalitäten im Büro des Bestattungsdienstes vor der Urnenbeisetzung.

Den Tod.

Vor dem Tisch mit der Schreibmaschine das Fenster. Draußen graue Mauern. Gewohnte Höhe zwar, aber nicht in einem Gebäude. Blicke in die Tiefe kannte er. Hohe Felsvorsprünge. Er neigte sich vorsichtig darüber. Unten der Innenhof. Ein riesiger Kastanienbaum im Nachbarhof. Äste weit über die Mauer zwischen beiden Innenhöfen. Kein Grün. Pflastersteine. Ein Blechdach. Darunter Fahrräder. Auch Nils Fahrrad.

Der Garten in Solln: weg. Stattdessen Häuserfassaden, Mauern. Bedrohliche Mauern, schräg. Krumm, schief, hoch. Sie neigten sich in den Hof.

Plötzlich Donnern und Grollen. Die Mauern fallen um. Klar! Sie standen zu schief! Konnten nicht mehr lang so stehen! Lärm. Kein Autolärm, keine Lastwagen, sondern Schreie, kreischende Schreie. Schreie wegen der Schmerzen.

Aus der Höhe stürzende Menschen. Mörtel und Betonbrocken von oben. Dachbalken, Ziegel, Blechdächer. Alles stürzte nach unten. Dort: riesige Haufen. Trümmer. Panik und Verzweiflung. Frauen und Männer zerlumpt. Suchend.

Rauchschwaden, Feuer, ätzende Dämpfe. Zusammengebrochene Menschen auf grauen Schuttbrocken. Kniende Menschen. Humpelnde Menschen. Gebückte Menschen. Fetzen ihre Kleidung. Asche. Blutende Hände und Gesichter.

Flammen überall. Laute Donnerschläge. Gasexplosionen. Fliegende Steine, Fenster, Glassplitter, Presspanmöbel, Stühle, Stuhlbeine, polierte Marmorfiguren, glänzende Marmorplatten, weiße Monitore, eine fliegende Frau in rosa Kostüm, hinter ihr ein fliegender Bullterrier, eine fliegende Hand mit Goldkette.

Keine Luft mehr. Gestank. Verkokeltes Plastik, Kunststoff, Autoreifen, Holz, tropfender Lack, Elektrogeräte. Brennende, dampfende, ätzende offene Cabriolets.

Plötzlich wieder fahrend in Rolfs Bus: hinten Umzugskisten, vorne Autoschlangen, qaulmende, röhrende Blechrohre. Funktelefone an Köpfen hinter dunklem Glas. Hupen. Knallende Autotüren. Klingeln. Straßenbahnen. Röchelnde Alte auf Stöcken an roten Ampeln.

Plötzlich Rolfs Bus brennend oben auf einer Brücke. Darunter: Menschen in grauen schmutzigen Hosen mit schlabbernden Hosenbeinen. Sie sitzen lehnend an der Wand. Ein Lagerfeuer. Eine zerklirrende Weinflasche.

Auf der Brücke neben Rolfs Bus: Ein blutendes Gesicht auf dem Asphalt, daran ein Funktelefon. Daneben: schwarzes Glas. Daneben: ein abgerissenes Lederlenkrad. Verbrannte Haare. Ein schwarzer Lederhandschuh.

 

Ein lautes, schrilles Klingeln riß Julian hoch. Sofort erkannte er wo er war. Neben der Schreibmaschine. Sein Kopf auf dem Tisch. Vor ihm das offene Fenster. Fünfter Stock.

Telefon! Wo war das Telefon?

Er ging zur Zimmertür. Leichter Schwindel. Der Kreislauf. Griff zum Türknauf. Durch die milchige Glasscheibe sah er eine Person im Gang der Wohnung.

Die sagte:

“Ja hallo hier ist Harri.”

“Wen bitte? Nils? Kenne ich nicht!”

Julian riß die Tür auf. Vor ihm stand der beleibte Physikstudent Harri in rotem Ringelshirt.

“Hallo, ich bin Nils, dein neuer Mitbewohner!”

“Ach so, alles klar, ich wusste nicht, dass du hier bist und wie du heißt. Ich bin Harri. Telefon für dich.” Kurzes Händeschütteln. Telefonhörerübergabe. Harri trug eine geringelte rote Hose. Verschwand rechts in sein Zimmer.

Der Hörer an Julians rechtem Ohr. Wer hatte die neue Nummer schon?

Christine: “Hallo! Na wie geht’s am ersten Tag in der neuen Bude?”

Von ihr war der Tip mit dem Zimmer, also war es für sie auch kein Problem die Telefonnummer ausfindig zu machen.

“Ja, ganz gut soweit, hab schon einiges ausgepackt, bin etwas überrascht, über den Anruf. Ich weiß selbst noch nicht mal welche Nummer dieses Telefon hat.”

“Tja, so geht’s halt manchmal im Leben. Es läuft nicht immer so wie man denkt. Manchmal läuft’s halt eben anders! Ich wollte dich fragen, ob du heute Abend im Notfall bist.”

“Ja, ich komme hin.”

“OK, dann wünsche ich dir noch viel Spaß beim Auspacken, bis heute Abend. Tschüsi!”

“Ja tschüs”, erwiderte Julian und Christine war schon weg. Er hängte ein.

Julian saß für Nils im Cafe Notfall

Das Café Notfall war eine Kneipe in der die Gäste saßen, als seien sie in einem Ladenschaufenster ausgestellt. Durch riesige Fenster sah man von draußen die Menschen. Die Beleuchtung war neongrell. An der Bar, inmitten der gefüllten Kneipe, saßen diejenigen Menschen, die tagsüber bewaffnet mit braunen und schwarzen Lederaktenkoffern auf der Modewoche, oder der Modemesse, oder irgend welchen anderen wichtigen modischen Meetings, ihre Leistungen bei einem Glas Sekt vorführten. Auf dem Laufsteg präsentierten sie “ihre” Mädchen. Abends saßen sie mit ihnen im Notfall an der weißen Theke. Hier ging die Präsentation weiter. Dazu gab es Champagner und Pommery.

Draußen warteten Johann, James und Georg. Sie polierten Chromleisten. Später transportierten sie die Herrn mit den Damen in den offenen, glänzenden Karossen in das nächste Etablissement.

 

Julian stand in der Tür. Er überflog die Damen und Herren an der Bar. Sie sahen schwarz-weiß aus. Sein Blick wanderte in die Ecke. Er suchte Nils Scherers Schulfreunde. Er sah sie. Ralf, Mark, Rolf. Der winkte schon. Ein runder Tisch. Der hinterste Winkel der Kneipe. Vorsichtig bahnte sich Julian den Weg. An leicht bekleideten Damenrücken und weißen Herrenhemden schob er sich vorbei. Keine Berührung. In der Nase plötzlich “Fleecy Clouds In Paradise”.

Ein freier Stuhl neben Christine. Julian begrüßte alle so, wie Nils es sagte. Jeder bekam kurz seine Hand. “Keine überschwänglichen Umarmungen.” Nilslächeln, ein kurzes Kopfnicken. Dazu die Frage: “Na, wie ist die Lage?”

“Von dem Laden halte ich nichts. Trotzdem bin ich dort. Vergnügliches Theater! Ein Juppitreff. Gewöhnlich und teuer. Der Zufall am ersten Schultag führte uns hin. Wir sind Exoten in dem Laden. Ein krasser Kontrast. Unsere Geldbeutel sind eigentlich zu klein. Es ist o.k., regelmäßig dort zu sitzen. So lange die uns noch reinlassen. Die versnopptesten Typen kannst du dort sehen. Alles sehr unterhaltsam. Abartig unterhaltsam. Man spart sich Geld fürs Kino.”

Julian fand die Kneipe einfach nur ungemütlich. Die grelle Beleuchtung, die Rauchschwaden, das Gekreische und Herumgeplärre von der Bar, die tollen offenen Nobelkarossen vor der Türe, die tollen Menschen hinter – und vor – der Theke, mit ihren Goldkettchen und geöffneten weißen Hemden, “Fleecy Clouds In Paradise”, die heraushängenden Brusthaare, die gebügelten lässigen Sakkos, das alles fand er abstoßend.

Julian saß. Mark sprach. Er berichtete von einem Bekannten. “Erich ist so ein schnieker Typ, wie die Typen an der Bar. Er lebt in einer unwirklichen Welt. Sein Verhalten ist affektiert. Er spricht unverständlich, für mich. Eine andere Sprache. Ein gesangsariges Tei..tei..tei.. Verfremdet. Theatralisch. Dabei immer perfekt gekleidet. Seinen Körper bewegt er perfekt. Eine Art Show. Erichs Welt ist perfekt und sauber. Er ist Manager von Modells. Er nennt sie “Püppchen”. Erichs Leben ist absolut funktional. Das ist eine Art Kunst. Es ist so künstlich wie die Modells, die er vermarktet.”

Mark erntete unverständige Blicke aus der Tischrunde.

“Irgendwie leben diese Leute in einer abstrahierten Scheinwelt. Alles künstlich angelegt, stets sauber. Weiß. Alles perfekt gestylt. Um sich herum bauen sie eine saubere Kunstwelt auf. Ihr Rahmen. Künstlich ist nicht nur der Rahmen, auch sie selbst: beispielsweise ihre Gesichter! Künstlich. Was nicht gefällt wird verändert, erneuert, ausgewechselt. Was nicht auswechselbar ist, wird dick übertüncht. Natürlich sehen die Leute verfremdet aus. Doch das stört nicht mehr. Es ist Normalität geworden. Künstliche, selbst komponierte Gesichter, künstliches Lachen. Alles kein Problem! Die Verkünstlichung des Körpers. Perfekt! Was alt und verbraucht ist, wird erneuert.

Erich fühlt sich wohl in der Brache. Die Brache ist genau die richtige. Mode und Werbung. Er sagt: alles lässt sich vermarkten, selbst das perfekt vor geheuchelte künstliche Leben. Bunt verpackt, nennen wir es Glückseligkeit und kassieren dafür Millionen.

dass, das wahre menschliche Leben aus einem Haufen von Makeln besteht, wird verdrängt. Überpinselt. So lange bis man glaubt, das Künstliche sei die neue Realität.

Dazu: Erfolgreich sein! Es ist wichtig. Ein Lebensziel. Doch was ist Erfolg? So viel von dieser Künstlichkeit wie möglich zu verkaufen? Ja! Genau das! So viel Geld wie möglich aus irgendwas zu schlagen. Erfolg wird dann zelebriert. Im Notfall an der Bar. Und anderen Ortes!”

Wie kam Mark auf die künstlichen Gesichter? Regte Julian den Gedanken an?

Niemand unterbrach ihn. Alle hörten geduldig zu. Das musste Politik sein, von der Nils sprach.

“Oder anders ausgedrückt: Erich hat ganz und gar das Gefühl, auf der Siegerseite des Lebens zu stehen. dass es auch Verlierer gibt interessiert ihn nicht. Er und seine Freunde wollen das nicht wissen. Und die borniertesten seiner Freunde glauben sogar, dass wer auf die Verliererseite gerät, daran garantiert selbst schuld ist.”

Christine wollte einen Themawechsel, sie wollte über die “Machoseite” des Themas: “Juppies in unserer Gesellschaft”, (wie sie es nannte) reden. Auch Regine wollte darüber sprechen, sie sagte: “mit einigen von den Typen an der Bar da vorne habe ich schon ein oder zwei Sektgläser getrunken. Spätestens beim zweiten Glas wurde klar, dass deren Einstellung zu Frauen, sich nur unerheblich von ihrer Einstellung zu Autos unterscheidet: sie muss schön und schnell sein, ich meine sie muss schnell ins Bett zu bringen sein, und sie muss funktionieren.”

Die Frau müsse für die meisten dieser Leute eine vorgesehene Rolle einnehmen. Sie müsse dem Manne dienen und ihn zufrieden stellen. Sie müsse ihm, genauso wie sein Auto, als Prestigeobjekt dienen. Im Haushalt und im Bett müsse sie gut funktionieren. Dies benötige er, um seine Geschäfte langfristig erfolgreich abwickeln zu können. Im Rahmen dieser Geschäfte spiele die Frau keine verantwortliche Rolle. Sie diene der Repräsentation. “Eine hübsche Blondine an der Seite eines erfolgreichen Juppies ist das Sahnehäubchen auf der Karriere!”

 

Julian hörte interessiert zu. Manches kannte er von den Gesprächen mit Nils in der Schäferhütte. Der Treffpunkt im Café Notfall hatte den Zweck, das zu sehen, über das man sprach. Menschen über die gesprochen wurde, hielten sich im gleichen Raum auf.

Rolf war der Meinung, dass das nicht mehr lange gut gehe: “Ich wundere mich schon lange darüber, dass es hier noch keinen Türsteher gibt.”

Julians Kleidung, alte Jeans, zerfranste Jeansjacke und altes Sweatshirt war ein krasser Gegensatz zu den Menschen an der Bar in gebügelten Nadelstreifenanzügen und Seidenhemden.

 

Während Julian über seine optische Wirkung auf die Juppies im Notfall nachdachte, ließ ich die Eingangstür des Cafés hinter mir zu fallen. Es war bis auf den letzten Platz besetzt. Neonbeleuchtung zerschnitt Rauchschwaden in feine Streifen. Die Lautstärke der Manager und aufgetakelten Modells an der Bar war ohrenbetäubend. Zigarettengeruch, Mief von Sekt, Champagner und abgestandenem Bier lag in der Luft. Dazu: “Fleecy Clouds In Paradise”, ein angeblich neuer Duft. Ich überflog die Bar. Bunte Damen. Weiße Herren. Dahinter, in der linken Ecke sah ich zuerst Mark und Rolf, dann Regine und Christine. Ich erkannte Nils. War er abgemagert? Er musste abgenommen haben! Vier Wochen im Gebirge, da nimmt man wahrscheinlich ab.

Ich schob mich durch die Menschenmenge. Laut schwafelnde Personen. Weiße Stehkragenhemden und Sakkos. Auch Westen.

Am Tisch in der Ecke angelangt begrüßte ich die Runde allgemein. Die Frisur von Nils war etwas zu kurz. Seine Haare waren heller als sonst, sie vielen völlig anders. Seine Gesichtsfarbe war zu dunkel, überhaupt wirkte der Gesichtsausdruck etwas künstlich. Ich erkannte ihn kaum wieder. Erst als er zur Begrüßung sein typisches Nilslächeln aufsetzte, wusste ich, dass es tatsächlich Nils sein musste.

Für sein verändertes Aussehen machte ich den Trend der Zeit verantwortlich. Es war völlig normal, sich von Zeit zu Zeit optisch ein wenig zu verändern, oder gezielt aufzupäppeln. Das Aussehen wechselte, wie die Düfte. Früher war es “Good Old Paradise”, dann “Cold Dirty Sunrise” und jetzt eben “Fleecy Clouds In Paradise”.

Selbst Mark hatte schwarz gefärbte Haare. Von Nils war ich dieses Verhalten nicht gewohnt. Das Leben der Menschen in dieser Stadt hatte – gerade in dieser Kneipe dachte ich mir das schon sehr oft – etwas künstliches. Die Menschen im Notfall wirkten künstlich. Sein Äußeres veränderte man durch Kleidung, Schminke, Haarfarbe, Hautfarbe oder gleich ein kleines Facelifting. Anderes Aussehen gehörte zum Alltag. Ich sah keinen Anlass für Rückfragen.

Ich wollte mich selbst nicht bloß stellen und dumme Fragen über die veränderte optische Erscheinung eines Freundes stellen. Es war einfach so, dass sich viele Dinge rasend schnell veränderten. So auch das Aussehen von Personen. Man gewöhnte sich daran, dass sich die Haarfarbe eines Schulfreundes innerhalb eines Schuljahres vier mal änderte. Das war kein Thema.

So dachte ich über Nils, er habe in seinen Ferien in den Bergen eben entschieden, einfach auch mal ein umfangreiches Körperveränderungsprogramm durch zu ziehen. Überrascht war ich nur darüber, dass mir seine Stimme ebenfalls leicht verändert vor kam. Ich wusste nicht genau was anders war. Aber irgend etwas hörte sich verändert an. Nils hatte keine Erkältung. Vielleicht war es seine äußere Erscheinung, die mich glauben ließ, die Stimme wäre anders. Das war meine Erklärung. Meine Wahrnehmung: ich sah etwas anders, also hörte sich, was ich sah, plötzlich auch anders an!

Ich verhielt mich wie immer. Ich verdrängte meine Zweifel, ob ich nun Nils oder jemand anderen vor mir hatte. Für diese Vermutung gab es keine vernünftige Erklärung. Weshalb sollte ich nicht Nils vor mir haben?

 

Christine, von der ich wusste, dass sie sich schon immer für Nils interessierte, war an diesem Abend besonders an ihm interessiert. Die Blicke, die sie mit Nils tauschte, waren nicht so wie immer. Sie waren intensiver, vertrauter. Zwischen den beiden musste sich etwas verändert haben. Nils war aufgeschlossener. Er war ihr näher gekommen.

Am Tisch entstanden Gespräche zwischen einzelnen Personen. Eine ungewöhnliche Situation im Notfall. Sonst saßen wir in gemeinsamer Runde und einer, meist Mark führte das Wort. Dem fügten die anderen etwas hinzu, lachten, oder kritisierten. Daraus entstanden Diskussionen und Meinungsbekundungen zur Situation in der Stadt.

dass an diesem Tisch individuelle Gespräche unter Einzelnen entstanden, war mir neu. Nils war mit Christine in ein Gespräch vertieft. Sie verstanden sich blendend. Ich sah Christine noch nie so viel lachen.

Ich diskutierte mit Rolf und Mark über die konservative Bayerische Bildungspolitik und dessen Auswirkungen auf den Schulbetrieb, der uns am Dienstag wieder erwartete.

Ich war nicht beim Thema, beobachtete Nils. Hat er auch sein Verhalten geändert? In meiner Vorstellung war es, nach den Erfahrungen im vergangenen Schuljahr, undenkbar, dass sich Nils im Notfall eine knappe halbe Stunde, intensiv mit einer Frau unterhielt. Stets diskutierte er mit uns über Gesellschaft und Politik.

Der Abend endete überraschend schnell: Gegen halb eins verkündete Mark offenbar etwas zu laut seine Meinung über die Verquickung zwischen CSU-Politik, Besetzung wichtiger Stellen im Bildungsbereich und den vielen mundtoten Schulabgängern und Studenten.

“Da kann doch nur so ein angepasstes Juppigesocks herauskommen, das nur an Kohle um jeden Preis denkt, wie man es hier sieht, eingenebelt von Fleecy Clouds In Paradise!”, brüllte er zu Regine über den Tisch. Die stimmte lachend zu und prostete mit ihrem Bierglas.

Ein alkoholisierter Mann in weißem Hemd, mit bunter Krawatte, Mitte dreißig, auf einem Barhocker, lief wegen dieser Worte wütend rot an. Er schwankte mit halbvollem Bierglas auf unseren Tisch zu. Schwankend hob er die rechte Hand. Mund geöffnet, rote Zunge sichtbar. Hand weit oben, ausgestreckter Zeigefinger. So wollte er los plärren. Und so stolperte er. Kurz vor unserem Tisch. Er knallte auf Marks Rücken. Regines Warnkreischen kam zu spät. Sie riss die Ellenbogen vors Gesicht. Sah ein fliegendes Bierglas auf sich zu kommen. Von vorne. Nichts schwappte heraus. Der Gegenwind. Es zischte über Marks Kopf. Der sah das Glas von Unten direkt über seinen Augen auf einer Bahn in der Luft. Jetzt verstand er den Warnschrei. Riss sich selbst vom Stuhl, rutschte nach rechts, saß auf meinem Stuhl. Trotzdem krachte der Mann auf den Rücken. Mark rückte noch ein Stück. Der Mann stürzte mitten auf den Tisch. Erst jetzt erkannten Christine und Nils was geschah. Zu spät. Halbvolle Biergläser und volle Aschenbecher vom Tisch flogen ihnen entgegen.

Mark stand sofort von meinem Schoß auf. Er packte den Besoffenen von hinten, schleifte ihn zur Bar und setzte ihn dort auf einen Barhocker.

Wir überprüften unsere Kleidung und befreiten sie von Zigarettenkippen. Mark:

“Wir sollten ganz schnell gehen, bevor ich mich soweit provozieren lasse, dass das ganze in einer Juppischlacht endet.”

Von uns hatte darauf keiner Lust. So standen wir schnell vor der Tür. Draußen löste sich die Runde im strömenden Regen auf. Beim Abschied sah ich, wie Christine Nils auf die Wange küsste.

Julian saß für Nils auf der Schulbank

Den Besuch des Schulgebäudes verwarf Julian weil die Schule in ein neues Gebäude umgezogen war. So war Julian am ersten Schultag nicht der einzige der nach dem Klassenraum suchte. Das neue Gebäude war hässlich, wie das alte. Beton, Stahl und Glas, glänzend. Vertreter der Stadt und der Architekt meldeten sich Tage zuvor in den Zeitungen. “Ein herausragender Prachtkomplex, eine architektonische Glanzleistung und, weil das Gebäude mehrere Schulen unter einem Dach vereinte, ein “bildungspolitischer Meilenstein”.

Der Meilenstein stank grauenvoll. Beton, Estrich, Teppich und Farbe. Julian nahm im Klassenraum einen Platz dicht am Fenster. Das riss er schwungvoll auf. Den abgerissenen Fenstergriff des Meilensteins legte er auf die Fensterbank.

Regine und Mark saßen rechts von ihm, links daneben Rolf, Ralf, die inzwischen hochschwangere Sofia, und Christine. Neben Christine fand ich meinen Platz. Zufällige Sitzordnung. Bei der blieb es. Die Tische standen in klassischer U-Eisenform. Das obligatorische Warten begann. “Man fühlt sich wider wie ein Grundschüler. Man hofft vergeblich auf eine Lehrkraft. Man wartet auf Stundenplan und Bücher. Dabei sollte man locker bleiben.” Gespräche. Austausch über Ferien und so weiter. Mark, dem das jährliche, “wartende Gequatsche”, wie er diese Minuten nannte, sofort auf den Geist ging, vertiefte sich in eine Tageszeitung. Julian nahm einen Teil des Blattes. Rolf tauschte Urlaubserlebnisse mit Regine aus.

Ich sprach mit Sofia. Über ihre Situation, über ihr erwartetes Baby. Sie war im sechsten Monat. Sie war zuversichtlich von dem Schuljahr noch etwas mit zu bekommen. Die Oma werde sich kümmern während sie in der Schule ist. Den Vater nannte sie einen Trottel. Sich selbst nannte sie Trottelin, wegen des Vaters. Er verließ sie kurz nachdem klar war, dass sie das Kind bekomme. Sie wusste nicht wo er geblieben war. Trotzdem war sie glücklich: mit Rolf. “Das Beste ist meine Verwandtschaft! Sie lehnt nichts ab, sondern freut sich!”

Plötzlich betrat Helmuth Hauch das Zimmer. Es wurde laut und piepsig und begann sofort grausam zu stinken. Neuer Teppichbelag, trocknende Farbe und “Fleecy Clouds In Paradise”. Julian öffnete das nächste Fenster, legte auch den Griff auf die Fensterbank. Kreischende hüpfende Begleitung. Hochtoniges Lachen. Weiß stand er im Türrahmen. Ein kurzer Blick in den Raum. Kein Gruß. Die erste Reihe. Rechts und links begleiteten ihn die jungen, schönen, Blonden.

Er, strahlend weiß. Seidenhemd, Stehkragen, weit offen. Darunter schwarzes Kreuselhaar, darüber eine schwarze Weste. Dekoration: ein knall roter Seidenschal. Die rechte Hand: das schwere Goldkettchen. Links: eine breite goldene Uhr.

Seine Bewegungen: schauspielerisch, theatralisch. Schwungvoll wie in Kinowerbung. Betont locker. Das Seidenhemd und der Schal wehten leicht im Wind seines Schwungs. Der falsche Mann am falschen Ort. Er hatte sich verlaufen. Was suchte er? Miami Vice?

Sein Blick: Überlegen.

Niemand erwiderte ihn.

Niemand: Ich weiß auch nicht, was der Mann hier will.

Ich: Aber sein Erscheinen muss doch einen Grund haben!

Niemand: Naheliegend wäre, dass auch er etwas lernen möchte.

Ich: Aber deshalb so ein Outfit? So ein Auftreten?

Niemand: (ironisch) Wer schön ist muss was lernen!

Ich: Das heißt: Wer schön sein will muss leiden!

Niemand: Achso? Aber, wo leidet der Mann?

Ich: Hat er das schon hinter sich?

Niemand: Das ist es! Genau. Und jetzt will er noch was lernen!

Ich: Achso!

 

Die vier jungen Mädchen. Bunt, leicht bekleidet, wie zu einer Vergnügungsparty. Jubelnd schwirrten sie um den Mann herum. Kreischen, Lachen. Ein Sägen an den Nerven. Zur Feier des Tages: wasserstoffblonde Perücken! Sie ließen sich neben dem angebeteten nieder. Mehrere Wangenküsschen.

 

Mark blieb nicht ruhig. Die Zeitung schlug er zu. Die Arme verschränkte er. Lehnte sich im Stuhl zurück. Versuchte eine herablassende, ein wenig genervte Beobachterposse. Der Manager einer Schallplattenfirma, der sich den ganzen Tag lang schlechte Sänger anhören musste. Die nächsten fünfzig standen noch draußen.

Mark aus der hinteren Reihe in die erste: “Mir ist plötzlich schlecht. Ich glaub gleich muss ein verkotztes Seidenhemdchen wieder Heim gehen!”

Die Frauen gackerten, plärrten und kreischten. Sie biederten sich an. Helmuth Hauch war daran gewohnt. Brauchte er das? Mark überhörte er. Der stand auf. Legte die Schultasche auf den Tisch. Ging vor. Nah an Helmuth Hauch vorbei. Dort würgte er. Ging langsam weiter, verließ den Raum. Wortlos. Genervt.

Plötzlich trat Ralf auf. Seit einigen Minuten lag er, einen Cowboystiefel auf dem Knie angewinkelt, im Stuhl. Die Szene begutachtend. Der Besucher in einem miesen Theaterstück. Gehen wollte er nicht. Laut und deutlich brüllte er aus der letzten Reihe vor:

“Hey Hauchi! Wir brauchen hier keinen Graf Kotz mit Harem! Wenn du mit deinen Leibeigenen hier rummachen oder rumsabbern oder nur rumalbern willst, kannst du dich in deinen Protzerbunker nach Bogenhausen verzischen! Hier läuft die Sache anders! Klar?”

Überraschte Blicke wegen so viel Klarheit. Der ruhige Ralf plötzlich aggressiv, aufgeregt, zynisch, ironisch, motzig.

Die Worte konnte Helmuth Hauch nicht überhören.

Die Zimmertür öffnete sich in dem Moment, als er aufstand und sich Ralf zuwandte. Herein kam Mark. Seine Zeitung unterm Arm ging er auf Helmuth Hauch zu. Aus kurzer Distanz blickte er dem inzwischen rot angelaufenen gehässig ins Gesicht. Leise, deutlich sprach er: “Ich hasse Protzer! Ich hasse Spießer! Ich hasse den Geldadel, der von geerbter Kohle lebt! Kapiert?”

Helmuth Hauch wollte zur Antwort ansetzen. Mark war noch nicht fertig:

“Deshalb sehe ich nicht ein warum ich wegen dir nervigem Goldklunker das Zimmer verlassen soll. Du wirst draußen warten! Dort ist genug Platz um mit deinen Goldbatzen zu protzen. Dein Harem kann dich begleiten.”

Helmuth Hauch darauf ruhig:

“Darf ich das als Beleidigung verstehen?”

Mark aufgesetzt freundlich lächelnd:

“Wie Sie das verstehen mein Herr, vermag ich nicht zu sagen. Ich jedenfalls fühle mich wegen ihres überzogenen Gehabes gewaltig beleidigt. Also entweder zurückhaltend, am besten gar nicht protzig, oder vor der Tür draußen weitermachen! Klar?”

Noch bevor die Situation eskalieren konnte ging die Tür erneut auf. Gephart, der Mathematiklehrer trat mit drei großen Schritten ein. Er beachtete weder Mark noch Helmuth Hauch, noch die anderen Schüler. Seinen Silberkoffer stellte er auf seinen Tisch. Daumen dran und “klack”, das Schloß sprang auf.

Sofort roch Julian einen neuen Duft. “Fleecy Clouds In Paradise” mischte sich mit “Cold Dirty Sunrise”. Der Grundgeruch nach frischer Wandfarbe und Teppichboden blieb. Julian öffnete ein drittes Fenster. Der Griff hielt diesmal was er versprach.

Mark stand noch neben Helmuth Hauch in der ersten Reihe. Er blickte zu Gephart, lachte wieder aufgesetzt diesmal etwas verzerrt. Plötzlich zerklirrte die aufgesetzte Freundlichkeit wie dünnes Fensterglas. Herein strömte eisige Kälte.

Laut, knapp, abgehakt, militärisch brüllte er, als stelle er einen Trupp von hundert Unterwürfigen vor: “Grüß Gott Herr Gephart!” Der so begrüßte nickte. Wühlte weiter in der Aktentasche. Sagte nichts.

Beachtete niemand.

Niemand: Was ist jetzt das?

Ich: Unser Mathematiklehrer Gephart!

Niemand: Was will der hier?

Ich: Uns Mathematik lehren.

Niemand: Was sonst noch?

Ich: Nix weiter.

Niemand: Aha!

Mark ging zurück in die letzte Reihe. Setzte sich. Auch Helmuth Hauch und Gephardt saßen. Endlich fand der was er suchte. Ein weißes Blatt. Jetzt der erste Blick in die Reihen. Kurz, knapp:

“Wer da ist meldet sich zu Wort!”

Entönig und deutlich leierte er die Liste mit Namen herunter.

Danach erhob er sich wortlos. Ging zur Tafel. Malte einen Stundenplan hin. Das tat er sehr schnell. Er schien wenig Zeit zu haben.

Dann saß er wieder, zog ein weiteres Papier heraus.

“Mit dieser Bücherliste begeben Sie sich um elf Uhr auf Zimmer 310. Ich lasse die Liste hier liegen.”

Jetzt ging er wieder zur Tafel. Sprechend:

“Wer den Plan noch nicht fertig notiert hat kann dies nach der Stunde tun. Wie Sie dem Stundenplan entnehmen können, haben wir nun Mathematik.” Er klappte die Tafel zu. Jetzt hörte er nicht mehr auf zu reden.

Niemand hörte genau zu.

Niemand: Integralrechnung.

Ich: Aha!

 

Gephart war ein kühler, absolut distanzierter Typ. Julian fühlte, seit Gephart das Zimmer betrat, eisige Kälte. Die Temperatur viel um mindestens fünf Grad. Durch sein Eintreffen verhinderte er zwar eine Eskalation. Dieser Zufall war aber nicht sein Verdienst.

“Er grüßt nicht, er verabschiedet sich nicht. Er leiert seine mathematischen Vorträge Stunde für Stunde runter. Er betont zwischendurch immer wieder, dass alles, was er erklärt absolut logisch ist. Auf Rückfragen von Schülern reagiert er vorwurfsvoll: es ist klar, dass wer zuhause nichts tut und lernt, in der Schule auch nichts kapieret. Oder er sagt: “was Sie fragen, ist völlig überflüssig, es wurde bereits einige Stunden zuvor ausführlich erklärt, sie sollten lieber mehr zuhause lernen, als hier dumm zu fragen”. Dafür wird er bezahlt.”

 

Der einzige in der letzten Reihe, der die Dinge, die Gephart erklärte verstand, war ich. Gephart fragte immer mich, weil er wusste, ich verstand. Das war mir peinlich. Die Gruppe war da. Die motzte zwar nicht, aber es gab sie, das reichte. Nach der dritten Mathematikstunde sagte ich deshalb:

“Hey Leute, es sieht so aus, als kapiert ihr nichts. Ich kapiere alles, also hab ich mir überlegt, dass ich euch Nachhilfe gebe! Ok?” Die Angesprochenen lachten. Meine Idee: ein Witz?! Den Irrglauben rückte ich ins rechte Licht:

“Ich mache keinen Witz Leute, das ist mein Ernst! Am besten wir treffen uns ab und zu Nachmittags bei jemandem von euch. Da erklär ich das Mathezeug nochmal!”

Julian sprang auf diesen Vorschlag an. Er, der am wenigsten verstand, dachte, dies könnte die Rettung für Nils Scherer in diesem Schuljahr werden.

“Ich bin dabei! Eine super Idee! Ich kapiere hier nämlich nichts mehr!”

Eine vernichtende Selbsteinschätzung. Spontan schlossen sich alle in der letzten Reihe an. Soviel Offenheit öffnete Türen. Euphorie breitete sich aus. Wöchentlich Nachmittags wollte man sich bei Nils Scherer treffen. Der wohnte zentral und hatte Platz.

Julian war nicht Nils, er traf sich mit mir.

So kam es, dass Julian an einem verregneten Oktobernachmittag die gesamte letzte Reihe in seinem Zimmer erwartete. Auf mein Läuten, das ich nicht hörte, tat sich nichts. Ich wusste, dass sich die Wohnung im Hinterhaus befand. Auf erneutes Läuten, nach einer knappen Minute, erwartete ich kein Klingelgeräusch mehr. In diesem Moment summte es. Sofort warf ich meine Schulter fest gegen das braune, Meter hohe Holztor.

 

Im Innenhof warf ich einen kurzen Blick nach oben. Nils wohnte im fünften Stock. Mein Blick streifte das oberste Fenster. Das dauerte nur einen Bruchteil einer Sekunde. Er war es. Hinter der schmutzigen Fensterscheibe stand er und blickte hinunter. Meinen Blick bemerkte er. Sofort verschwand er vom Fenster.

Der Innenhof war grau und uninteressant. Rechts und links: graue hohe Mauern, kein Zugang, keine Sicht in die Nachbarhöfe. Pflastersteine. Mülltonnen, sauber aufgereiht. Fahrräder unter Blech. Darauf: prasselnder Dauerregen. Dicke Tropfen. Die klatschten im Hof.

Ähnlich sah der Innenhof vor vierzig Jahren aus. Die Fahrräder waren nicht so bunt. Die Aschentonnen waren aus grauem Blech. Menschen, die sich durch den Hof bewegten, kamen über Trümmerhaufen. Die lagen überall. Sie rauchten. Von vielen Häusern stand nur noch die graue Fassade. Wie durch ein Wunder blieb dieses Haus unzerstört. Die Nachbargebäude waren zerstört. Der Geruch von Feuer, verbranntem Holz, verbrannten Leichen lag im Innenhof. Elektrizität gab es nicht mehr, die Wasserleitungen waren geborsten. Die SS-Truppen jagten zwischen den Trümmern immer noch hinter Menschen her. Die waren in diesen Tagen alle gleich. Sie hatten nur ihr Leben. Trotzdem agierten die Nazis weiter. Das Ende sollte jeden treffen. Jetzt auch die, die sie nicht willkürlich zu anderen machten.

Die Eingangstür in das Hinterhaus war unverschlossen. Die Holzdielen im Treppenhaus knarrten. Es roch nach Kartoffelsuppe. Woher die Kartoffeln? Wer hatte sie erstanden? Wer hatte noch Zigaretten, um sie ein zu tauschen?

In Keller und Speicher lebten Juden. Der Geruch kam von oben. Die Flüchtlinge konnten das unmöglich sein. Immer noch war deren Leben gefährdeter als das aller anderen. Soforthinrichtungen der Alltag. Denunziation der Alltag. Täglich streiften Suchkommandos durch die Schutthaufen. Woher sollten die Kartoffeln haben?

Die Treppe stieg ich hinauf. Langsam. In Erwartung eines vergnüglichen, unterhaltsamen Nachmittags. Dem Suppengeruch folgte ich. Wer ihm damals folgte hatte Hunger und Angst. Kriegsangst, Angst vor den Nazi-Mörder-Trupps, Angst vor den Bomben der Befreier. Tägliche Leichen. Schreie der Gehetzten. Menschen vogelfrei. Unvorstellbar. Welche Gründe? Warum sich heute wegen des Kartoffelsuppengeruchs hineinversetzen in Menschen, die damals in diesem Haus lebten?

Ganz oben, der fünfte Stock. Der Kartoffelsuppengeruch kam von rechts. An der rechten Wohnungstüre stand in altdeutscher Schrift: “Maier”. Die linke Tür öffnete sich.

 

Nils begrüßte mich, er lotste mich durch einen unbeleuchteten winzigen Hausflur in sein Zimmer. Trotz der Dachschrägen, neben dem Fenster, war sein Zimmer groß. Die Wände waren kahl und weiß. Nils kein Freund von Bildern?

Der dunkelbraune Teppichboden sah nach unempfindlicher giftiger Chemie aus. Schmutzabweisende Kunstfaser. Die Möblierung war spärlich. Ein braunes Kunstledersofa, ein dunkelbrauner ovaler, Mahagoniwohnzimmertisch, drei unsystematisch herumstehende unterschiedliche alte Holzstühle. In der linken Ecke ein Doppelplattenkocher. Ein Waschbecken neben der Tür. Daneben ein deckenhoher brauner Schrank und vor dem Fenster, durch das man bei schönem Wetter den blauen Himmel sehen musste, ein brauner kleiner Schreibtisch. Auf dem stand eine alte Schreibmaschine mit eingespanntem Bogen Papier.

 

Nils bat mir Platz auf dem Sofa an. Er bot Bier, Wasser, Tee, Kaffee und Milch an. Ich sah auf meine Uhr, die zeigte Viertel vor Vier.

“Für ein Bierchen noch etwas zu früh am Tage. Wenn du einen Kaffee hättest, wäre ich gut bedient.”

Nils: “Ein Bier zu dieser Uhrzeit ist reine Einstellungssache.” Er zog eine Tasse aus dem Schreibtisch. Darin goss er Instantkaffee auf.

Der Lebensstandard von Nils schien niedrig. Im Raum sah ich kein Fernsehgerät, keine Stereoanlage. In einer Ecke lag ein verstaubter alter Kassettenrecorder. Daneben stand ein grauer Plattenspieler, sechziger Jahre. Der Recorder diente als Verstärker für den Plattenspieler. Kabelwirrwar zwischen den Geräten. Nils sah meine Aufmerksamkeit und fragte, ob er etwas “Sound ein-tapen” dürfe. Meine Antwort wartete er nicht ab. Schon kniete er vor dem Plattenspieler und zog aus einer blauen Hülle eine Scheibe.

Ein helles Knistern. Die ersten Töne. Gitarre, kaum hörbar im lauten Knistern.

“Once upon a time in the west.”

Es ging um die Musik dieser Band. Unsere Vorstellungen darüber, wie sie vor nicht sehr vielen Jahren in Londoner Clubs und kleinen Pubs vor wenig Publikum spielte. Begeisterung im Publikum wegen dem Sound, wegen der Atmosphäre. Freunde, keine kreischenden Fans. Nebel, Zigarettenqualm. Klatschen, freudiges Lachen im Publikum. Höchstens hundert Leute. Überschaubare Begeisterung, keine Massenhysterie. Atmosphäre.

Auf der Bühne: Leute, wie du und ich. Sie spielten und das machte Spaß. Sie bewegten sich im Rhythmus ihres Sounds. Sie lachten dabei. Sie stammten aus einem dreckigen kleinen Vorort. Arm und grau. Alltag. Morgens Kälte, Abends Finsternis. Trott.

Irgendeine Perspektive? Was ist das?

Musik! Vier Typen in einer feuchten Garage. Oder war es ein Keller? Egal. Jeden Tag fast. So oft es ging. Hoffnung. Noch keine Perspektive. Daran dachte niemand. Draußen: qualmende Schlote, grüne Landschaft, grauer Himmel, Gestank, lange Wäscheleinen, schwarze Regenwolken, hohe Häuser. Drinnen: Schlagzeug, Baß, Gitarre, Verstärker, Mikros, Gesang, Modergeruch.

Die vier Typen: völlig normale Menschen. Gestern noch in der Schule oder in der Fabrik. Nicht gedresst, nicht gestylt. Nicht verrückt. Noch nicht? Geld für Zigaretten: ja. Geld für neue Saiten: ja. Geld für neue Drummsticks: ja. Geld für ein Mikrokabel: ja. Geld für Cola: nein. Geld für neue Klamotten: nein.

Völlig normale Leute also. Was sie machten? Fast nichts. Zumindest nichts besonderes. Musik.

Romantik in der Garage? Nein Moder.

 

“Ich würde gerne ein Instrument engagierter lernen. Vom Rumgestümpere auf der Gitarre wegkommen.”

“Es ist schwer, vom Rumgestümpere weg zu kommen”, sagte Nils.

Er schenkte mir ungefragt in ein ehemaliges Senfglas ein Bier ein. Er stellte es vor mir auf den braunen Tisch. Er saß auf einem alten grünen Holzstuhl von dem der Lack abblätterte.

Er sprach kaum etwas. Er schien froh, dass ich soviel zu sagen hatte. Die Situation war ungewohnt. Wir saßen schon lange nicht mehr zu zweit und redeten.

Gespräche in der Gruppe waren die Regel. Sie bot Schutz.

“Where do you think you’re going?”

Ich: “Das weiß ich noch nicht genau. Wenn ich den Abschluß habe, kann ich studieren. Da gibts einige Möglichkeiten.”

“Communiqué.”

Nils: “Komisch, warum tust du etwas, wovon du nicht weißt, was du eines Tages damit anfangen wirst? Ich habe dich zielstrebiger, zielorientierter eingeschätzt. Ich dachte, du würdest deinen Weg genau planen und ihn heute schon kennen. Das ist bei vielen Leuten so. Hab mich wohl getäuscht.”

Ich: “Eben. Das ist die Frage. Die Täuschung. Der Anschein. Das Vormachen. Was ist das eigentlich?”

“Ladywriter on the TV.”

Nils schwieg. Ich antwortete mir selbst: “Ein Prinzip, das mich bisher durch’s Leben brachte. Anderen stets vermitteln, man wisse schon was man wolle und warum man etwas wolle. Das man stark ist. Die Wahrheit einzugestehen ist in unserem Leben meist unwichtig. Taktisch praktisch völlig daneben! Man gibt sich zu viele Blößen. Unmännlich. Nicht nur bei manchen Frauen vergibst du so deine Chancen. Man frage: was sind das für Damen?

Unklarheit und Unsicherheit sind scheiße! Du musst wissen, was du willst. Beispielsweise beruflich. Sag, du wirst Betriebswirt und alle sind zufrieden. Keiner bohrt weiter. Egal ob du das wirklich werden willst.”

 

Julian kniete neben dem Plattenspieler, drehte die Schallplatte um. Er dachte an Nils: vermutlich war Nils genau so ein Typ. Warum kam Nils zu ihm in die Berge, anstatt weiter mit seinen Kumpels in den Urlaub nach Griechenland zu fahren? Nils musste so ein Typ sein, der nicht wusste, was er will. Wer sonst würde sich auf einen Rollentausch einlassen?

“Angel of Mercy.”

Nils war so. Er hatte keine klaren Ziele vor Augen. Er war taktisch. Bedankte sich für alles. Wich aus. Suchte Ruhe. Er sagte immer was er wollte. Er gab es vor. Angabe. Praktisch völlig daneben!

Er sagte: “Ich werde Betriebswirtschaft studieren!” So hatte er Ruhe, keine weiteren Fragen. Er sagte: “Ich fahre mit euch nach Griechenland, toll!” Ruhe, keine weiteren Fragen.

Doch plötzlich sagte er: “Weiß noch nicht, ich fahr glaub ich nicht mit!” Keine Ruhe mehr. Jetzt musste er handeln.

 

Julian fragte mich: “Und diese Leute, von denen du gerade gesprochen hast, die nicht wissen was sie wollen, was machen die den ganzen Tag? Die können sich doch nicht die ganze Zeit damit beschäftigen, so zu tun als wüssten sie genau, was sie wollen. Ich meine, auf welche Art versuchen sie heraus zu finden, was sie wollen?”

Darauf antwortete ich: “Das lässt sich pauschal nicht sagen.”

 

Das Gespräch war zu offen. Klar, ich hatte das forciert. Aber: das war nicht Nils. Er hätte blocken müssen. Nils fragt nicht so.

Die Frage galt als zu banal und uncool. Man sprach nicht über solch einfache Dinge.

Trotzdem sagte ich:

“Manchmal hat man verrückte Ideen. Aber eigentlich ist alles klar. Mir fällt zu deiner Frage nichts besonderes ein.”

Nils bohrte weiter, er fragte mich:

“Was sind das für verrückte Ideen?”

“Äh tja, mal überlegen, ob mir da so schnell was einfällt…, ja das geht halt in die Richtung, sich zu wünschen, nicht mehr sich selbst zu sein, sondern jemand anderes”.

“Single handeld Sailor.”

Jetzt runzelte Nils die Stirn. Er sah mich mit starrem, fixierendem Blick an. Nils lehnte sich in seinem grünen Stuhl zurück. Er schien auf etwas zu warten. Er nahm einen Schluck aus seinem Bierglas. Sein Gesichtsausdruck erstarrt, sein Stirnrunzeln verriet Nachdenklichkeit. Eine knappe Minute verging schweigend.

“Follow me home.”

Als wollte er, dass seine Worte passend zur Musik erklingen, sprach er:

“Ich bin nicht derjenige, für den du mich hältst!”

Jetzt lachte ich laut. Ich hatte schon zwei Bier getrunken. Ich nahm einen weiteren Schluck aus dem Glas:

“Was soll das heißen?”

“Du hältst mich für Nils, deinen Schulfreund, der ich nicht bin! Ich habe ihn bei meinen Schafen im Gebirge gelassen. Ich bin Julian ein österreichischer Schäfer. Mein Hobby ist die Maskierungskunst.”

In meinem Kopf klickte nichts. Ich dachte nicht ans Café Notfall und meine Zweifel zurück. Stattdessen verdeckte ich meine Verunsicherung.

“Was hast du dir da in dein Bier gekippt? Schnaps? Bist du besoffen? Du bist nicht Nils? Dann bin ich Gorbatschow! Nein, ich bin Breschnew und sogar von den Toten auferstanden!”

“Du kannst nicht Breschnew sein, denn du siehst nicht aus wie Breschnew! Wenn du aussehen würdest wie Breschnew, würde ich dir trotzdem nicht glauben, denn der ist lange tot! Es gäbe nur die eine Möglichkeit: du wärst wie ich Maskierungskünstler und hättest perfekt das Gesicht von Breschnew nachgeahmt. So wie ich das Gesicht von Nils perfekt nachahme!”

Bei mir klickte nichts. Ich verdeckte weiter.

“Das gibt es nicht! Das gibt es nicht! Du willst mich für verrückt verkaufen!”

“Nein” sagte der Mensch vor mir. Dabei lachte er. In seinem Gesicht erkannte ich das mir wohlbekannte typische Nilslächeln: “die Welt ist ein Theaterspiel, die reinste Maskerade! Alles ist der absolute Witz, reiner Humbug! Jeder kann sein wer er will, das siehst du doch jeden Tag. Ich hab’s auch schon beinahe vier Wochen mit angesehen: wichtig ist hier nicht wer man wirklich ist, sondern wie man sich gibt! Ist doch ein alter Hut hier oder? Wenn man sich großkotzig gibt, dann ist man eben Mister Großkotz, siehe Helmuth Hauch!”

“Falsch !” hakte ich hier ein: “Mister Großkotz kann nur sein, wer genügend Kohle hat, nur dann kann man sich das Großkotzigsein leisten! Wer es ohne das notwendige Kleingeld versucht, fällt schnell auf die Schnautze. Das passiert oft genug. An Käufern ohne Geld kann man Millionen verdienen. Überhaupt kann ich dir nicht zustimmen! Wichtig ist nicht in erster Linie, wie man sich gibt, sondern, zunächst ist wichtig, was man sich leisten kann, davon hängt ab, wie man sich geben kann. Klar?”

Julian war einverstanden. Er räumte ein, die exakten Zusammenhänge noch nicht so genau begriffen zu haben. Aus dem Bierkasten neben dem Schreibtisch zog er die dritte Flasche. Er öffnete sie geübt mit seinem Feuerzeug.

“Hast du das Öffnen der Flasche mit dem Feuerzeug im Urlaub im Gebirge gelernt? Das konntest du doch bisher noch nie.”

“Aha! Die erste Wirkung. Deine Wahrnehmung selektiert anders! Du erkennst Dinge an mir die nicht so sind wie du sie von Nils kennst. In meinem Verhalten ist das wahrscheinlich am schnellsten erkennbar. Wenn du dich bemühst und du sehen willst, dass ich nicht der bin für den ich gehalten werde, wird es dir gelingen!”

Er drückte mir die geöffnete Flasche in die Hand und fragte: “Was fällt dir noch auf, das anders ist an mir oder in diesem Raum, als du es von Nils kennst oder erwartest?”

Ich musterte die Person vor mir, von der ich immer noch glaubte, es handele sich um Nils.

“Mir ist aufgefallen, dass sich deine Haare, nicht nur in ihrer Länge, sondern auch Farbe und – wenn ich es genau betrachte – vielleicht sogar in ihrer Form, verändert haben.”

“Kein Wunder, denn es sind meine Haare und nicht die von Nils!” Julian fuhr sich, in einer für Nils völlig untypischen Handbewegung durch sein Haar.

Ich sagte: “Heutzutage ist es normal, sich seine Haare zu färben und sie beliebig zu verändern. Den Hang zu Hairstyling hatte ich nur bei dir noch nie festgestellt. Für mich war das kein Anlass zur Beunruhigung.”

“Verstehe. Du kennst Nils noch nicht so lange, um zu wissen, dass er sein Haar noch nie färbte. Er ist kein Freund von solchem Veränderungsgeplänkele.”

Ich schwieg.

“Du sprichst meiner Maskierungskunst ein großes Lob aus.”

Ich: “Warum machst du sie nicht einfach ab?”

“Dann ist sie kaputt. Ich kann sie nicht erneuern, hab meine Maskierungsutensilien gestern in der U-Bahn liegen lassen. Wenn ich heute meine Maske zerstöre, muss ich morgen demaskiert, als Julian der Schäfer in die Schule gehen.”

Ich war verunsichert. Vielleicht war es tatsächlich nicht Nils.

Julian: “Ich sehe einige Probleme auf mich zu kommen.”

“Welche?”

“Ich hab mich verliebt!”

Ein neues Thema! Ich verdeckte weiter. Ich lachte und sagte: “Oh Gott! Das ist ja schrecklich!”

“Das ist es auch! Denn ich glaube, sie liebt mich auch!”

Jetzt lachte ich nochmal, heftiger:

“Das grauenvollste, das es gibt auf der Welt!”

“Es ist Christine.”

“Ach was? Wirklich?” Ich lächelte weiter.

Nils sah mich ernst an. Keine Freude im Gesicht.

“Sie liebt Nils Scherer.”

“Is ja unglaublich!” Leider lachte ich nochmal.

“Jetzt nimm mich mal etwas ernster! Wenn du mir schon nicht glaubst, dass ich ein anderer bin, dann stell es dir zumindest mal vor!”

Jetzt lachte ich nicht mehr: “Echt grausam die Vorstellung!”

“Tja, wirklich extrem dramatisch: Nils Scherer, verliebt in eine Frau, die er Klassenkameradin nennt!”

Ich: “Und er weiß davon nicht das Geringste!”

“Ein Desaster! Christine hat keinen blassen Schimmer!”

Ich: “Davon, dass du gar nicht Nils bist! Echt dramatisch die Vorstellung! Nicht zu wissen, wen man begehrt.”

“Bin ich ein Schwein?”

Leicht lächelte ich, es ging nicht anders wegen der Vorstellung.

“Wenn man die Sache so sieht: ein gewisses schon!”

“Aha, dachte ich’s mir doch!”

“Was?”

“dass ich mit der Zivilisation Probleme kriege. dass Nils dramatische Schilderungen in den Bergen stimmen könnten.”

Ich stöhnte, konnte wieder leichtes Lächeln nicht unterdrücken: “Tja, das zivilisierte Leben! Schwierig, schwierig. Leicht geräts aus den Fugen. Vor allem, der Unterschied zwischen den Geschlechtern! Ein ewiges Drama!”

“Du nimmst mich immer noch nicht ernst!”

Ich, nippte am Glas: “Äh, tschuldige!”

“Jetzt versetz dich endlich mal in mich, verdammt!”

Jetzt hatte ich die Idee. Ich stand auf, hob mein Glas und sagte:

“Ich hab es! Ich versetz mich in Christine!”

“Aha!”

Ich: “Ich lieb dich gar nicht! Was soll das? Kurzes freundschaftliches Küßchen hier und da, das war’s. Das ist nicht Liebe! Normale Gespräche! Sonst nix!”

“Glaubst du wirklich?”

“Ich bin Christine, ich weiß es. Das übliche Problem mit den Männern!”

“Äh, was für ein übliches Problem?”

“Sie nehmen Frauen nicht ernst!”

“Wie bitte?”

“Tja, sie glauben einfach nicht, dass Frauen, die keinen Wert auf Smalltalk legen, sondern gerne ernsthafte Unterhaltungen pflegen, nicht mehr wollen. Selbst wenn wir es deutlich sagen, glauben sie es immer noch nicht.”

“Meinst du wirklich?”

“Na klar! Schau dich an! Du glaubst, ich liebe dich, dabei will ich mit dir nur ganz normal reden! Kein Smalltalk, normal, mehr nicht!”

“Das ist unglaublich!”

“Siehste!”

“Sind Männer so?”

“Naja, einige, die meisten halt!”

“Aha!”

“Und plumps! Schon machste dir ein schlechtes Gewissen, wegen einer erfundenen oder eingebildeten Finte: Ich in dich verliebt! Das Drama! Dabei will ich nur keinen Smalltalk, das war alles!”

“Aha!”

“Ich rate dir: handle unkonventionell, wie Nils. Eigentlich kenne ich dich nur so! Keine Panik! Nichts passiert, garnichts! Ich lieb dich nicht! Reine Einbildung. Männerphantasien! Sonst nix!”

“Aha!”

“Du siehst die Frau zu sehr durch deine Mannsbrille: Liebe, Eifersucht, Drama und so weiter! Vergiss es!”

“Aha!”

“Denk mal an: die mag kein unterhaltsames Gelabere, sie sucht vernünftige Gesprächspartner. Sie will Kontakte wie jeder Mensch, nicht gleich Liebe und so weiter!”

“Aha. Is ja kaum vorstellbar!”

“Siehste!”

Julian saß still auf dem grünen Stühlchen. Er dachte nach.

Dann sagte er:

“Vielleicht doch ein bisschen zu einfach!”

Ich: “Gut! Kann sein! Das Leben ist kompliziert! Äußerst! Und das komplizierteste für Männer sind meist die Frauen! Ich weiß, was du sagen willst. Aber: manchmal, ich gebe zu, eher selten, ist es eben nicht so kompliziert. Der Mann verkompliziert es!”

“Aha!”

“Und ich sage dir: tu es nicht! Warum sollte ich dich lieben? Ich erinner dich: ich bin noch Christine! Kein Grund für Liebe! Weil du so ein toller Hecht bist? Pahh! Da gibt es genug! Da gäb ws tausend Fragen, alle kann ich mit “nein” beantworten! Also: mal ganz einfach: nein ich lieb dich nicht, null!”

“Aha!”

“Immer noch schlechtes Gewissen?”

“Äh, ja!”

“Streichen!”

“Na gut.”

“Meist ist die dritte Möglichkeit richtig:

Sie liebt dich? Falsch.

Sie verliebt sich in dich? Falsch.

Sie denkt nicht daran, sich in dich zu verlieben, geschweige denn, dich je zu lieben? Richtig!”

“Und damit sind Probleme erst gar nicht auf dem Tisch!”

Jetzt erhob ich mein Glas, prostete ihm zu. Klirr! Klirr!

“Richtig!”

 

Es war kein laut eingestelltes Telefon. Es war die Klingel der Haustür. Sofort dachte ich, was man in solchen Momenten nicht denken sollte. Die da klingelt, ist diejenige, über die wir gerade sprachen! Es kann nicht anders sein. Denn so ist das Leben. Dies denkend sagte ich leicht unkontrolliert, lallend:

“Na, wahrscheinlich schaut Ralf noch auf ein Bier vorbei.”

Ralf sagte tags zuvor, als das Treffen vereinbart wurde: “Ich komm nur, wenn’s a gscheid’s Bier gibt!”.

Julian sah auf die Uhr: “Schon halb sieben. Bauernschlau der Bub! Kommt, wenn dein Mathegesülze vorbei ist und das bierselige Beisammensein losgeht!”

“Vielleicht erwarten deine WG-Kumpels noch Besuch?”

Harri klopfte bereits und brüllte, während er den Türöffner im Wohnungsflur drückte: “Jemand für dich Nils?”

Julian riß die Zimmertür auf: “Kann sein, kann auch nicht sein!”

Die Haustür des Hinterhauses knallte ins Schloß. Zu dritt standen wir erwartungsvoll in der offenen Wohnungstür. Wir hörten gemächlich näher kommende Schritte. Knacksende Dielen hallten herauf. Ich sah hinunter, konnte nicht erkennen wer da kam. Julian bewegte seine Finger nervös auf der Bierflasche. Das verriet, dass er gleiches dachte wie ich. Die Schritte waren ganz nah. Sie bog um den letzten Treppenabsatz. Schon lächelte sie uns entgegen. Harri verschwand in sein Zimmer.

“Hallo! Bin leicht verspätet, ich weiß, aber es ging nicht anders!”

Julian: “Ja hallo, grüß dich!”

Ich: “Ja, hi, ich bin grad am gehen, is schon spät, hab noch einiges vor, nach dem lehrreichen Nachmittag heute!”

Christine lachend um Luft ringend: “Aha, habt ihr munter vor euch hin gemathematikt?”

Ich: “Äh, ja, Nils kapiert schnell. Hab ihm ne satte Einzelstunde verpasst!”

Christine: “Die andern Chaoten waren nicht dabei?”

Julian schüttelte die Schultern: “Tja, unsere engagierten Schulfreunde, weißt schon… “

Ich hielt meine Jacke in der Hand. Schüttelte Christines Hand, danach die von Nils.

“Also dann, tschüsi, bis morgen!”

Polternd knarrte ich die Dielen runter.

Julian hörte in der Schule zu.

Am nächsten Schultag zog mich Nils, oder besser gesagt, der Nils, der von sich behauptete ein österreichischer Schäfer zu sein, beiseite.

“Feige, absolut inkorrekt dein Verhalten Gestern! Echt von übelster Sorte, dein zackiger Abgang. Grob daneben!”

Julian rauchend in der Aula: “Aber gut, das scheint das Leben zu sein!”

Ich: “Hin und wieder wird man übel im Stich gelassen! Das stärkt die Persönlichkeit.”

Julian: “Ha, ha, ha. Aber kein Problem! Nach einer Dreiviertelstunde ging Christine wieder. Sie hatte noch was vor.”

“Und, glaubst du immer noch, dass sie dich liebt?”

“Ja, leider!”

“Oh Gott! Des Dramas nächster Akt!”

Julian: “Nein, nein nichts dergleichen. Ruhe bewahren!”

Ich: “Wie bitte? Du willst ruhig bleiben?”

Julian: ” Ja. Können wir nach der Schule reden? Drüben in der Kneipe?”

“Ok! Um halb zwei. Beim Paul Zock, in der Trinkhalle an der Ecke.”

 

Gephart, der Mathematiklehrer trug an diesem Tag ein hellblaues, glitzerndes Hemd. Auf der Rückseite sah ich einen sportlichen Surfer. Der ließ eine schäumende Welle hinter sich. Ein zweiter überschlug sich schäumend. Jedes Mal, wenn sich Gephart zur Tafel drehte, glitzerte der Schaum.

Gephart vergaß zu Beginn des Unterrichtes die Anwesenheitsliste. Mitten in der Stunde viel ihm das ein. Plötzlich verließ er die Differentialrechnung und zog aus dem Klassenbuch ein Entschuldigungsschreiben. Sofia fehlte. Sie kämpfte mit Kreislaufproblemen und Übelkeit wegen ihrer Schwangerschaft.

Gephart fragte: “Wen haben sie zum Klassensprecher gewählt?” Mark meldete sich.

Gephardt taktisch unklug: “Teilen sie Frau Röter mit, dass derlei Entschuldigungsgründe von mir und der Schulleitung, nicht akzeptiert werden! Wir erwarten von der Dame in Zukunft ärztliche Atteste. Wenn Frau Röter so weiter macht, riskiert sie ein Disziplinarverfahren. Ausschluß aus der Schule nicht ausgeschlossen.”

Gephart, militärisch korrekt und trocken wollte zurück zur Differentialrechnung.

Aber jetzt lief Regine wütend rot an. Ihr ging “das Messer in der Tasche auf”. Zuerst plärrte Mark, taktisch undurchdacht: “Das ist ja eine Unverschämtheit!” Er stand auf, besann sich kurz anders und fiel in seinen Stuhl zurück.

Regine, taktisch völlig daneben, plärrte:

“Was ist denn das schon wieder für eine Machoscheiße?”

Dann ein schlechter Schachzug, weil zu tiefgründig:

“In zwanzig Jahren sind sie und Meyer pensioniert und kassieren ihre Beamtenrente ab! Steuern, die wir und unsere Kinder berappen müssen! Und heute pöbeln sie hier eine werdende Mutter mit der Schulordnung an! Tolle Militärcourage!”

Gephart interessierte das nicht. Der Tafel zu gewandt erklärte er weiter monoton die Kurvendiskussion.

Deshalb ging hinten die Diskussion richtig los.

Mark: “Der und Meyer haben keine Kinder! Sonst würden sie den Schwachsinn, der angeblich sogar in der Schulordnung verankert ist, nie so unreflektiert unterstützen.”

Christine: “Halt! Glaub ich nicht! Wer mit so protzigen, fetten, spießigen Nobelkübeln durch die Gegend brettert, wie der und Meyer, unterstützt alles!”

Dies war taktisch so schlecht, dass Gephart sich jetzt endlich umdrehte.

Abgehackt sagte er: “Was haben Autos mit dem Thema zu tun? Das sind undifferenzierte Vorurteile von irgendwelchen Pseudogrünen! Die von Atomstrom aus der Steckdose ganz gut leben!”

Plötzlich resümierte Regine: “Verhaltensreflexion von Meyer und Gephart: Note sechs! Ihr Herumgeprotze mit Nobelkarren und schweren Cabriolets: Note eins! Vorbildliches Spießergehabe für Kinder und Jugendliche: Note eins! Spießergesellschaft? Aber gerne! Konsumverhalten? Aber bitte, immer mehr! Militärpädagogik? Na klar, super gut!”

Gepart vergaß jetzt endlich die Differentialrechnung. Er drohte: “Nur weiter so. Ich werde sie wegen Beleidigung anzeigen!”

Mark: “Mit Anzeige drohen. Na klar! Schüler und Schülerinnen mundtot machen! Na klar!”

Regine: “Wenn Frauen ihre Kinder zu einem unpassenden Zeitpunkt kriegen, dann sollen sie eben aus der Schule verschwinden! Schulordnung. Echt toll. Juristisch, nicht angreifbar. Echt ausgeklügelt! Bayernlogik? Einen zu geringen IQ kann man ihnen nicht vorwerfen. Die Zukunft dieses Landes: konservativ, spießig, gut!”

Das Gespräch entwickelte sich zu einem ausgelassenen Meinungsaustausch zwischen Regine, Christine und Mark. Dem Lehrer und den anderen anwesenden Schülern der Klasse schenkten die drei keine Beachtung mehr.

Regine zu Mark gewandt: “Logisch! Da kommt doch eine klare “Grundmessage” rüber: Frauen haben nur so lange etwas zu melden, so lange sie ihre Pflicht tun. Diese Pflicht spielt sich in der Küche, im Bett und im Haushalt ab! Diese Grundmessage personifiziert sich hier. Abends wird sie auf den Bildschirmen serviert!”

Christine: “Garniert mit wahlkampftauglichen Schlagworten: Chancengleichheit, Frauenförderung, Gleichbehandlung und solchem Popanz! Echt bärig, vielleicht auch bayerisch!”

Gephart intervenierte erneut.

Zuerst sein G 3: “Jetzt reicht es aber!”

Dann der Schützenpanzer: “Ruhe da hinten, oder sie verlassen sofort den Raum!”

Eine Abwehrrakete: “Das gibt einige deftige Verweise!”

Schließlich das Atomwaffenarsenal: “Einen Sammelverweis für alle da hinten!!”

Rolf störte die Atombombe nicht. In seinem Königreich kannte er sowas schreckliches nicht. Übermütig strahlte er:

“Ich finde, ihr stellt das ganze Problem etwas zu vereinfacht dar. Es ist eine komplexe, differenzierte Problematik. Die Grundmessage sehe ich auch. Aber sie wird nicht so subtil rüber gebracht. Man bemüht sich um frauen- und familienfreundliche Sprache. Das Grundgesetz wird angeführt. Deshalb erstaunt Gephart. Ich kann euch sagen: schlechte Taktik dieses Mannes!”

Ralf, ein herb lassender Kaufmann: “Familien und Kinder sind vor allem Marktobjekte! An denen lässt sich super verdienen! Warum meckert Gepi daran rum, dass Sofia ein gewinnträchtiges Marktobjekt kriegt?”

Kaufmännischer Blick zu Gephart: “Was is mit dem Wirtschaftsstandort Deutschland? Kinder bringen Cash! Später konsumieren sie kräftig!” Er hob seinen teuren rechten Cowboystiefel und zeigte ihn Gephart.

Mark: “Genau: Millionen lassen sich verdienen: Windeln und der ganze Plastikfirlefanz! Spielzeug, Schulranzen, Wohnungsmieten und so! Warum das Gemotze mit ihrer Schulordnung?”

Regine: “Schließlich sollen auch wir keine Meckermäuler werden! Der Präsident hat’s gesagt, in seiner letzten Weihnachtsansprache! Und in der nächsten wiederholt er es! Wir sollen froh und dankbar sein in diesem Lande überhaupt leben zu dürfen. Wir sollen Leistung bringen! Komplizierte Wirtschaftsstrukturen sollen wir nutzen können. Aber wir sollen nicht zu tief schürfen. Skandale hat das Land genug.”

Christine zynisch: “Also Leute, kommt, verbeugt euch ehrfürchtig! Zeigt angemessene Dankbarkeit für das Glück, das euch Bildung hierzulande beschert! Und werdet keine Mütter, nicht zu früh!”

Regine: “Genau! Erst die Bildung, dann Kind und Herd!”

Gephart gab es auf. Er saß auf seinem Stuhl hinter seinem Aktenkoffer. Er hörte den einzelnen Stellungnahmen mit versteinerter Mine zu. Dann verließ er den Raum. Das Gespräch ging weiter.

Erst das Läuten zur Pause beruhigte die Gemüter.

Mark zum Abschluss: “Der Feigling räumt das Schlachtfeld, das er selbst eröffnete! Was für eine Taktik?”

Die Reaktion des Feiglings folgte später. Postalisch. Schriftliche Verweise und Abmahnungen für die letzte Reihe.

 

Donnerstag Abend im Cafe Notfall:

Mark investierte sein Geld in eine Flasche Sekt. Mit der stieß er auf die “Kommunikationskultur” in der Klasse an. Es folgte ein kurze Tischrede.

Er betonte, dass die Schulleitung und der Klassenleiter froh sein sollten, es mit solch engagierten, gesprächsbereiten, differenzierten, denkenden Schülern zu tun zu haben. In wenigen Jahren werde das mit Waffen geregelt.

Dann sprach er von “Konsumscheiße” und der “Verblödungstaktik der elektronischen Medien”.

Desinteresse mache sich breit.

Dann: die Gesellschaft ein “auseinanderdriftender Haufen”, in der sich jeder das “heraus grapsche”, was er ergattern könne.

Und: Aber immerhin ein Rechtsstaat! Alles geschehe auf dem Boden von Legalität und Rechtmäßigkeit. Vertuschung, und Taktik, das Wichtigste.

Dreck am Stecken? Gewohnheit. Kein Bürger regt sich über “korrupte Kleinigkeiten” auf. Höchstens ein paar “linke Kritzler”. Zurückzahlen? Pahh! Nicht bevor der Tod eintritt.

Mark: “Wer will schon tote Menschen, die heute noch als tolle Menschen gelten, im nach hinein wegen deren korrupter Absahnerkleinigkeiten auseinandernehmen? Auf solche Transparenz legen die Bürger später keinen Wert mehr. Jahrestage und Staatsakte würden dadurch gestört. Wir brauchen aber Harmonie!”

Das war die Politik, von der Nils sprach. Eindeutig, dachte Julian.

Trotz der erteilten Verweise und Abmahnungen der Schulleitung war die Stimmung an diesem Abend ausgelassen und die Diskussion wie immer ausufernd.

Julian wollte wieder Nach Hause.

Der Nachmittag in der Kneipe bei Paul Zock an der Schulhausecke.

Julian: “Ich werde dich in meine Situation einweihen. Ich liebe Christine, das weißt du. Das werde ich in den nächsten Wochen niederbügeln.”

Ich: “Aha!”

“Ich kann eh nicht mehr lang in München bleiben, wegen meiner verlorengegangen Maskierungsutensilien. In der ersten Novemberwoche fahr ich nach Österreich. Das Spiel wird mir hier zu viel. Ich kenne jetzt, was ich sehen wollte.”

“Was meinst du damit?”

“Die Stadt, die Leute, die Liebe.”

“Aha!”

“Du glaubst mir immer noch nicht, dass ich nicht Nils bin?”

“Ja! Äh, nein!”

“Ok, versteh ich. Verunsicherung und so. Kein Problem.”

 

Nils kam nicht mehr ins Notfall.

In der Schule verhielt er sich unauffällig. Seine beiden letzten Wochen dort verliefen turbulent. Die Schulleitung und Gephart versuchten Mark, im Rahmen eines Disziplinarverfahrens, wegen Mißbrauchs der Klassensprecherfunktion, Beeinflussung der Schüler, politischer Agitation und Herausgabe einer nicht genehmigten Schülerzeitung, vom Besuch der Schule aus zu schließen. Das gelang nicht.

Die Schülerzeitung wurde außerhalb des Schulgeländes von vermummten Personen in regelmäßigen Blitzaktionen verteilt. Keine Namen. Echt feige. Deshalb keine konkreten Beweise.

Im Unterricht sprach Gephart nur noch mit den jungen Mädchen und Helmuth Hauch in der ersten Reihe. Er mied jeden Blickkontakt in die letzte Reihe. Er zog seine Mathematikstunden, begleitet von hektischem Gekritzel an der Tafel, durch. Die Anwesenheitsliste führte er nur noch schlampig. Nach der Anwesenheit von Sofia erkundigte er sich nicht mehr.

Mark: “Sehr gefährlich die Situation. Angespannt.”

Ein Blitzverfahren gegen die schwangere Sofia wurde in ihrer Abwesenheit durchgeführt. Von ihr wurden nur noch ärztliche Atteste akzeptiert.

Mark: “Wo sich irgend welche rechtlichen Schritte gegen irgend jemanden einleiten lassen, wird dies geschehen.”

Deshalb vielen die Äußerungen zum Schulgeschehen sowohl von Mark als auch allen anderen in der letzten Reihe, nur noch sehr spärlich aus.

Julian und ich am Donnerstag vor dem Allerheiligenwochenende.

Nils war drei Minuten nach Unterrichtsbeginn noch nicht anwesend. Eine Doppelstunde Mathematik. Gephart überflog flüchtig die Anwesenheitsliste. Er warf plötzlich einen Blick in die letzte Reihe. Das war ungewöhnlich. Überraschend fragte er:

“Wo ist denn der Lächler geblieben?”

Christine verstand, wen er meinte. Sie brüllte sofort:

“Seit wann belegen sie Schüler mit abqualifizierenden Spitznamen?”

Mark: “Lass nur, der Typ ist doch sowieso..”, hier brach er den Satz ab. Er bemerkte, dass Gephart eine neue Strategie anwandte. Er wollte provozieren bis jemand aus der letzten Reihe beleidigend werde.

Mark wütend, sprang auf, ging schnellen Schrittes auf die Zimmertür zu. Er musste raus. Um draußen gegen die Betonmauer zu schlagen. Gephart: “Wohin mein Herr?” Mark ignorierte das. Die Tür stieß er mit einem festen Ruck auf. Von draußen ertönte ein lauter Schrei. Eine unbekannte Stimme. Der Klang von Julian dem Schäfer. Der wollte gerade eintreten. Mark laut: “Oha, sorry!” Julian kam rein. Mark ging raus. Julians Nase von der Tür getroffen. Mit der Rechten hielt er sie.

Gephart, schadenfreudig grinsend: “Na, da is er ja”.

Julian fragte wütend:

“Seit wann duzen Sie mich?”

Jetzt der Fehler: er ließ die Hand von der Nase.

Der linke Nasenflügel viel herab. Er hing an einem Maskenfetzen und baumelte hin und her.

Kreischende Aufschreie in der ersten Reihe.

Ein weißer heller Fleck auf Julians Nase.

Das Kreischen wurde lauter. Das beunruhigte Gephart. Er sah Julian von Hinten. Erhob sich aus seinem Stuhl. Wollte den Grund des Geplärres sehen.

Julian hielt das für normal. Dachte, das Kreischen habe schon irgend einen Grund. Er ging weiter, als sei nichts.

Das Gekreische der Mädchen und Helmuth Hauchs ging deshalb weiter. Julian lernte, dass es uncool wirkte, sich in einer unübersichtlichen Situation irgend eine Anspannung anmerken zu lassen. “Cool bleiben. Panik und Aufregung hat selten mit dir zu tun.” Er ging gemächlich wie jeden Tag durch den Raum. Beachtete das Geplärre um ihn herum nicht.

Ich sprang auf, schritt auf ihn zu und deutete mit meinem Zeigefinger auf meine Nase. Er verstand, berührte seine Nase. Dabei blieb er am hängenden Flügel hängen. Der riss ab und viel zu Boden. Das Gekreische wurde höher und lauter.

Ich stand dicht vor ihm, bückte mich, hob das heruntergefallene Teil auf. Julian legte die Hand auf die Nase. Ich rief, während ich den Nasenflügel in meine Jackentasche steckte:

“Hey Nils, bei dem Crash an der Türe is was passiert. Ein krasser Nasenbeinbruch! Nix wie ab ins Krankenhaus! Komm wir verduften!”

Gephart, erkannte immer noch nicht, was geschah. Er stand noch immer hinter ihm. Er versuchte Nils von hinten zu packen, vermutlich um ihn um zu drehen und in dessen Gesicht zu sehen. Ich griff Nils an seiner zweiten, noch freien Hand. Zerrte ihn mit einem festen Ruck zu mir. Drückte ihn schnell an der Schulter runter. Ich bückte mich. Gephart grapschte ins Leere. Ich schob einen Stuhl zu Gephart. Zog Julian über einen Tisch, den ich überstiegen hatte. So kamen wir an Gephart vorbei. Der kämpfte noch mit dem Stuhl. Ich zerrte Nils zur Tür. Die war schon von Mark, der wieder eintreten wollte, geöffnet. Ich schrie. “Komm wir fahren schnell ins Krankenhaus, mein Auto steht unten! Jetzt blutest du ja wie die Sau!”

Dann zerrte ich Julian vor mich, drückte ihn durch die Türe. Endlich verstand auch Julian, dass schnelles Verschwinden notwendig war. Wir rannten die Treppe runter. In der offenen Eingangstür stand Meyer. Sein Sport war es, Schüler die Morgens zu spät erschienen, zur Rede zu stellen. Er fragte: “Was ist denn jetzt los?”

Ich rief: “ein Notfall!”

Wir rannten vorbei, schubsten ihn leicht zur Seite. Im U-Bahnhof stürmten wir in die Toilette. Gemeinsam sperrten wir uns ein. Außer Atem zog ich das Teil seiner Gesichtsmaske aus meiner Jackentasche und sagte:

“Ok, ich glaube dir! Das hier sieht wirklich nach Maskerade aus. Wir müssen das Ding schnell wieder in deinem Gesicht anbringen und von hier verduften.”

“Das wird nicht so leicht gehen”, sagte Julian, dem ich den Nasenflügel an die Nase hielt.

“Wie wäre es mit Ankleben? Ich habe immer ein Stück Pflaster in der Jackentasche. Für krasse Notfälle, wie diesen!”

“Ok, super! Haste auch ‘ne Schere?”

 

Julian sah, beim Verlassen der Toilette, aus wie nach einer Notoperation. Mit der U-Bahn fuhren wir in die Wohnung von Nils.

Julian packte eilig seine Tasche. Wir beschlossen mit dem nächsten Zug nach Salzburg ab zu reisen. Der “echte Nils” musste so schnell wie möglich wieder auf der Bildfläche in München erscheinen. Nur so könnte versucht werden, den angerichteten Schaden so gering wie möglich zu halten. Nach dem Vorfall in der Schulklasse musste jeglicher Raum für wüste Spekulationen vermieden werden. Ich schlug vor, dass der “echte Nils” in der kommenden Woche mit einem riesigen Pflaster auf der Nase erscheinen soll und dazu “die Story vom Pferd” erzählen muss. Irgend eine akzeptable Begründung werde dem schon einfallen, dachte ich.

Durch eine Amtsstube nach Hinweiler.

Während der Zugfahrt erklärte Julian, er müsse die lädierte Maske im Gesicht behalten. Es befürchtete, dass der “echte Nils” gerade heute in seinem Dorf im Tal, als Julian der Schäfer beim Einkaufen unterwegs war. Er vermied ein Risiko. Er müsse so lange Nils bleiben, bis er diesen gefunden habe.

Julian war angespannt und nervös. Auf keinen Fall sollten sich andere Reisende zu uns in das Abteil setzten. Deshalb nahm er zwei Bierflaschen mit. Trat jemand in unser Abteil, prosteten wir uns laut rülpsend und grölend zu. So saßen wir bis Freilassing allein.

Der Grenzbeamte musterte das lädierte Maskengesicht Julians im Zug misstrauisch. Auf seine Frage: “Wo woi’ds ihr zwoa denn hie?”, gaben wir an, einen kleinen Abstecher nach Salzburg zu machen. Kulturausflug. Wir beide sahen nicht danach aus. Die Auskunft und das lädierten Nilsgesicht wirkten unglaubwürdig.

Wir folgten dem Beamten am Bahnsteig in Salzburg.

Mit unseren Pässen wedelte er Luft in sein verschwitztes Gesicht.

Im Bahnhofspolizeirevier stand stickige, beinahe heiße Luft. Zigarrenqualm und Schweiß. Dieser Eindruck erstaunte mich. Draußen hatte es nur novemberliche fünf Grad und es regnete kalt herunter.

Plötzlich war mir völlig egal, was geschehen werde. Eine abgelaschte Wurstigkeit verbreitete sich. Warum?

Mir war etwas schlecht. Der Energieaufwand am Morgen in der Schule, die Abreise, die “wer ist nun der wahre Nilsangelegenheit”, nun das Polizeirevier, das war alles zu viel.

 

Willig folgten wir dem Beamten durch einen kahlen Gang. Er lotste uns in ein kleines, miefiges Zimmer. Dort gab es nur ein winziges, aber, so erkannte ich glücklich, geöffnetes Oberfenster. Seit Minuten rätzelte ich warum mir, seitdem uns dieser Beamte im Zug ansprach, so heiß geworden war. Ich hatte das Gefühl es sei heiß wie im Sommer.

Nebeneinander saßen Julian und ich auf einem kleinen, an der Wand angeschraubten, Holzbänkchen. Vor uns stand ein zerkratzter Holztisch. Auf dem eine alte Schreibmaschine, um den Tisch herum zwei hölzerne Klappstühle.

Ich dachte: Jetzt haben wir den Salat! Alles ist bereits über die Schulleitung fernmündlich an die Polizei weitergeleitet worden! Eine Großfahndung. Phantombilder. Beschreibungen der Mitschüler. Und ich war, wie üblich, zu dumm frühzeitig zu denken. Zu spät, das Land auf anderem Wege zu verlassen.

Wegen unserer gewöhnlichen Blödheit saßen wir nun im Verhörzimmer. Ungemütlich und stickig, dazu diese grelle Neondeckenlampe.

Die Tür öffnete sich und der rundliche, gewichtige Beamte trat ein. Er nahm, während er mit seinem linken dunkelgrünen Arm die Türe zuschob, die grüne Dienstmütze vom Kopf. Ich sah seine glänzende, sonnengebräunte glatte Kopfhaut mit dünnem, ergrautem Haarkranz. Behäbig bewegte er sich. Festen Bodenkontakt. Er stützte sich mit beiden dunkelgrünen Armen auf den Tisch. Dann sank er auf einen Klappstuhl. Seine behaarten Hände umgriffen die Tischkante. Sein Hintern fand nur knapp Platz. Links und rechts drückte die gespannte, dunkelgrüne Diensthose herunter. Er lehnte sich an. Der Klappstuhl knarrte leicht. Er zog eine Zigarre aus der Tasche seiner Jacke. Deren silbern glänzende Knöpfe waren offen. Plötzlich gab er die zurücklehnende Haltung auf. Schwerfällig erhob er sich. Die unangezündete Zigarre im Mundwinkel. Mit den Armen stützte er sein Körpergewicht wieder auf den Tisch. Ein leiser hoher Ton. Vier Tischbeine auf den dunkelbraunen Holzdielen.

Seine Bewegungen wie zelebriert. Zeitlupengeschwindigkeit.

Vom grauen Aktenschrank kehrte er zurück. Jeden seiner gewichtigen Schritte übertrugen die alten Dielenbretter. Jetzt verstand ich, warum die Bank auf der wir saßen, an der Wand angeschraubt war.

Papier spannte er ein, lehnte sich erneut zurück. Die Zigarre qualmte endlich.

“Woher kommen Sie?”

Ein tiefer Bariton. Überraschend steif, genau, dialektfrei. Nicht wie im Zug. Eine bürokratische Amtshandlung nahte. Vielleicht fehlte deshalb plötzlich der Dialekt. Der schwang noch ein wenig als unterdrückte, leise Hintergrundmelodie. Eine Selbstverstümmelung? Seit vielen Jahren im Verhörzimmer. Zu Gunsten von Perfektion und Genauigkeit bürokratischer amtlicher Handlungen. Sprache, die schon im Bauch der Mutter vertraut war musste weichen. Die gesamte Kindheit hindurch war sie da. Sie war die Sprache der Mutter, des Vaters, der Geschwister, der Verwandten, des ganzen Dorfes. Gewohnter Rhythmus musste weichen. Unbrauchbar für die offizielle Amtshandlung. Andere, bürokratische Rhythmen kamen. Die Alten brachen hin und wieder hervor. Sie beschwerten sich, wehrten sich gegen ihre Unterdrückung.

“Aus München”, gab ich zurück.

“Ich möchte gerne von Herrn Scherer hören, woher er kommt.”

“Ich komme ebenso aus München und beabsichtige ein wenig Salzburger Kultur kennen zu lernen, wovon sie mich derzeit abhalten”, antwortete Julian forsch.

“Einreise also aus Deutschland, von München kommend, Zielort in Österreich: Salzburg. Aufenthaltsdauer? Wie lange wollen sie in Österreich verweilen Herr Scherer?”

Der Beamte zog an seiner Zigarre, legte sie im Aschenbecher vorübergehend ab, begann, mittels mir bekannter “Ein-Finger-Such-Methode” das in die Schreibmaschine eingespannte Formular zu bearbeiteten. Mit einem weißblau karierten Taschentuch, das er aus der Hosentasche zog, wischte er sich zwischendurch den Schweiß von Stirn und Gesicht. Auf Antwort von Julian wartete er. Er nahm die Hornbrille von der breiten, spitz zulaufenden Nase und wischte an dieser mit dem Tuch herum. Er beugte sich vor, stützte die Arme auf den Tisch. Der Stuhl knarrte leise.

 

Erst jetzt fragte ich mich, welches Verbrechen meinem Schulfreund Nils Scherer zu Last gelegt wurde. Was rechtfertigte die Festnahme? Reichte unser hektisches Verhalten beim Abgang am Morgen in der Schule? Vielleicht stießen wir den Schulleiter, in der Schulhaustür um. Anzeige wegen Körperverletzung? Deshalb gleich eine Festnahme an der Grenze?

Ich fragte Julian, flüsterte ihm ins Ohr.

Der Beamte: “Was soll das Geflüster?”

Ich: “Welche Straftat, Verbrechen oder sonstiges rechtswidriges Verhalten wird Herrn Scherer denn zur Last gelegt, um dieses Procedere hier zu rechtfertigen?”

Dies noch fragend, dachte ich an Ladendiebstahl, Raubmord, Mitgliedschaft in einer staatsfeindlichen oder verbrecherischen Organisation. Vielleicht trieb auch der “echte Nils” inzwischen mit seinem wahren unmaskierten Gesicht, also dem Gesicht, welches Julian als Maske trug, in Österreich sein Unwesen. Deshalb die Verhaftung. Oder der “wahre Nils” war Opfer eines Gewaltverbrechens. Gestern tot aufgefunden. Heute plötzlich mit mir zusammen am Grenzübergang, leicht lädiert, aber immerhin.

“Wie bitte?”, hörte ich mich jetzt zurückfragen.

Der Beamte hatte meine Frage inzwischen beantwortet und weitere Fragen an Julian gerichtet. Weder seine Antwort, noch der Inhalt der weiteren Befragung waren bei mir angekommen. Ich war kurze Zeit nicht in der Lage, dem Gespräch zu folgen. Meine Rückfrage deshalb unpassend, ohne jeden Zusammenhang.

Julian stieß mir den Ellenbogen in die Seite: “Pscht, wir verpassen sonst wirklich unseren Bus!”

Der Beamte fand sich inzwischen auf dem Tastenfeld der Maschine besser zurecht. Die persönlichen Daten von Nils ratterten wie aus einer Pistole geschossen durch den Raum. Er riß den Bogen aus der Maschine und bedeutete Julian, an den Tisch zu kommen. Eine Unterschrift.

“Also Herr Scherer: beim Rausgehen an der Kasse hundertvierzig Schilling oder zwanzig Deutsche Mark! Das nächste Mal wenn sie Österreich besuchen: Einreise mit einem Paß, der noch nicht abgelaufen ist und keine falschen Angaben mehr. Von wegen Kulturausflug nach Salzburg! Einen schönen Aufenthalt und gute Fahrt, falls sie ihren Bus noch erreichen!”

 

Am Busbahnhof blickte Julian in den Ausweis von Nils. Seit fünf Tagen ungültig.

“Dieser Nils ist doch ein Knaller!”, rief er und fragte mich:

“Was war das für ein Blackout, den du da drinnen hattest? Bist du nervlich am Ende? Wird das alles langsam zu viel für dich?”

Neben einer abwinkenden Handbewegung reagierte ich mit Kopfschütteln:

“Nein, kein Problem, ich hatte nur einen kleinen Müdigkeitsschub.” Der Bus war fast voll. Kurvenreich tuckerten wir durch unzählige kleine Ortschaften. Der Wagen hielt an jeder erdenklichen Ecke. An einigen Haltestellen stiegen grölende Schülergruppen ein und aus. Während der Busfahrt unterhielten wir uns nicht. Weder mir, noch Julian viel ein Thema ein, das neutral genug gewesen wäre, um von anderen Fahrgästen mitgehört zu werden.

Nach eineinhalb Stunden Schaukelei hielt der Bus direkt vor dem Gasthof Zur Post. Ein Ruck von Julian und draußen waren wir.

 

Der Gasthof, ein riesiges, vierstöckiges Gebäude, in altem rustikalem Bauernhausstil. Zentrum des kleinen Ortes. Das Alter des Hauses: mindestens hundert Jahre. Ein verstaubter, grauhaariger, schmaler Portier, hinter einem Tresen. Die Rezeption im hinteren Teil des Hauses. Schummrig beleuchtet.

Vorher, ein riesiger Gästesaal. Voll besetzt. Schweinebraten. Alle Dorfmänner beim Mittagessen. Schnaps und Bier. Rauch und Österreichisch. Ich verstand nichts. Die Durchquerung: tausend Augen erreichten uns. Argwohn bei jedem Schritt. Fremde, was wollt ihr hier? Ein Fehltritt und es kracht! Vorbei an der grauen Tischdecke, aber langsam. Keine Katastrophe provozieren!

Julian eilte voraus. Vielleicht hatte er Angst von einem Dorfbewohner erkannt zu werden.

Unfreundlich knallte der Portier einen Schlüssel auf den Tresen. Die sechshundert Schillinge zählte er penibel nach. Mein Ausweis landete im Schlüsselfach hinter seinem Rücken.

“Um Elfe is a Rua im Haus, um Zehne bist’ Moing wieda draus!”, nuschelte er und zwang sich ein kurzes Lächeln, wohl wegen seines lustigen Reimes auf sein schmales Gesicht.

Julian nahm den Schlüssel. Über knarrende Holzstufen stiegen wir in den vierten Stock hinauf. Das Treppenhaus war heruntergekommen. Im Zimmer angekommen, warf er die Tasche von Nils auf das Bett und stöhnte erleichtert:

“So das wäre erst mal geschafft! Ich wusste gar nicht, wie dumm man sich vorkommt, wenn man als Fremder durch einen voll besetzten Saal mit bekannten Menschen geht. Auch, dass Charlie, der Portier, zu Fremden so unfreundlich ist, ahnte ich nicht!”

Julian stieg in sein Gebirge, über die Stadt dachte er nach

Nach einer knappen dreiviertel Stunde erreichte Julian die Nebelgrenze. Er durchquerte ein Geröllfeld. Der Nebel war sehr dicht, die Sichtweite betrug etwa fünfzig Meter. Die Strecke war vertraut. Mehrere hundert, vielleicht sogar schon eintausend Mal legte er den steilen Aufstieg zurück. Meist allein. Der steinige Weg war glatt. Die Turnschuhe von Nils profillos, deshalb ungeeignet. Nach einer weiteren halben Stunde ließ er den Nebel unter sich. Schnell zogen dunkle Wolken auf.

Erleichterung und Freude. Das Leben als maskierter Maskierungskünstler in der Rolle eines Anderen ging zu Ende. Einer Belastung nahte ihr Ende. Zurückgekehrt in vertraute Umgebung.

Die war eiskalt. Erste Schneefelder bereits hinter ihm. Die Turnschuhe durchnässt.

Auf dem Abstieg würde Nils ihn begleiten.

 

Die Sonne hatte den höchsten Punkt des Tages schon lange überschritten. Seine Hütte wollte er noch vor Sonnenuntergang erreichen. Falls das nicht klappte: eine kleine Taschenlampe, die er im Rucksack von Nils trug.

Die Stadt veränderte ihn. Die Stille um ihn herum war ungewöhnlich. Die Luft zu kalt und frisch. Die Muskeln schmerzten. Die Bewegung ungewohnt, anstrengend. Das alles: erschreckend.

 

Seine Vorstellung der Stadtmenschen: Eine Vision, die er jetzt aufgab. Die meisten Menschen litten nicht unter dem Dreck, der verpesteten Luft, dem Tempo, oder dem Stress. Oder übersah er das Leid?

Die Enge, grauenvoll. Die Wohnungssuche: schrecklich. Leute wie Helmuth Hauch und der Makler Rauch rissen sich einiges unter den Nagel. Idiotie und Ungerechtigkeit? Nützlichkeit, Notwendigkeit und Zweck? Verschiedene Lebensentwürfe, Lebenssysteme. Ärgernis und Aufregung erst, wo die Entwürfe nicht mehr nur Privatvergnügen einzelner Personen blieben. Nils und Julian Betroffene von Privatvergnügen. Einfluss und Abhängig. Negative, subjektive Folgen: Druck und Enge.

Rauch nur ein plastisches Beispiel. Eins von Millionen. Seine finanzielle Absicherung, wie es jedem Menschen frei steht: Geldbeschaffung von Studenten, Schülern, Eltern. Platz und Raum der wahre Luxus der Zivilisation. Das Dach über den Köpfen: teuer, sehr einträglich. Rauchs “weißes Ambiente” deshalb finanzierbar.

Das Privatvergnügen von Rauch, der freizügig lebt, dabei sein Geld verdient. Eine Schnittstelle? Einfluss des Maklers auf das Leben von anderen Menschen? Nils Scherer, wie jeder, auf den wahren Luxus angewiesen.

Warum nicht die Parkbank?

Nils Scherer will den wahren Luxus. Er braucht ihn! Er will was lernen. Das geht schlecht auf der Parkbank.

Wahrer Luxus für Nils Scherer!

Nils Scherer muss den freizügigen Makler Rauch aufsuchen. Kein Widerspruch. Ein sich ergänzendes System. Rauch diktiert die Preise für den wahren Luxus. Nils Scherer wird der Hals zu geschnürt.

Wahrer Luxus für Nils Scherer!

Wahrer Luxus nur durch Eigenleistung in Frieden und Freiheit für alle!

Nils Scherers Eigenleistung: ein Zufall.

Eine Kettenreaktion.

Natürlich war, wie üblich, kein Zusammenhang nachweisbar. Der uralte Förster suchte Julian vergeblich. Er kam schon in Julians Kindheit in die Berge. Mit dem Vater trank er regelmäßig einen Schnaps vor der Hütte.

Plötzlich statt Julian: Nils in der Hütte. Der Förster erkannte ihn trotz Maskierung. Ein schrecklicher Bruch. Julian einfach ausgetauscht, verschwunden. Der Förster beobachtete die Hütte zwei Tage lang. Er sah Nils mit Julians Schafen.

Der alte Förster kam nur vier, fünf Mal im Jahr. Er trank mit Julian und sprach mit ihm. Das war seine Rolle in Julians Leben. Ein gewohnter Rhythmus.

Das Zusammentreffen mit Julian, das Sitzen mit Schnaps vor dessen Hütte, die wenigen Worte mit ihm in dem abgeschiedenen Gebirge. Das alles war wichtig.

Julian war zurück in seinen Bergen

Nach den Erlebnissen in der Stadt war Julian in der Lage sich am Feuer über Systeme aufzuregen, wie Nils dies tat. Er würde dies, so dachte er, nicht tun. Das war nicht sein Leben. Er würde es tun, käme nicht daran vorbei sich aufzuregen, wenn das, was er gelebt und erkannt hatte sein Leben bleiben würde.

Julian stapfte durch ein langes Schneefeld.

Das sind meine Abhängigkeiten, dachte er: die Natur macht mir manchmal einen Strich durch die Rechnung. Oder eines meiner Schafe verhält sich unvernünftig.

Die Dämmerung setzte ein und er war froh um die Taschenlampe. Dichte, dunkle Wolkenfelder zogen nahe an den Berg heran. Die Turnschuhe: gefrorene Eisklötze. Der Aufstieg, trotz der Kälte schweißtreibend. Anstrengende tiefe Schneefelder.

Mehr als sechs Stunden vergingen.

Nach der Überquerung einer kleinen Anhöhe kam er in sein Tal. Sein Ziel lag nahe. Am Ende des Tals hinter einem Felsbrocken. Er prüfte die Windrichtung. Schwach blies er von hinten. Assyas feine Spürnase roch sein Kommen.

Schnelle Schritte und Vorfreude auf seine Hündin. Eine gefrorene Schneedecke. Innerhalb weniger Minuten war es dunkel. Der Kegel der Taschenlampe beleuchtete den verschneiten Pfad. Der Himmel war stark wolkenverhangen. Die Lampe notwendig. Neue Schneeflocken vielen herab.

Plötzlich hörte er hinter sich ein leises Laufgeräusch. Das Vorbeistreifen eines Tieres an einem Nadelbaum. Von der Taschenlampe aufgeschrecktes Wild? Nahe seiner vertrauten Schäferhütte: Angst. Die Stadt veränderte.

Schnell drehte er sich um und warf den Lichtkegel der Taschenlampe hinter sich. Deutlich erkannte er eine Spur, wie von einem Fuchs. Kleine Abdrücke kreuzten sich im Schnee. Er ging weiter.

Plötzlich lautes Rascheln am rechten Ohr: von der Seite sprang ihn ein Tier an. Das warf ihn zu Boden. Eine warme Zunge schleckte seine eiskalten Hände und seinen Hals. Assya! Freudig begrüßte Julian sie. Sie hüpfte schwanzwedelnd vor ihm hin und her.

“Ja hallo Assya, hier bin ich wieder. Hast mich schon vermisst, hä?” Er warf sich dem Tier um den Hals. Dann hob er die Taschenlampe auf. Er streichelte Assya. Sie saß vor ihm im Schnee. “Na komm, wir gehen nach Hause!”

Julian wollte seinen Weg fortsetzen. Von Assya erwartete er, dass sie vorne weg laufe, wie immer. Assya aber blieb sitzen. Jammern und Winseln. Julian war bereits mehrere Schritte weiter gegangen. Er beugte sich zu ihr, streichelte sie und fragte: “Was ist denn, was hast du denn, komm wir gehen zur Hütte, zu unseren Schafen in der Höhle und zu Nils!”

Ihr Verhalten verriet, dass etwas nicht stimmte. Julian wurde heiß. Schnelle Schritte Richtung Hütte. Er brüllte Assya an, sie solle mitkommen. Die Hündin folgte zögerlich. Sie wedelte nicht mehr mit dem Schwanz. Den ließ sie hängen.

Schlechtes Gewissen und Vorwürfe. Nils war zu wenig auf das harte Leben im Gebirge unter winterlichen Verhältnissen vorbereitet. Erfroren vor der Hütte. Er sah Nils in einen Felsspalt gestürzt. Die Herde samt Nils lag unter einer Lawine begraben.

Nils ein Verrückter. Lebensmüde. Doch ein Spiel mit dem Leben? Nils der Verzweiflung nahe. Stress, Stadtleben, Belastungen, Zivilisation, alles zuviel.

Julian stapfte schnell durch den Schnee. Seine Hände zitterten, nicht vor Kälte, sondern wegen der Anspannung. Er, ein mieses Schwein, das sich auf Kosten anderer vergnügt. Nur wegen seiner Gefühle für diese Christine und dem Nasenvorfall kam er schon zurück.

Julian wurde beinahe schlecht. Zu sich selbst sagte er wütend: Du Idiot! Du Trottel! Du kennst die Menschen nicht, du lebst hier hinterm Mond!

Julian erreichte die flache verschneite Wiese vor der Hütte. Ungläubig sah er auf die schneeweiße Wiese. Die steile Felswand ragte grau in die Wolken. Der Lichtkegel der Taschenlampe erreichte sie. Er bahnte sich einen neuen Weg durch den dichten Schneefall. Wieder erreichte er die graue Felswand. Julian stapfte quer über die verschneite Wiese.

Assya atmete dicht hinter ihm. Er erreichte die Felswand. Er ging linker Richtung die Wand entlang. Mit der Taschenlampe leuchtete er in den verschneiten tiefen Felsspalt. Quer über die Wiese ging er zurück, dicht gefolgt von Assya. Unter der Schneedecke musste sein Getreide- und Gemüseacker sein. Er ging zurück zur Felswand. Links entlang bis zum Ende.

Das Gatter am verschneiten Höhleneingang! Hinter den drei dicht wachsenden hohen Tannen. Wie gewohnt mit dem dicken Holzprügel verschlossen. Den schnitzte er vor Jahren.

Er öffnete es. Mit der Taschenlampe leuchtete er in die Höhle. Auf dem Boden sah er deutlich Spuren seiner Schafe. Er war am richtigen Ort, das war sicher. Die Hütte und die Umzäunung seines Feldes neben der Hütte fehlten. Sie waren einfach weg!

Gemeinsam mit Assya ging er durch alle Verzweigungen der Höhle. Die einzelnen Kammern waren gefüllt mit Holz und Stroh für den Winter. Selbst die Lebensmittelkammer war unangetastet.

Von seiner Schafherde und von Nils fehlte, abgesehen von den Spuren am Höhleneingang, jede Spur.

Assya musste schreckliches miterlebt haben. Wo war Nils geblieben? Wo waren die Schafe? Wo war die Hütte? Brannte Nils die einfach nieder? Julian war verzweifelt. Seine Existenz fand er vernichtet. Warum hatte dieser Verrückte das getan?

Am Höhleneingang entfachte er ein riesiges Feuer um sich zu wärmen. Mit Assya verbrachte er eine lange, kühle Nacht in der Höhle. Die Maske von Nils schnitt er mit dessen Taschenmesser aus dem Gesicht. Er warf sie in das Feuer. Er und Assya sahen das Gesicht von Nils in Flammen aufgehen. In der Lebensmittelkammer fand er Schafsfett, mit dem er sein bleiches Juliangesicht einrieb. Auch zu Essen für sich und Assya fand er einiges. Mit Stroh und Schaflederdecken bereitete er sich und Assya ein Nachtlager am Feuer.

Das erste Morgengrauen weckte beide. Sie schleckte in seinem Gesicht. Auf das Feuer warf er dicke Holzprügel. Vor den drei Tannen am Höhleneingang viel dichter Schnee. Seine kalten Füße wärmte er. Anschließend zog er seine selbst gefertigten Schaffellschuhe an. Die Schuhe lagerten in der Höhle, wo er sie früher ausschließlich benutzte. Sie waren für die kalte Jahreszeit ungeeignet, für die kühle Höhle reichten sie. Er umwickelte sie mit Schafwolle.

Die Tasche von Nils und dessen Turnschuhe packte er in einen Alten Schafledersack aus der Lebensmittelkammer. Gemeinsam mit Assya trat er aus der Höhle.

Er sah die Wahrheit bei Tageslicht. Seine Hütte fehlte. Die Wiese war leer. Keine Hütte, kein Zaun. Mit Assya schritt er sie nochmal ab. Keine Spuren. Nochmal durch die Höhle. Vergeblich.

Durch anhaltend dichten Schneefall trat er, gefolgt von Assya den Rückweg hinunter ins Tal an.

Ein Bericht in einem grauen Aktendeckel.

Am Montag, den 31. Oktober 1984 entdeckte ich, im Verlauf eines Erkundungs- und Kontrollganges, auf einer Bergwiese oberhalb des Dorfes Hinweiler zwischen 1400 und 1500 Höhenmetern eine, in der Landschaftsschutzkarte Nummer 165 der Forstverwaltung für Oberösterreich, nicht verzeichnete, feststehende Holzhütte.

In den Unterlagen des, für diesen Landschaftsschutzabschnitt zuständigen, kürzlich verstorbenen Försters Obermeier, befand sich kein Hinweis auf eine Sondergenehmigung für das Bauwerk. Angrenzend befand sich ein, im Landschaftsschutzgebiet ebenfalls nicht genehmigtes, umzäuntes Getreide- und Gemüsefeld. Nähere Untersuchungen ergaben, dass das Anwesen von einem Schäfer, Namens Julian Winkler, nicht nur zum vorübergehenden Aufenthalt genutzt wurde. Ebenso wurde von mir eine Schafherde entdeckt, deren ständiger Aufenthalt im Landschaftsschutzgebiet in der Forstverwaltung nicht aktenkundig war.

Auf Anweisung der Oberforstdirektion (Az.507/01/11/84) wurde die Räumung des Anwesens befohlen. Dessen Abbruch veranlasst am 02.11.84, wurde fachgerecht durchgeführt am 03.11.84. Freundlichst unterstützt durch das Bundesheer. Die Tierherde wurde anweisungsgemäss der Veterinärverwaltung überstellt.

Den Schäfer überstellte ich, zum Zwecke der Personalienfeststellung, und der Feststellung der Schadenshöhe, der Bundesbehörde. Er verweilt in U-Haft im Salzburger Staatsgefängnis.

Anlage zum Wochenbericht der Landesverwaltung Oberösterreich

Hinweiler, am 04.11.1984

gez. Huber, staatl.gepr.Oberforstmeister

Nils und Julian in den Mühlen der Justiz.

Die Zelle, in der Nils im Trakt für Untersuchungshäftlinge, im Salzburger Gefängnis festgehalten wurde, war exakt so möbliert, wie er sich eine Gefängniszelle, die er noch nie von innen sah, schon immer vorstellte. Ein Bett: eine an der Wand hochklappbaren Pritsche. Eine Toilette in der Ecke. Ein vergittertes winziges Oberfenster. Ein kleines Waschbecken. Gegenüber der Klappritsche ein wackliger brauner Holztisch. Ein brauner Holzstuhl. An der Decke eine Glühbirne die um 22 Uhr erlosch.

Während Julian in Begleitung von Assya den Abstieg ins Tal antrat, hatte Nils bereits die zweite Nacht in der Zelle hinter sich.

Dem Abriss der Hütte musste er nicht beiwohnen. Der neue Forstmeister traf überraschend ein. Nils ließ die Schafherde ein letztes Mal vor dem Wintereinbruch im Schneeregen vor der Schäferhütte grasen. Nils saß in einem Schaflederlappen eingewickelt auf der Holzbank vor der Hütte. Er trällerte lauthals eines seiner gedichteten Liedchen, die ihm in den vergangenen Wochen die lange Zeit und die Einsamkeit vertrieben. Assya warnte ihn nicht vor dem Besuch. Sie streunte irgendwo herum. Täglich genoss sie zehn bis fünfzehn Minuten Herumtollerei im Wald.

Nils überrascht. Hörte auf zu trällern. Bemühte sich um Freundlichkeit. Er kannte den Mann nicht. Dachte es wäre der alte nette Förster von dem Julian erzählte. Dachte zwar: der sieht nicht nach einem gemütlichen Schnäpschen vor der Hütte aus! Verdrängte den Gedanken aber gleich.

Unfreundlich fragte der: “Was dean sie da herom? Zoangs a moi ernan Ausweiß! Des doo herom is fei a Landschaftsschutzgebiet! Tierhaltung fei streng untersagt! Woos soid de oide Hüttn da? Wohna sie da?” Außerdem störe sein lautes Herumgegröle die Ruhe. Und die Massentierhaltung im Landschaftsschutzgebiet sei ein Hammer.

Nils, leistete gegen die Vorverhaftung durch den Forstbeamten keinen Widerstand. Julians Schafherde blieb zurück. Nils stieg mit der Tasche von Julian und einigen Schäferbekleidungsstücken und dessen Paß, den der Forstbeamte nicht wieder zurückgab, in das Dorf ab. Assya war weg. Sie rannte nicht schwanzwedelnd herbei. Sie stürmte aus keinem Gebüsch hervor.

 

Auf der Polizeiwache des Dorfes wurde die Identität des verhörten Nils Scherer eindeutig mit der von Julian Winkler festgestellt. Grundlage war dessen mitgeführtes, gültiges, amtliches Ausweisdokument. Das Foto stimmte annähernd mit seinem Aussehen überein. Der Beamte teilte Nils mit, dass gegen ihn ein Ermittlungsverfahren wegen Verletzung des Österreichischen Landschaftsschutzgesetzes eingeleitet werde. Da er als wohnungslos galt, wurde er zunächst in Untersuchungshaft in das Salzburger Gefängnis überführt. Dort gab es einen Pflichtverteidiger für ihn.

Noch an diesem Tag sprach er mit dem. Einem gewissen Herrn Obermärzer. Ein hochgewachsener Mann mit dünnen Brillengläsern.

Nils etwas arrogant: “Wissen Sie, wen Sie vor sich haben?”

Der Anwalt: “Sie sind Herr Julian Winkler, wohnsitzlos, geboren am 23. April 1963 in, …Moment wie war der Name des Ortes…”, der Anwalt zog eine rahmenlose, mit rechteckigen dünnen Gläsern versehene Lesebrille aus der Westentasche. Mit ihrer Hilfe blickte er in die vor ihm auf dem Holztisch liegende graue Akte:

“…Hinweiler, ja genau, geboren in Hinweiler. Also, sie sehen, Herr Winkler, mir ist klar, dass ich sie vor mir habe!”

Der Pflichtverteidiger Obermärzer ließ Nils nicht zu Wort kommen und fuhr, weiterhin in die Akte blickend, fort:

“Ihnen wird eine massive Verletzung des Österreichischen Landschaftsschutzgesetzes zur Last gelegt. Sie sollen seit mehreren Jahren die, unter Naturschutz stehende Landschaft oberhalb ihres Heimatortes zu Wohnzwecken missbraucht haben. Ist das richtig Herr Winkler?”

“Nein! Ich habe niemals Landschaft missbraucht”, reagierte Nils. Militärisch, abgehackt, kurz, laut, schnell. Dann sah er Obermärzer durch die dünnglasige Brille in die Augen.

“Lassen sie doch diese Haarspalterei!” Der Pflichtverteidiger war ungehalten. Er blätterte hastig in der vor ihm liegenden Akte. Er war derlei dumme Antworten nicht gewohnt. Er verteidigte Menschen die froh sein konnten – und es meist waren – dass er sich für sie überhaupt Zeit nahm.

“Hatten sie im Landschaftsschutzgebiet, oberhalb ihres Heimatortes in einer..”, er setzte erneut die Brille auf und las in der Akte: “feststehenden Holzhütte, nicht nur vorübergehend ihren Aufenthaltsort?”

Der Anwalt nahm die Brille wieder ab und sah Nils in Erwartung einer Antwort an.

“Nein, mein Aufenthalt dort war von vorübergehender Dauer! Auch ist ihre Behauptung falsch, ich sei wohnsitzlos! Ich habe einen Wohnsitz, in München”, antwortete Nils und stützte sich mit den Ellenbogen am Tisch auf. Er drehte eine Zigarette.

“Nicht ich behaupte etwas, das sie für falsch halten!”, reagierte der Anwalt endgültig ärgerlich. Er riß hastig die Brille aus seinem schmalen Gesicht und blätterte erneut in der Akte.

“Die in dieser Akte gegen sie erhobenen Vorwürfe entstammen der Landesforstverwaltung. Sie wurden an die Polizeidienststelle ihres Heimatortes, mit dem Auftrag der weiteren Ermittlung geleitet.”

Ernster Blick, ohne die Brille auf er Nase.

Nils, zog an der Zigarette, blickte zum Fenster hinaus und sprach nichts. Eine Minute Schweigen.

Ärgerlich ergriff Obermärzer erneut das Wort:

“Zu einem Katz- und Mausspiel, Herr Winkler, haben wir nun wirklich keine Zeit. Wenn sie meine Unterstützung wollen, so erwarte ich von ihnen Kooperation. Meine Zeit ist zu begrenzt. Um mir Erfindungen anzuhören ist sie zu knapp. Morgen haben wir wieder zehn Minuten. Überlegen sie bis dahin, ob Sie bereit sind, mir diejenigen Informationen zu geben, die zu ihrer Verteidigung erforderlich sind. Es geht eh nur um persönliche Daten und Angaben zu ihrem Aufenthaltsort in den vergangenen Jahren”.

Der Anwalt schlug die Akte zu, steckte sie in seinen schwarzen Koffer und verließ, ohne weitere Worte den Raum.

 

In Hinweiler:

Ein Bewohner eines Bauernhauses am Waldrand beobachtete Julian. Der durchquerte mit Assya ein umzäuntes Weidegelände. Durch ein Fernglas erkannte er ihn.

War der nicht am Vortag verhaftet worden? Der Bauer alarmierte die Gendarmeriedienststelle. Noch bevor Julian den Gasthof Zur Post erreichte, wurde er von einem Beamten gestellt. Der gleiche, der zwei Tage zuvor eine Person gleichen Namens, nahezu gleichen Aussehens mit gültigen, auf diese Person ausgestellten Ausweispapieren verhörte.

Am späten Vormittag des fünften November 1984 wurde auch Julian in einer engen Amtsstube der winzigen Gendarmeriestation vernommen. Dort stellte sich heraus, dass der an diesem Tag gefasste Julian Winkler seine wahre Identität verschleierte. Denn lediglich das Aussehen dieser Person, so notierte der Beamte in seinem Bericht, sei demjenigen des Julian Winkler von vor zwei Tagen ähnlich.

Die amtlichen Dokumente welche die Person mitführte, lauteten jedoch auf den Namen eines Nils Scherer, wohnhaft in München. Das Dokument, zwar ungültig, weil abgelaufen, stattdessen führte die Person ein gültiges Aufenthaltspapier, ausgestellt von der Gendarmeriedienststelle Salzburg, Bahnhof vom 4.11.84 mit. Die Identität der Person war somit zwar anhand der Dokumente eindeutig festgestellt, stimme jedoch mit dem tatsächlichen Aussehen des Verhörten nicht überein.

 

Julian wurde deshalb, noch am gleichen Tag, wegen des Verdachts des Diebstahls von Ausweispapieren und zum Zwecke der näheren Klärung des Zusammenhanges mit der Festnahme vom Vortag nach Salzburg gebracht.

 

Zu dem Zeitpunkt war Nils, wegen eines erneuten Gesprächstermins mit dem Anwalt Obermärzer im Verhörzimmer. Noch bevor der Anwalt seinen schwarzen Aktenkoffer öffnete begann Nils die Maske mit den Fingernägeln aus seinem Gesicht zu kratzen.

“Ich habe mich entschieden, kooperativ mit Ihnen zusammen zu arbeiten, deshalb möchte ich ihnen zunächst beweisen, dass ich nicht Julian Winkler bin.” Er legte mehrere Teile der zerrissenen Maske auf den Tisch.

Obermärzer, auf diesen Vorfall nicht gefasst, zückte die Lesebrille. Sah nichts, zog aus der anderen Westentasche eine zweite Brille. Die machte das Sehen leichter.

Die Nickelbrille auf der Nase brüllte er: “Aufsichtsbeamter!”

Der riss die Tür auf. Trat mit gezückter Waffe ein.

Obermärzer brüllte den an: “Sehen sie, was ich sehe?”

Der konnte nicht sehen, was Obermärzer sah, weil Nils mit dem Rücken zur Tür, vor Tisch und Obermärzer saß. Der Beamte sprang zu Obermärzer. Sah und steckte die Waffe zurück in sein Lederhalfter.

“Der hod ja a Maskn auf! Des is ja a ganz a Anderner!”

Nils gelang es nicht die Maske mit den Fingernägeln vollständig zu entfernen. Schwer lädierten Gesichtes blickte er zum Anwalt:

“Ich hab’s mir reiflich überlegt. Ich will mit ihnen kooperieren. Mein Name ist nicht Julian Winkler, sondern ich bin Nils Scherer und auch nicht wohnsitzlos. Ich wohne in München und habe mich kurzfristig als Julian Winkler maskiert. Wir haben praktisch unsere Rollen vertauscht! Verstehen Sie?”

Obermärzer wollte nichts verstehen. Er antwortete: “nein!” Erhob sich langsam, steckte die Brille in die Westentasche, nahm die ungeöffnete Aktentasche, befahl dem Beamten, Nils in die Krankenstation zu bringen. Dann verließ er, ohne weitere Abschiedsworte den Raum.

Nils sah zerstückelt aussah. Helle weiße Flecken im Gesicht. Keine Blutspuren. Der Arzt beseitigte die letzten Spuren der Maske. Die bleiche Gesichtshaut versorgte er mit einer Hautcreme. Er saß wieder in der Zelle.

 

Kurz darauf wartete Julian in einer anderen Zelle auf seine Vernehmung. Assya wurde ihm in Hinweiler von einem Beamten weg genommen und zur tierärztlichen Untersuchung gebracht.

Der diensthabende Hinweiler Beamte notierte dazu in seinem Bericht: Der Befragte konnte für seine Hündin, von der er angab, es handle sich um seinen Besitz, keine Meldekarte oder Steuermarke vorweisen. Das Tier wurde in entsprechenden Verwahr genommen.

Meine planmäßige Abreise aus Hinweiler.

Nachdem um vierzehn Uhr weder Nils noch Julian, den ich noch nie gesehen hatte, im Gästesaal des Hotels Zur Post erschienen, ging ich zur Bushaltestelle. Falls keiner der beiden erscheine, so war ausgemacht, sei alles klar gegangen. Nils werde sich sicher noch einige Tage aufhalten wollen, sich von den Tieren verabschieden und so weiter.

Mit dem zweiten und letzten Bus des Tages fuhr ich nach Salzburg.

Von den Vorgängen im Dorf, der Festnahme Julians am Morgen und dessen Abtransport nach Salzburg, bemerkte ich nichts, da ich bis Viertel nach Zwölf, die Zehn-Uhr-Regelung des Portiers mißachtend, im Zimmer blieb. Mein Magen spielte verrückt. Dem Portier schob ich dreihundert Schilling hin, für die er mir bereitwillig lächelnd meinen Ausweis zurück gab.

In Salzburg bestieg ich den Zug nach München.

Kurz dachte ich daran, dass was passiert sein könnte. Doch damit wollte ich mich nicht weiter auseinandersetzen. Ich fühlte mich in dem kleinen Dorf und vor allem in dem riesigen Gasthof äußerst unwohl. Mit den Menschen, die im Gasthof zu Mittag aßen und in, für mich unverständlichem, Dialekt herum grölten, wollte ich nichts zu tun haben. Ich hatte das Gefühl, nicht dort hin zu gehören. Am liebsten wollte ich nie dort gewesen sein. Vielleicht war mir auch die Atmosphäre zu ländlich. Die Menschen zu beobachtend. Keine Anonymität, kein Schutz, ich fühlte mich auffällig.

Selbst im Bus viel ich auf, da ich den Fahrer nicht verstand. Trotzdem hatte ich ein Recht mit zu fahren. Ich konnte den Fahrpreis bezahlen. Ich war ein Mensch. Kein Tier, das nicht mitgeführt werden durfte. Die Atmosphäre im Bus miefte provinziell wie das Hotel Zur Post und das ganze Dorf. Erst nachdem die Stadtgrenze Salzburgs erreicht war, fühlte ich mich deutlich wohler.

An die Situation und den Verbleib von Julian oder Nils dachte ich während der Busfahrt nicht. Die Vermutung, sie könnten in der Stadt im Knast sitzen, lag mir fern. Erst im Zug, nachdem die Österreichische Grenze passiert war, begann ich das Erlebte zu reflektieren. An den Sinn meiner Reise in dieses mickrige Dorf, dessen Name mir entfallen war, den ich in Wahrheit nie richtig Wahrgenommen hatte, konnte ich mich nicht mehr erinnern. Als Eingeweihter in die Situation von Julian und Nils fühlte ich mich verpflichtet den beiden dabei zu helfen. Doch weder die Person Julian noch die Person Nils war mir wirklich vertraut.

Im Dorf von Julian angekommen wollte ich nicht weiter. Ich war froh, wegen der klaren Rückzugsregelung. Die nutzte ich sofort. Mein Interesse endete. Ein Punkt an dem das Ganze über die reine Unterhaltung, den Zeitvertreib, die Distanz hätte hinaus gehen müssen.

Ich trat keinen Schritt vor, sondern trat den Rückzug an.

Alles was ich tat war legitim, denn es war so vereinbart. Niemand konnte mir einen Vorwurf machen.

Nils und Julian: Aussteiger auf freiem Fuß.

Nils und Julian wurden noch am gleichen Nachmittag überraschend entlassen. Was gegen beide Vorlag, sagte der Ermittlungsrichter, genügte nicht um sie länger fest zu halten. Ihre Ausweise waren nicht gefälscht, sondern nur vertauscht.

Der wohnsitzlose Julian sollte sich täglich auf einer Salzburger Polizeidienststelle melden, bis das Verfahren gegen ihn beendet werde.

Beide trennten sich am Salzburger Bahnhof. Der eine mit der Perspektive, dass er sich nun aus dem Nichts in seinem Heimatland eine neue Lebensgrundlage auf zu bauen hat, weil sein bisheriges Leben realitätsfern war und einem Traum glich, der wie eine Blase in einem Wasserglas zerplatzte.

Der andere saß mit der Perspektive im Zug, dass seine Schulkarriere beendet sein könnte, wegen des Vorfalls in der Mathematikstunde. Die Indizien im Rahmen eines Disziplinarverfahrens sprachen dafür, dass eine andere Person, wer auch immer so dumm war, sich darauf ein zu lassen, für ihn die Schulbank drückte. Dies reichte, um ihn von der Schule zu feuern, auch wenn nie nachgewiesen werden konnte, wer diese andere Person war.

In der Schule erschien Nils deshalb nicht mehr. Mark, Ralf, Christine, Regine, Sofia, Rolf und ich, die ganze letzte Reihe musste das Jahr, wegen zu schlechter Mathematikleistungen wiederholen.

Ich traf ihn noch einmal, Monate später, im Café Notfall. Das neue Schuljahr hatte bereits begonnen. Es war an einem verregneten Donnerstag Abend. Seine Aufenthaltsdauer lag unter fünf Minuten. Er kam an unseren Tisch, schüttelte jedem von uns kurz die Hand. Er verabschiedete sich mit den Worten: “Tschau Leute. Ich habe mit einem Österreicher zusammen in Griechenland eine Schafweide gekauft. Morgen reisen wir ab. Ich habe nicht vor hier nochmal zu erscheinen. Machts gut!”

 

Jetzt sprang Nils vom braunen Kunstledersofa auf:

“Was soll das? Das war doch anders! Ich bin null ausgestiegen!”

Ich: “Ja, ja, klar!” Aber es hätte doch sein können! Oder? Die Sache geht noch weiter, hört zu:”

 

Das wäre ein denkbares und kurzes Ende der Geschichte von Julian und Nils und Assya. Ich denke: alles klar. Nils hat sich von der Idee Auszusteigen überzeugen lassen und es ist schön, dass die Drei, Julian, Nils und Assya, sich nicht voneinander trennten. Vielleicht sind sie ja nach dem Abschied in Salzburg gleich am nächsten Tag wieder zusammen gekommen, weil weder Nils, noch Julian es aushielten.

“Am besten wir beide finden uns zusammen und machen uns hier vom Acker! Versuchen wir gemeinsam ein romantisches Schäferleben, das wir uns anderen Ortes aufbauen.” Nils Theorie, dass Schafe sehr sehr weit entfernt vom Heimatland zu züchten seien, hätte sich damit am Ende bewahrheitet.

Doch es war anders.

Das Ende der Geschichte von Julian und Nils und Assya

Von einem Ende der Geschichte kann nicht die Rede sein.

So lange Personen nicht sterben, enden deren Geschichten nicht.

 

Ihre offizielle Entlassung akzeptierten sie nicht. Deshalb versuchte man erfolgreich, beide hinaus zu werfen. Sie wurden von mehreren Polizisten vor das Gefängnistor getragen. Dort verblieben sie elf Stunden lang. In dieser Zeit baten sie zich Mal um Vorsprache beim Polizeichef und wurden drei Mal zu einem Beamten vorgelassen. So stellten sie ihren gemeinsamen Ausreiseantrag.

Nach dem üblichen dritten Mal, die Dunkelheit war bereits hereingebrochen, wurden sie wieder in die Zelle gesteckt. Das Nächtigen vor dem Knasttor war untersagt.

 

Erst nach mehreren Tagen verließen Nils und Julian das Untersuchungsgefängnis. Aber nicht ohne eine schriftliche, amtliche, gültige, echte, weil mit Dienstsiegel versehene, Genehmigung in Händen zu halten. Die bestätigte, dass beide zusammen mit der, inzwischen vorschriftsmäßig geimpften und amtlich erfassten Hündin Assya das Land verlassen durften.

Ein Nebeneffekt: eine weitere Strafverfolgung Julians war nicht möglich. Der Nebeneffekt, wurde Nils und Julian beim Suppeschöpfen, durch einen redseligen Wärter bekanntgegeben.

Ein Nachweis, Julian Winkler habe die Landschaft im Gebirge zu Wohnzwecken missbraucht sei nicht mehr möglich, auch die Kosten für den Abriss seiner Hütte müssten vom Österreichischen Staat getragen werden, da auch hier nicht nachgewiesen werden konnte, ob das Objekt von besagtem wohnungslosen Wanderer überhaupt genutzt wurde. Denn der Förster hatte ihn dort lediglich auf einem Holzbänkchen sitzend vor eine Schafherde angetroffen.

Bürokratischer Eifer führte zu vorzeitigem Abriss des Objektes. Der Förster glaubte die Ordnung im Landschaftsschutzgebiet sei noch vor dem hereinbrechenden Winter, so schnell wie möglich her zu stellen. Mit diesem Verhalten ging die Vernichtung von Beweismaterial einher, weshalb bereits ein Disziplinarverfahren gegen den Förster eingeleitet wäre.

 

Während der drei Zellentage fand Nils genügend Gelegenheit, sprechend und singend zu berichten, wie er die Zeit verbrachte. Nils grölte den ganzen Tag lang lauthals im Wald und auf den Wiesen und Abends in der Hütte herum.

Damit befreite er sich von Gefühlen der Einsamkeit. Er konnte endlich einmal lauthals “heraus krakehlen”, was er schon lange tun wollte, ohne dabei von irgend jemandem behindert, unterbrochen, zusammengeschissen oder sonst was, zu werden.

Er erklärte: “Assya haben meine Texte gefallen, sie wedelte, während ich sang, ununterbrochen mit dem Schwanz.”

 

Nils, Julian und Assya wohnten in Nils Zimmer in der Mitterwieserstraße. Den “Nasenvorfall” in der Schule bog Nils mit einem riesigen Pflaster über dem Organ, das er drei Wochen trug, wieder hin. Er gab an, er habe einen Gesichtschirurgen an sich herangelassen. Das Ergebnis müsse noch verheilen. Alle anderen angeblichen Beobachtungen von Schülern der Klasse an besagtem Morgen, seien – anders könne er sich das nicht erklären – vermutlich Hirngespinste. Ein riesigen Hautfetzen sei wegen der knallenden Türe von seiner Nase gerissen worden. Wegen des Schocks habe das ganze erst eine knappe Minute später, auf dem Weg ins Krankenhaus, stark zu bluten begonnen. Die Ärzte und Chirurgen hätten bestätigt: “Das alles ist völlig normal!”

 

Während Nils die Schule weiter besuchte, bewältigte Julian das Unglaubliche: Nils lernte, dass Schafezüchten selbst in München möglich ist. Gleich hinter der Nymphenburgerschloßmauer entdeckte Julian einen Schäfer. Regelmäßig war er mit Assya dort.

Wenn man Sonntags dort vorbei spaziert findet man hinter der Mauer, zwischen Nymphenburger Park und Pasing, einen Schäfer bei seiner Schafherde. Er kennt Julian gut.

 

Mit der amtlichen Vernichtung seiner Existenz erlebte Julian einen gewaltigen Umbruch seines Lebens. Dieser Tag X wurde nicht zuletzt durch das Zusammentreffen mit Nils herbeigeführt. Vielleicht blieben sie deshalb auch zusammen.

Christine verliebte sich weiterhin nicht in Julian. Auch nicht in Nils. Das war das Leben. Trotzdem, oder vielleicht deshalb, blieb sie wichtig für die beiden.

Mein Verhalten, wurde von beiden kritisch betrachtet. Ich musste mir die Frage gefallen lassen, warum ich, wie vereinbart, aus dem Kaff von Julian verschwand.

 

Wovon lebten die beiden und Assya im teuren München?

Was ich gerade in meiner Hand halte, eine Schallplatte, trug ein wenig zur ihrer materiellen Absicherung bei. Sie nutzten die Gelegenheit, dass Nils bei seinen Sollner Kumpels Schlagzeug spielen konnte, dass Rolf Baß spielte und Ralf (der Typ mit den teuren Cowboystiefeln) den Blues liebte. Wie ich es befürchtete, griffen eines Tages alle gemeinsam zu Instrumenten und was das ergab, kann ich auf dieser Scheibe hören. Auch Julian singt mit!

Auf dem Cover sehe ich einen goldenen Hügel. Darauf eine Schafherde. Daneben zwei Typen. Verschwommen. Nicht erkennbar, um wen es sich handelt. Der Hintergrund eine blaue Flasche, riesig, mit goldenen Rand.

Die Aufnahme auf der Platte wurde live mitgeschnitten. Die Idee daraus eine Platte zu machen entstand erst, als sich die Freunde die Aufnahme später anhörten.

Der Auftritt fand statt, und das ist unglaublich: im Café Notfall!

Die Gäste an diesem Abend erschienen zahlreich. Die Stimmung war gut, das kann man auf der Platte hören. Das Ergebnis des Abends war – neben der Schallplatte – ein neuer Arbeitsplatz, die Einstellung eines Türstehers. Die Gäste waren Schüler, Schulfreunde und sonstige Freunde der beiden.

Angekündigt war das Konzert der “Fleecy Clouds In Paradise” ab einundzwanzig Uhr. Durch Mundpropaganda in der Schule und überall wo möglich, sorgten wir dafür, dass die Kneipe schon um sechs Uhr Abends rappel voll war. Die Gäste brachten ihre Drinks größtenteils selbst mit. Der Wirt merkte es zu spät. Den Laden zu räumen, hätte Polizeigewalt erfordert.

Die Demoaufnahme, wegen welcher der Wirt das Konzert, in Erwartung gesetzter Champagnerstimmung an seiner Bar, zuließ hatte keine Ähnlichkeit mit der Livemusik.

Die Parkplätze vor der Türe und näheren Umgebung standen voll mit Rostlauben. Johann, Georg und James steuerten gleich die nächsten Etablissements an.

Die Idee, aus dem Lärm eine Platte zu machen wuchs auf Marks Mist.

Er bot sich als Manager an. Das brachte nicht viel Geld, aber es reichte, den Lebensstandard Julians, an den von Nils an zu passen.

 

Nils fand neben der Schule einen Job der ihm heute noch Spaß macht und ein wenig Geld für die Miete einbringt. Er schreibt Texte für und gegen das Leben, wie er es erlebt und brüllt sie sogar auf verschiedenen Bühnen aus sich raus. Häufig liegt dabei Assya gelangweilt neben ihm. Sie springt hin und wieder auf und wedelt mit dem Schwanz. Julian trinkt irgendwo im Publikum ein Bier. Er sorgt dafür, dass sich die Menschen weniger über den kritikwürdigen schlechten Darsteller auf der Bühne, als über den Geruch und das Leben von Schafen unterhalten.

Von dieser Arbeit können beide leben. Sie werden nicht reich werden.

 

Ende der Geschichte.

 

Nils knipste die Schreibtischlampe aus. Es war bereits taghell. Julian räkelte sich neben ihm im braunen Kunstledersofa.

Ich: “Noch eine letzte Frage an euch beide: Wie wird euer Leben weiter gehen?”

Julian: “Vermutlich werden wir uns wieder trennen. Wir sind zu unterschiedlich. Das ist das Leben. Nils ein Städter, ich ein Ländler. Der Tag X war hart für mich, obwohl ich ihn irgendwann erwartete. Brüche sind unser Leben. Ich liebe Schafe, Assya und die Berge. Die Stadt kann nur ein Übergang für mich sein.”

Nils: “Ich werde Betriebswirtschaft studieren. dass wir uns trennen sehe ich heute noch nicht. Aber vielleicht.

Trinken wir noch ein Bier?”

Das Schreiben – Erzählung

Das Schreiben – Erzählung von Bernd Thümmel

Bernado reist in den neunziger Jahren mit einem VW-Käfer von München an die Ostseeküste. Grund für die Reise ist eine Aufgabe, die ein Jahrzehnt in einem vergessenen Versteck verschwunden blieb.

Die Erzählung beginnt viele Jahre vor der Reise. In einer Wohngemeinschaft in München stößt Bernado Mitte der achtziger Jahre auf den Auftrag. Der jedoch gerät in Vergessenheit, weil zunächst der Alltag in München, das Studium, Kontakte, Freundschaften und die Arbeit in einer Knäckebrot-Fabrik, um Geld für das Studieren zu verdienen, im Mittelpunkt des Lebens stehen.

1. Der Hausarrest

Die Lehrerin hatte gesagt, dass ich nicht von „man“ schreiben sollte, sondern ich sollte von „mir“ schreiben. Manchmal hatte sie unter meine Aufsätze geschrieben: „Gut Bernado! Der Aufsatz ist dir wirklich gut gelungen! Sehr gut wäre aber, wenn du schreiben würdest: Ich habe gestohlen, ich habe gelogen, anstatt zu schreiben: Man hat gestohlen, man hat gelogen… Ist es nicht so, dass du in dem Aufsatz über dich schreibst? Warum sprichst du dann von „man“?“

Es war mir nie gelungen, der Lehrerin einen Aufsatz zu geben, in dem ich diesen Rat befolgt hätte. Deshalb hatte ich niemals ein „sehr Gut“ von der Lehrerin bekommen. Es war immer bei „gut Bernado, das ist dir wirklich gut gelungen!“ geblieben. Das hat mir nie etwas ausgemacht. Im Gegenteil, ich war sehr zufrieden damit. Ich wollte nicht dadurch auffallen, dass ich ein „sehr Gut“ in einem Aufsatz mit nach Hause brachte. Für mich, so sagte ich mir, ist „gut“ von der Lehrerin gut genug.

Das Zimmer hatte eine Dachschräge mit einem Kippfenster. Dort musste es schon mal rein geregnet haben. Ich sah gelbliche Streifen an der Raufasertapete unter dem Fenster. Mein Blick wanderte am Fenster und der Dachschräge hinauf bis zur weißen Ballonlampe. Die schwang hin und her. Ein leichter Luftzug blies durch das gekippte Fenster in das Zimmer.

Sommerwind strich draußen über die hohen Baumwipfel rund um das Gehöft. Ich hörte deren Blätter, wie sie in dem böigen Lüftchen raschelten. Sie rauschten auf und ab, sodass ich im Halbschlaf, der mich minutenlang umgab, das Rauschen des Meeres zu hören glaubte.

In den Minuten des Dämmerns sah ich mir dabei zu, wie ich im Wind auf dem Brett stand und mit dem Segel kämpfte. Heftige Windböen peitschten dagegen, sodass es hin und her knallte. Ich versuchte den riesigen Gabelbaum und den beinahe vier Meter hohen Mast an mich heran zu reißen. Ich hängte mein Körpergewicht in den Gabelbaum. Ich fand, das sah verzweifelt aus. Es gelang mir nicht, das Surfbrett im scharfen Wind über der Ostsee zu beherrschen.

Kurz bevor das Brett Fahrt aufnehmen konnte, gerade im Augenblick, als ich das peitschende Schlagen im Wind und das Springen des Brettes in den Wellen unter meiner Kontrolle glaubte, knallte eine mächtige Böe schräg von vorn in das Segel. Das Brett drehte in den Wind. Die Böe, sie schien mir irrsinnig, riss mich mitsamt Segel vom Brett ins kalte Wasser. Wieder auftauchend sah ich das Segel, wie es sich aufbäumte, sodass eine weitere Böe es erfasste. Das Surfbrett, jetzt vom Wind getrieben, jagte aufs Meer hinaus. Ich sah es, Gischt auftreibend, vorbei fliegen wie das bunte Ende eines Indianerpfeils.

Ich erkannte eine Schaumkrone. Sie rollte auf mich zu. Ich versuchte seitlich auf sie hinauf zu schwimmen, wollte sie bezwingen, dachte nur von dort oben könnte ich Ausschau nach meinem Brett und dem Segel halten. Doch da sah ich sie schon über meinem Kopf. Tosend brach die Welle auf mich nieder. Es waren Schläge von einem Hammer. Ich wusste gar nicht, dass Schaum und Salz so schmerzhaft sind.

Da war etwas an meinen Beinen. Etwas zog an ihnen. Die Gischt da oben war weich geworden. Ich verlangsamte mein Schlagen gegen den Schaum. Ich erreichte ihn mit meinem Schlagen nicht mehr. Ich wusste, dass da oben Schaum war, versuchte mich darauf zu konzentrieren. Ich wollte fester, entschlossener gegen diesen Schaum einschlagen. Da merkte ich, dass mein Mund weit aufgerissen war. Das Surfbrett war plötzlich wieder da! Ich sah mich darauf liegen wie auf einer Luftmatratze. Ich hörte ein leises Rauschen, so wie die seichten Wellen am Ostseestrand.

Vom Zimmer in dem Gehöft lag der Strand zu Fuß nur zwanzig Minuten entfernt. Ich hatte schon drei Wochen und zwei Tage dort verbracht. Es waren meine Sommerferien. Ende des Schuljahres 1977 war ich vierzehn Jahre alt geworden. In den vergangenen dreiundzwanzig Tagen war ich täglich ein bis zwei Stunden draußen auf dem Wasser gewesen. Ich kämpfte auf dem Surfbrett mit Wind und Wellen. Heute durfte ich das Meer aber nicht sehen, morgen nicht und die folgenden zwei Tage auch nicht.

Ich hatte eine Strafe zu verbüßen. Ich hatte Zeit. Meine Strafe war die Zeit. Es war die Zeit zu denken. Während ich das tat, also an vieles dachte, fielen mir die Lehrerin und deren Sätze zu meinen Schulaufsätzen ein.

Die Ferientage an der Ostsee bei den Feriengroßeltern hatte ich täglich draußen im Freien verbracht. Das Wetter war wunderschön. Es war sonnig und windig. Mir war der Wind manchmal fast zu viel. Das Surfbrett, mein täglicher Kampf mit den Wellen, das alles war neu für mich.

Die Ferienmutter hatte mich in ihrem großen Wagen auf das Gehöft gebracht. Auf dem Dach des Autos hatte sie das riesige Surfbrett transportiert. Ich könne das Surfen auf dem Wasser üben. Sie habe in ihrem Urlaubsgepäck ein Buch mit vielen bebilderten Tipps. Sie wisse, wie wichtig es sei, dass junge Menschen in den Ferien Beschäftigung hätten. Das Surfen mit dem Surfbrett zu lernen, wäre bestimmt eine tolle Ferienbeschäftigung für mich.

„Ich“ lerne das Surfen! So dachte ich, und dass sich mein nächster Aufsatz darum drehen werde, wie „ich“ das Surfen lerne!

Die Ferienmutter nutzte die Zeit während der langen Autofahrt von Berchtesgaden, um mir zu erklären, wie ich das Surfen auf dem Meer lernen könnte. Alles sei genau im Buch mit den vielen bebilderten Tipps beschrieben. An einer Autobahnraststätte hatte sie das Buch aus ihrem Gepäck im Kofferraum gezogen. Ich habe es mir genau angesehen. Ich wollte eine Vorstellung davon entwickeln, wie das mit dem Surfen auf dem Meer funktioniert. Meine Vorstellung sagte mir schließlich: Ich kann das lernen! Deshalb kämpfte ich seit drei Wochen täglich auf dem Wasser.

Die Ferienmutter hatte mich mit ihrem bebilderten Lehrbuch und dem Surfbrett an der richtigen Stelle erwischt. Ich war ein Mensch, der sich durchbeißen konnte. Das wusste sie und ich glaube, die Lehrerin wusste es auch, denn einmal hatte sie gesagt, ich sollte nicht schreiben „der Mensch beißt sich durch“, sondern „ich beiße mich durch“.

Die Ferienmutter hatte sich informiert. Sie hatte in Erfahrung gebracht, was mit mir in vier Ferienwochen am besten anzufangen sei. Sie hatte herausgefunden, dass ich mich durchbeißen konnte. Deshalb hatte die Lehrerin einmal zu mir gesagt, dass ich schreiben, sagen und tun soll, was „ich“ erreichen will.

Gleich am ersten Tag bei den Feriengroßeltern kletterte ich auf das Brett. Ich versuchte tagelang immer wieder das Segel aus dem bewegten Meer zu ziehen. Seit drei Wochen versuchte ich das so lange, bis meine Kräfte schwanden. Oft schaffte ich es nur mit letzter Mühe auf dem Brett liegend, mit den Armen rudernd, zurück an den Strand.

Nicht ein einziges Mal war ich mit dem Surfbrett auf dem Wasser richtig in Fahrt gekommen. Im Buch der Ferienmutter sah ich Männer, die sich am Gabelbaum des Segels festkrallten und mit einer schäumenden Bugwelle vor dem Brett über das Wasser schossen.

Täglich war ich Dutzende Male in die kühle Ostsee gestürzt. Viele Male war ich hinter dem davon flitzenden Surfbrett her geschwommen. Das alles hatte mich nicht entmutigt. Auch heute wäre ich längst schon wieder draußen. Ich zog das Surfbrett auf dem kleinen Handwagen aus der Scheune und war damit jeden Tag hinunter zum Wasser gelaufen.

Gähnend beobachtete ich durch das gekippte Dachfenster den Hof. Friedlich lag er da im Sonnenschein, holprig gepflastert, umgeben von hohen Scheunen. Rechts an einer der Scheunen sah ich das frisch gestrichene Tor.

„Na, das sieht ja schon ganz toll aus, Herr Malermeister Klecksel!“

So hatte der Feriengroßvater gerufen.

Seinen Mercedes parkte er täglich im Hof vor dem Tor. Er inspizierte gemeinsam mit der Feriengroßmutter die Fortschritte meiner Malerarbeiten an dem Scheunentor.

Er, die Feriengroßmutter und die Ferienmutter bestiegen meist gegen drei Uhr den Wagen. Ich stand mit dickem Pinsel und großem Malereimer hoch oben auf der Leiter. Es machte mir Spaß, meine Fortschritte der täglichen Pinselei an dem Tor zu erkennen. Schon nach vier Nachmittagen war ich mit drei Anstrichen an dem Scheunentor fertig.

Ich konnte sehr gut schwimmen. Darüber hatte sich die Ferienmutter ganz sicher vor Reiseantritt informiert. Bestimmt hatte Büchtler alle meine Schwimmabzeichen erwähnt. Wahrscheinlich hatte er gesagt, dass die Kinder alle „wahnsinnige Wasserratten“ seien.

Jeden Samstagvormittag liefen wir von unserem Wohnhaus auf dem Obersalzberg hinunter nach Berchtesgaden. Dort trafen wir im Hallenbad auf Büchtler, der stets mit seinem weißen Porsche dorthin gefahren war.

„Machen Sie sich da mal keine Sorgen! Der ist, wie die meisten unserer Kinder, ein sehr geübter und sehr guter Schwimmer. Der hat alle Schwimmabzeichen schon zweimal gemacht!“

Sie waren auf meine beiden Badehosen genäht, aber die dazugehörigen Papiere waren abhandengekommen. Das allein wäre kein Grund gewesen, noch einmal alle Schwimmprüfungen zu machen. Vielmehr hatte das Jugendamt von Büchtler gefordert, er möge schriftliche Bestätigungen schicken, die bewiesen, dass ich ein sicherer Schwimmer war. Ohne solche Bestätigungen wäre aus der Ferienverschickung an die Ostsee nichts geworden.

Büchtler konnte die Beweispapiere nirgendwo finden. Büchtlers Büro im zweiten Stock des Jungens-Wohnhauses am Obersalzberg sah immer sehr aufgeräumt aus. Hinter seinem Schreibtisch standen Reihen von sauber beschrifteten Ordnern. Die Auszahlung des Taschengeldes an die Kinder, eine Aufgabe, die Büchtler immer samstags nach dem Schwimmen im Hallenbad wahrnahm, verlief stets begleitet von akkuraten Mitschriften Büchtlers in ein sauber geführtes Kassenbuch.

Deshalb war ich überrascht, als Büchtler mir gesagt hatte, dass er mich noch einmal zum Schwimmkurs anmelden müsse, weil die Papiere nicht mehr aufzufinden seien. Büchtler hatte meine Papiere von den Schwimmabzeichen irgendwo in seinem Büro verschlampt! Das war für mich unvorstellbar. So exakt wie der in seine Kassenbücher schrieb, Belege und Quittungen unterschrieb und reihenweise Ordner beschriftet hatte.

Tatsächlich schwamm ich gerne und gut. Die Scheine habe ich im Handumdrehen noch einmal gemacht. Vermutlich hatten Büchtlers Auskünfte über meine Schwimmleistungen, die Ferienmutter in ihrer Idee bestärkt, das Surfbrett und das bebilderte Lehrbuch mitzunehmen und mir das als Ferienbeschäftigung anzubieten.

Am Strand zwischen den Strandkörben saßen nachmittags drei Burschen. Ich sah sie seit etwa zwanzig Stürzen vom Surfbrett in das kalte Ostseewasser. Ich hatte sehr viel Salzwasser geschluckt. Das Schwimmen zum Surfbrett war mir immer schwerer gefallen. Ich paddelte langsam in Richtung Strand.

Sie saßen neben den beiden Strandkörben der Feriengroßeltern. Ich fürchtete, dass sie sich auf meinem Handtuch breitgemacht hatten. Ich hatte es zusammen mit meinen Klamotten neben den roten Strandkorb gelegt. Je näher ich dem Strand kam, desto genauer erkannte ich, dass die Burschen auf ihren eigenen Handtüchern saßen.

Tags zuvor hatte ich meine Malerarbeiten an dem hohen Scheunentor abgeschlossen. Deshalb hatte mich der Feriengroßvater sehr zufrieden gelobt. Er sagte, dass er keine weiteren Aufgaben auf dem Gehöft für mich habe. Da seien ja noch die Ostsee, das Surfbrett, das schöne Wetter und der Wind. Das wäre doch geradezu ideal für eine Wasserratte.

Weil meine Arbeit am Scheunentor beendet war, konnte ich an dem Tag länger am Strand und auf dem Surfbrett bleiben, als an den Tagen zuvor. Ich fragte mich, ob die Burschen jeden Nachmittag um diese Uhrzeit am Strand neben dem roten Strandkorb herum saßen. Als ich mit dem Brett am Strand angekommen war, erhob sich der Längste der drei.

„Moin ich bin Robert! Du bist doch sicher der Bayerische Lüdd, der uns schon vor Wochen angekündicht wurde!“

Robert reichte mir die Hand. Ich fand, er hatte ein irgendwie schelmisches Lachen im Gesicht. Die beiden anderen standen rechts und links neben Robert.

„Tagchen, ich bin Bernado und bin tatsächlich der angemeldete Bayer! Aber was ist denn so ein Lüdd?“

Die beiden anderen schüttelten meine Hand.

„Moin ich bin Martin.“ „Moin ich bin Mischa.“

Wir setzten uns in die Sonne, auf unsere Handtücher zwischen den beiden Strandkörben. Ich erfuhr, dass Robert ein Enkel der Feriengroßeltern war und in der Nähe mit seinen Eltern auf einem Bauernhof lebte. Martin und Mischa schienen seine beiden besten Kumpels zu sein, mit denen er täglich unterwegs war.

Die drei waren etwa gleich alt wie ich. Ihre Schulferien hatten schon zwei Wochen früher als meine begonnen. Dass ich das Windsurfen noch kein bisschen beherrschte, schien die drei nicht zu interessieren.

„Wie wäre es morgen früh mit einer Bootstour? Wir fahren mit einem Fischkudder zum Blinkern.“, fragte Robert.

Ich kenne Ausflugsfahrten auf oberbayerischen Seen. Ich dachte sofort, dass das Meer aber etwas völlig anderes ist und dass so eine Bootsfahrt auf einem Fischkutter für mich, einen Menschen aus einem bayerischen Gebirgsort, beängstigend ist, wollte das den Dreien gegenüber aber nicht durchblicken lassen. Ich stimmte der Idee deshalb ohne Zögern zu.

„Ja klar eine Bootstour! Gute Idee für Morgen, liebe Leute! Das wird bestimmt ein schöner Spaß werden!“

So rief ich den dreien zwischen den Strandkörben zu. Es war, als wäre ich am Obersalzberg hinter Büchtlers Haus beim Tischtennisspiel mit den anderen Kindern. Dort war ich ein lauter Schreihals. Oft nervte mein Geschrei Büchtler, dessen Büro oben im zweiten Stock lag, sodass der herunter schrie: „Halt endlich mal die Klappe du dämlicher Armleuchter!“ Deshalb dachte ich, dass ich als Neuer an der Ostseeküste vielleicht etwas zu laut schrie. Das schien Robert, Mischa und Martin aber nicht zu stören.

Wir drei sprachen lauthals über das Blinkern und die Bootstour im Fischkutter, die Robert für den nächsten Tag plante. Die Fischerei sollte nicht mit Ködern stattfinden, sondern mit so genannten Blinkern. Soweit ich Robert verstand, würden die Fische durch das Auf und Ab angelockt.

Mischa sagte zum Abschied:
„Beim Opa von Robert findest du jede Menge altes Ölzeuch und zum Fischen hab ich ne super Angel daheim. Die bring ich für dich morgen mit an Bord!“

2. Die Bootstour

Am nächsten Morgen musste ich sehr früh aufstehen. In den Ferien hasste ich das besonders. Der Feriengroßvater hatte abends zuvor mit seinem Enkel Robert telefoniert. Die Sache mit der Bootstour schien eine bereits lange abgesprochene Angelegenheit zwischen den beiden zu sein. Es ging nur noch um den Treffpunkt am Steg im Hafen der kleinen Ostseestadt und die exakte Uhrzeit des Treffpunktes.

„Also juut! Um Punkt siebene sssteeht der Jung in Gummistibl un Ölzoiich veerpackt am Fischeersteech!“ Ohne Abschiedsworte knallte der Feriengroßvater den schwarzen Hörer auf die Gabel.

Um sechs Uhr morgens saß ich mit ihm und der Feriengroßmutter am Frühstückstisch. Sie besprachen den Ausflug in den Ort mit Einkäufen auf dem Markt zu verbinden. Die Feriengroßmutter notierte Einzelheiten, die der Feriengroßvater in für mich teils unverständlichen Worten in deren Richtung murmelte. Die laute, sonore Stimme des Feriengroßvaters hörte sich früh morgens wie ein leises Grummeln an.

Im Hafen stank es fürchterlich nach Fisch. Ich lief hinter dem Feriengroßvater her. Sein Tempo konnte ich nur mit Mühe halten. Immer wieder verfiel ich in einen Laufschritt, um an ihm dran zu bleiben. Er eilte die grob gepflasterte Straße, von der rechts und links Bootsstege abzweigten, wie ein Flüchtender entlang.

An den Stegen wurden Fischkutter entladen. Weiße Plastikkisten von Fisch und Eis stapelten sich an ihnen. Gabelstapler fuhren auf und ab. An Stegen und Schiffen herrschte Reinigungsbetrieb. Stinkende Kübel wurden geschrubbt, Netze auf den Bootsstegen ausgerollt, Decks mit Wasser abgespritzt und mit Schrubbern bearbeitet. Das alles war begleitet von lauten Zurufen, Geschrei und Lachen der Arbeiter.

Der Feriengroßvater bewegte sich sicher durch das Chaos. Zielstrebig eilte er im Stechschritt an den Bootsstegen vorbei. Hin und wieder grüßte er nach rechts oder links, indem er den rechten Arm akkurat nach oben schlug. Einmal schlug er die Seitenfläche der rechten Hand zackig grüßend an den Kopf, dabei blieb er für eine Sekunde stehen, schlug beide Hacken zusammen, sodass es laut krachte. Sofort wandte er sich von dem so Begrüßten ab, um eilig weiter seinem Ziel entgegen zu streben.

Ihm fehlte ein Stock, den er rechts unter seinem angewinkelten Arm hätte tragen können. So ein Bild hatte ich in einem Fernsehfilm gesehen. Wahrscheinlich hatte er die zackig begrüßten Menschen schon sehr oft gegrüßt, vermutlich kannte er sie schon lange. Wir erreichten endlich eine Ecke, die wohl nahe dem Ziel lag. Dort ging ein langer Steg ab. Knallend schlug er einen alten Herrn, der an der Ecke auf einem kleinen Stuhl saß, grüßend die Hacken zusammen. Dann eilte er hinaus auf den betonierten Steg.

Am Ende des Stegs angekommen erkannte ich Robert, Martin und Mischa. Die drei lehnten an der Reling eines rot-weiß gestrichenen Schiffs. Sie trugen wie ich gelbes Ölzeug, das in der Morgensonne glänzte. Mir war in dem Gummizeug heiß geworden. Der Feriengroßvater gab mir nicht die Hand zum Abschied, sondern er deutete mir, dass ich schleunigst über ein Holzbrett auf das Schiff hinauf laufen sollte. Das tat ich sofort. Ich rannte ein schmales Brett hinauf. Dabei zwang ich mich nicht daran zu denken, dass unten das finstere Wasser im Hafenbecken schwappte. An der Reling des Schiffs angekommen schnappte sich Robert meine rechte Hand und zog.

„Moin Bernado!“

Das Laufbrett wurde sofort hinter mir eingezogen.

Auch Martin und Mischa schüttelten mir die Hand. Mein Blick suchte unten den Steg nach dem Feriengroßvater ab. Ich konnte ihn in der Menge der Arbeiter, die sich dort bewegten, nicht mehr ausmachen. Schon hörte ich den Schiffsmotor aufheulen.

Das Schiff wurde durch die Kräfte dreier Männer von seinen Leinen, die um drei riesige eiserne Poller gelegt waren, gelöst. Der Motor qualmte wie eine Dampfmaschine. Der Kahn bewegte sich langsam vom Steg weg. Hinten rührte die Schiffsschraube Schaum auf. Rund um das Schiff bewegte sich aufgeschäumte Salzwasserbrühe. Das Hafenbecken schien, als würde es von einem Schneebesen durch gerührt. Die drei Freunde schoben mich langsam Richtung Heck. Dort hatten sie Angelruten, einen Eimer, mehrere flache Plastikkisten und einen Werkzeugkasten an der Reling deponiert.

Das Schiff tuckerte vorbei an den Stegen Richtung Hafenausfahrt. Es war voll von Menschen, die alle in Regenjacken oder Ölzeug, Gummihosen und Gummistiefeln steckten. An der Reling waren viele lange Angelruten festgebunden. Flache Plastikkisten stapelten sich neben Eimern und Fischerkästen.

Gemächlich ging es an zwei Leuchttürmen vorbei. Ich lehnte mich an die Reling und blickte vor Richtung Bug. Da draußen sah ich das offene Meer. Wir fuhren an einer schmalen Landzunge entlang, die sich ein Stück ins Meer hinaus schob. Auf den Felsen sah ich Angler.

Am Ende der Landzunge erkannte ich noch einen weiteren Leuchtturm. Er blitzte in der Morgensonne. Der Wind blies von Backbord. Im Schutz der Landzunge war er an Bord kaum zu spüren. Draußen auf dem Meer sah ich aber einen langen hellen Strich, der wie gemalt aussah. Ich wusste, dass es die Spur starker Böen war, die ab dem Leuchtturm am Ende der Landzunge, in deren Schutz das Boot noch fuhr, über die Ostsee peitschten.

Am Strand beim Feriengroßvater gab es auch eine Landzunge. Wenn ich mit dem Brett darüber hinaus nach draußen getrieben wurde, war ich dem böigen Wind und hohen Wellen ausgesetzt. Bevor es soweit kam, legte ich das Segel auf das Surfbrett, setzte mich auf es und begann mit den Händen zurück Richtung Strand zu paddeln.

Die Männer auf dem Schiff riefen, lachten und werkelten an deren Angeln. Sie bastelten mit kleinen Werkzeugen aus ihren Fischerkästen an Angelruten und Schnüren herum. Nebenbei tranken sie aus kleinen Flachmännern, die sie aus den inneren Seitentaschen ihrer Regenjacken hervor zogen. Leere Flaschen wurden über Bord geworfen. Flachmänner, Dosen, Plastiktüten, Kronkorken, Butterbrotpapier, das alles und weiterer Müll wurde über die Reling hinaus in die See geschleudert.

Das überraschte mich, denn ich kannte das nicht. Ich wusste nicht, dass es an Bord normal war. In ein Gewässer, aus dem man lebenden Fisch zog, solchen Müll zu werfen, fand ich seltsam. Ich hatte mir einen Kaugummi in den Mund gesteckt. An Deck suchte ich vergeblich nach einem Mülleimer für das Kaugimmipapierchen. Also warf ich es über Bord, was nicht einfach war, denn der Wind blies es zurück, sodass es auf dem grünen Boden davon getrieben wurde.

Im Sommer war ich in Berchtesgaden mit der Schulklasse oder mit Büchtler und den vielen Kindern, die in dessen Haus auf dem Obersalzberg wohnten, im Wald in den Bergen unterwegs, um dort Müll einzusammeln, der wohl von rücksichtslosen Wanderern weggeworfen worden war. Das war mein Begriff von Umweltschutz. Das wurde mir von meiner Lehrerin Jahre lang beigebracht.

Umweltschutz hieß, dass Dreck in eine Tonne geworfen wurde und nicht in die Landschaft. Die Lehrerin zeigte im Unterricht Lehrfilme über den Umweltschutz. Das war modern. Im Klassenzimmer wurden die hohen Fenster mit Gummivorhängen verdunkelt. Schwere Filmrollen wurden von ihr in einen großen ratternden Projektor eingefädelt. Auf der Leinwand, die von der Lehrerin vor der Tafel aufgebaut wurde, sahen wir rauchende Müllberge, die bald der Vergangenheit angehören sollten, denn der Müll würde künftig in Anlagen verbrannt, wo hohe Schornsteine dafür sorgten, dass unten auf den Straßen die Luft sauber blieb. Voraussetzung dafür sei auch, dass Müll nicht mehr in der Landschaft verteilt werde oder am Straßenrand gesammelt und verbrannt werde. Auch sei es generell schlecht, wenn er auf qualmenden Deponien lande. Müll sollte gleich in der Tonne anstatt im Wald landen, um in neuen Verbrennungsanlagen abgefackelt zu werden. Das aber sei noch ein langer Weg, weil erwachsene Menschen sich nur schwer dazu erziehen ließen.

Tags nach solchen Filmvorführungen wurden wir von der Lehrerin in den Berchtesgadener Wald begleitet, um dort Müll zu sammeln. Der wurde in Säcken zu Sammelstellen getragen, von wo er auf einem Lastwagen in die neue Müllverbrennungsanlage abtransportiert wurde. An Bord des Kutters lernte ich nun, dass das auf dem Meer ganz anders war. Das Meer schien eine Abfalltonne zu sein.

Robert, Mischa und Martin verhielten sich wie die Erwachsenen an Bord. Sie hatten eine Brotzeit dabei. Die packten sie, nachdem wir die Landzunge hinter uns gelassen und das Schiff mächtig gegen Wind und Wellen zu stampfen begonnen hatte, aus.

„Magst ne Stulle Alter?“, schrie Robert gegen den Wind in meine Richtung.

„Na klar, gerne!“

Robert gab mir ein Butterbrot und eine Colaflasche. Er zerknüllte das Butterbrotpapier, schleuderte es über die Reling, genauso wie den Kronkorken und später die leere Flasche. Ich fragte nicht lange, was das denn sein sollte, sondern akzeptierte diese neue Regel und tat es den andern Menschen gleich. Es gab keine Mülltonnen an Deck. Das hatte mich anfangs ganz schön irritiert.

Böiger Wind peitschte Gischt über die Reling an Deck. Erst jetzt wurde klar, welchen Sinn es hatte, dass der Feriengroßvater mich angewiesen hatte, das gelbe Ölzeug anzuziehen. Trotz Sonnenschein war mir längst nicht mehr zu heiß. Der schnelle Marsch über das Hafengelände schien Stunden zurückzuliegen. Aus Schweiß an meinem Körper war ein Frösteln geworden. Ich knöpfte die gelbe Gummijacke bis oben zu, zog die Kapuze ins Gesicht und band sie mit den Schnüren fest. Die Ostsee war schwer in Bewegung. Schaumkronen schlugen von rechts vorne gegen das Schiff. Sie donnerten vom Unterschiff hinauf an die Reling, wo der starke Wind dafür sorgte, dass Gischt in breiten Fontänen über das Deck schlug.

Robert zupfte an meiner Gummijacke. Wind, Wellen und Schiffsmotor waren so laut geworden, dass ich Robert kaum hören konnte. Er deutete auf eine rostige Stahltür an Deck, die offen stand. Dort sah ich Leute in gelbem Ölzeug verschwinden. Ich folgte den dreien.

Hinter der Tür ging es eine steile Treppe hinunter ins Unterschiff. Unten gab es einen Kiosk, eine Theke und viele Tische. An denen saßen Männer, die rauchten und tranken. Robert bugsierte uns in eine Ecke an einen freien Platz. Wir legten unsere angebissenen Butterbrote auf den Tisch. Die halb leeren Colaflaschen landeten in Metallhaltern, die an den Seiten der Tischplatte angeschraubt waren. Wir befreiten uns von den nassen Gummijacken, die Robert an eine Reihe von Hacken hängte.

Mein Eindruck war, Robert hatte beide Freunde an diesem Tag genauso wie mich zum ersten Mal mit auf die Bootstour genommen. Mischa und Martin wirkten unsicher, so als würden sie sich mit den Abläufen an Bord wenig auskennen. Ich kannte mich überhaupt nicht aus.

Wir saßen in einem von Neonlicht beleuchteten Gastraum unter Deck. Es herrschte die Atmosphäre einer kleinen verqualmten Bahnhofshalle mit niedriger Decke. Auf den Seiten befanden sich Bullaugen, gegen die das Meerwasser schlug. Der Schiffsmotor dröhnte so laut, dass man sich gegenseitig anbrüllte, um verstanden zu werden.

Ich fand das alles in Ordnung. Ich war zufrieden, in diesem trockenen Raum am Tisch zu sitzen, denn ich fror nicht mehr und ich wusste, was oben an Deck los war.

„Wie wärs mit nem kleinen Spielchen?“, rief Robert in Richtung Mischa und Martin. Beide nickten sofort. Es schien den beiden klar zu sein, welches Spielchen Robert meinte. Zu mir gewandt rief Robert:
„Kennst du Poker?“
Ich nickte und rief:
„Ja klar! Das spielen wir oft!“
„O.k.! Alles paletti!“

Robert zog ein Kartenspiel aus der Hosentasche und begann die Karten zu mischen. Es interessierte ihn nicht, wen ich mit „wir“ meinte. Wahrscheinlich fragte er nicht danach, weil es so laut war und er nicht mehr brüllen wollte, als für das Pokerspiel unbedingt notwendig.

Das Spiel kannte ich aus Berchtesgaden. Ich spielte es oft mit anderen Kindern bei Büchtler am Obersalzberg. Der Einsatz bestand aus Pfennigen vom wöchentlichen Taschengeld. Dessen Taschengeld für uns stammte von Jugendämtern, die mich und andere Kinder in Büchtlers Haus am Obersalzberg untergebracht hatten. Büchtler tat aber jeden Samstagvormittag so, als zahlte er sein persönlich verdientes Geld großzügig an uns Kinder aus. Er hatte Spaß daran, dass sich dreißig Kinder nach dem Schwimmen im Eingangsbereich des Hallenbades um ihn scharten.

Büchtler zeigte mir, dass Geld etwas Wichtiges war, denn es diente dazu, über uns Kinder zu herrschen. Büchtler herrschte aber nicht nur mit der Macht des Taschengeldes, das ihm anvertraut worden waren.

Einmal hatte er mich im Sandkasten hinter seinem Haus am Obersalzberg so heftig verprügelt, dass ich ein angeschwollenes Auge bekam und Schürfwunden, die von einer Erzieherin mit Jod behandelt werden mussten, was mir seht weh tat.

Ich hatte einem Kind, das tags zuvor neu von einem Jugendamt zu Büchtler gebracht worden war, von Dingen erzählt, die Büchtler nicht gefielen. Ich sprach von meinem Hass auf ihn, weil er ein brutaler Kerl sei. Genau in diesem Moment war er am Sandkasten vorbeigekommen. Das war mein Pech.

Büchtler schlug oft zu. Zum Glück nicht immer so brutal wie an diesem Tag. Er war getrieben von tiefem Hass auf Kinder. Warum das so war, weiß ich nicht. Aber ich hörte nicht auf, Gründe für dessen immer präsenten Hass am Obersalzberg zu suchen. Ich begann irgendwann damit, Begründungen für dessen Gewaltausbrüche zu erfinden. Eine meiner Erfindungen war, dass der Mann generell Kinder nicht mochte. Dumm daran war, dass meine Erfindungen meist neue Fragen auf warfen. Warum lebte der Mann dann mit Kindern zusammen? Das war so eine neue Frage, für die ich Antworten erfinden musste.

Ich war seiner harten Faust oft im Weg. Dass ich in seinem Haus wohnen musste, hatte mit meinen Eltern zu tun, die mich nicht selbst erziehen konnten. Warum ausgerechnet einer wie Büchtler dazu besser geeignet war, verstand ich nicht und begann auch dafür Antworten zu erfinden. Er war schlau. Das zeigte mir sein ordentliches Büro im zweiten Stock, von dem aus er unser Taschengeld verwaltete. Er war so schlau, dass Jugendämter ihm Kinder und Geld anvertraut hatten. Ich übte mich täglich darin der Gewalt von Büchtler und anderer, mit denen ich am Obersalzberg zusammen lebte, aus zu weichen und darin Antworten und Gründe für die Gewalttätigkeit, unter der ich und andere litten zu erfinden.

Michael hatte von Büchtler den machtvollen Umgang mit Geld perfekt erlernt. Er war bei Büchtler zu einem Geldverleiher geworden. Auch Michael wurde von einem Jugendamt nach Berchtesgaden geschickt. Weil ihm das Taschengeld von Büchtler nicht genug war, nahm er Zinsen, die er von Schuldnern kassierte, um sie beim Pokern einzusetzen. Stets setzte er nur so viel ein, wie er zuvor verdiente Zinsen von anderen Kindern in die Tasche bekam. Er stieg rechtzeitig aus. Oft ging er als Gewinner aus den Pokerrunden hervor. Nie sah ich ihn als Verlierer gehen.

Wenn am Obersalzberg jemand in Schulden geriet, dann wurde Michael gefragt. Es gab neben ihm niemanden ,bei dem man Geld leihen konnte. Michaels Schuldner hielten stets einen Platz im Schulbus für ihn frei. Beim Essen waren ihm zusätzliche Schinkenscheiben sicher. Sie hatten den Käse am Tisch für ihn reserviert oder sie stellten sich im Sommer für Michael in der Schlange am Kiosk im Aschauer-Weiher-Schwimmbad an. Um für Michael eine Cola am Schul-Kiosk zu besorgen, riskierten sie noch vor dem Pausenläuten, den Direktor im Schultreppenhaus zu treffen, weil sie für Michael als erste am Kiosk stehen wollten.

Im Anschluss an die Taschengeldausgabe sollte kein säumiger Schuldner versuchen, der Zinszahlung zu entgehen. Vor Jahren, als Michael mit den Geldgeschäften angefangen hatte, verprügelte er mich. Das machte er längst nicht mehr selbst. Wenn einer am Samstag nach der Taschengeldausgabe nicht die wöchentlichen Zinsen an Michael bezahlte, wurden dessen Geldeintreiber aktiv.

Samstagnachmittags spürten sie mich im Wald am Obersalzberg auf. Sie schleiften mich über den Waldboden zu einer kleinen Lichtung, wo sie mich an einen Baum banden. Dort durchsuchten sie meine Taschen. Wenn sie nichts fanden, verpassten sie mir ein paar kräftige Bauchschwinger. Dann banden sie mich wieder los und sagten mir, wie hoch die Zinsen seien, die ich am nächsten Samstag zu bezahlen hatte. Am folgenden Samstag bezahlte ich.

Einmal hatte ich mich in einem Pokerspiel mit Michael darauf verständigt, dass meine Schulden sich verdoppelten, sollte ich verlieren oder dass sie mir erlassen seien, wenn ich gewann. Sechs Wochen lang zahlte ich danach mein Taschengeld konsequent an Michael.

Vor den Sommerferien hatte ich zwei Mark fünfzig Schulden bei Michael. Das ergab nach vier Wochen Ferienverschickung eine Mark Zinsen für Michael. Es warteten also drei Mark fünfzig Schulden auf mich. Michael hatte mir erklärt, dass ich ihm dankbar sein könne, dass er auf den Zinseszins verzichte. Ich wusste nicht, was er damit meinte. Er erklärte, dass er stattdessen wöchentlich fällige Zinsen immer dann neu errechne, wenn die Schuld bei ihm um eine volle Mark angestiegen war. Sein Zinssatz von zehn Prozent wöchentlich bliebe immer gleich. Ich brauchte etwas Zeit, um Michaels Rechenmodell zu kapieren. Seither wusste ich, warum Hartwig und andere Kinder so tief bei Michael in der Kreide standen.

Das Pokerspiel an Bord drehte sich um nichts. Es gab keinen Einsatz, nicht einmal Pfennige. Man sagte nur: „Ich gehe mit.“ Aber es lag kein Einsatz in der Mitte des Tisches.

Das verwirrte mich. Zunächst hatte ich sofort zu meinem kleinen Geldbeutel in der Hosentasche gegriffen. Ich wollte prüfen, wie viele Pfennige ich darin hatte. Mein Griff zu meinem Geldbeutel bemerkte keiner der Beteiligten. Ich ließ die Geldbörse stecken und lehnte mich erst mal zurück, denn ich wollte beobachten, welche Regeln an der Ostsee galten. Wo der Müll über Bord ins Meer geworfen wurde, konnten auch andere Pokerregeln als am Obersalzberg gelten.

3. Ein Tier

Wir spielten, um uns die Zeit zu vertreiben. Manche Regel war in deren Spiel anders. Darüber verständigten wir uns von Spiel zu Spiel besser. Die Zeit unter Deck verging beim Poker sehr schnell, obwohl es um nichts ging.

Der Schiffsmotor ging aus. Da merkte ich, dass der Lärm ein irrsinniges Dröhnen in meinem Kopf verursacht hatte, das auch ohne Motorenlärm weiter anhielt. Der ausgeschaltete Motor war ein Signal. Aufstehen, Öljacken anziehen, hinauf an Deck gehen, Angelruten auswerfen.

Oben herrschte reger Betrieb. Viele Männer hatten ihre Angelruten längst ausgeworfen und blinkerten mit kräftigen Auf und Ab Bewegungen. Mischa drückte mir eine schöne gelbe Angel in die Hand. Sie war sehr lang und hatte einen schwarzen Griff. Ihr Blinker und Angelhaken glänzten.

Ich beobachtete die drei wie sie ihre Angeln auswarfen, sich bäuchlings an die Reling lehnten, die Angelschnur eine kurze Zeit lang vom Gewicht des hinab sinkenden Blinkers abwickeln ließen, sie schließlich stoppten und so lange kurbelten, bis sie die wohl notwendige Spannung auf der Angelschnur zu haben glaubten. Dann begann jeder der drei damit, die Angel auf und ab in Bewegung zu halten. Ich tat es ihnen nach. Blinkern bestand darin, die Angel ständig langsam nach oben zu ziehen und den schweren Blinker nach unten wieder abzulassen. Das kam mir nach wenigen Minuten eintönig vor.

Plötzlich hörte ich aufgeregtes Geschrei. In einiger Entfernung, ein paar Angler-Nachbarn weiter, sah ich an der Reling einen Mann, der offenbar mit viel Kraft an der Kurbel seiner Angel arbeiten musste. Das war wohl so anstrengend, dass ihm schließlich ein anderer Mann zu Hilfe eilte. Beide schienen nur mit vereinten Kräften in der Lage, die Angelrute festzuhalten. Der kurbelnde Mann setzte seine Kräfte auf die Kurbel, während der andere sich an der Angel zu schaffen machte, die sich bog, wie eine feine Mondsichel. Umstehende Männer verfolgten den Vorgang, bewegten aber trotzdem ihre eigenen Angelruten weiterhin auf und abwärts.

Schließlich schien es soweit. Die beiden Männer zogen einen riesigen Fisch über die Reling nach oben. Der Fisch schlug über dem Wasser wie wild um sich. Er klatschte auf das Deck. Einer der beiden nahm einen dicken Gummihammer zur Hand. Er stürzte sich auf den Fisch und schlug mit dem Hammer heftig auf dessen Kopf ein. Mit seinen riesigen Händen versuchte er den glitschigen Fischkörper auf den Boden zu pressen. Der Fisch aber entkam. Er sprang Meter hoch vom Boden auf. Er hatte den Angelhaken mit dem Blinker noch im Maul. Deshalb riss er die Angel, welche zuvor zu Boden gelegt worden war, mit sich. Deren schwarzer Griff schlug jetzt einem bislang unbeteiligten Angler von hinten auf dessen glänzende Öljacke. Der sah sich von dem jetzt immer wieder hochspringenden Fisch und von der fliegenden Angelrute bedroht. Deshalb griff der Mann zum Gummihammer eines neben ihm Stehenden. Mit dem Hammer bewaffnet sprang er auf den riesigen Fisch, der wieder zu Boden gekommen war. Als wolle er sich rächen, schlug er mit dem Hammer zu. Er schlug so oft auf das Tier ein, bis es sich unter dessen riesigen Händen nicht mehr bewegte.

Damit nicht genug, als sei es dessen Fang, packte der Mann das offenbar leblose Tier an der Flosse und hielt es in die Höhe. Der eigentlich erfolgreiche Jäger stand dabei neben ihm. Er schien sich nicht sicher, ob ihn der Hammerschläger degradieren wollte. Deshalb schob er sich dicht an den Triumphierenden heran. Der ließ endlich das Tier zu Boden, um der eigenen Angelrute an der Reling wieder gewahr zu werden. Der erfolgreiche Jäger begann sofort mit einem großen Messer an dem am Boden liegenden Tier herum zuschneiden.

Nach dem ersten Einstich allerdings sprang der Fisch erneut in die Höhe. Wieder riss das Tier die Angelrute mit sich. Sie flog aber nicht wie zuvor Richtung Reling, sondern krachte gegen eine Stahlwand neben der Tür, die unter Deck in den Raum mit dem Kiosk führte. Der Fisch klatschte zu Boden. Ich erkannte, dass der Kopf des Tieres zertrümmert war. Aus dem zermalmten Fischkopf stach nach oben ein großer Angelhaken heraus. Daran hing ein blitzender Blinker.

Ich zog weiter an meiner Angel auf und ab. Ich wusste, dass mein eintöniges Ziehen sich ganz schnell in einen ungleichen Kampf mit einem Fisch verwandeln konnte. Ich wusste nun auch, dass dieser Kampf auf jeden Fall mit dem Töten eines Tieres zu beenden war. Meine Gedanken machten mein Ziehen an der Angel immer gemächlicher.

Ich hörte begeisterte Rufe wegen des „riesigen Brummers“, den die beiden da aus der See gezogen hatten. Von überall an Deck dröhnten Jagd- und Siegesrufe: „Hee kieck mal wat der für nen fetten Dorsch an der Waage hängen hat! Oh Mann dat is ja n dolles Ding!“ Die Dorsche bissen gut an dem Tag. Immer wieder sah ich, wie Angler um uns herum mit den großen Griffen ihrer Messer oder mit einem Gummihammer auf die Köpfe ihrer gefangen Fische einschlugen und wie sie die toten Tiere in flache Plastikkisten auf Eis warfen.

Nach etwa einer halben Stunde war es auch bei uns soweit. Martin begann kräftig an seiner Angel zu arbeiten. Er zog die Rute mit kräftigen Zügen nach oben und arbeitete beim Herunterlassen hektisch an der Kurbel. Die Angel bog sich so stark, dass ich glaubte, sie breche gleich ab. Robert knotete seine Angel an der Reling fest. Er half Martin beim Hochziehen. Wenige Minuten später baumelte ein mittelgroßer Dorsch über dem Wasser. Der Fisch schlug wild um sich. Robert riss das Tier mit einem Zug über die Reling. Martin schnappte nach dem am Boden springenden Fisch. Er schlug dessen Kopf mit dem dicken Griff seines großen Messers ein.

Martin hatte einen guten Fang gemacht. Die drei musterten das zuckende Tier, bevor Robert es an den Kiemen davontrug. Er ging mit dem zappelnden Tier zu einer Waage, die an einer Stahlstange am Vorderdeck hing. Dort standen mehrere Männer mit zuckenden Dorschen in einer Schlange wartend, um ihren Fang zu wiegen.

„Dreißig Pfund, fast acht Kilo! Das ist fürs Erste nicht schlecht, Jungens!“

So rief Robert, als er von der Waage zurückgekommen war. Er warf den Fisch in eine weiße Plastikkiste, in der ich ein paar grobe Eisklötze erkannte. Er schloss den Deckel der Kiste und zog aus seiner inneren Gummijackentasche einen Zettel und einen Stift. Den Zettel auf dem Kistendeckel notierte er während er rief:

„Martin: Dreißig! Gucken wir mal, wie dat heute noch so weiter jeht Leute!“

Mein Ziehen und Loslassen an der Angelrute war immer langsamer geworden. Um das Schiff herum hatten sich Massen von kreischenden Möwen eingefunden. Viele Fischer warfen immer wieder Teile ihres Fangs über Bord. Die Möwen stürzten sich sofort auf die Wasseroberfläche oder sie schnappten sich die weggeworfenen Fischreste schon in der Luft. Weil die meisten Fischer ihre gefangenen Fische sofort ausnahmen und sie erst danach auf das Eis in ihre Plastikkisten warfen, stank es an Bord fürchterlich. Das Schiff schaukelte schlimmer als die schlimmste Schiffschaukel, die ich in Berchtesgaden auf dem jährlichen Rummelplatz erlebt hatte.

An der Reling lehnend, fixierte ich jetzt hinter den immer wieder aus der Luft heran schießenden Möwenschwärmen den fernen Horizont. Zwischen dem Schiff und dem Horizont schäumte es mächtig. Ständiges auf und ab. Das Schiff bewegte sich kreisförmig um den weißen Horizont. Der blaue Himmel, an dem ich einige Schäfchenwolken zu sehen glaubte, drehte sich hin und her. Ich sah schäumendes Geröll rings um das Schiff. Alles auf dem Schiff schaukelte. Die Menschen, die toten Fische, die Kisten, die Eimer und Angeln, die Öljacken, die grünen, gelben und braunen Gummihosen, die ich in vielen Gummistiefeln stecken sah. All das war auf dem stinkenden Schiff in eine rollende Bewegung geraten.

Es waren zwei, drei Ameisen im Schlaf auf einer grünen Wiese. Man nahm sie zuerst nur als leichtes Kitzeln wahr. Doch die Ameisen hatten Hunderte Freunde mitgebracht. Das Rollen und Schaukeln an Bord schlich eine Zeit lang unbeachtet wie zwei, drei Ameise um mich herum. Es war zu spät.

Meine gelbe Angelrute stand still. Trotzdem ging das Auf und Ab weiter, als würde ich die Angelrute hoch und runter lassen. Ich konnte es nicht stoppen. Auf und Ab waren da, ohne dass ich Einfluss nehmen konnte. Im Hoch und runter zwischen Schiff, Wellen und Horizont sah ich einen Mann nur wenige Meter entfernt, der einem riesigen Fisch den Bauch aufschlitzte. Mit kräftiger Hand griff er in den Bauch des großen Tiers. Sein gigantisches Messer rührte darin. Langsam zog die Hand des Mannes Fäden, braunes und grünes Zeug aus dem Bauch. Das warf er mit Schwung in die Luft über Bord den kreischenden Möwen zu.

Ich kümmerte mich um nichts mehr. Ich ließ die drei Freunde einfach stehen. Ich ließ meine Angelrute los und eilte so schnell ich konnte Richtung Heck. Dabei presste ich meine beiden Hände auf den Mund. Das Schiff schaukelte wie wild. Vor mir sah ich das Heck des Kahns. Es stieg auf und ab. Das Schiff drehte sich zwischen Himmel, Wolken und Horizont. Da kam eine rostige Stahltür in meinen Blick. Ich blieb stehen, denn da war noch etwas. Ich erkannte neben Kisten einen Eimer. Ich eilte hin, ging über dem Eimer in die Knie und nahm meine Hände vom Mund.

Es kam in mächtigen Schüben, ich verschluckte mich ein paar Mal, sodass gleich noch mal was kam. Neben der Tür war ein verrosteter Eisengriff. An dem hielt ich mich fest. Mein Magen war schnell leer. In meiner Jackentasche hatte ich kein Taschentuch. An der Kante der offenen Stahltür arbeitete ich mich langsam mit beiden Händen nach oben.

Ich sah mich um. Das Heck des Schiffes war nur wenige Meter entfernt. Die Angler um mich herum schienen mich nicht zu beachten. Richtung Steuerbord und Bug sah ich Fischer stehen wie aufgereiht. Der ein oder andere hatte einen Fisch an der Angel, der zu Boden gedrückt wurde, auf dessen Kopf eingehämmert wurde. Ich sah auch Robert, Martin und Mischa. Sie hatten etwas gefangen, denn alle drei knieten am Boden. Robert schlug auf das Tier ein, das ich von der Stahltüre aus nicht sehen konnte.

Langsam schwankte ich durch die Türe in das Innere des Schiffes. Das Waschbecken war verdreckt. In dem Raum stank es nach Urin. Aus dem Wasserhahn kam Salzwasser. Ich spülte meinen Mund aus und wusch mein Gesicht. Das schmeckte grauenvoll. Ich blickte in einen zerkratzten Spiegel. Ich sah aus wie ein heller Käse. Langsam bewegte ich mich raus an Deck. Von dort nahm ich den Eimer, ging zurück zur Toilette und spülte ihn aus. Mir war zum Kotzen schlecht.

„Alles paletti?“
Robert grinste, während er kräftig an seiner Angelrute zog.
„Deine Angel ist abjestürzt, hab sie einjehoold und da hinne bei unserer Kiste abjeleecht.“
„Danke, hab vergessen sie anzubinden!“

Wie auf dem Surfbrett ist es auch auf einem Schiff. Wenn so ein Schiff nicht fährt und der Seegang kräftig ist, dann ist das Schaukeln sehr schlimm, viel schlimmer als in der Schiffschaukel auf dem Rummelplatz. Ich war froh, dass bei mir nichts mehr herauskommen konnte, weil ich schon alles hergegeben hatte. Ich setzte mich auf den Deckel der weißen Plastikkiste von Robert.

„Schau da mal rein!“
Ich hob den Deckel an. Da lag ein großer Fisch.
„Fast hundert Pfund, der Riesen-Oschi!“, schrie Robert.
„Das ist ja unglaublich! Wie habt ihr das mords Vieh denn raus gebracht?“
„Das ging nur zu dritt und noch zwei Manne ham kräftig mit zugepackt! Das gibt heute Abend gute Kohle, liebe Leute!“, schrie Robert in Richtung Martin und Mischa.

Roberts Plan, den Dorsch abends zu verkaufen, kannte ich noch nicht. Ich dachte, dass unser Fang für die heimische Küche von Roberts Eltern und den Großeltern gedacht sei. Aber Robert wollte aus unserem Fang Geld machen. Ich hatte noch nie Geld auf anderem Weg bekommen als das Taschengeld von Büchtler.

Langsam bewegte ich mich von der kühlen Plastikkiste mit der gelben Angelrute in Händen zurück zur Reling. Mir ging es besser. Ich hatte das Gefühl, nicht mehr so kreidebleich zu sein. Ich warf die Angel aus und zog daran gemächlich auf und ab.

Wenn der Fischverkauf, den Robert für den Abend geplant hatte, etwas abwarf und die drei sich fairer verhielten als die Kinder bei Büchtler am Obersalzberg, dann könnte das meine Chance sein. An der Reling ging es mir mit diesen Gedanken besser. Nach einer knappen viertel Stunde spürte ich sogar meinen leeren Magen. Ich hatte Hunger.

Bei Robert tat sich wieder etwas. Er zog und kurbelte kräftig. Er hatte einen mittelmäßig großen Dorsch dran. Den zog er routiniert an Bord. Er tötete ihn mit einem kräftigen Schlag auf den Kopf. Später kam Robert lächelnd von der Waage zurück und warf den Fisch auf das Eis in die Kiste.

Ich erschrak, denn jetzt zog es an meiner Angelrute. Der starke Zug Richtung Wasser riss mir die Angel beinahe aus der Hand. An das Auf und Ab hatte ich mich gewöhnt, nicht aber daran, dass plötzlich jemand so zerrte. Ich brauchte viel Kraft, um den Blinker nach oben zu ziehen. Ich versuchte zu tun, was ich zuvor bei den Freunden beobachtet hatte. Ich zog die Angel kräftig nach oben und kurbelte, während ich die Angel wieder hinunter ließ.
„Haste einen dicken Oschi dran?“, fragte Robert.
„Weiß nicht.“
„Brauchste Hilfe?“
„Glaub nicht, geht schon.“
„Dann kann der Dorsch auch nicht so affenschwer sein!“

Ich zog, kurbelte, zog und kurbelte. Ich schwitze, mein Atem war kurz und schnell geworden. drei, vier Minuten später war es soweit. Ein kleiner Dorsch zappelte an meiner Angel. Er schlug wild über dem Wasser. Robert hatte seine Angel an der Reling befestigt und gab mir sein großes Messer. Er nahm mir die Angelrute ab, schleuderte den Fisch mit festem Schwung auf den Boden an Deck und rief mir zu:
„Der ist gerade so groß, dass ich ihn nicht wieder rein werfen würde!“

Ich ergriff den glitschigen Fisch. Ich packte ihn an den Kiemen und presste ihn sofort auf den Boden. Fest schlug ich mit dem dicken Messergriff ein paar Mal auf dessen Kopf ein, bis das Zappeln aufhörte. Beinahe wäre der Fisch davon gesprungen, denn der Dorsch versuchte noch einen letzten kräftigen Satz. Ich ließ das Messer fallen, packte das Tier an der Schwanzflosse und drückte es zu Boden.
Es war vorbei. Ich tat, was ich zuvor bei Robert beobachtet hatte: Ich steckte meine Finger in die Kiemen und hob das Tier an. Die drei sahen hinüber zur Waage. Dort stand nur ein Mann. Ich ging dort hin und hängte meinen Fang an den Haken. Die zeigte vier Kilo an. Ich lief zurück zu den dreien. Dort verkündete ich stolz:
„Sechzehn Pfund, das ist doch schon mal was!“
Ich war sehr aufgeregt. Die Umrechnung in Pfund fiel mir nicht leicht. Ich war froh, dass mir die zweihundertfünfzig Gramm Butter als Eselsbrücke eingefallen waren. Ich ging sehr langsam von der Waage zu den Freunden zurück, denn ich brauchte Zeit, um meinen schnellen Atem zu beruhigen und um die Pfunde aus vier Kilo zu errechnen. Ich wollte gelassen und ruhig wirken.

Wir zogen mit einem polternden Handwagen von Haustür zu Haustür. Robert war stolz auf den Fang. Roberts Vater hatte uns in einem alten, klapprigen Peugeot am Parkplatz vor dem Hafen erwartet.
„Knapp vierhundert Pfund!“, rief Robert seinem Vater zu.
„Ordentlich, ordentlich Männer!“
Das war alles, was der Vater dazu sagte. Ich war froh, dass Robert die Fische nicht an Bord ausnahm, wie es die meisten anderen Männer auf der Rückfahrt zum Hafen getan hatten. Das stank fürchterlich und war ein grauenvolles Gemetzel. Robert meinte zu Mischa und Martin, dass dies seine Mutti besser machen könne als er.

Allerdings hatte die nicht damit gerechnet, dass die Fische gleich von ihr ausgenommen werden sollten, damit wir schnell auf Verkaufstour gehen konnten. „Den Fisch müssen wir ganz frisch verkaufen“, meinte Robert „morgen früh will den doch keiner mehr haben!“
Robert wuchtete gemeinsam mit Mischa, die fast hundert Kilogramm schwere Kiste auf einen riesigen Tisch, der in der Mitte der Küche stand. „Ich wasche danach das ganze Zeug auch schön sauber“, versicherte Robert.

Auf den selbst gebauten Handwagen war Robert mächtig stolz. Das Ding hatte er mit Mofabereifung und einer dicken Achse ausgestattet. Sein ganzer Stolz war eine selbst geschweißte Kupplungskonstruktion, mit der er den Handwagen an seinem Fahrrad anbringen konnte. Weil wir beinahe hundert Kilo Fisch und Eis zu transportieren hatten, zogen wir den Wagen aber ohne Fahrrad durch den Ort.

Der Verkauf ging schleppend. Die Leute feilschten mit Robert. Der war der Meinung, er könne für ein Pfund fünfzig Pfennig verlangen. Das war den Leuten viel zu viel. Ich hatte den Eindruck, dass die meisten den Fisch eigentlich gar nicht wirklich haben wollten. Jedenfalls sah ich bei keiner der Hausfrauen echte Freude über unser Angebot. Ich sah stattdessen rümpfende Nasen. Von Begeisterung keine Spur. An der Ostsee gab es zu viel Fisch. Mein Eindruck war, dass den Leuten das Zeug schon zu den Ohren heraus stand.

Bis halb acht Uhr abends hatten wir immerhin dreihundert Pfund verkauft. Das Pfund jedoch nur für zehn Pfennig. Wir hatten dreißig Mark in Roberts Tasche. Das Geld teilte Robert zwischen uns auf. Für jeden gab es fünf Mark. Die Bootsfahrt hatte pro Mann zwei Mark fünfzig gekostet. Ich fand das überaus korrekt von Robert. Ich hatte am wenigsten aus dem Meer gezogen. Ich freute mich riesig, dass ich an diesem Tag fünf Mark verdient hatte. Ich dachte an meine Schulden bei Michael am Obersalzberg. Bei den Feriengroßeltern gab es abends frischen Dorsch.

4. Das Versteckspiel

Nachmittags besuchten mich die drei auf dem Gehöft. Wir saßen bei mir in dem kleinen Zimmer. Draußen war Sturm mit viel Regen aufgekommen. Deshalb hatten wir uns nicht am Strand bei den Strandkörben getroffen. Vormittags hatte ich stundenlang auf dem Wasser mit dem riesigen Surfsegel in den Wellen gekämpft. Ich war erschöpft. Es hatte mir nichts ausgemacht, einfach nur auf dem Bett herum zu lümmeln und den drei Burschen beim Quatschen zuzuhören. Ich fand das lustig, weil ich das Norddeutsche in Berchtesgaden nie hörte. Die drei langweilten sich aber schon nach wenigen Minuten. Martin fragte deshalb, ob wir nicht etwas spielen könnten.
„Oh ja! Wat Spaßliches!“, rief Mischa.
Ich schwieg abwartend.
„Auf dem Speicher könnten wir Verstecken spielen!“, schlug Martin vor.
„Zu viert?“, fragte Mischa kritisch.
„Das geht schon: drei verstecken sich und einer sucht!“, meinte Martin.

Wir verließen mein winziges Zimmer und gingen den finsteren Gang Richtung Treppe entlang. Martin öffnete eine Tür, die mir bislang nicht aufgefallen war. Obwohl ich seit drei Wochen täglich die Treppe hinaufgestiegen und den Gang entlang zu meinem Ferienzimmer gelaufen war, hatte ich die Tür neben dem Treppenabgang übersehen. Eine dunkel gestrichene Holztür wie die Farbe der Holzverkleidung im Treppenhaus. Der Türgriff war winzig und im gleichen Farbton gehalten. Ich dachte an eine Geheimtür. Warum eine unauffällige Tür, wo nur ein Speicher hinter ihr lag? Ich fantasierte, dass wir vier bestimmt Verbotenes taten. Der Feriengroßvater war mit dem Wagen unterwegs. Ich dachte, dass die drei wussten, was wir taten.

Der Speicher erstreckte sich eine weitere Etage hinauf, die über eine wackelige Holztreppe erreicht wurde. Deshalb breitete sich der Dachboden zweimal über die Fläche des gesamten Wohnhauses aus.

Unser Spiel erinnerte mich an den Speicher im Haus von Büchtler am Obersalzberg. Dort lagen Matratzen und stand Mobiliar herum. Wir hatten finstere Lager aus Holzbrettern und Matratzen gebaut. Er lag in einem von Büchtlers beiden Häusern. Dort waren die Mädchen untergebracht. Deshalb hatten Jungs eigentlich keinen Zugang. Zweites Problem war, dass sich die stählerne Tür am Ende des Mädchenwaschraumes befand. Den zu betreten war absolut tabu. Wir brauchten erstens den Türschlüssel, zweitens musste einer von uns Toilettenpapierdienst haben und drittens durfte kein Mädchen im Waschraum sein. Um das Toilettenpapier vom Treppenaufgang zum Speicher hinter der Stahltür zu holen, bekam der Toilettenpapierdienst den Speicherschlüssel. Der Dienst durfte nur wegen des Toilettenpapiers das Mädchenstockwerk betreten. Bester Zeitpunkt für unser Versteckspiel in unseren Matratzenlagern waren Samstag und Sonntag am Nachmittag.

Nach Hallenbad und Mittagessen war das ein schönes Programm. Manchmal hatte ich das Gefühl, mit dem Lager über dem Mädchenstockwerk etwas Eigenes zu haben. Etwas Geheimes auf dem Speicher! Das war etwas anderes als ein Bett oder ein Schrank im Zimmer. Bett und Schrank konnten jederzeit von Erwachsenen kontrolliert und durchsucht werden.

Der Speicher über meinem Ferienzimmer war voll von altem Mobiliar. Viele hohe Schränke boten gute Verstecke. Nahe der Tür war es hell wegen eines Dachfensters. Im oberen Stock ging es zwischen Schränken einen finsteren Gang bis an das Ende des Hauses entlang. Kurz vor dem Hausende waren die alten Schränke so angeordnet, dass sich daraus mehrere finstere Schrankzimmer ergaben. Der Sucher hatte kaum eine Chance, die Versteckten zu finden. Der Speicher bot zu viele Möglichkeiten, sich zu verstecken.

Aber das Suchen hatte seinen Reiz. Es fand in absoluter Ruhe statt. Jedes Knarren und Knacken erschreckte den Sucher. Das Vordringen in den oberen Bereich und in die drei Schrankzimmer löste bei mir Anspannung aus. In jedem Schrank konnte einer stecken. Jede Schranktür konnte zu einem Aufschrei von Mischa, Martin oder Robert führen. Alte Klamotten konnten auf mich hernieder kommen. Ein Buch konnte mir auf den Kopf fallen. Oder Blechgeschirr schepperte zu Boden, ein alter Stahlhelm konnte aus einem Schrank heraus knallen und über dem Speicherfußboden eiern.

In vielen Schränken fanden sich riesige Holzkisten. Die waren so groß, dass ich hineinpasste. Meist fand ich Mischa, Martin und Robert aber stehend in den Schränken. Sie versteckten sich zwischen müffelnden Mänteln, Jacken, Hosen und Hemden. Wenn eine Schranktür quietschend geöffnet wurde, sprang ich sofort aus meinem finsteren Versteck. Gefunden zu werden war wie eine Erlösung. Hinter den langen Mänteln in einem Schrank versteckt, hörte ich aufmerksam auf jedes Rascheln, Knacken, Knistern, Knarren. Geräusche konnten von einem suchenden Ferienfreund stammen, sie konnten aber auch von etwas anderem kommen, zum Beispiel von einer Maus.

Einer Maus wollte ich in der Dunkelheit im Kleiderschrank nicht begegnen. Ich stand zwischen den kratzenden Kleidungsstücken und war froh, wenn ich schnell von Robert gefunden wurde. Die Vorstellung, dass eine kleine Maus über meine Hausschuhe laufen konnte oder gar aus einer alten Jackentasche auf mich springen konnte, ließ mich in schnellen Zügen kurz atmen.

Wir vier hatten Respekt vor dem riesigen Speicher. Wir nutzten seine Größe nicht. Drei, die sich da versteckten, steuerten zwar unterschiedliche Verstecke an, diese aber lagen nie weit voneinander entfernt. Wir behielten uns gegenseitig im Auge. Der Speicher war uns unheimlich, wegen dessen Größe und des vielen alten Zeugs, das in den Schränken schlummerte.

Beim Zählen blinzelte ich durch die Finger vor den Augen. Ich wollte eine Ahnung davon haben, welche Richtung ich beim Suchen einschlagen musste. Das Suchen hatte keine Chance, wenn nicht ein Anhaltspunkt bestand. Jeder wusste, dass Blinzeln gegen die Regeln war. Jeder machte es und jeder akzeptierte, dass der andere es machte. Keiner sprach darüber, denn jeder war froh, dass der andere ihn darauf nicht ansprach.

Kurz vor Beginn des Hausarrestes war ich das letzte Mal mit den Dreien da oben. Beim Suchen lief ich in das hintere der drei spärlich beleuchteten Schrankzimmer. Der Schrank stand finster in einer Ecke. Langsam öffnete ich die leise knarrende Türe. Sie verdeckte die ohnehin wenigen Lichtstrahlen. So lag das Schrankinnere völlig im Dunklen. Ich tastete mich mit der linken Hand vorsichtig nach vorne. Ich wollte ertasten, ob im Schrank Kleidung hing oder nicht. Es roch modrig aus dem Schrank heraus. Schränke, welche ich zuvor geöffnet hatte, mit alten Klamotten, hatten einen anderen Geruch.

Mit der rechten Hand hielt ich die Tür fest. Meine linke Hand tastete ins Leere. Ich führte die Hand von links nach rechts. Da war nichts. Ich ging einen kleinen Schritt nach vorne. Meine Hand erreichte die hintere Schrankwand. Noch einmal tastete ich von links nach rechts: nichts. Dann ging ich langsam in die Knie, um nach unten zu tasten. Meine rechte Hand glitt an der hölzernen Schranktür langsam nach unten, denn die Tür wollte ich weiterhin offen halten. Mit der linken Hand erreichte ich auf etwa halber Höhe im Schrank ein Holzbrett.

Ich zog meine Hand langsam nach vorne, trat dabei einen Schritt zurück. Ich spürte den Staub, über den ich meine Hand zog. Ich tastete mich am vorderen Rand des Brettes weiter nach unten. Es war kein Schrankbrett. Ich tastete mich weiter bis auf den Fußboden nach unten. Holz, an dem ich mich entlang tastete. Es musste eine große Kiste sein. Nun arbeitete ich mich wieder nach oben. Am oberen Rand der Kiste drückte ich mit dem Daumen gegen das obere Brett. Ich drückte langsam nach oben, hörte dabei ein leichtes Knarren und spürte, dass sich der Deckel öffnete.

Hätten Mischa, Martin oder Robert sich da drin versteckt, wären sie längst laut aufschreiend und erlösend lachend aus der Kiste gesprungen. In solch einer Kiste zu sitzen, zu hören, wie von außen daran herum getastet wird und dann das leise Knarren des sich öffnenden Deckels zu hören, da wäre keiner von uns vier lange ruhig sitzen geblieben. Mir war klar, dass in dieser Kiste niemand saß. Trotzdem konnte ich mich von ihr nicht abwenden. Meine Neugier war zu groß. Obwohl ich in der Dunkelheit gar nichts sehen konnte, öffnete ich den Kistendeckel weiter und weiter. Die Schranktüre führte ich mit der rechten Hand an meinen Rücken, wo ich sie anlehnte. Meine rechte Hand ließ nun die Schranktür los und griff langsam in die Kiste. Das fühlte sich ähnlich wie auf dem Deckel an. Die Kiste schien voll zu sein. Mit der Rechten tastete ich und hörte jetzt ein ganz leises Rascheln. Dieses Rascheln kannte ich. Es konnte nur von Papier kommen. Eine Kiste voll Papier! Wie langweilig!

Plötzlich ertönte ein lautes Knarren, dann polterte es und ein lauter Schlag einer Tür knallte. Der Lärm kam von unten. Es war die Speichertüre. Ich erschrak so, dass ich den Kistendeckel fallen ließ. Das war ohrenbetäubend. Staub kitzelte in meiner Nase.
„Bernado, wo steckst Du? Komm sofort her!“, schrie der Feriengroßvater von unten zu mir hinauf.

Ich zitterte, zwang mich so laut ich konnte zu rufen:
„Ich komme! Ich komme sofort!“

Die Schranktüre schob ich vorsichtig zu. Es war wieder totenstill. Ich drehte mich um. In dem schwachen Lichtschimmer sah ich aufgewirbelten Staub in der Luft. Einige Meter vor mir Richtung Treppe, lag ein Stück Papier auf dem Boden. Das hatte vorher noch nicht dort gelegen! Ich war ganz sicher. Beim Betreten des Schrankzimmers hatte ich den Fußboden durch das einfallende, schwache Licht gesehen. Ich erkannte meine Fußspuren im Staub auf dem Boden. Das Papier lag auf einem meiner Fußabtritte im Staub. Ich hob den Fetzen auf und stopfte ihn in meine Hosentasche. Von unten hörte ich den Feriengroßvater wütend auf und ab stampfen, er schrie:
„Bernado sofort zu mir!“

Ich polterte die Treppe hinunter. Was mir einfalle, auf dem Speicher herum zu turnen! Das sei eine ganz schlimme Pflichtverletzung! Der Feriengroßvater schnaubte vor Wut über mich.
„War es mir erlaubt, den Speicher zu betreten? Nein! Das war es nicht!“
Er brüllte mich fragend an, antwortete sich aber selbst ohne eine Antwort von mir abzuwarten. Weil es nicht erlaubt war, schrie der Feriengroßvater mich an, war es eindeutig verboten!

Am Anfang der Ferien hatte ich zugesichert, nur zu tun, was zwischen uns beiden klar vereinbart worden war. Der Feriengroßvater hatte das in seinem Arbeitszimmer mit mir besprochen. Spielen und Herumlungern auf dem Speicher waren nicht vereinbart worden.

„In einem fremden Haus verhält man sich anständig und vor allem ehrlich!“

Ich sei ein hinterhältiger Saukerl! Er schrie sich in Rage. Freundlichkeit, Bescheidenheit und Zurückhaltung den ganzen Tag vor zu spielen sei bösartig. Es stecke eine betrügerische Absicht dahinter.

Ich verstand nicht, was er damit meinte, welche betrügerische Sache ich auf dessen Speicher mit den vielen uralten Sachen im Schilde führen könnte. Er ließ mich nicht zu Wort kommen, stattdessen schrie er:
„Mit deiner Verlogenheit ist jetzt Schluss! Was du dir erlaubt hast, ist eine Unverschämtheit, die ihresgleichen sucht!“

Die Ferienmutter hatte wohl von Büchtler nicht nur gehört, dass ich ein guter Schwimmer war, sondern auch ein besonders schwer zu erziehendes Kind.

„Es ist eine Unverschämtheit, mich so zu hintergehen! Menschen, die dir ihre Hand reichen, versuchst du skrupellos hinters Licht zu führen!“

„Befohlenem ist zu gehorchen! Gerade Du hast zu gehorchen! Dir werden wir Deine Verlogenheit schon noch austreiben!“
Ich hatte bewiesen, dass ich nicht einmal die leichteste Übung bestand. Statt Pflichterfüllung: Vertrauensmissbrauch.
„Für einen deutschen Jungen beschämend! Statt Dank ein versuchter Diebstahl!“
Die großzügige Hand, die der Feriengroßvater mir entgegen gestreckt hatte, versuchte ich auszunutzen.
„Ein dahergelaufener Kerl aus einer Erziehungsanstalt! Das hab ich im Leben nicht erlebt, nicht mal im Krieg!“

Er schickte mich in mein Zimmer. Er werde die Sache mit seiner Tochter besprechen. Stunden später überbrachte mir die Ferienmutter die Entscheidung, die beide gemeinsam getroffen hatten.

„Das gibt Dir die Zeit, über Dein niederträchtiges Verhalten nachzudenken!“

Die letzten vier Tage der Ferien auf dem Gehöft sollte ich in meinem Zimmer verbringen.

Ich lag auf dem Bett in meinem Ferienzimmer. Der Hausarrest sollte noch drei weitere Tage dauern. Ich starrte an die Decke mit der weißen Ballonlampe. Darüber lag der Speicher.

5. Die Jagd

Der Feriengroßvater ging jeden Abend um halb zehn Uhr aus dem Haus. Vor drei Tagen hatte er am Abendbrottisch gesagt, dass ich mitkommen sollte in den Wald. Ich war überrascht, denn wir hatten zuvor darüber nicht gesprochen. Er war nicht sehr gesprächig. Er sagte, ich solle Jacke und Pullover mitnehmen, denn auf dem Jägerstand könne es nachts schon mal frisch und windig sein.

Wir trafen uns pünktlich um halb zehn vor der Eingangstür des Wohnhauses. Er trug grüne Kleidung, wie ich sie mir bei einem Jäger vorstellte, dazu über der rechten Schulter ein großes Gewehr. Ich lief neben ihm über den grob gepflasterten Hof. Auf der anderen Seite schlugen wir rechts in einen kleinen Feldweg Richtung Wald ein.

Dort stand ein alter Kirschbaum mit süßen Kirschen. Die Feriengroßmutter schickte mich stets nach dem Abendessen hinauf. Ich könne mir noch eine kleine Nachspeise einverleiben so wie es die Vögel tun. Der Baum war ein toller Kletterbaum. Ich konnte an ihm beinahe bis ganz oben hinaufsteigen.

Weil wir Kinder bei Büchtler regelmäßig über die Bergwiese hinauf in den Wald liefen, um dort auf Bäumen herum zu klettern, hatte ich keine Angst auf solch einem Baum bis ganz nach oben hinauf zu steigen. Die besten Baumhütten waren schwer zu erreichen, weil wir sie ganz oben in die hohen Baukronen hinein gebaut hatten. Je höher es einer geschafft hatte, gestohlene Bretter in eine Baumkrone zu schaffen und mit gestohlenen Nägeln und Schnüren eine ebene Fläche zu zimmern, als Grundlage für eine winzige Hütte, desto mehr Bewunderung war ihm gewiss.

Die verwegensten Konstruktionen bauten Michael und dessen erkaufte Helfer. Schuldner in den Diensten des Geldeintreibers waren bereit für den Bau seiner hoch im Baum liegenden Hütte in die umliegenden Scheunen und Ställe einzubrechen. Dort stahlen sie Nägel, Zangen, Hämmer und Holzbretter. Michaels Hütte stand auf der höchsten und wahrscheinlich ältesten Buche unserer Waldlichtung. Dort trieben wir uns beinahe jeden Nachmittag herum. Seine Baumhütte war in den letzten Metern nur über ein Seil zu erreichen. Er hatte alle Äste in der oberen Krone abgesägt. Michael nahm ein Seil mit einem Haken, warf es vom letzten Ast vor der Hütte hinauf. An dem Seil hangelte er sich hoch. Anderen denen er Zutritt gewährte, warf er von oben eine selbst gemachte Strickleiter entgegen. Der mächtige Geldverleiher thronte auf dem höchsten Wipfel unserer Waldlichtung. Zu ihm hatten wir aufzublicken.

Um das Baumhaus von Michael rankten sich viele Geschichten. Die am häufigsten genannte war, dass es sich lohnen würde, bei Nacht hinaufzusteigen und einzudringen, weil Michael dort Geld deponiert habe. Davon erzählte Hartwig, mit dem ich bei Büchtler in einem Zimmer wohnte. Er habe Michael einmal beobachtet, wie der mit einer vollen Plastiktüte hinaufgestiegen sei und ohne diese wieder heruntergekommen war. Sicher, so meinte Hartwig, habe er da oben auch Lebensmittel und andere Dinge deponiert. Er hatte Schulden bei Michael, aber mehr als ich und seit viel längerer Zeit. Hartwig träumte davon, sich an Michael zu rächen. Das würde er aber nie alleine tun, weil er zu viel Angst hatte. Ich hätte mich gerne mit Hartwig verbündet, um gegen Michael vor zu gehen. Das wäre mir nur zusammen mit einem anderen Jungen gelungen, denn allein wäre ich viel zu schwach gewesen. Aber ich vertraute Hartwig nicht.

Er sprach über Michael, dass ich das Gefühl hatte, er wollte am liebsten zu dessen Geldeintreibern und Bretterdieben gehören. Um das zu erreichen, hätte er sich Respekt verschaffen müssen. Er hätte Michael mit dessen Waffen imponieren müssen: Gewalt, Macht und Angst. Mindestens eine dieser Waffen hätte Hartwig gegen ein anderes Kind einsetzen müssen. Damit hätte Hartwig Michaels Sprache beherrscht. Das hätte bedeutet, dass er es wert gewesen wäre, einer von dessen Geldeintreiber zu werden.

Hartwig schaffte es nicht. Er kam nicht von seinen Schulden bei Michael weg. Er wurde ständig von dessen Helfern verprügelt, weil er immer wieder nicht bezahlte. Samstags im Berchtesgadener Hallenbad machte er stets den gleichen Fehler. Währenddessen Büchtler, akkurat mit gespitztem Bleistift sein Kassenbuch führte, um an dreißig Kinder das Taschengeld auszuzahlen, gelang es Hartwig ab und an, durch die Menge der Kinder vorbei an den Besuchern des Hallenbades zu verschwinden:
Büchtler saß an einem winzigen Tisch im Eingangsbereich. Wir drängten uns um den Tisch. Die Besucher des Hallenbades drückten sich an uns vorbei. Weil Michael und seine Helfer in diesen Minuten auch ihr Taschengeld ausbezahlt bekamen, konnte ein kleiner Hartwig immer wieder aufs Neue flüchten. Er lief eilig nach Berchtesgaden hinauf, um dort sein Taschengeld für Süßigkeiten auszugeben.

Die Geldeintreiber kümmerte das aber eher wenig. Sie erwischten Hartwig dann halt nachmittags oben im Wald. Wenn sie ihn da nicht fanden, griffen sie am Sonntag zu. Dass Hartwig das Spiel ständig wiederholte, verstand ich nicht. Seine Schulden nahmen wegen der Zinsen schnell zu. Ich konnte mit ihm darüber aber nicht reden, denn ich hatte kein Vertrauen zu Hartwig, genauso wenig wie zu andern Kindern in Büchtlers Haus am Obersalzberg.

Bei Büchtler in Berchtesgaden spielten wir Kinder miteinander im Wald oder auf dem Speicher, doch dabei bestahlen wir uns gegenseitig und wir prügelten aufeinander ein. Hatte ich von meinem Taschengeld etwas nicht ausgegeben und auch nicht an Michael zurückzubezahlen, musste ich das sehr gut verstecken. Ich verstaute es in einem Briefumschlag in meiner Matratze. Ich achtete genau darauf, dass Hartwig davon nichts bemerkte. Ich wählte einen Zeitpunkt. an dem Hartwig nicht in unserem gemeinsamen Zimmer war. Samstagabends, während Hartwig sich im Bad die Zähne putzte, hatte ich dazu Gelegenheit. Einmal hatte ich meine kleine Geldbörse mit einer Mark Taschengeld nachts in der Hose auf meinem Stuhl neben dem Bett liegen gelassen. Am nächsten Tag war die Geldbörse leer. Seitdem vertraute ich weder Hartwig noch einem anderen Kind in Büchtlers Haus.

Büchtler war mächtig und stark wie Michael. Das zeigte er uns ständig. Fast täglich schlug er ein Kind, indem er Ohrfeigen oder Kopfnüsse verteilte. Manchmal gab es auch Faustschläge. Hin und wieder war Büchtlers Schlag so kräftig, dass ein Kind durch eine Glasscheibe flog oder eine Treppe hinunter stürzte. Büchtler war unser Erzieher und unser Vorbild. Er erzog uns, indem er uns Kinder dauerhaft verängstigte. Das tat er so lange, bis wir, wie er es nannte, „parierten“. Hatte er das erreicht, verwendete er weiter seine Angst machenden Methoden, indem er uns seine hasserfüllte Haltung täglich zeigte, durch Auftreten und Worte. Das war die Erziehungsmethode, mit der er uns Kinder, wie er es nannte, „im Griff“ hatte. Deshalb schickten Jugendämtern über etwa dreißig Jahre Kinder in das Kinderheim von Büchtler nach Berchtesgaden und bezahlten Büchtler.

Am Obersalzberg gab es damals zwei Menschen, die ich abgrundtief hassen gelernt hatte: Michael und Büchtler. Deshalb begann ich mich für alles zu interessieren, was anders aussah als das, was Büchtler und Michael demonstrierten. Ich wollte beiden nicht hinterherlaufen, wie Hartwig es tat. Ich wollte mit den beiden so wenig wie möglich zu tun haben.

Auf dem Bett liegend starrte ich den Kopf voll mit diesen Gedanken an die weiße Raufasertapete. Die Ballonlampe warf ihren schaukelnden Schatten an die Wand. Nicht an Büchtler, Hartwig und Michael denken! Meine Aufgabe war es, über das hier und jetzt auf diesem Gehöft nachzudenken.

Der Feriengroßvater war mit mir in der Dämmerung den Feldweg entlang gelaufen. Auf dem Weg hatten wir nicht gesprochen. Hartwig, Michael und Büchtler waren mir unterwegs eingefallen. Ich hatte daran gedacht, dass vielleicht Michael der bessere Gast beim Feriengroßvater wäre.

Die Ruhe des Hausarrestes sollte ich nutzen, um über das nachzudenken, was ich auf diesem Hof Schlimmes getan hatte. Das war meine einzige Aufgabe. Stattdessen fiel mir die Jagd ein, weil ich da an Menschen wie Michael und Büchtler am Obersalzberg gedacht hatte, die ich viel schlimmer fand als mich. Die Ferienmutter wusste nicht, dass ich ständig über das nachdachte, was um mich herum geschah. Um das zu tun, brauchte ich keine Strafe wie diesen Hausarrest. Nachzudenken war bisher für mich eigentlich gar keine Strafe.

Ich dachte aber nicht nur über mich nach, sondern in meinem Hausarrestzimmer merkte ich, dass ich immer verleitet war, über das nachzudenken, was gar nicht die Strafaufgabe war: Ich fragte mich, wer wohl eigentlich der Feriengroßvater war, bei dem ich die Ferien seit über drei Wochen verbrachte, der bisher kaum mit mir gesprochen hatte. War er einer wie Büchtler? Auch Büchtler sprach wenig mit mir und den anderen Kindern. Fängt der Feriengroßvater, wenn ich noch länger hier bliebe, bald an zu schlagen?

Ich hörte den Kies unter unseren Schuhen knirschen. Bei klarem Sommerwetter begann die Nacht erst gegen Mitternacht. Der Feldweg führte in einen Laubwald. Nach etwa fünf Minuten im Wald führte er zu einer kleinen Kreuzung. Rechts und links zweigten zwei Trampelpfade ab. Wir nahmen den Rechten. Er führte nach einigen Hundert Metern ganz leicht bergan. Es gab in der Gegend keine Berge wie rund um Berchtesgaden. Nicht einmal Anhöhen gab es, das waren eher leichte Erhebungen. Genau auf solch eine leichte Erhebung führte uns der Trampelpfad. Er führte an den Waldrand mit Blick über ein offenes, bereits abgeerntetes Feld. Das Feld umstand von allen Seiten der Wald. Auf der Erhebung am Waldrand, genau an dessen höchstem Punkt, erhob sich der Jägerstand des Feriengroßvaters. Der ideale Standort, um das Feld und die Waldränder im Überblick zu haben.

Nachdenken über die Verletzung meiner Pflichten sollte ich, das hatte die Ferienmutter mit dem Feriengroßvater besprochen. Warum ich nicht dankbar sei, dass ich hier im Hause des Feriengroßvaters sein durfte, sondern stattdessen versuchte den Feriengroßvater zu bestehlen. Und warum ich mir solch eine Unverschämtheit leistete gegenüber denjenigen, die mich unterstützten. Darüber versuchte ich jetzt nachzudenken:
„Ich weiß nicht warum.“ Das war meine einfache Antwort. Das aber wäre der Ferienmutter und dem Feriengroßvater zu kurz gewesen. Allein schon diese Kürze war wieder eine große Unverschämtheit. Ich hatte Tage Zeit und sagte: Ich weiß es nicht. Das war eine Frechheit! Je länger ich auf dem Bett lag, je genauer ich darüber nachdachte, also die Aufgabe ernst nahm und die Zeit dafür nutzte nachzudenken, so wie es die Aufgabenstellung des Hausarrestes war, desto mehr fielen mir anstatt Antworten Fragen ein. Ich fand keine Antwort darauf, warum ich meine Pflichten verletzt hatte, warum ich undankbar gewesen war, warum ich unverschämt geworden war und warum ich den Feriengroßvater bestehlen wollte. Ich wusste nicht, was ich zu stehlen versucht hatte. Ich wusste nicht, welche „Unverschämtheit“ ich begangen hatte. Ich wusste nicht, worüber ich nachdenken sollte und warum ich den Hausarrest bekommen hatte. Das nicht zu begreifen war unverschämt gegenüber den Erwachsenen.

Wegen der vielen unbeantworteten Fragen in meinem Kopf wurde die Aufgabe im Hausarrest immer länger, immer schwieriger, immer größer und schwerer. Deshalb wurde ich nervös und zappelig. Ich sprang hastig vom Bett auf, lief zum Fenster, schlug mir mit der platten Handoberfläche ein paar Mal an den Kopf. Da stimmte doch was nicht in meinem Kopf! Warum kamen in meinem Kopf immer mehr Fragen? Ich wollte endlich Klarheit! Je mehr ich nachdachte, umso mehr Fragen. Warum? Ruhe bewahren! So kommst du nicht weiter Bernado! Ganz ruhig bleiben und noch einmal mit dem Denken von ganz vorne anfangen! Das hätte jetzt bestimmt die Lehrerin zu mir gesagt.

Ich ging langsam zum Bett zurück. Meine beiden Hände pressten sich an meinen Kopf, als wollten sie ihn aus wringen, bis er leer war, damit ich mit der Aufgabe dieses Hausarrestes mit einem leeren neuen Kopf noch einmal von vorne los legen konnte. Ich setzte mich auf die Bettkante. Ich ließ meinen Kopf los. Ich sagte zu mir: Jetzt ist mein Kopf leer! Jetzt fange ich von vorne an. Ich fragte mich: Was ist meine Pflicht, die ich hier verletzt habe? Sofort schoss es durch meinen Kopf: Falsch Bernado! Du solltest nicht fragen! Es ist deine Aufgabe zu antworten! Ich legte mich wieder hin, starrte an die Decke. So geht das nicht!

Der Feriengroßvater hatte mir auf dem Weg zum Jägerstand zu verstehen gegeben, dass dort oben nicht gesprochen wurde. Ganz leise beobachteten wir also das in der Dämmerung liegende Feld und die Waldränder rings herum. Hin und wieder kamen auf der andern Feldseite Hasen mit riesigen Ohren hervor. Die blieben aber meist so weit weg, dass der Feriengroßvater nicht einmal seine Büchse anlegte. Auf dem Hochstand war ein Brett so montiert, dass die Büchse dort aufgelegt werden konnte. Durch das Zielfernrohr ließ mich der Feriengroßvater die Hasen auf der anderen Feldseite beobachten. Sie hoppelten dort munter herum, verschwanden im Wald und kamen wieder hervor.

Erst nach zwei Stunden auf dem Hochstand wurde es ernst. Da erschien am Waldrand auf der rechten Seite in der Dämmerung ein großer Hirsch. Der Feriengroßvater zog am Gewehr, durch dessen Zielfernrohr ich immer noch die Hasen beobachtete. Ich setzte mich auf die äußerste Seite des Sitzbrettes. Der Feriengroßvater lud in aller Ruhe das Gewehr. Dann legte er es auf das für diese Zwecke konstruierte Brett und blickte konzentriert durch das Zielfernrohr. Gespannt beobachtete ich das alles.

Der Hirsch stand genauso wie er vor Minuten dort erschienen war am Waldrand. Er rührte sich nicht. Der Feriengroßvater führte langsam den Finger seiner rechten Hand an den Abzug. Erst jetzt wurde mir klar, was kommen würde. Ich presste mit beiden Händen meine Ohren zu. Trotzdem hörte ich einen ohrenbetäubenden Knall. Aus dem Gewehr stieg dicker Qualm auf. Den fächerte der Feriengroßvater hastig beiseite. Er blickte angestrengt zum Waldrand. Ich tat es ihm gleich. Der Hirsch stand nicht mehr dort. Ich erkannte einen dunklen Punkt auf dem abgeernteten Feld. Der Feriengroßvater nickte zufrieden.
„Das war ein Treffer!“

Er schulterte die Büchse und kletterte die Leiter des Hochstandes langsam hinab. Ich folgte ihm. Unten lud der Feriengroßvater sein Gewehr erneut. Das wunderte mich.
„Das Tier könnte noch leben. Bleib Du weit genug weg!„

Ich lief in weitem Abstand hinter dem Feriengroßvater her. Wir näherten uns dem dunklen Punkt am Feldrand. Nur noch wenige Meter entfernt, hörte ich ein leises Röcheln und Schnauben. Der Hirsch lebte noch. Der Feriengroßvater deutete mir, ich solle bleiben, wo ich war. Ich nickte. Er näherte sich langsam dem Tier. Er legte erneut die Büchse an. Ich drückte meine Hände an die Ohren. Der Knall war leiser als zuvor.

Eigentlich wollte der Feriengroßvater das Tier mit dessen Hufen an einer langen Stange festbinden, die er vom Hochstand geholt hatte. Es sollte an der Stange baumelnd, auf unser beider Schultern lagernd zum Hof getragen werden. Das entsprach dem Bild, das ich von Jägern im Kopf hatte. Der Versuch, die Beine des Tieres an die Stange zu binden, funktionierte mit meiner Hilfe nicht. Das Tier lag ungünstig auf dem Feld. Wir versuchten den Körper in eine geeignete Position zu bringen, um es an den Füßen anzubinden. Mir fehlten aber die Kräfte. Mir war schlecht geworden. Ich fühlte mich schwach. Mein Kreislauf spielte nicht mehr ordentlich mit.

Der Schädel des Tieres war bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt worden. Das Geweih war dem Tier schon von der ersten Schrotladung, die der Feriengroßvater vom Hochstand aus abgefeuert hatte, vom Schädel gerissen worden. Der Feriengroßvater fand es einige Meter entfernt auf dem Feld. Er zeigte es mir. Er streckte es mir entgegen wie eine Trophäe. Er erklärte etwas über das Geweih, was ich aber nicht verstand, weil ich trotz der Dämmerung erkannte, dass ein Stück vom Schädel des Tieres daran herunter hing. Das aber kümmerte den Feriengroßvater nicht. Ich sah an dem Geweih einen Teil des Gehirns des Tieres. Ich sah Blut und einen verschmierten Fetzen, der da baumelte. Daran hing ein Auge. Das Auge schwabbelte immer wieder zwischen Boden und Geweih des Tieres auf und ab, während der Feriengroßvater mit dem Geweih gestikulierend vor mir stand.

Ich sog die frische Luft der Sommernacht tief in mich ein. Ich setzte mich hin, weil ich nicht riskieren wollte, umzukippen. Mein bleiches Gesicht drehte ich weg, damit der Feriengroßvater es in der Dämmerung nicht sah. Ich kniete mich auf dem Feldboden vor dem toten Tier nieder und tat so, als wollte ich es besser betrachten. Ich konnte mich nicht einfach auf das Feld legen und tief atmen, bis meine Kreislaufschwäche vorbei war. Das hätte dem Feriengroßvater klar gezeigt, dass ich für die Jagd ein völlig ungeeigneter Begleiter war. Ich musste das durchstehen, es gehörte zum normalen Alltag auf dem Hof. Tiere wurden gejagt, getötet, ausgenommen, zerteilt, zubereitet und gegessen.

Das Geweih mit den blutig herabhängenden Fetzen, dem herausgerissenen Auge und den anderen triefenden Tierteilen interessierte mich überhaupt nicht. Trotzdem zwang ich mich zum Feriengroßvater aufzublicken. Er hielt das Geweih immer wieder in die Höhe und erklärte Dinge, die ich nicht verstand, denn ich konnte wegen meiner Kreislaufschwäche dessen Stimme nicht mehr hören. Ich kannte das. War ein Kreislaufzusammenbruch schlimm, hörte ich ein hohes Rauschen in den Ohren. Die Geräusche der Menschen um mich herum konnte ich noch hören, aber ich verstand deren Worte nicht mehr. Das dauerte Minuten. Dann verschwand mein Schwindel und ich hörte Stimmen wieder normal.

Der Feriengroßvater gestikulierte und hielt immer wieder das Geweih vor mein Gesicht. Ich wusste, dass ich mich auf meinen Atem konzentrieren musste, um meinen Kreislauf wieder hochzubringen. Ich blieb auf den Knien vor dem toten Tier und sog die kühle Sommerluft tief ein. Langsam, als würde ein Lautstärkeregler hochgedreht und gleichzeitig ein Radiosender klarer eingestellt, hörte ich den Feriengroßvater wieder. Das Geweih hatte er mitten auf den Feldweg gelegt. Jetzt verstand ich, was er sagte. Er gab mir Anweisungen in welche Richtung ich an den Hinterläufen des Tieres ziehen sollte, um es mit ihm zusammen für den Abtransport in die richtige Lage zu drehen. Ich hatte keinerlei Kräfte dafür. Der Kreislaufzusammenbruch hatte mich geschwächt. Ich brauchte Zeit, um mich zu sammeln. Ich atmete so tief ich konnte durch.

„Das geht so nicht! Wir müssen den Handwagen holen!“
Auf dem Feldweg liefen wir langsam durch die Nacht Richtung Gehöft. Der Feriengroßvater hatte das Geweih über seine Schulter gelegt. Der daran baumelnde Teil vom Schädel des Tieres interessierte ihn immer noch nicht. Ich lief so weit wie möglich rechts vom Feriengroßvater. Ich trug dessen schwere Büchse. Ich schleppte sie mit dem Gurt auf der rechten Schulter. Ob ich mit der schweren Schrotflinte schießen könnte? Worauf würde ich zielen? Den Feriengroßvater?

Der finstere Waldrand neben dem Feldweg und dessen langsam vorbei ziehende Baumwipfel erinnerten mich an den Obersalzberg und an Büchtler in dessen Haus ich seit vielen Jahren lebte. Auf den würde ich zielen! Die schwere Büchse müsste ich allerdings irgendwo auflegen, so wie der Feriengroßvater das auf dem Hochstand getan hatte. Durch das Zielfernrohr könnte ich Büchtler genauso wie ich die Hasen am Feldrand ins Visier genommen hatte, anvisieren. Ob ich abdrücken würde? Dessen fiese Witze, wenn er mich mit Abendessensentzug bestrafte und mich als „Armleuchter“ beschimpfte, dessen knallharte Ohrfeigen und Kopfnüsse, vor allem dessen Magenschwinger und Faustschläge, das alles hasste ich so sehr, ich würde nicht zögern abzudrücken.

Blut und Hirn des Schädels am Geweih stanken fürchterlich. Als wir zum Trampelpfad durch den Wald gekommen waren, vergrößerte ich den Abstand zum Feriengroßvater. Ich versuchte dem Gestank zu entgehen, hielt mich rechts am Waldrand, versuchte die kühle Luft des Waldes zu riechen. Aber der Gestank des vor mir laufenden Feriengroßvaters zog mir direkt in die Nase. Würde Büchtlers zerschossener Kopf auch so stinken? Mir wurde wieder schlecht. Ich spürte meinen Magen, der zu rebellieren begann. Ich versuchte an etwas anderes zu denken.

Ich wollte nicht, dass der Feriengroßvater bemerkte, dass ich das Jagdabenteuer nur mit größter Mühe schaffte. Meine Schwäche wollte ich diesem Mann auf keinen Fall zeigen. Ich war froh, dass mir nicht so schlecht wurde wie am Feldrand neben dem getöteten Hirschen. Ich konzentrierte mich auf mein tiefes Atmen. Ich dachte nicht mehr an Büchtler und dessen zerschossen Kopf und an Michael, den ich mit der Schrotflinte auch erschießen würde, weil er mich oft auf der Toilette im Haus bei Büchtler am Obersalzberg so verprügelt hatte, dass ich minutenlang benommen auf der Kloschüssel liegen blieb. Ich schaffte den Trampelpfad. Das letzte Stück zum Gehöft verlief wieder auf dem breiteren Feldweg. Da ging ich rechts neben dem Feriengroßvater. Dort stank es nicht mehr so fürchterlich nach dem Hirn vom toten Hirschen.

Der Feriengroßvater sprach auf dem Feldweg kein Wort. Alles zu seinem Jagderfolg hatte er zuvor schon erklärt. Weil ich ihm am Feldrand aber nicht hatte zuhören können, wusste ich nichts. Ich hatte trotzdem so getan, als hörte ich zu. Ich nickte und spielte Verständnis und Interesse vor, obwohl mein Kreislauf zusammengebrochen war und ich das Rauschen und den hohen Ton in den Ohren hatte.

Ich tat das sehr oft in der Berchtesgadener Bacheischule und im Haus von Büchtler am Obersalzberg. Ich nickte und blickte aufmerksam zum Sprechenden. Ich bestätigte damit, zu verstehen worum es ging. Wenn aber Rückfragen kamen, warfen die mich aus dem Konzept. Meist kamen keine Rückfragen. Kinder wie ich wurden nicht gefragt.

Fragen des Feriengroßvaters waren keine Fragen an mich, denn er beantwortete sie stets selbst. Am Feldrand hatte er mir alles erklärt, was er zu dem erlegten Tier erklären wollte. Weil mir so schlecht geworden war, hatte ich all meine Aufmerksamkeit auf meinen Atem, aber auch den dozierenden Feriengroßvater gerichtet. Ich erkannte dabei nicht, dass er mich etwas gefragt hatte. Ein Mensch, der fragt, schweigt nach seiner Frage, um eine Antwort zu erhalten. Ich sah den Feriengroßvater erklären und mit dem Geweih des Tieres gestikulieren. Da war kein wartendes Schweigen. Der Feriengroßvater war ein Mensch, zu dem ein Kind wie ich nur dann zu sprechen hatte, wenn er es dazu aufforderte. Ich hatte das Gefühl, dass der Feriengroßvater junge Leute generell nur schwer ertragen konnte. Was er gar nicht ertrug, war einer wie ich, der Schwächen zeigte. Einen Mann, der auf der Jagd zusammenklappte, gab es nicht. Der Feriengroßvater wusste, dass ich zusammengeklappt war. Darüber aber sprachen wir beide nicht. Das war ähnlich wie beim Versteckspiel auf dem Speicher. Jeder blinzelte, jeder wusste das, aber keiner sagte etwas.

Der Feriengroßvater war der einzige, der bei Tisch ein Gespräch eröffnete. Die Feriengroßmutter stimmte dessen Ausführungen immer uneingeschränkt zu. Die Ferienmutter antwortete stets auf Fragen. Sie erzählte zu manchen Dingen auch mal etwas. Sie berichtete aus ihrer Erfahrung in Berchtesgaden. Ich schwieg und hörte zu. Eine wichtige Regel auf dem Gehöft war es, zu schweigen. Bei Tisch sprachen nur Erwachsene.

Ich fand Schweigen nicht schwer. Ich fand es gut, nur zuhören zu müssen. Am besten fand ich es, wenn ich von einem Gespräch gar nicht betroffen war. Dann nämlich war die Gefahr gering, etwas nicht oder falsch zu verstehen. Es gab dann nichts zu überhören, was mich betraf und es gab nichts miss zu verstehen. Das hatte ich bei Büchtler am Obersalzberg über lange Zeit gelernt. Anfangs überhörte ich oft etwas, das mich betraf, weil ich nicht ordentlich zugehört hatte. Weil ich eh nicht mitreden durfte, schaltete ich frühzeitig ab. Ärger war dann nicht weit. Ich lernte deshalb bei Büchtler immer besser zuzuhören, auch wenn die meisten Dinge mich nicht betrafen. Ich fürchtete Ärger, weil ich etwas überhörte.

Er hatte gesagt, dass es für mich da oben nur mein Zimmer gäbe. Damit meinte er im Grunde, dass der Speicher für mich tabu wäre. Wahrscheinlich hatte er ihn auch deshalb nicht erwähnt, weil er wusste, dass ich ihn ohnehin nicht finden würde. Ich hätte besser zuhören müssen. Dann hätte ich verstanden, dass es dort oben einen Speicher gibt, den ich nicht betreten durfte. Tatsächlich hatte ich den Speicher nicht gefunden. Es waren die Freunde, die wussten, dass es ihn gab und wo er zu finden war.

6. Krieg

Am Mittagstisch saß neben mir noch ein anderer junger Mensch. Paula war ein Aupairmädchen aus England. Die Feriengroßeltern hatten sie für die Ferienzeit von Nachbarn ausgeliehen. Paula schwieg bei Tisch, so wie ich. Sie hatte einen anderen Grund zu schweigen. Sie war gekommen, um Deutsch zu lernen. Sie sprach noch sehr schlecht Deutsch.

Paula wurde vom Feriengroßvater wie ein Küchenmädchen behandelt. Sie hatte von morgens bis abends im Haushalt zu arbeiten. Sie hatte der Feriengroßmutter, die das Regiment führte, beim Kochen zu helfen. Sie war zuständig zu Waschen, zu Bügeln, den Hof zu kehren, das Treppenhaus und die Zimmer zu putzen und sie hatte sich dabei ruhig zu verhalten. Dabei sollte sie Deutsch lernen.

Der Feriengroßvater war groß, stark und mächtig. Es war selbstverständlich, dass auf seinem Hof geschah, was er geschehen lassen wollte. Dazu brauchte er keine langen Worte. Er war es nicht gewohnt, seinen Hof oder gar sich selbst auf seinem Hof zu erklären. Jemandem wie mir, der dort neu erschien oder Paula, die nicht einmal die deutsche Sprache beherrschte, brauchten die Hofregeln nicht lange erklärt zu werden, denn sie waren in den Augen des Feriengroßvaters selbstverständlich.

Im Schuppen auf dem Gehöft lud ich das Surfbrett von dem Handwagen ab. Mit dem leeren Wagen wartete ich im Innenhof. Es war eine laue, warme Sommernacht. Rings um den Hof war es sehr still, kein Lüftchen regte sich. Aus der Ferne hörte ich ein Auto. Zunächst glaubte ich, der Wagen fahre auf der Landstraße unterhalb des Gehöftes vorbei. Dann sah ich am Himmel über dem Hof Scheinwerferlicht. Sekunden später passierte ein alter Peugeot die Eingangstür des Wohnhauses und rollte knatternd auf den Hof. Robert stieg aus dem Wagen. Sein Vater saß am Steuer. Robert kam direkt auf mich zu. Begeistert rief er:
„Na, ihr habt einen mords Fang gemacht?“ „Ja, ein Riesenvieh.“ „Du siehst aber etwas fertig aus. Bist du müde?“
Ich nickte und sagte: „Naja, schon etwas.“

Roberts Vater reichte mir die Hand. Er fragte, ob ich denn überhaupt zum Abtransport des Tiers mitkommen wollte, so müde wie ich aussah. Das war meine Chance. Ich zuckte die Schultern.
Roberts Vater: „Wir schaffen das auch ohne dich!“

Endlich wurde klar, dass der Jagdabend beendet war. Jetzt erschien der Feriengroßvater in der Tür des Wohnhauses. Auch für ihn schien klar zu sein, dass ich am Abtransport mit dem Handwagen nicht beteiligt sein würde. Die zwei marschierten mit Robert, der den Handwagen über den Innenhof zog, am Kirschbaum vorbei auf den Feldweg.

Am nächsten Tag sagte die Feriengroßmutter, dass heute jede Menge Arbeit anstehe. Der riesige Fang der Jagd in der letzten Nacht sei mittlerweile ausgeblutet. Nun gelte es, das Tier zu zerlegen. Sie fragte mich aber nicht, ob ich dem Feriengroßvater, der im Stall mit dieser Arbeit zu Gange war, helfen wolle. Das wollte ich auf keinen Fall. Ich wollte lieber mit dem Surfbrett hinaus aufs Meer.

In der Scheune traf ich auf den Feriengroßvater. In einer blutverschmierten Gummischürze stand er da. In der Hand hielt er ein riesiges Messer. Der Hirsch hing an einen breiten Balken mitten in der Scheune. Sein Schädel war vollständig abgetrennt. Unter dem Tierkörper stand eine große Schüssel voll Blut. Ich sah den Feriengroßvater, der mich schweigend und nickend begrüßte, um sich sogleich wieder dem toten Tier zuzuwenden.

Mein Blick fiel auf den Handwagen, den ich für das Surfbrett brauchte. Der Wagen stand seitlich von dem toten, hängenden Tierkörper. Ich ging am toten Hirschen und dem schneidenden Feriengroßvater vorbei, sog dabei einen Atemzug von Blutgeruch auf, ergriff die Deichsel des Handwagens und zog ihn aus der Scheune. Der Wagen war von Blut und Haaren verschmiert. Ich polterte mit dem Wagen über den Innenhof. Dort gab es einen Wasserhahn.

Mit dem Gartenschlauch spritze ich das Blut und alles andere vom Wagen ab. Dabei wurde mir schlecht. Ich begann zu würgen. Ich übergab mich. Der Boden neben der Wasserstelle war feucht und glitschig. Ich verlor das Gleichgewicht, ging in die Knie, konnte mich nicht mehr kontrollieren, sah plötzlich nichts mehr, denn alles war schwarz geworden. Ich stürzte auf ein Knie, fiel zu Boden. Jetzt schlug ich mit dem anderen Knie auf einer Steinplatte am Wasserhahn auf. Alles ging sehr schnell. Da spürte ich eine Hand unter meinem rechten Arm. Ich wischte mir mit dem linken Ärmel über die Augen und atmete tief durch. Jetzt wurde es wieder hell.

Es war Paula. Sie sprach kein Wort, sondern lächelte mich an. Stützend begleitete sie mich zur Eingangstür und sie reichte mir ein Papiertaschentuch. Sie setzte mich in die Küche an den riesigen, schweren Küchentisch. Dort stellte sie ein Glas Wasser hin. „Drink“, sagte sie und sie wiederholte: „Drink das.“

Sie verließ sie für einige Sekunden die Küche. Sie brachte Pflaster, eine Mullbinde und Jod. Vorsichtig tupfte sie mit dem Jod mein Knie ab. Ich biss die Zähne zusammen, sie lachte mich an: „Don’t worry, this hurts you only for a few seconds!“ Es brannte wie der Teufel. Ich war trotzdem froh, dass sie sich kümmerte. Das rechte Knie blutete ordentlich. Sie verband mir das Knie und erklärte: „No saltwater today. Ich lerne Deutsch“. Sie lachte mich an. Plötzlich standen Feriengroßmutter und Feriengroßvater in der Küchentür. Paulas Lachen verschwand. Beide stellten blutverschmierte Schüsseln und Messer auf die Küchenspüle. Der Feriengroßvater bedeutete Paula, dass sie das abspülen sollte. Paula wandte sich von mir ab und begann mit ihrer Arbeit an der Spüle.

Nachts schlief ich sehr unruhig. Schon nachmittags war starker Wind aufgekommen. Er toste um das in der Dunkelheit liegende Haus und peitschte Regen wie Wasserfontänen gegen die Fenster und Türen. Zwei Fensterläden hatten sich gelöst. Sie schlugen ständig im Wind hin und her, doch ihr Lärm wurde vom Rauschen des Sturms in den hohen Bäumen rund um das Gehöft übertönt. Der Wind war im Laufe der Nacht immer kälter geworden. Er hatte an Kraft ordentlich zugelegt und seine Richtung von Nordwest auf Nordost geändert. Starke Böen peitschten durch den Wald hinter dem Hof. Riesige Äste wurden dabei zu Boden gerissen.

Ich hatte mich tagelang in dem kleinen Wäldchen an dem Tümpel nahe dem Gehöft sicher gefühlt. Die hohen Buchen und die riesigen Tannen boten besten Sichtschutz. Sie waren von hoch gewachsenen Wiesen umgeben, die zusätzlichen Blickschutz boten. Der Herbst war nicht mehr weit, das bewiesen der Sturm und der plötzlich eiskalte Wind.

Ein gewaltiger Ast war von einer Buche herab gerissen worden. Er verfehlte mich knapp, traf mich aber noch mit einem Seitenarm, der auf meinen Kopf fiel. Mit der Rechten fuhr ich über meine Haare, glaubte dort warmes Regenwasser zu spüren. Der eiskalte Regen war wieder warm geworden wie im Sommer. Er fühlte sich in der Handfläche richtig schön an. Ich fuhr mir durch das Gesicht, wo der Regen sich auch schön warm anfühlte. Dabei spürte ich ein Gefühl von Glück, denn der Sommer mit seinem warmen Regen war in Verlängerung gegangen. Ich knipste meine Taschenlampe an. Ich hatte meinen Beutel verloren. Wahrscheinlich war er von dem Buchenast zu Boden gerissen worden. Ich leuchtete den feuchten Waldboden ab. Die Batterien der Lampe waren schwach. Sie gaben nur für Sekunden einen Lichtstrahl ab. Auf dem Waldboden sah ich im Schimmer der Lampe die Nässe von Regen und rote Farbe, die herabtropfte. In meinem Gesicht ertastete ich jetzt eine Wunde, fuhr mit meinen Fingern hinauf in mein Kopfhaar, wo ich eine Beule ertastete, die jetzt zu brennen begann.

Langsam näherte ich mich der Eingangstüre. Sie lag im Dunklen. Trotzdem erkannte ich an der hellen Wand neben der Türe einen großen schwarzen Fleck. Der Fleck verwirrte mich. Was hing dort? Geduckt näherte ich mich dem Eingang zum Gehöft, dabei jederzeit bereit, Schutz suchend in die Böschung neben dem schlammigen Ackerweg zu flüchten. Jetzt erkannte ich, dass neben der Eingangstüre ein frisches Hirschfell an der Wand hing. Es war dort zum Trocknen und Lüften an einem Holzrahmen aufgehängt worden.

Die Eingangstüre zum Gehöft war immer offen. Nicht so in dieser stürmischen Nacht. Blut tropfte auf den Fußabstreifer vor der Tür, gegen die ich mit Händen und Füßen einschlug. Der eisige Wind fuhr mir über den Rücken, sodass ich am ganzen Körper heftig zu zittern begann. Ich versuchte meinen Pullover und die Jacke zurechtzurücken, um dem peitschenden Wind keine Stelle zu bieten, an der er auf meine Haut vordringen konnte. Doch das gelang nicht, denn Pullover und Jacke suchte ich vergebens. Ich war mit schmutzigen Tüchern und Lappen bekleidet, die wie nasse Säcke an mir herunter hingen und in dem eisigen Wind gegen meinen knochigen, mageren Körper schlugen.

Endlich sah ich durch das Schlüsselloch der Türe einen schwachen Lichtstrahl. Von drinnen hörte ich das Klimpern von Schlüsseln. Die Tür öffnete sich, ich erkannte Paula, die matt und schläfrig vor mir stand.

Sie erschrak bei meinem Anblick, sagte aber kein Wort, sondern nahm mich bei der Hand, stützte mich bis in die Küche, wo ich neben dem gewaltigen Küchentisch ein Lager am brennenden warmen Ofen fand. Das Lager war mir in all den Tagen zuvor noch nie aufgefallen. Ich legte mich auf das warme Tuch des Lagers, neigte den Kopf zurück und sah zu Paula hinüber. Die stellte eine dampfende Wasserschüssel auf einen Hocker neben mir und begann meine Stirn mit einem Lappen abzutupfen. Es war die Schüssel, die Paula noch nachmittags vom Blut gereinigt hatte. Das dampfende Wasser färbte sich hellrot. Seine rote Farbe wurde mit jedem Auswringen von Paulas Lappen dunkler. Paula lächelte fürsorglich, sprach aber keinen Ton mit mir.

Plötzlich hörte ich sehr laute Schritte. Sie näherten sich vom Esszimmer, das direkt in das Arbeitszimmer führte. In der Esszimmertür erschien der Feriengroßvater. Er trug eine Uniform, an deren Revers eine Vielzahl von Orden geheftet waren. Es war die Uniform, die ich von Fotos in dessen Arbeitszimmer kannte. Sie hingen dort an der Wand, neben einem schweren Eichenschreibtisch. Ich hatte den Feriengroßvater in dieser Uniform auf den Fotos gesehen, während er mich am ersten Tag mit knappen Worten in seine Ordnung auf dem Hof eingewiesen hatte.

Jetzt blickte er streng und gehässig zu Paula, die ihr Lächeln sofort aufgab und erschrak. Er schrie sie unverständlich an, blickte dann zu mir, trat einige Schritte auf mich zu, aber sagte nichts. Seine Augen waren hasserfüllt. Anstatt zu sprechen, erhob er seinen Gewehrkolben. Das Gewehr hatte ich bislang noch gar nicht bemerkt. Ich schrie vor Angst, schreckte vom Lager auf, versuchte mich auf die Seite zu Paula zu drehen, die vom Stuhl neben mir aufgestanden war. Da spürte ich den heftigen Schlag des breiten, schweren Holzes. Der Schlag traf mich mitten im Gesicht. Ich spürte, wie meine Nase zermalmt und wie Brei in meinem Gesicht verteilt wurde. Backenknochen krachten, als würden Bretter hinter einer Tür durchbrochen. Mein Kopf fiel zurück auf das Lager. Ich sah Paula vor mir, wie sie versuchte, sich auf den Feriengroßvater zu stürzen, um mich zu schützen. Der aber stieß sie mit einem kräftigen Kolbenschlag von sich, sodass sie mit dem Rücken auf den Küchentisch geschleudert wurde.

In diesem Augenblick spürte ich einen gewaltigen, stechenden Schmerz und ein Pochen, das mein ganzes Gesicht überzog und sich von meinen Augen wie Feuer hinauf in den Kopf brannte, als würde eine klaffende Wunde in die salzige Ostsee gehalten. Meine Augen konnte ich nicht schließen. Trotzdem sah ich aber den Feriengroßvater minutenlang nicht mehr.

Vom Esszimmer hörte ich mehrere Männerstimmen. Sie lachten und redeten mit dem Feriengroßvater. Es waren drei Soldaten. Ich erkannte sie jetzt verschwommen vor mir. Es waren die drei, die auf dem Foto im Arbeitszimmer, rechts vom Eichenschreibtisch lachend neben dem uniformierten Feriengroßvater abgebildet waren. Sie trugen Armbinden mit Hakenkreuzen. Im Foto hielten sie triumphierend Maschinengewehre in die Luft. Es war ein vergrößertes Schwarz-weiß-Foto, in dessen Mitte der Feriengroßvater lachte, während er einem der drei die Hand schüttelte. Jetzt sah ich die Männer verschwommen, aber in Farbe. Ihre Armbinden waren rot. Sie standen mit ihren Gewehren direkt vor dem Küchentisch.

Mein Kopf pochte, da musste eine große Wunde sein. Ich spürte Blut, das über meine zertrümmerten Backenknochen lief und über meine zerfetzten brennenden Lippen in meinen Mund floss. Der Feriengroßvater zeigte mit seinem Gewehrkolben auf Paula auf dem Küchentisch. Die drei Männer lachten wie auf dem Foto. Der Feriengroßvater verschwand in das Esszimmer Richtung seinem Arbeitszimmer. Die Soldaten pressten Paula auf den Küchentisch. Einer riss ihr das Kleid herunter. Ich sah ihn, wie er die Schenkel von Paula auseinander drückte. Paula hörte ich nicht schreien. Ich hörte gar nichts, nur ein Rauschen und einen hohen Ton. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass es ganz still geworden war.

Sie hatte ihre Beine aneinandergepresst. Einer der Soldaten stieß jetzt den anderen von Paula weg. Der fiel zu Boden, denn er stolperte über seine herunter gelassene Hose. Der zweite Soldat stellte sich vor Paula an den Küchentisch. Er schlug Paula mit dem Gewehrkolben zwischen die aneinandergepressten Schenkel. Dann warf er sein Gewehr zu Boden, öffnete die Hose und ließ sie zu Boden fallen.

Ich erhob mich langsam, denn jetzt erkannte ich ein Gewehr direkt neben meinem Lager auf dem Boden. Ich hörte nichts, sah aber das stählerne Gewehr neben mir da unten. Ich setzte mich auf das Lager, bückte mich nach unten, wo ich tatsächlich mit der rechten Hand das Gewehr ergreifen konnte. In diesem Moment spürte ich in meinem Nacken einen sehr kräftigen Druck. Das war kein Schlagen, sondern es würgte mich fest. Ich versuchte mich aufzurichten, doch es gelang nicht. Jetzt wurde ich vom Lager zu Boden auf meine Knie gezwungen. Dort erkannte ich die glänzenden Jägerstiefel des Feriengroßvaters. Aber ich hörte ihn nicht. Ich versuchte zu ihm aufzublicken. Doch ich kam mit meinem Blick nur bis zur Tischkante. Dort erkannte ich das Gesicht von Paula. Sie hatte ihre Augen weit aufgerissen, ihr Gesicht war voll von Tränen. Sie liefen über ihre Wangen, ihr Mund war weit aufgerissen. In ihm steckte der blutige Lappen, mit dem sie zuvor meine Stirn abgetupft hatte.

Auf den Knien schleifte mich der Feriengroßvater am Tisch vorbei zur Küchentür. Zwei der Soldaten packten mich jetzt unter meinen Schultern. Sie schleppten mich aus dem Haus über den Hof zum Kirschbaum.

Der eisige Wind peitschte in mein zerfleischtes Gesicht. Es regnete in Strömen. Ich spürte den Regen in meinem Gesicht, wo er brannte wie Feuer. Mein Kopf war zwischen den beiden Soldaten nach hinten gekippt, sodass ich den Regen schmecken konnte, der mir direkt in meinen aufgerissenen Mund fiel. Sie stellten mich auf eine Kiste, die ich vom Speicher zu kennen glaubte. Ich ging sofort in die Knie und griff in weichen dicken Staub. Ich war schwach, spürte im Gesicht brennende Schmerzen, drohte von der Kiste zu stürzen, wurde aber von einem der beiden Soldaten am Hals ergriffen, um den er mir ein Seil legte. Das schnürte sich sofort fest um meinen Hals. Es richtete mich auf der Kiste auf. Ich stand unter dem Kirschbaum im peitschenden Regen und erkannte jetzt vor mir die hell erleuchteten Fenster des Hauses. Ich sah den Feriengroßvater. Zusammen mit einem Soldaten schleppte er einen Menschen durch den Regen über den Hof.

Es war Paula, die von den beiden auf eine andere Kiste vom Speicher vor meine Füße geworfen wurde. Plötzlich packte mich ein kräftiges Quetschen am Hals, das mich sofort würgen ließ und meinen Kopf nach unten presste. Dort unten sah ich Paula auf der Kiste liegen. Ich sah meine Füße, sie zappelten in der Luft über Paulas Kopf. Ich würgte, versuchte zu erbrechen, zu atmen, den Mund zu öffnen, die Augen zu schließen, nichts ging. Paula verschwamm unter meinen heftig zappelnden Beinen. Jetzt spürte ich einen unerträglich beißenden Schmerz, er kam von meinem Hals. Ich bäumte mich auf und schrie mit aller Kraft.

Die weiße Ballonlampe in dem Zimmer schaukelte an der Decke wie wild hin und her. Das Fenster stand offen. Böiger Wind sorgte draußen für viel Bewegung in den Bäumen. Ich lag schweißgebadet auf dem Bett in meinem Ferienzimmer. Ich stand auf und stellte mich nass und schwitzend an das offene Fenster. Unten im Hof sah ich den Mercedes des Feriengroßvaters vor dem hohen Scheunentor.

7. Die Lehrerin

Sie hatte mir über lange Zeit wöchentlich Nachhilfe im Haus bei Büchtler am Obersalzberg gegeben. Daneben unterrichtete sie mich fast täglich im Schulunterricht. Das Besondere an der Lehrerin war, dass ihr der Spaß der Kinder bei den Aufsätzen im Unterricht wichtig war. Die Lehrerin sorgte dafür, dass wir nicht so lernten, wie das für alle Kinder vorgesehen war. Wir lernten anders. Wir durften uns vor dem Schreiben in kleinen Gruppen zusammensetzen. Jeder durfte den anderen Kindern erzählen, was ihm zu dem Aufsatzthema einfiel.

Das war ein lautes Geschnatter im Klassenzimmer. Mehr als vierzig Kinder saßen in kleinen Gruppen zusammen und quasselten. Die Lehrerin ging von Gruppe zu Gruppe, setzte sich dazu, sprach mit uns. So lief das etwa eine halbe Stunde lang vor jedem Aufsatz. Danach schoben wir die Tische wieder auseinander und jeder schrieb allein an seinem Aufsatz. Das hatte den Vorteil, dass ich ungefähr wusste, was ich schrieb, denn das hatten wir ja zuvor in den kleinen Gruppen besprochen.

Unser Geschnatter hörte sich von außen nach Geschrei von Kindern an. In Wahrheit sprachen wir Kinder in den kleinen Gruppen miteinander. Das ging natürlich in so einem Klassenzimmer nicht leise. Die Gespräche brauchten Übung. Erst nach drei, vier Aufsätzen wussten alle Kinder, dass die Lehrerin das immer so mit uns machte. So manche Blödelei unter uns verschwand mit der Zeit und meine Aufsätze wurden immer besser, denn in den Gesprächen hatte ich vorbereitet, was ich später schrieb. Die Lehrerin brachte mir bei, dass es wichtig war, zuerst über das gestellte Thema nachzudenken und erst dann zu schreiben.

Nachdem wir einen neuen Lehrer bekommen hatten, lief alles wieder anders. Der neue Lehrer machte es genauso wie alle anderen Lehrer an der Schule. Der Schuldirektor kam eines Tages mit dem neuen Lehrer in den Unterricht. Es war morgens um kurz vor acht. Die Schulklasse war schon da, aber unsere Lehrerin kam nicht. Der Direktor erklärte, dass der neue Lehrer von heute an die Arbeit unserer bisherigen Lehrerin übernehmen würde. Es sei ihm wichtig, dass wir Kinder unseren Eltern zu Hause gleich heute Nachmittag davon erzählten. Wir sollten zu Hause erzählen, dass wieder Ruhe eingekehrt sei, weil wir einen neuen Lehrer bekommen hatten. Wegen des neuen Lehrers gäbe es nun keinen Grund mehr für die Eltern, sich bei ihm zu beschweren.

In der Klasse war es ganz ruhig geblieben, als der Direktor den neuen Lehrer vorstellte. Kein Kind sagte oder fragte etwas. Der neue Lehrer war für uns alle eine große Überraschung. Deshalb gab es keinen Laut von uns. Der neue Lehrer begann sofort mit seinem Unterricht, der anders war, als es die Lehrerin gemacht hatte.

Was ich von der Lehrerin gelernt hatte, gab ich wegen des neuen Lehrers nicht auf. Nachdenken war wichtig und das konnte man auch tun, wenn man nicht mit anderen über das Aufsatzthema sprach. Man könne auch mit sich selbst im Kopf sprechen. Das funktionierte ganz gut, aber es machte nicht so viel Spaß, wie mit anderen Kindern zu sprechen.

Zu Hause am Obersalzberg habe ich nachmittags nichts von dem neuen Lehrer erzählt. Ich habe nicht berichtet, dass wir einen Auftrag vom Direktor bekommen hatten. Der Kinderheimleiter, Büchtler, interessierte sich nicht für die Lehrer. Ihn interessierte die Schule nicht. Ihn interessierte nur, dass Ärger, den er wegen der Kinder bekam, schnell beigelegt wurde. Dabei ging es darum, dass ein Ärgernis schnell verschwand, egal ob dabei eine gute oder schlechte Lösung entstand. Büchtler war die schnelle Lösung wichtig.

Büchtler interessierte nicht, dass die Nachhilfelehrerin, die mich und andere Kinder in seinem Haus unterrichtete, nicht mehr in der Schule arbeitete, weil sie die Schule verlassen musste, weil Eltern sich über deren Unterricht beschwert hatten. Das interessierte ihn deshalb nicht, weil er selbst sich nicht beim Direktor über die Lehrerin beschwert hatte, denn Büchtler war es egal, wie wir in der Schule unterrichtet wurden.

Die Lehrerin hatte mich behandelt, wie alle andern Schüler der Klasse, obwohl ich am Obersalzberg im Kinderheim bei Büchtler wohnte. Sie machte keinen Unterschied zu den anderen Kindern, die bei Eltern lebten. Das war neu für mich.

Mein erster Aufsatz schien den neuen Lehrer zu überraschen, denn er schrieb: „Bernado, das ist wirklich eine Überraschung! Weiter so.“ Deshalb bekam ich das Gefühl, dass er nicht glaubte, dass ich grundsätzlich nicht am Unterricht und an der Schule interessiert war. Nach meinem ersten Aufsatz nahm er mich im Unterricht manchmal dran, wenn ich mich meldete.

Vor dem Schreiben meiner Aufsätze dachte ich so wie es die Lehrerin mir beigebracht hatte, über das Thema nach. Ich sah mir das Thema, das der Lehrer an die Tafel geschrieben hatte, fünf, manchmal sogar zehn Minuten lang an, bevor ich zu schreiben begann. Dabei hatte ich hin und wieder die Augen geschlossen. So unterhielt ich mich mit mir selbst in meinem Kopf.

Das letzte Thema des Lehrers vor den Sommerferien für einen Aufsatz fand ich sehr schwer, es lautete:
„Beschreibe den Wert, den die Tugenden Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit, Pflichtbewusstsein und Dankbarkeit für Dich haben. Verwende dazu Beispiele von Erwachsenen, die Vorbilder für Jugendliche sind. Ein Beispiel für ein Vorbild können Deine Eltern sein.“

Im Zimmer, beim Feriengroßvater auf meinem Bett, fiel mir das Aufsatzthema aus der Schule wieder ein. Betraf die Strafe, die ich beim Feriengroßvater bekommen hatte, mein Nachdenken im Zimmerarrest, nicht genau das Aufsatzthema? Ich hatte sehr wichtige Tugenden missachtet, denn ich hatte gespielt, wo ich nicht spielen durfte, ich hatte getan, was ich nicht tun durfte. Ich war nicht ehrlich zum Feriengroßvater und zur Ferienmutter. Ich verstieß gegen deren Regeln.

War das mein Thema? Tugenden, die im letzten Aufsatz vor den Sommerferien schon Thema gewesen waren, mit denen ich mich bereits beschäftigt hatte, hatte ich nun missachtet. Auf mich konnten die Feriengroßeltern sich nicht verlassen. Ich verletzte die wenigen Pflichten, die ich in den Ferien auf dem Hof hatte. Warum? Pflicht und Ehrlichkeit schienen meine Schwachpunkte zu sein. Warum sonst traf ich in der Ferienverschickung schon wieder auf dieses Thema?

Eine Regel des Feriengroßvaters lautete:
„Du darfst nur tun, was besprochen wurde.“

Etwas anderes zu tun, war also verboten. Alles neue das mir oder den neuen Ferienfreunden eingefallen war, fiel unter diese Regel. Es war verboten, neues zu tun, denn Neues konnte zuvor nicht besprochen gewesen sein, sonst wäre es ja nicht neu. Das Versteckspiel auf dem Speicher war neu und deshalb eine Unverschämtheit.

In meinem letzten Aufsatz hatte ich das noch nicht gewusst. Darüber hätte ich geschrieben! Die Pflicht, nur tun zu dürfen, was zuvor mit Erwachsenen vereinbart worden war! Diese Bedeutung von Pflicht, Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit kapierte ich erst im Hausarrest. Das wäre mein Aufsatzthema gewesen! Darüber hätte ich geschrieben. Stattdessen war mir nur mein Vater zu dem Thema des Schulaufsatzes eingefallen. Der Feriengroßvater als Vorbild! Das wäre bestimmt keine Themaverfehlung im letzten Aufsatz geworden.

In der Schulstunde saß ich vor meinem Blatt. Der Aufsatz fiel mir schwer wie lange nicht. Meine inneren Gesprächspartner zur Vorbereitung des Aufsatzes waren Hartwig und Michael aus dem Kinderheim am Obersalzberg. Aber was mir im Gespräch mit beiden einfiel, konnte ich nicht hinschreiben, denn ich fand, es war zu schlecht, um es zu schreiben. In meinem Kopf hatte ich mit Michael zu streiten begonnen. Ich hatte ihn als gierigen Geldsack beschimpft und sogar mit Hartwig stritt ich, weil ich ihn des nächtlichen Diebstahls an einer Mark von meinem Taschengeld aus meinem Geldbeutel in der Hosentasche bezichtigte.

Eine halbe Stunde war verronnen. Das leere weiße Papier lag vor mir. Die Lehrerin hatte mir einmal den Tipp gegeben, ganz langsam und tief durchzuatmen. Den Stift zu nehmen und ganz langsam mit dem Schreiben anzufangen. Besser ganz langsam schreiben als gar nicht. Ich führte also ganz langsam die Hand mit dem Füller zu dem leeren Blatt, auf dem mein Aufsatz entstehen sollte, und begann zu schreiben:

Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit, Pflichtbewusstsein und Dankbarkeit am Beispiel meines Vaters und meines Erziehers Büchtler.

Meinen Vater kannte ich kaum. Seit vielen Jahren lebte ich auf dem Obersalzberg zusammen mit vielen anderen Kindern bei Büchtler. Mein Vater schickte regelmäßige Post ins Haus von Büchtler. Eines Tages hatte er mich plötzlich zu sich nach Hause geholt. Deshalb brauchte er keine Briefe mehr an mich zu schreiben. Er konnte nun täglich mit mir sprechen.

Nun komme ich aber endlich zu dem Thema dieses Aufsatzes: Die Ehrlichkeit, die Pflicht, die Zuverlässigkeit und die Dankbarkeit:
Frühere Briefe meines Vaters handelten von diesem Thema. Der Vater schrieb, dass er sich große Sorgen um mich machte. Er hatte von Büchtler gehört, dass ich ein großer Lügner wäre. Deshalb wäre ungewiss, welche Zukunft ich hätte. Lügen führten stets dazu, dass man irgendwann die Wahrheit nicht mehr erkennen könne. Ich sei bereits so weit, mir meine eigene, verlogene Wahrheit zu bauen.

Was hat das nun mit Ehrlichkeit, Dankbarkeit, Zuverlässigkeit und Pflichtbewusstsein zu tun?:
Immer wenn ich Vaters Briefe las, hatte ich das Gefühl, dass es um mich dramatisch schlimm stehen musste, denn ich wusste nichts von meinen Lügen. „Meine eigene verlogene Wahrheit“ war also bereits so perfekt, dass ich davon, dass ich ständig log, schon nichts mehr merkte.

Büchtler hatte mich oft geschlagen und verprügelt. Zwischen uns herrschte Krieg. Ich versuchte ihm aus dem Weg zu gehen. Das gelang nicht immer. Büchtler schlug mich, weil ich vorlaut war, anderen Kindern erzählte, dass ich ihn hasste, Kinder die neu in sein Haus einzogen warnte ich vor ihm und ich gab Tipps, wie sie seiner strengen Hand und harten Faust ausweichen konnten. Büchtler mochte das nicht. Er spürte, dass ich sein Reden hasste. Er merkte, dass ich seine Wichtigtuerei wegen seines großen, schnellen Autos hasste und seine Art, wie er das Taschengeld verteilte. Ich hasste seine niederträchtigen Sprüche wie: „Na du Armleuchter, hast du es überhaupt verdient, Taschengeld zu kriegen? Irgendwann wirst auch du mal kapieren, wo es lang geht. Hoffentlich noch bevor du die Radieschen von unten siehst!“

In einem Brief schrieb ich dem Vater:
Vielleicht lüge ich wegen Büchtler, der mich erzieht? In seinem letzten Brief, den der Vater daraufhin an mich schrieb, hatte er nicht mehr von meinen Lügen geschrieben, stattdessen schrieb er, dass er seine Pflicht, mich zu erziehen, nun erfüllen wolle.

Der Vater verprügelte mich immer abends. Deshalb begann ich zu lügen. Ich erzählte ihm nicht mehr, dass wir in der Schule eine Klassenarbeit geschrieben hatten. Ich sagte nicht mehr, welche Note der Lehrer in mein Heft geschrieben hatte, obwohl ich dazu verpflichtet war. Aber schon nach einer Woche entdeckte der Vater die Noten in meinen Heften. Da war das Geschrei groß und sein Schlagen war heftig.

Ich begann zu stehlen: Der Vater hatte wenig Geld. Ich hatte deshalb Angst zu Hause zu sagen, dass ich neue Hefte und Bleistifte brauchte. Der Vater erwischte mich beim Stehlen im Dorfladen, die Schläge waren fürchterlich. Ich war ein Dieb und Lügner geworden in nur einem Jahr beim Vater.

Eines Tages ging ich nach der Schule nicht nach Hause. Ich lief in die andere Richtung fort. Das Jugendamt brachte mich zurück zu Büchtler.

Der Vater hatte versucht, seine Pflicht zu erfüllen. Er hatte versucht, mich auf einen ehrlichen Weg zu bringen. Er hatte versucht, Vorbild für Ehrlichkeit und Pflichtbewusstsein zu sein. Ich aber war vor dem Vater davon gelaufen.“

Den Aufsatz hat der Schullehrer mir nicht zurückgegeben. Ich war einige Tage krank, lag mit Fieber im Bett im Haus von Büchtler. In diesen Tagen hatte der Lehrer die benoteten Aufsätze in der Schulklasse verteilt. Ich erfuhr nicht, welche Note ich bekommen habe.

Ich stand am Fenster und blickte in den Himmel: Dort sah ich kreischende Möwen. Ich senkte den Blick nach unten in den Hof, wo der schwere Mercedes des Feriengroßvaters stand. Ich dachte immer noch nicht vernünftig über das Thema des Hausarrestes nach. Stattdessen war mir mein Schulaufsatz wieder eingefallen. War der zu einer Themaverfehlung geworden? Warum sonst hatte ich ihn nicht zurückbekommen? War ich mit meinem Aufsatz schon einmal an dem Thema gescheitert?

Während des Abendessens sprach keiner mit mir. Das gehörte zu meiner Hausarreststrafe. Mit mir zu sprechen, hätte mich von meinem Hausarrest und von dem Thema abgelenkt. Ich sollte keine Unterstützung für das Thema erhalten, denn es war ja allein mein Thema. Der Feriengroßvater berichtete, dass er von dem Fleisch des erlegten Hirschen viel auf dem Markt an einen Metzger verkauft habe. Nach dem Abendessen ging ich wieder in mein Zimmer.

Auf dem Bett war ich kurz eingeschlafen. Es war zehn Uhr geworden. Der Hof lag in der Dämmerung. Es war das gleiche Licht wie an dem Abend, als der Feriengroßvater den Hirsch geschossen hatte. Der Feriengroßvater war zu seinem Hochstand am Rand des Feldes aufgebrochen. Wahrscheinlich war er bereits die Leiter hinaufgestiegen. Er saß oben auf der Sitzbank und beobachtete den Waldrand. Er wartete in aller Ruhe darauf, dass wieder ein Hirsch den Fehler machte, sich genau am Feldrand vor seiner Flinte aufzubauen.

Mein Sitzen im Zimmer, meine Langeweile, interessierte den Feriengroßvater nicht. Für ihn hatte es damit seine Richtigkeit. Ein Regelverstoß musste geahndet werden. Ein Kind musste erzogen werden. Es musste zum Denken darüber erzogen werden, was es falsch gemacht hatte. Dafür brauchte das Kind Zeit und Ruhe. Keine Zeit, um nachzudenken hatte, wer draußen auf den Kirschbaum kletterte, auf dem Surfbrett mit dem Meer kämpfte, mit dem Fahrrad auf den Nachbarhof zu Robert radelte, die Angelrute mit dem gelben Blinker an der Reling des Fischkutters auf und ab bewegte, einen dicken Dorsch fing, um ihn zu töten und zu verkaufen.

Ruhe auf dem Jägerstand wäre geeignet gewesen, um nachzudenken. Dort oben zwischen Wald und Feld herrschte viel Ruhe. Doch das wäre für mich keine Strafe gewesen. Strafe bestand darin, dass ich das Haus nicht verlassen durfte. Wer gerne das Haus verlassen wollte, den strafte ein Hausarrest. Es ging darum, in einer Situation, die mir nicht lieb war, über meine Missetat nachzudenken. Das war eine wirksame Strafe.

Das Thema sollte ich in Ruhe bearbeiten. Weil mir aber die Ruhe des Hausarrestes als Strafe verordnet worden war, fiel mir das Nachdenken sehr schwer. Wenn die Strafe auf dem Hochstand neben dem Feriengroßvater stattgefunden hätte, wäre mir das Nachdenken leichter gefallen. Ihn hätte ich das eine oder Andere gefragt zu meiner Tat. Ich hätte leise mit dem Feriengroßvater darüber gesprochen. Das wäre aber keine Strafe gewesen, denn das hätte ich ja gerne getan. Strafe aber war etwas zu verordnen, was ich nicht wollte. Nicht dumm die Idee. Aber wie sollte dabei das Nachdenken funktionieren? Die Strafe war vermutlich gar nicht so gedacht, dass dabei etwas herauskommen sollte.

Auf der anderen Seite des Hofes sah ich die dicken Äste des riesigen Kirschbaumes. Sie wippten im Wind auf und ab. Der Wagen des Feriengroßvaters war verschwunden. Ich schloss das Fenster und verließ mein Zimmer.

Im Arbeitszimmer an der Wand, neben dem Schreibtisch hingen die alten Fotos. Dort betrachtete ich interessiert den Feriengroßvater in jungen Jahren. Er lachte und steckte in einer Uniform. Ich sah ihn inmitten der anderen lachenden jungen Soldaten. Der Feriengroßvater war im Krieg gewesen. Bei Büchtler am Obersalzberg hatte ich von anderen Kindern gehört, dass im Krieg stets mit dem Tode bestraft werde. Dagegen, so die Jugendlichen, seien Büchtlers Faustschläge und Kopfnüsse harmlos.

Die Arbeitszimmertür ging auf. Ich erschrak. Aber in ihr stand Paula. Sie lächelte mich an und sagte: „Don’t worry, they are all gone by car of your grandfather.“

Ich stieg die knarrende Treppe hinauf und legte mich in meinem Hausarrestzimmer auf das Bett. Dort sah ich jetzt die Dunkelheit. Ich hörte die große Ballonlampe im leichten Wind, der durch das geöffnete Fenster blies. Der Abend in dem Dachzimmer war endlich kühler geworden. Ich hörte ein Knarren. Die alten Dielen des Hauses knarrten ständig, das taten sie bestimmt schon seit vielen Jahren. Ich wusste, dass über meinem Zimmer der Speicher mit vielen Schränken lag. Ich war froh, dass ich den Speicher nie wieder betreten würde. Ich wollte mich verhalten, wie es vereinbart worden war. Ich war froh, dass der Ferienaufenthalt nur noch wenige Tage dauerte.

8. Der Gewinn

Die Rückreise im Wagen der Ferienmutter nach Berchtesgaden war lang und schweigsam. Die Ferien auf dem Gehöft fand ich schön, denn die drei Wochen, bis die Bestrafung mit dem Hausarrest begann, hatten mir Spaß gemacht.

Zurück bei Büchtler, bezahlte ich gleich bei Michael meine Schulden. Die fünf Mark, die ich beim Dorsche fischen verdient hatte, gab ich Michael. Anstandslos gab der mir eine Mark fünfzig zurück. Eine Mark behielt er für vier Wochen Zinsen à fünfundzwanzig Pfennige ein. Er war es nicht gewohnt, noch in den Ferien Rückzahlungen in voller Höhe, einschließlich seines horrenden Zinssatzes, zu erhalten. Meine Schulden waren damit abbezahlt.

Ich nahm mir fest vor, nie wieder bei Michael Schulden zu machen. Am Samstag verteilte Büchtler, nach dem Schwimmen, im Berchtesgadener Hallenbad, das Taschengeld. Dabei rauchte er genüsslich Zigaretten, die er elegant einer weißen Schachtel mit der Aufschrift „Lord Extra“ entnahm. Ich erhielt zwei Mark fünfzig, von denen ich keine Schulden und keine Zinsen mehr zu begleichen hatte. Ich steckte mein Taschengeld in die Hosentasche.

Hartwig Elmne kam im Alphabet vor Bernado Wenigstens. Deshalb hatte Hartwig sein Taschengeld lange vor mir von Büchtler erhalten. Ich beobachtete, wie er sein Geld in die Hosentasche steckte. Er versuchte über den kleinen Vorraum des Hallenbades, in dem sich zwei Automaten mit Colaflaschen befanden, zu entkommen. Mike und Peter, zwei die bei Michael tief in der Kreide standen, positionierten sich am Ausgang. Ich beobachtete, wie beide blitzschnell den kleinwüchsigen Hartwig umstellten und zurück in den Automatenvorraum drängten.

Von Hartwig hörte ich dabei keinen Ton. Wahrscheinlich hatten sie ihm den Mund zugehalten. Beide kamen Minuten später lächelnd aus dem Vorraum. Sie gingen zu Michael, der mit uns am kleinen Tisch stand, wo Büchtler das Taschengeld aus Papierrollen mit dem Aufdruck der Kreissparkasse Berchtesgaden entnahm. Weil Michael ganz in meiner Nähe stand, hörte ich wie Mike in dessen Ohr flüsterte: „Alles klar, wir haben dem Pimpf seine 2 Mark abgenommen“. Mike drückte Michael das Geld in die Hand.

Hartwig kam Minuten später mit gesenktem Kopf aus dem Vorraum, ging langsam zum Ausgang des Hallenbades, blieb aber an einem der riesigen Fenster stehen, wo er sich anlehnte und auf den Parkplatz hinaus schaute. Dort parkten einige Autos, darunter auch der weiße Porsche von Büchtler. Hartwig hatte es nicht mehr eilig weg zu kommen, denn es machte nun keinen Sinn mehr, in den Markt Berchtesgaden hinauf zu laufen, ohne Geld für Süßigkeiten.

Am Montagvormittag kam mein erster Termin in Berchtesgaden, im Haus bei der Lehrerin. Die letzten zwei Ferienwochen, so war es vereinbart worden, sollte ich jeden Tag in ihr Haus kommen, um mich auf die Aufnahmeprüfung für die Realschule vorzubereiten. Die Aufnahmeprüfungen sollten an den beiden letzten Ferientagen stattfinden.

Jeden Morgen lief ich von Büchtlers Haus am Obersalzberg, auf der steilen Bergstraße, hinunter nach Berchtesgaden. Ich lief durch den Ort, um auf der anderen Seite wieder eine steile Bergstraße hinauf, auf den Kälberstein, zu laufen.

Vom Haus der Lehrerin konnte ich den Obersalzberg gut sehen. Den Fußmarsch, von Büchtlers Haus zur Lehrerin, schaffte ich in einer knappen dreiviertel Stunde. Es gab, in der Nähe von Büchtlers Haus am Obersalzberg, die Bushaltestelle Station Erika. Der Bus, hinunter nach Berchtesgaden, fuhr aber nur dreimal täglich. Morgens um sieben, Nachmittags um fünf und abends um sieben. Diese Zeiten waren für mich schlecht. Ich musste jeden Vormittag erst um zehn Uhr bei der Lehrerin sein.

Nachmittags lief ich um fünf Uhr zurück auf den Obersalzberg. Manchmal trieb ich mich noch ein bisschen im Markt herum. Ich hatte mein Taschengeld am Samstag nicht vollständig ausgegeben, denn ich wusste, dass ich jeden Tag, durch den Markt Berchtesgaden, zur Nachhilfe bei der Lehrerin unterwegs war. Ich kaufte mir in einem kleinen Edekaladen, der nahe der Bacheischule, auf dem Weg zur Straße, an der Berchtesgadener Arche, hinauf auf den Obersalzberg, lag, für ein paar Pfennige Lutscher, klebrige Bonbons oder so genannte Plombenzieher. Das waren kleine braune Karamellutscher, die manchmal so an den Zähnen festklebten, dass sie beim Loslösen einen wackeligen Zahn oder eine Amalgamplombe heraus rissen.

Die Lehrerin begrüßte mich an meinem ersten Lerntag freundlich. Sie hatte mir eine kühle Apfelsaftschorle hingestellt. Der Sommer war immer noch warm. Es war fast wärmer als an der Ostsee, denn der Wind der See fehlte. Das Licht in Berchtesgaden war schon herbstlich geworden. Der Ausblick auf die Berge war täglich sehr klar. Richtig schönes Badewetter. Ich wusste, dass jeder sonnige warme Tag ein Glück war, denn in Berchtesgaden brachte das Ende des Sommers, Anfang September, oft ganz schnell eine nasse Kälte, die wochenlang anhalten konnte, bis erst im Oktober wieder ein paar sonnige, aber meist schon sehr kühle Tage kamen. Die Kinder in Büchtlers Haus waren beinahe alle von ihren Ferienverschickungen zurück. Sie gingen jeden Tag gemeinsam ins Freibad. Ich war nicht mit dabei, ich ging jeden Tag zur Lehrerin.

Die Lehrerin versuchte mir den Einstieg in das Lernen in ihrem Haus schmackhaft zu machen. Täglich stellte sie mir eine Apfelsaftschorle und Salzstangen hin. Sie sagte, wenn ich schon in den Ferien so viel büffeln müsste, dann wenigstens mit einer kleinen täglichen Belohnung.

Ich kam vom ersten Tag an gerne zur Nachhilfe ins Haus der Lehrerin. Es war mir egal, dass ich nicht mit den anderen Kindern ins Freibad gehen konnte. Ich wusste, dass das für mich kein Nachteil war. Es war mir sehr recht gewesen, dass ich nach der Ferienverschickung nicht sofort, den ganzen Tag lang, mit den Kindern in Büchtlers Haus zusammen sein musste. Michael erzählte beim Frühstückstisch, dass ich für zwei Wochen ins „Schularbeitslager“ verbannt würde. Er prahlte, dass er und die anderen ihren Spaß im Freibad haben würden, während ich mir den „Arsch wund büffeln“ müsse.

Michael wusste, wie er mich und andere wütend machen konnte. Alle Kinder am Tisch lachten dreckig und laut. Ich ärgerte mich sehr über dessen Sprüche, sagte aber nichts. Am meisten ärgerte es mich, dass auch Hartwig dreckig lachte.

Das gehörte zum Alltag im Kinderheim am Obersalzberg bei Büchtler. Die Kinder hassten sich gegenseitig. Wir nutzten jede Gelegenheit um uns gegenseitig zu ärgern, einen bösen Witz auf Kosten eines anderen zu reißen, uns in der Sprache von Büchtler als „Armleuchter, Pisser“ oder „Sandkastenrocker“ zu beschimpfen oder dem Gegner zu wünschen, dass er bald „abstrapse“. Büchtler tobte seine Lust an eisiger Macht und gewalttätiger Überlegenheit gegenüber Kindern aus. Dessen Gewalt war aber nicht das schlimmste, denn auch mein Vater war gewalttätig. Deshalb war ich von westdeutschen Jugendämtern in Büchtlers Obhut am Obersalzberg gegeben worden. Was Büchtler tat erschien mir normal, denn warum sonst hätte mich ein Jugendamt dort hin geschickt?

Michael kannte, genauso wie der Heimleiter, keiner Gnade. Der Stärkere musste sich ständig beweisen, ertrug keine Widerrede und erst recht keine Niederlage. Er musste stets der Sieger sein. Michael ließ sich von dreckig lachenden Dritten, die immer zahlreich waren, lautstark feiern. Oft ging es dabei um den ständig zu wiederholenden Beweis seiner Kraft und Macht. Er tat das, genauso wie es der Heimleiter tat, mit der Faust.

Vertrauen unter Kindern gab es am Obersalzberg bei Büchtler nicht. Ich brauchte viele Jahre um das alles zu durchblicken. Erst nach vier, fünf Jahren im Haus bei Büchtler, wurde mir klar, wie wichtig es war, mich nicht ständig provozieren zu lassen. Das zu erkennen, war ein großer Gewinn, aber es war keine dauerhafte Gewähr dafür nicht verprügelt zu werden. Es eröffnete jedoch den Hauch einer Chance an Prügel vorbeizukommen.

Michael hatte mich auch dann weiter verprügelt, wenn ich auf seine Provokationen gar nicht reagierte. Eines Tages merkte ich, dass die Stimmungen Michaels und meine Art des „Nichtreagierens“ auf seine Provokationen, vielleicht sogar dessen Lust, mich zu Schlagen erhöhte. Ich verstand, dass allein meine Ruhe für Michael eine Provokation zu sein schien.

Als ich das begriffen hatte, legte ich mir eine neue Strategie zu. Ich begann ihm Ärgerlichkeit vorzuspielen. Ich begann ein kontrolliertes Spiel. Ich spielte Ärger so lange kontrolliert vor, bis ich bei Michael Zufriedenheit und Überlegenheit wahrnahm. Michael glaubte, sein Ziel, mich zu ärgern erreicht zu haben. Das war der wichtigste Effekt meiner neuen Strategie. Das Spiel funktionierte.

Ich provozierte nicht mehr, indem ich Michael beleidigte oder gar hasserfüllt anbrüllte, wenn er mich ärgerte. Sondern ich spielte ihm kontrollierten Ärger darüber vor. Weil meine Strategie funktionierte, baute ich sie im Laufe der Jahre zu meiner perfekten Methode aus. Dass meine Methode erfolgreich war, merkte ich daran, dass Michael und Büchtler immer weniger Anlass fanden mich zu verprügeln.

Nach vielen Jahren am Obersalzberg verstand ich, dass Büchtler sofort zuschlug, wenn er das Gefühl hatte, dass ich ihn nicht ernst nahm. Nicht ernst genommen zu werden, war für den Heimleiter eine große Verletzung der Ehre. Besonders schlimm war es für ihn, wenn ein Kind wie ich, ihn durchschaut hatte und gegenüber anderen Kindern im Sandkasten erklärte, dass man Büchtler unbedingt aus dem Weg gehen sollte. Büchtler war für Kinder unberechenbar und deshalb sehr gefährlich. Er war das brutalste Kind in dessen Haus am Obersalzberg. Ich wusste das, denn ich musste dessen Gewalttätigkeit jahrelang ertragen. Meine Erkenntnisse aus der Gewalt, und Erlebnissen unberechenbarer Brutalität, mit der Büchtler viele Jahre lang Kinder verprügelt hatte, gab ich warnend an neue Kinder weiter. Das war für Büchtler eine Provokation. Jugendämter schickten, in den siebziger Jahren, ständig weitere neue Kinder nach Berchtesgaden in dessen Obhut. Da gab es viel zu warnen, weshalb ich immer in der Gefahr war, von dem unbeherrschten Mann zusammen geschlagen zu werden.

Büchtler fühlte sich auch dann persönlich verletzt, wenn man sich von ihm abwandte, während er lautstark über seinen schnellen Porsche prahlte. Wenn er über sein Rennauto sprach, duldete er keine Unaufmerksamkeit. Büchtler prahlte, über rote Ampeln gerauscht zu sein, und Geschwindigkeitsrekorde, auf seinem täglichem Weg zwischen der Wohnung, nahe Berchtesgaden, und dem Haus, oben am Berg, aufgestellt zu haben.

Angeberei, lässiges Gehabe, aber vor allem die brutalen Faustschläge in den Magen, oder ins Gesicht, durch Büchtler und Michael, regten mich auf. Mein Desinteresse an Büchtlers Prahlerei und meine Ablehnung aber provozierten Büchtler und machten ihn wütend.

Der bevorstehende Herbst kündigte sich mit dem Tageslicht an. Abends wurde es früher dunkel. Mit meinen Hausaufgaben, für die Nachhilfelehrerin, war ich meist gegen halb neun Uhr fertig. Draußen war es dämmrig, wie in der Ferienverschickung auf dem Gehöft an der Ostsee, nachts um halb zwölf. Vom Zimmerfenster sah ich die gegenüber liegenden Gebirgsketten. Von unten, aus dem Aufenthaltsraum, hörte ich die Kinder in Büchtlers Haus vor dem Fernsehapparat lachen. Am liebsten sahen wir die Fernsehshows mit Illia Richter, oder Rudi Carell, welche die großen musikalischen Stars der Zeit ankündigten. Das waren Sänger wie Karrell Gott, Peter Alexander, Heintje, Mirel Matieu, oder Heino. Ich hasste deren Gesang, den ich als eine Art Gesäusel empfand, das mir deshalb nicht gefiel, weil mir das erschien, wie von einem fremden Stern, auf dem das Leben ganz anders sein musste, als meines bei Büchtler auf dem Obersalzberg. Ich hatte nach den Hausaufgaben keine Lust mehr runter zu gehen und mir das anzusehen.

Stattdessen blickte ich durch das Zimmerfenster auf die, in der Dunkelheit liegenden, schwarzen Gebirgsketten. Dabei versuchte ich, in meinem Kopf, das Gelernte noch einmal durchzugehen. Die Lehrerin hatte mir eine Methode erklärt, wie ich mir das, was sie mit uns aus dem Schulstoff, für die Aufnahmeprüfung wiederholte, am besten einprägen könnte. Das wichtigste sei, dass ich ihr genau zuhörte und Dinge die ich las, sofort darauf überprüfte, ob ich sie verstand. Danach sollte ich diese Dinge im Kopf immer wieder wiederholen, um sie mir einzuprägen. Das könnte ich jederzeit machen. Das Wiederholen konnte abends im Bett geschehen, es konnte während des Küchendienstes, im Haus von Büchtler geschehen, es konnte auf dem Fußweg, von Büchtler zu ihrem Haus geschehen, es konnte immer dann geschehen, wenn ich nicht gerade mit jemand sprach oder meine Aufmerksamkeit auf erneutes Lernen gerichtet war. Die Methode übte ich jeden Abend, nach den Hausaufgaben, während ich zum Fenster hinaus sah. Danach putzte ich mir die Zähne und ging ins Bett.

Hartwig kam meist gegen viertel vor zehn. Er dachte, dass ich schon schliefe. Das tat ich aber nie. Ich wiederholte im Kopf etwas, von den Dingen, die ich bei der Lehrerin gelernt hatte. Dabei hörte ich Hartwig, wie er sich auszog, ins Bad zum Zähne putzen ging, zurück kam, das Licht ausmachte und ins Bett ging.

Morgens standen wir um acht Uhr auf. Noch bevor die Kinder sich, nach dem Frühstück, um halb zehn im Hof sammelten, um zusammen in Richtung Freibad zu gehen, verließ ich gegen viertel nach neun allein das Haus, um mich auf den Weg nach Berchtesgaden zur Lehrerin zu machen. Morgens am Frühstückstisch hatte Michael eine neue Bemerkung auf Lager. Einmal war es das „Lern-KZ“, in das ich heute unterwegs sei, dann war ich das „Streber-Kalb auf dem Weg zur Streber-Kuh“ oder ich war der „Musterschüler der einem raus geschmissenen Leerkörper hinterherrannte“. Mir war das alles egal. Ich spielte mein Spiel, gab mich beleidigt und verärgert. Solange Michael nicht drohte und zuschlug, interessierte mich selbst das fiese Lachen der Kinder am Tisch immer weniger. Michael konnte mich in dieser Zeit ohnehin nur morgens und abends provozieren. Den Rest des Tages sahen wir uns nicht.

Ich war entschlossen die Aufnahmeprüfung zu bestehen. Ich hatte nicht das Ziel, einen besseren Schulabschluss zu bekommen. Soweit dachte ich nicht. Einziger Grund war, dass ich nicht weiter auf die Bacheischule in Berchtesgaden gehen wollte, welche die meisten Kinder aus Büchtlers Haus besuchten, so auch Michael.

Die Lehrerin hatte in der Schule dafür gesorgt, dass sich die Situation in meiner Klasse ganz schnell verbessert hatte. Kinder, in deren Klasse, unterhielten sich viel mehr miteinander. Das lernten wir in den lauten Gesprächsrunden vor den Aufsätzen. Weil wir gelernt hatten, zu sprechen und zu diskutieren, prügelten wir uns viel weniger. Seitdem die Lehrerin, wegen ihrer abweichenden Methoden, von den Eltern und vom Direktor aus der Schule vertrieben worden war, hatten die Kinder begonnen, sich in der Schulpause wieder mehr zu prügeln und weniger zu reden.

Mit unserem neuen Klassenlehrer war der Direktor der Bacheischule sehr zufrieden. Die Eltern beschwerten sich nicht mehr darüber, dass die Kinder immer so laut miteinander diskutierten, anstatt zu lernen. Tatsächlich war es in meiner Schulklasse, ohne die Lehrerin, viel leiser geworden. Wir diskutierten nicht mehr in kleinen Gruppen, sondern ein Kind sprach nur, wenn es sich gemeldet hatte und vom Lehrer aufgefordert worden war, zu antworten. Das erinnerte mich an den Feriengroßvater.

Für mich war es in der Bacheischule immer schwieriger geworden. Zwar hatte ich von der Lehrerin gelernt, mit meinem eigenen Denken zu beginnen, doch das nützte mir bei dem neuen Lehrer nicht mehr viel, denn ich war in der Schulklasse ein Außenseiter, was der Lehrer mich spüren ließ. Ich konzentrierte mich darauf, möglichst wenig aufzufallen, um so wenig wie möglich zum Gespött der Mitschüler in der Klasse zu werden.

Bessere Noten, die ich wegen meinem eigenen Denken und Mitarbeiten zuvor erreicht hatte, zogen, beim neuen Lehrer, Neid und Spott der Mitschüler auf mich. In den Pausen wurden Hass und Aggression gegen mich frei. Im Vorbeigehen erhielt ich von Mitschülern, die bei der Lehrerin noch mit mir diskutiert hatten, plötzlich gemeine Kopfnüsse. Mir wurden Türen vor der Nase zu geschlagen. Dass ich bei der Lehrerin, wegen meinem Mitdenken bessere Noten gehabt hatte, als die meisten anderen, machte mich nun zum Außenseiter. Bei dem neuen Lehrer war ich wieder zu dem dummen Jungen geworden. Ich konnte mich kaum mehr auf den Unterricht konzentrieren, weil ich damit beschäftigt war, keinen Anlass zu geben mir in der Pause Schläge, Tritte oder Kopfnüsse zu verpassen.

In der Klasse sprach keiner mehr mit mir. In der Pause gingen mir die Kinder aus dem Weg. Im Schulbus, vom Obersalzberg hinunter in die Bacheischule nach Berchtesgaden, stand ich allein. Keiner bot mir einen freien Platz neben sich an. Ich stieg immer als letzter ein. Ich spürte, dass ich von niemandem erwünscht war. Hass und Hetze von Mitschülern nahmen zu, sie waren zur meiner Normalität geworden. Doch selbst daran gewöhnte ich mich. Ich ging allen aus dem Weg. Am Ende des Schuljahres gab es niemanden mehr, der mit mir sprach: Ich wurde von niemandem angesprochen. Ich sprach niemanden an.

Einzig die Lehrerin blieb mir. Sie hatte mir gesagt, ich sollte die Prüfung machen. Es gäbe eine neue Schule, ganz oben auf dem Obersalzberg, weit höher als Büchtlers Haus lag. Dorthin könnte ich es schaffen. Es sei eine Realschule. Dort gäbe es Aufnahmeprüfungen für Hauptschüler. Ich könnte es schaffen, wenn ich noch viel lernte. Dass könnte ich in zwei Wochen meiner Ferien, in denen die Lehrerin mich und drei andere Kinder, aus dem Nachbarort, unterrichtete.

Sie gab jedem Kind ein Buch. Das hatte sie speziell für unsere Prüfungsvorbereitung zusammengestellt. Sie hatte es bei einem Buchbinder binden lassen. Es war ein dünnes Buch mit insgesamt fünfzig Seiten. Sie sagte, dass wir jeden Tag fünf Seiten durcharbeiten würden. Der gesamte Stoff in diesem Buch sei es, den wir zusammen mit unserem Wissen, aus der letzten Hauptschulklasse, brauchten, um gut vorbereitet in die Prüfung zu gehen.

Als ich zur Lehrerin in den Nachhilfeunterricht kam, hatte ich meine einzige Jeans angezogen. Ich wusste, dass noch drei andere Kinder zu ihr kommen würden. Deshalb hatte ich die Jeans im Urlaub, auf der Ferienverschickung, nur an einem einzigen Tag getragen. Sie sollte nicht schmutzig werden. Ich wollte nicht, dass sie bei Büchtler gewaschen werden musste und in einem riesigen Wäscheberg verschwand. Ich wollte nicht in der alten Kordhose, wie in der Schule, auch im Nachhilfeunterricht, bei der Lehrerin, vor den drei anderen Kindern erscheinen.

Kleidung für Kinder im Haus von Büchtler kam von Spenden, die Erwachsene hin und wieder vorbeigebracht hatten. Da waren niemals Jeans dabei. Denn Jeans wurden so lange getragen, bis sie für eine Spende nicht weiter geeignet waren. Fast alle Kinder in der Schulklasse trugen Jeans. Ich trug eine grüne Kordhose, denn ich hatte keine Jeans.

Zur Eröffnung eines neuen, großen Ladens fand eine Eröffnungsfeier mit Tombola und Losverkauf statt. Nach dem Schwimmen und der Taschengeldausgabe im Hallenbad, war ich am Samstag dort hin gelaufen. Das war Wochen vor den Sommerferien. Mein Taschengeld hatte ich an Michael bezahlt. Die meisten Kinder liefen in den Ort hinauf, um dort ihr Taschengeld zu verjubeln. Zusammen mit zwei weiteren Burschen, hatte ich mich, entlang der Berchtesgadener Arche, vom Hallenbad in Richtung zur Bergstraße, die zu Büchtlers Haus auf den Obersalzberg führte, gemacht.

Auf diesem Weg kamen wir an dem großen neuen Kaufhaus vorbei. Wir kannten das neue Einkaufszentrum schon, wussten aber nichts von der Eröffnungsfeier. Draußen hingen bunte Luftballons und kleine Fähnchen. Von drinnen tönte solche Musik, die wir Kinder damals gerne im Radio hörten oder begeistert im Fernsehen verfolgten.

Wir drei betraten neugierig den großen Laden. Am Eingang lief ein Verkäufer mit einem Eimer voller Losen und einem Mikrophon hin und her. Er pries tolle Gewinne seiner Lose an. Alles war in einem großen Regal aufgebaut. Darunter waren so tolle Preise wie ein Fahrrad und ein kleiner Fernsehapparat.

Wir beobachteten eine Zeit lang das Treiben rund um den Losverkäufer. Ein Los kostete eine Mark. Das war wahnsinnig teuer. Auch wenn wir das Geld gehabt hätten, das hätten wir nicht ausgegeben. Wir begannen die weggeworfenen Lose vom Fußboden aufzusammeln, um zu überprüfen, ob das wirklich alles Nieten waren. Es waren Nieten. Trotzdem gab ich die Hoffnung nicht auf. Wir sammelten alle Lose auf, die dort hingeworfen wurden und wir warfen die Nieten alle in einen Mülleimer. Vom Losverkäufer und von einigen Gästen wurden wir dabei kritisch beäugt. Die Gäste saßen an den Tischen rund um das Rad, welches der Verkäufer immer wieder an stieß und Werbesprüche in ein dickes Mikrophon plärrte.

Als Kind, aus dem Haus von Büchtler am Obersalzberg, war ich in Berchtesgaden oft kritischen Blicken ausgesetzt. Das hatte Gründe. Kinder aus dem Kinderheim am Obersalzberg fielen auf. Beim Aufsammeln der Lose vom Fußboden, fielen wir auf, denn außer uns tat das keiner. Uns war egal, dass wir in der Öffentlichkeit taten, was niemand tat, denn darüber machten wir uns gar keine Gedanken. Die Achtung derentwegen man sich in der Öffentlichkeit nicht traute, den Dreck anderer vom Fußboden aufzuheben, hatten wir nicht zu verlieren. Wir besaßen sie gar nicht. Kinder, aus Büchtlers Haus am Obersalzberg, wurden von Erwachsenen in Berchtesgaden, damals oft nicht geachtet. Das hieß nicht, dass man uns nicht beachtete.

Mir war es nicht peinlich, wenn ich von Klassenkameraden, beim Lose aufsammeln vom Fußboden, beobachtet wurde. Ich dachte darüber gar nicht nach, denn ich wusste, dass ich in deren Gemeinschaft keinen Eingang finden würden, weil ich im Heim am Obersalzberg bei Büchtler lebte. Lose aufsammeln schadete mir nicht.

An einem Tisch beobachtete ich einen Mann beim Kaffee trinken. Ein Dackel wühlte in der Tasche des Mannes, die am Stuhlbein lehnte. Der Dackel war dunkelbraun und hatte einen pfiffigen Schwanz, der lustig hin und her wedelte. Der Mann setzte dem ein Ende, indem er die Tasche mit dem Reißverschluss zu zog. Dabei fiel etwas kleines heraus, was der Mann nicht merkte, aber der Hund. Der kaute eine Zeit lang darauf herum und ließ es schließlich, wenige Meter vom Tisch entfernt, zu Boden fallen. Meine Augen folgten weiter dem Dackel, der sich mit seinen kleinen Zähnchen nun dem Hosenbein zu wandte, bis der Mann den Hund weg schob. Jetzt wanderten meine Augen vom Dackel weg zum Stuhlbein und von da zurück auf den Fußboden beim Tisch.

Es war ein Los! Jetzt sah ich wieder die Schnauze des Dackels. Er schnupperte am Los, stupste es, so dass es an das Tischbein rollte, wo es liegen blieb. Der Hund interessierte sich nun aber nicht mehr dafür, denn er hatte am Nachbartisch einen Kumpel entdeckt. Auch ein Dackel. Die beiden kannten sich offenbar, denn sie neckten sich und kläfften herum. Ich ließ das Tischbein und das Los nicht mehr aus den Augen. Sekunden später erhob sich der Mann. Er stieg mit dem rechten Schuh auf das Los. Zusammen mit zwei kläffenden Dackeln, gingen er und ein anderer Mann, am Losverkäufer vorbei, um den Laden zu verlassen.

Das war meine Chance. Ich ging zu dem Tisch und setzte mich. Dann ließ ich meine Jacke zu Boden fallen, bückte mich nach ihr und nahm das Los zusammen mit meiner Jacke auf. Ich erhob mich, ging langsam weg von dem Tisch. Mein Herz raste, mein Atem war kurz und schnell. Erst hinter der Toilettentür öffnete ich das Los.

Ich las: Gewinn Nr. 33! Ich spürte meine Hände zittern, ließ das Los fallen, beinahe wäre es in die Kloschüssel gefallen. Es war wie Weihnachten und Geburtstag zusammen. Nein es war noch mehr!

Bei Büchtler gab es an Weihnachten oder Geburtstag immer eine festgelegte Summe Geld vom Jugendamt. Was davon gekauft wurde, wussten wir schon bevor wir das Geschenk auspacken durften. In dem neuen Kaufhaus hatte ich etwas gewonnen, wovon ich nicht wusste, was es würde! Ich blieb länger in der Toilette als eigentlich nötig. Ich wartete. Es dauerte Minuten bis ich ruhiger wurde und wieder normal atmen konnte. Erst mit der Ruhe begann ich nachzudenken.

Ich brauchte Zeugen. Kinder aus Büchtlers Haus mussten bezeugen, dass der Gewinn ein wirklicher Gewinn war. Es musste klar sein, dass ich den Gewinn nicht gestohlen hatte. Denn das würde es sein, was Büchtler dachte. Ein Diebstahl hätte mir viel Prügel eingebracht.

Ich hoffte, dass es ein Fahrrad war, das ich gewonnen hatte. Mit einem schönen neuen Fahrrad täglich vom Obersalzberg hinunter in den Ort zu fahren, das wäre toll gewesen. Oder der kleine Fernseher! Das wäre natürlich ein traumhafter Gewinn gewesen. Ich hätte mir und Hartwig einen Fernseher ins Zimmer gestellt. So etwas hatte im Haus von Büchtler kein Kind gehabt. Es war wichtig meine beiden Zeugen für das gefundene Los nicht aus den Augen zu verlieren.

Kinder die neu bei Büchtler eingezogen waren, wurden sehr schnell von anderen Kindern bestohlen. Musikkassetten wechselten den Besitzer. Dabei stellte sich jedes Kind unterschiedlich geschickt oder dumm an. Musikkassetten waren eigentlich ungeeignet für einen Diebstahl. Trotzdem wurden sie immer wieder gestohlen. Der Nachweis darüber, dass eine Kassette einem anderen Kind gehörte, war einfach. Schwieriger war das bei Batterien für den Kassettenrecorder, Geld oder Süßigkeiten.

Manche Kinder stahlen samstags nach dem wöchentlichen Hallenbadbesuch in den Läden in Berchtesgaden. Das ging immer schief. Entweder wurden sie gleich im Laden erwischt, oder es fiel im Haus von Büchtler auf. Zu teuer als vom Taschengeld bezahlbar. Büchtler verprügelte solche Kinder besonders heftig. Danach regelte er den Diebstahl. Das Kind, das gestohlen hatte, bekam so lange kein Taschengeld bis die Ware abbezahlt war. War die Ware sehr teuer, wurden auch Geburtstags- und Weihnachtsgeld einbehalten.

Ich verließ die Toilette, ging zurück zum Losverkäufer. Dort traf ich auf meine beiden Begleiter, die weiterhin Lose vom Boden aufsammelten. Auch ich sammelte vor den Augen meiner Begleiter einige Lose vom Fußboden auf. Dann ging ich zu einem der beiden und zeigte ihm begeistert mein Los. Der andere kam sofort dazu. Meine Anspannung, wegen des zu erwartenden Gewinns, übertrug sich sogleich auf die beiden.

Zu dritt bedrängten wir nun den Verkäufer. Der betrachtete uns misstrauisch. Er glaubte nicht daran, dass wir ein einziges Los finden würden, das keine Niete war. Kritisch überprüfte er mein Los. Er sagte nichts, sondern nickte nur und holte einen Kollegen herbei. Der nickte ebenfalls. Er bedeutete mir, dass er meinen Gewinn holen würde. Er verschwand hinter einer weißen Tür. Nur Sekunden später erschien er wieder. Er fragte mich welche Hosengröße ich hatte.

Ich hatte mit dem Los eine Jeans gewonnen. Davon war ich überhaupt nicht begeistert. Meine Hosengröße wusste ich nicht. Der Mann musterte mich kurz und sagte: „Alles klar, komme gleich zurück.“ Er kam mit drei Jeans zurück, die ich in einer Umkleidekabine anprobierte. Eine davon passte mir. Das Fahrrad hätte mir besser gefallen.

9. Erste Prüfung

Am ersten Tag bei der Lehrerin fand ich in meiner Hosentasche ein zerknülltes Papier. Ich zog es kurz heraus, erkannte aber nicht was das war. Ich steckte es schnell zurück in die Hosentasche. Ich stopfte mein Taschentuch, das ich in der anderen Hosentasche gefunden hatte, in die Tasche mit dem zerknüllten Papier. Taschentuch und das zerknüllte Papier stammten aus der Ferienverschickung. Ich trug die Jeans dort ein einziges Mal an dem Tag, als ich mit Robert, Micha und Martin auf dem Speicher gespielt hatte.

Abends, im Zimmer bei Büchtler am Obersalzberg, begann ich das Buch von der Lehrerin mit schönem dunkelblauem Packpapier einzubinden. Das Papier hatte mir die Lehrerin mitgegeben. Sie sagte ihren Nachhilfekindern, dass wir das Buch damit einbinden sollten, denn wir würden es noch oft brauchen. Vor allem bräuchten wir das Buch auch dann noch, wenn wir die Prüfung bestünden. Denn in den folgenden Schuljahren fänden wir immer wieder Stoff darin, der uns weiterhelfen könnte.

Ich saß in Hartwigs und meinem Zimmer und schnitt das Packpapier zurecht. Ich faltete es sauber um das Buch. Absichtlich schnitt ich das Papier etwas größer, denn ich wusste, dass eine Korrektur eines zu großen Papiers möglich war, während ein zu klein geschnittenes endgültig ruiniert war. Es juckte mich in der Nase so sehr, dass ich mein Taschentuch aus meiner Hosentasche zog. An dem Taschentuch hing das zerknüllte Stück Papier. Es fiel auf das halb eingepackte blaue Buch. Noch Nachmittags hatte ich mir vorgenommen abends zu sehen worum es sich bei dem zerknüllten Fetzen handelte und hatte es nun doch vergessen. Ich nahm das zerknüllte Stück und strich mit der Hand auf der Tischplatte darüber um es zu glätten.

Das Papier war grau und alt. Es war sehr leicht und dünn. Es war kleiner als mein kleinstes Schulheft. Es war sehr seltsam beschriftet. Eine geschwungene Handschrift, aber doch irgendwie krakelig. Die Schrift konnte ich unmöglich lesen, sie war mir fremd. Vielleicht war das ein ausländisches Papier mit ausländischer Schrift.

Ich betastete das Papier. Es schien eigenartig verfärbt. Mein weißes Schreib- und Rechenpapier in den Schulheften hatte nichts mit diesem seltsamen, beinahe grauen Fetzen zu tun. Ich hob das Stück gegen das abendliche Fensterlicht. Da erkannte ich auf der Rückseite eine Beschriftung. Sie war kurz. Ungefähr in der Mitte waren das drei kurze, gut erkennbare Zeilen, für mich aber nicht lesbar. Ich drehte das Papierstück um. Neben vielen Knicken sah ich da nichts außer der fremden Schrift mit der es vollständig beschrieben war.

Ich betastete das Papier erneut mit beiden Händen. Ich hielt es weiterhin gegen das Fensterlicht, stütze dabei beide Ellenbogen auf Hartwigs und meinen Arbeitstisch. Ich raschelte und tastete an dem Papier herum. Mit beiden Daumen und Zeigefingern rieb ich daran, als hätte ich einen wertvollen Tausendmarkschein in Händen. Das Papier verleitete mich zu dieser Abtasterei. Erst nach Minuten des Tastens und Reibens zwischen meinen Fingern merkte ich, dass sich zwei Seiten des sehr dünnen Papiers gegeneinander bewegten. Die Seite mit den drei kurzen Zeilen verschob sich gegen die Rückseite. Das machte ich ein paar Mal und hörte dabei auf das leise Rascheln. Erst nach fünf, sechs Mal Rascheln begriff ich, was das bedeutete. Dieses dünne, leichte kleine Blättchen war ein doppeltes Papier. Ich tastete, raschelte und wendete es minutenlang im Licht vor dem Fenster.

Ich legte das Papier auf den Tisch und strich es wieder glatt. Ich hielt es nochmal gegen das Fenster und betrachtete es genau. So erkannte ich, dass es wirklich ein doppeltes Papier war. An einem der beiden längeren Ränder war ein feiner Falz. Ich hielt es jetzt gegen das Licht der Zimmerlampe. Endlich wurde mir klar, was ich hier hatte. Es war ein Brief der in sich selbst noch zwei Seiten hatte. Die drei Zeilen auf der Rückseite mussten eine Adresse sein. Das Papier war hauchdünn, die Schrift darauf war verblasst, aber noch sehr gut zu erkennen.

Es war ein uralter Brief, den ich vom Dachboden beim Feriengroßvater in meine Hosentasche gestopft hatte. Erst jetzt hatte ich das Papier wieder gefunden. Der Brief war für mich nicht zu entziffern. Ich nahm mein Taschenmesser aus meinem Schrank. Erst Tags zuvor hatte ich dessen Klinge an einem handgroßen Stein geschärft, den ich aus dem Wald am Obersalzberg mitgenommen und in meinem Schrank auf dem Fußboden deponiert hatte. Mit der scharfen Klinge ritzte ich den Falz des Briefes langsam und sehr vorsichtig auf. Die beiden Innenseiten des kleinen, leichten Papiers waren vollständig mit der gleichen Schrift beschrieben, wie eine Außenseite.

Vielleicht war es doch eine deutsche Handschrift? Ich meinte ein Zeichen in der Schrift aus einem Schulbuch zu kennen. Ich hatte einmal in einem Geschichtsbuch eine ähnliche Abbildung gesehen. Ein älterer Junge hatte beim Hausaufgabenmachen, Nachmittags unten im Speisesaal von Büchtler, ein Buch mit schwarzweiß Fotos vom Krieg. Darin war ein Bild mit einer ähnlichen Schrift.

Ich faltete den zerknitterten Brief wieder zusammen. Dann faltete ich ihn noch mal vorsichtig auseinander. Ich hatte beim Falten geglaubt, etwas in der Schrift zu erkennen. Ich wollte noch einmal genauer darauf schauen. Es waren die ersten Worte des Briefs. Sie waren vom Rest leicht abgesetzt. War das eine Überschrift? Was ich sah wirkte wie ein M, ein A? Marta oder Mara. Daneben eine Zahl. Ein Datum? Die Zahl war es. Sie hatte ich erkannt. Es war eine Zahl. Wenn es ein Brief war, war es ein Datum. Zehn, dreizehn, fünf, Vier. Vielleicht war das eine Jahreszahl? Die Dreizehn vielleicht der Tag, keine Ahnung.

Der Feriengroßvater hatte in der Kiste im Schrank auf dem Dachboden alte Schreiben gesammelt. Eines davon hatte ich mitgenommen. Ich hatte ihm tatsächlich etwas gestohlen. Ein uraltes Schreiben, vielleicht einen Brief, vielleicht von einem dreizehnten, vielleicht von einem fünften, vielleicht von vierzig, vielleicht auch von fünfundvierzig. Jedenfalls mit einigen Zahlen, die ein Datum sein könnten.

Der Hausarrest beim Feriengroßvater war vollkommen berechtigt gewesen. Die Annahme des Feriengroßvaters, dass ich den Dachboden betreten hatte, um von dort etwas zu stehlen, hatte sich bewahrheitet. Ich hatte ein uraltes Schreiben einfach eingesteckt. Erst nach Rückkehr am Obersalzberg in Büchtlers Haus bemerkte ich was ich gestohlen hatte. Ich hatte etwas gestohlen, wofür ich mich beinahe eine ganze Woche lang nicht mehr interessierte. Mein Kopf war voll von neu gelerntem. Die Lehrerin hatte dafür gesorgt. Der Ferienhof und der Feriengroßvater waren weit entfernt. Seither war aber erst eine Woche vergangen. Der Hausarrest war erst eine Woche her. Mir kam das vor wie viele Jahre! Jetzt war er wieder da.

Es war keineswegs nur ein Papierfetzen in meiner Hosentasche. Es war nichts belangloses. Was ich da hinein gestopft hatte, war gestohlen. Das war nicht belanglos. Meine Tat war deshalb nicht abgeschlossen, auch wenn die Strafe verbüßt war. Nichts entlastete mich. Ich hatte mir angeeignet, was mir nicht gehörte. Auf dem Dachboden steckte ich das Schreiben sofort ein, um so Spuren zu verwischen. In einer alten Kiste, auch wenn sie nur voll von Schreiben war, hatte ich nichts zu suchen. Das Schreiben hatte ich deshalb beinahe reflexartig in meine Hosentasche gestopft. Ich hatte Routine darin Spuren zu vernichten. Ich neigte zu Diebstahl und vielleicht noch mehr, weil ich aus dem Haus von Büchtler am Obersalzberg stammte. Der Feriengroßvater hatte also Recht. Ich war bestraft worden, weil ich bestraft werden musste. Es gab einen Grund.

Das zerknitterte Schreiben lag vor mir. Daneben das Büchlein der Lehrerin, frisch eingebunden in dunkelblaues Packpapier. Der Brief bewies, was der Feriengroßvater wusste. Ich log nicht nur, ich stahl auch. Der Beweis lag vor mir auf dem Tisch. Er musste verschwinden. Der Feriengroßvater könnte herausgefunden haben, dass ich auf dem Dachboden die Kiste mit seinen alten Schreiben geöffnet hatte. Es wäre möglich, dass er nach meiner Abreise inzwischen festgestellt hatte, dass dort genau dieses Schreiben fehlte. Die dicke Staubschicht könnte mich verraten. Vielleicht hatte genau dieses alte Schreiben, wegen dessen Alter, eine große Bedeutung für den Feriengroßvater. Dass er solche alten Schreiben so lange Zeit aufhob, bis auf ihnen eine dicke Staubschicht entstand, musste etwas bedeuten. Die vielen Papiere und Schreiben in der Kiste waren wichtig. Warum sonst wurden sie so lange Zeit aufgehoben?

Früher oder später könnte der Feriengroßvater bei Büchtler wegen des Schreibens anrufen. Ich hatte ihn bestohlen. Der Feriengroßvater könnte das erst Tage, Wochen, Monate oder Jahre nach meiner Abreise von seinem Hof entdecken. Der Staub auf dem Kistendeckel, der Staub in der Kiste würde es deutlich zeigen. Hier war einer am Werk gewesen. Der hatte den Deckel geöffnet und dabei die dicke Staubschicht durcheinander gebracht. Überall auf dem schweren Holzkistendeckel würde man deutliche Spuren meiner Hände in der dicken Staubschicht sehen.

Das Schreiben musste schnell verschwinden. Für mich war klar, dass meine Tat vom Feriengroßvater auch im weit von seinem Gehöft entfernten Haus von Büchtler geahndet werden konnte. Ein Anruf von der Ostsee hätte Büchtler ausgereicht. Das würde eine Durchsuchung in meinem mit Hartwig genutzten Zimmer bringen. Ein Diebstahl in der Ferienverschickung, der Gipfel! Eindeutig beweisbar mit diesem Schreiben. Das musste vertuscht werden.

Ich öffnete das im blauen Packband eingebundene Buch. Auf der Innenseite löste ich den frischen Klebestreifen. Vorsichtig hob ich das Packpapier an. Das Schreiben schob ich zwischen Buchrücken und Packpapier. Ich faltete das blaue Papier erneut und klebte es wieder fest. Ich kontrollierte das Buch. Ich betastete es, hielt es gegen das Licht. Zufrieden stellte ich fest, dass von dem dünnen Brief im Buchrücken nichts zu erkennen war.

Es gab keine Zimmerdurchsuchung, es gab keinen Anruf vom Feriengroßvater. Auch die Ferienmutter meldete sich nicht. Das blaue Buch nahm ich täglich mit zur Lehrerin. Dort arbeiteten wir Kapitel für Kapitel durch. Ich benutzte das Buch jeden Tag bei meinen Hausaufgaben und der Vorbereitungen auf die Realschulprüfung.

Nach einer Woche bei der Lehrerin dachte ich nicht mehr an das Schreiben. Mein Kopf war voll von mathematischen Formeln und Aufsatzthemen, welche die Lehrerin als mögliche Themen für die Prüfung nannte. Ich dachte an Grammatik und Rechtschreibregeln und an englische Vokabeln, die ich abends beim Einschlafen im Bett im Kopf wiederholte. Da war kein Platz, um an das Schreiben im blauen Buchrücken zu denken.

Anfang der zweiten Woche bei der Lehrerin stand ein großer Lastwagen vor deren Haustür. Der Lastwagen wurde im Laufe des Tages mit Mobiliar aus dem Haus beladen. Alles, außer der Küche und dem großen Tisch, an dem wir mit der Lehrerin saßen und arbeiteten, verschwand im Laufe der Woche im Lastwagen. Die Lehrerin erklärte, dass sie am Wochenende vor unserem Ferienende und vor unserer Prüfung nach Norddeutschland umziehen werde. Sie hatte dort in einer privaten Schule eine neue Anstellung erhalten.

Berchtesgaden wolle sie eigentlich nicht verlassen. Sie könne aber nicht anders. Der Direktor der Bacheischule hatte ihr gesagt, dass sie dort keine Klasse mehr unterrichten werde. Ihr Unterricht unterscheide sich zu stark vom Unterricht aller anderen Lehrer. Ihr Stil passte deshalb nicht gut zusammen mit dem Stil der anderen Lehrer. Sie setzte den täglichen Unterricht mit uns zur Vorbereitung auf die Prüfung wie vereinbart bis zum Schluss fort. Die zweite Woche in ihrem Haus war aber sehr seltsam. Das Haus wirkte täglich größer. Am Freitag war es fast leer.

An den letzten zwei Ferientagen verschlechterte sich das Wetter. Es wurde kalt und es regnete viel. Der Herbst war gekommen. Der Abschied von der Lehrerin am Freitagnachmittag fiel mir sehr schwer. Ich ließ mir das aber nicht anmerken. Die Lehrerin bedauerte es sehr, dass sie nun nicht mitverfolgen konnte, ob wir unsere Prüfungen schaffen. Sie war fest davon überzeugt, dass wir die Prüfungen alle erfolgreich ablegen.

Die Prüfungen fanden an den ersten Schultagen in einem Physiksaal in der neuen Schule statt. Sie lag weit oben auf dem Obersalzberg, viel weiter oben als das Haus von Büchtler. Der Schulbus fuhr an der gleichen Bushaltestelle, Station Erika an der Bergstraße auf den Obersalzberg, von der ich Jahre lang in die Bacheischule nach unten nach Berchtesgaden gefahren war. Nun wartete ich an der Station Erika auf der anderen Straßenseite und fuhr von dort anstatt hinunter, hinauf auf den Obersalzberg.

Das Prüfungsergebnis wurde am Ende der ersten Schulwoche bekannt gegeben. Am Freitagnachmittag wurde es mir von einer Erzieherin im Haus von Büchtler mitgeteilt. Ich erhielt von der Erzieherin eine Liste auf der die Anzahl von Heften, deren Größen, und die Farben der Umschläge standen, die ich in der neuen Schule benötigte. Ich holte alles aus einem Lager neben dem Büro von Büchtler. Ich hatte es geschafft!

Von meiner alten Schulklasse verabschiedete ich mich nicht. Am Montagmorgen bestieg ich den Schulbus und fuhr nach oben. Es gab niemanden in dem Bus, der mir einen Sitzplatz anbot, aber auch niemanden, der ihn mir verwehrte. Ich setzte mich einfach. Das war neu. Die Fahrt hinauf begann. Wir alle hatten es geschafft. Die Lehrerin hatte recht behalten. Der Direktor gratulierte jedem Kind persönlich und sprach ein paar begrüßende Worte. Er brachte uns in unsere neue Schulklasse.

10. Die neue Schule

Die Schulklasse war neu zusammengewürfelt worden. Nur wenige Jugendliche in der neuen Klasse kannten sich aus früheren Schulen. Fast alle hatten wie ich eine Prüfung abgelegt um die neue Schule besuchen zu können. Vom ersten Tag an hatte ich auf der Schulbank das Gefühl einer erfolgreich gemeisterten, besonderen Anstrengung. Lehrerinnen und Lehrer vermittelten den Unterrichtsstoff anders. Was sie sagten wirkte intensiver als ich das von meinem Lehrer in der Bacheischule kannte. Nach Wochen verstand ich warum: Lehrer und Mitschüler nahmen mich ernst.

Lernen war hier genauso wenig wirklicher Spaß für mich wie auf meiner alten Schule. Aber es bedeutete etwas ganz anderes. Es ging um Zukunft und nicht darum Ärger auszuweichen. Nicht erledigte Aufgaben bedeuteten, dass ich eine Chance verpasst hatte. Als das der Direktor erklärte, verstand ich etwas ganz neues: Wenn ich eine Hausaufgabe nicht erledigte, hatte ich es verpasst etwas dazuzulernen! Das hatte ich zuvor noch nie gehört, aber es stimmte, denn ich hatte die Prüfung bestanden weil ich bei der Lehrerin neues gelernt hatte und damit eine Chance nutzte. Ich konnte die Schule nur deshalb besuchen, weil ich bereit war, neues zu lernen. Ich hatte die Chance was neues zu erreichen! Ich wollte nicht zurück in die Bacheischule, wo Michael Kopfnüsse verteilte. Ich wollte die neue Schule schaffen.

Die Schule war schwer. Sie vermittelte Dinge, deren Gebrauch in meinem Alltag weit entfernt schienen. Vieles paukte ich stur in mich hinein, ohne es richtig zu verstehen oder den Funken einer Idee zu haben, für welches praktische Gebiet das Wissen gedacht war. Trotzdem blieb es mein klares Ziel die Schule zu schaffen. Diese Schule gut abzuschließen war für mich die Eintrittskarte in meine Zukunft.

Die Lehrer forderten mich heraus. Wenn Aufsätze geschrieben wurden oder Themen bearbeitet wurden, merkten sie, dass ich Hintergrund und Zielrichtung schnell begriff. Im Unterricht kam ich deshalb mehr und mehr zu Wort. Es gelang mir sogar nicht der verhasste Streber zu sein. Bald stand ich gegenüber Klassenkameraden als einer da, der sein gelerntes Wissen und die Ergebnisse aus begriffenen Zusammenhängen gerne weitergab.

Auf der Schulbusfahrt nach oben auf den Obersalzberg schrieben sie aus meinen Hausaufgaben ab. Manche schätzten mich sehr und andere weniger. Es gab keine gehässigen Bemerkungen und Kopfnüsse auf dem Schulhof. Mit der Zeit lernte ich immer schneller. Zu Hause bei Büchtler musste ich immer weniger wiederholen, denn ich wiederholte und erklärte ständig im Schulbus gegenüber den fragenden Mitschülern.

Die Lehrer erkannten, dass etwas in mir steckte, sie bemühten sich darum es herauszuholen. Der Schuldirektor unterrichtete mich in den Fächern Deutsch, Religion und Geschichte. Er bemühte sich besonders stark und anhaltend. Ich spürte, dass er mich und die anderen Schüler ernst nahm. Das funktionierte indem er einfach zuhörte. Ich merkte, dass er von uns etwas hören wollte. Meine Beteiligung am Geschehen in der Schule und im Unterricht nahm zu. Ich meldete mich, fand Gehör und hatte das Gefühl, mehr und mehr zu wissen.

Mein Wissen war an vielen Stellen viel geringer, als das von manchem Mitschüler, denn ich hatte zuvor in der Bacheischule vieles nicht gelernt. Meine Stärke lag aber darin, schnell zu erkennen, worauf ein Lehrer hinaus wollte. Das hatte ich im Haus von Büchtler gelernt. Dort durchschaute ich worum es ging. Ich wusste, welche Absichten verfolgt wurden und fand Wege, dessen Schlägen und Anfeindungen aus dem Weg zu gehen. Das machte ich mir an der neuen Schule zu nutze.

In den Unterrichtsstunden versuchte der Direktor mit Gespräch und Diskussion die Themen zu bearbeiten. Den Mitschülern war die Methode neu. Ich erinnerte mich an die Lehrerin. Das Reden fiel mir zunehmend leichter. Mehr und mehr Mitschüler beteiligten sich. Dadurch wurden meine Aufsätze immer besser. Themen, über die zuvor in der Klasse mit dem Direktor diskutiert wurde, konnte ich besser behalten und im Aufsatz argumentieren. Der Direktor besprach die Themen ernsthaft mit uns. Er fand ständig Beispiele aus unserem Alltag. Er wollte wissen was wir dachten.

Der Schulunterricht hatte wenig mit meinem Alltag bei Büchtler zu tun. In der Schule spielte eine anderen Welt. Die neue Schule blieb für mich wie eine Schublade, die ich morgens öffnete und Nachmittags wieder schloss. Mit den Hausaufgaben flackerten Themen aus der Schule kurz in mein Leben am Obersalzberg ins Haus von Büchtler. Sie spielten dort aber keine größere Rolle.

Ich durfte meine Hausaufgaben an dem kleinen Tisch in Hartwigs und meinem Zimmer erledigen. Das war ein Privileg. Ich saß nicht mehr in dem lauten Hausaufgabenraum mit allen anderen Kindern. Am Ende der täglichen Hausaufgabenzeit ging ich in das Hausaufgabenzimmer und ließ meine Arbeiten dort von einer Erzieherin kontrollieren. Dieses Privileg hatte ich, weil ich eine andere Schule besuchte. Auf meiner Schule musste ich mehr leisten, deshalb wurde mir für die Hausaufgaben mehr Ruhe zugestanden, deshalb erhielt ich eine Sonderbehandlung. Das brachte mir im Haus von Büchtler keine neuen Freunde.
Mit meiner neuen Rolle in in der neuen Schule hatte für mich eine neue Zeitrechnung begonnen. Meine Zukunft trat in meinen Blick, sie schien nicht aussichtslos zu sein.

11. Das Mädchen

Die Zwölfjährige trug ein wunderschönes helles Sommerkleid. Die Tante hatte es ihr aus luftig leichten Stoffresten genäht. Das Mädchen wirkte darin wie eine Prinzessin im Sommerwind. Sie hüpfte auf den Fußabstreifer, rannte über die Türschwelle, während der warme Sommerwind ihr so in das Kleid blies, dass sie aussah wie ein großer Luftballon, der über die Türschwelle des Gehöftes getragen wurde.

„Tante, Tante! Gibt es heute wieder so leckere Klöpse und als Nachtisch Birnenkompott so wie gestern?“
Das Mädchen warf sich auf den Stuhl vor dem riesigen Küchentisch, so dass der laut auf dem harten Steinboden schabend einige Zentimeter nach hinten rutschte, dabei ein fürchterlich kratzendes Geräusch von sich gab, wie die Kreide an der Tafel, weshalb die Tante einen bösen Blick zu dem lachenden Mädchen warf.

„Heute gibt es Kartoffelpuffer mit Apfelkompott aus der frischen Ernte! Kannst du mir bitte aus der Speisekammer ein kleines Einwegglas Apfelmus holen?“
„Lecke, lecker!“, rief das Mädchen, sprang vom Stuhl der laut kratzend vom Tisch abrückte. Sie stürmte mit fliehendem, wehendem Kleid um den Tisch herum, rannte in die auf nördlicher Seite der großen Küche liegende Speisekammer, wo sie abrupt vor einem decken hohen Regal stoppte. Da reihten sich hunderte von Einweckgläsern.

Die Gartenernte aus dem Vorjahr hatte die Tante mit Hilfe des Mädchens den ganzen Sommer über, bis tief in den Herbst hinein, eingekocht. Alle Gläser waren mit handgeschriebenen Etiketten versehen. Die waren im Jahr zuvor vorsichtig in Wasser gelöst worden. Sie wurden auf einem Handtuch an der Fensterbank getrocknet, um Tags darauf in der rechten Schublade des Küchenbuffets zu verschwinden. Dort warteten sie auf ihre erneute Verwendung.

Die Tante suchte für jedes neu eingemachte Glas aus dem Stapel in der Schublade das passende Etikett. Das wurde dünn mit Zuckerwasser befeuchtet und an das neue Glas geklebt. Klebstoff gab es nur für viel Geld und war für diesen Zweck auch nicht notwendig. Denn der Zuckerkleber schmeckte dem Mädchen wunderbar. Sie half besonders gerne beim Kleben. Ihre feuchte Zunge war ein süßer Befeuchter. Jedes Etikett wurde von ihr säuberlich wie eine Briefmarke abgeschleckt. Mit feinem Zucker bestreut, war es eine Aufgabe, die dem Mädchen ein genießendes Lachen in ihr rundes Gesicht zauberte.

Sie half der Tante täglich beim Kochen in der großen Küche. Sie lernte die Tante bei allen anfallenden Aufgaben zu unterstützen. Besonders lieb aber war es ihr geworden, bei Arbeiten zu helfen, die anschließend eine süße Belohnung bereithielten. Das Einkochen war immer süß. Selbst Gemüse aus dem Garten, Salate, Gurken und alles andere wurde beim Einkochen zum leckeren süßen Vergnügen, wegen der zu klebenden Etiketten.

Das Mädchen lernte auf dem Hof von Tante und Onkel alles was für die Haushaltsführung notwendig war. Nach den täglichen Hausaufgaben am Küchentisch hielt die Tante eine Aufgabe bereit, für die sie die Hilfe des Mädchens benötigte. Jeden Tag ging es um das Vorkochen und Vorbereiten des Abendessens zu dem der Onkel etwas deftiges erwartete, weil er in seine tägliche Arbeit immer nur eine Dose mit zwei kleinen Broten, einer Karotte und einem Apfel mitnahm.

Das Putzen der Böden, der Waschbecken, des Badezimmers und der Toiletten lernte das Mädchen. Sie wusste wie die Wäsche in dem Waschkessel eingeweicht wurde und wie das im Feuer unter dem Kessel erhitzte Wasser möglichst gut für die unterschiedlichen Wäschegänge genutzt wurde. Sie lernte sogar den Ofen im Winter ein zu heizen und das vom Onkel klein geschlagene Holz im Schuppen noch kleiner zu spalten.

Die Tante brachte das Mädchen über die Jahre dazu, sich für die Haushaltsführung mit viel Bereitschaft und Spaß zu interessieren. Später wurde das Kochen an festgelegten Abenden zur alleinigen Aufgabe des Mädchens. Sie briet die Kartoffeln in der Pfanne, kochte die Suppe, dünstete das Gemüse und lernte von der Tante einen Braten zu Festtagen zuzubereiten. Der Ekel vor dem Rupfen der im Stall über einem Eimer ausgebluteten Hühner und Gänse war bald vorbei. Die Tante hatte eine Art damit umzugehen, die normal war wie das Sitzen am Küchentisch vor einem großen Topf zu pellender Kartoffeln. Das Mädchen lernte punktgenau einen dampfenden Wildbraten mit Kraut, Beilagen und Soße auf den Tisch zu stellen, so dass der Onkel sich abends nach der schweren Arbeit zufrieden am Esstisch auf seinem Stuhl zurück lehnte.

12. Wohnen bei der Ferienmutter

In dem Augenblick, als ich unten auf der schmalen Straße den schweren Mercedes vorfahren sah, klingelte die Eieruhr.

„Da kommen sie!“, rief ich zur Ferienmutter von der Terrasse im ersten Stock in die Küche.
„Wunderbar!“, hörte ich die Ferienmutter aus der Küche rufen.
„Der Braten ist gerade fertig!“

Die Begrüßung zwischen der Ferienmutter und ihren Eltern war herzlich. Sie reichte beiden die Hand und umarmte sie. Wir setzten uns an den edel gedeckten Tisch. Die Ferienmutter hatte mir aufgetragen, die goldenen Serviettenringe mit einem Lappen und einer hellen Paste zu putzen. Ich bemühte mich, doch ich schaffte es nicht den Ringen zu dem erwarteten Glanz zu verhelfen. Schließlich hatte sie selbst diese Aufgabe übernommen, während sie mich vom kalten Terrassentisch, an dem sie das Silber putzte, anwies wie der Tisch zu decken war. Ich hatte meine Mühe damit. Weder Tischordnung, noch Gedecke richtig zu legen waren mir jemals beigebracht worden. Im Haus bei Büchtler wurde der Teller hingestellt, das Besteck daneben gelegt und fertig. Das war bei der Ferienmutter ganz anders.

Ich war in deren Haushalt eingezogen und begann neben der Schule, in der fast alles für mich neu gewesen war, nun auch dort alles neu zu erlernen. Sie hatte klare Vorstellungen davon wie Haushalt und Küche zu organisieren waren. In der Küche gab es eindeutige Strukturen und Zeitpläne, die exakt eingehalten wurden. Das hatte ihr die Tante nach dem Krieg Jahre lang auf dem Gehöft ihrer Eltern beigebracht. Der Esstisch war stets nach der gleichen Ordnung zu decken. Die Ordnung wurde noch penibler geprüft, wenn hoher Besuch angemeldet war. Die Eltern der Ferienmutter waren allerhöchster Besuch.

Tischdecken, Gläser, Besteck, Serviettenringe, alles hatte in exakter Ordnung seinen Platz auf dem Tisch und es hatte sauber zu blitzen. Die Ferienmutter bemühte sich darum mich in diese Ordnung einzuführen. Sie ließ keinen Zweifel daran, dass die Ordnung auch wenn ich sie nach zwei Jahren in ihrem gut geführten Haushalt immer noch nicht richtig gelernt hatte, unverzichtbar in einen zivilisierten Haushalt gehörte. Dass ich das wohl nicht mehr lernen würde, offenbarte sich von Jahr zu Jahr stärker. Das war für sie aber kein Grund, ihre Bemühungen um mich einzustellen. Im Gegenteil: Ich wurde immer wieder aufs Neue eingewiesen.

Wenn der Feriengroßvater von der weiten Ostsee zu Besuch kam, dann verdiente er es einen Teil des Regimentes im Haushalt der Ferienmutter zu übernehmen. Das Tischgebet, sonst von der Ferienmutter gesprochen, war Angelegenheit des Feriengroßvaters. Sein Dank für die Speisen auf dem Tisch galt Gott allein. Den machte er ausführlich für alle Gaben verantwortlich von denen ein guter Mensch in schlechter aber vor allem guter Zeit profitierte.

Der Feriengroßvater sprach am Tisch nicht mit mir. Er unterhielt sich mit seiner Tochter über mich. Es sei ein bewundernswert löblicher Zug einen Menschen der offensichtlich dringend Hilfe benötigte aufzunehmen. Er und die Feriengroßmutter, die lächelnd zustimmte, sahen ein breites Lernfeld das ich unbedingt benötigte. Die Feriengroßmutter sagte wenig. Sie vertrat größtenteils schweigend die gute Meinung ihres Mannes. Einzig als der Dank an Gott besprochen wurde, sagte sie, dass es der Tochter sicher sei, eines Tages in den Himmel zu kommen, weil sie letztlich meiner Aufnahme nicht nur zugestimmt habe, sondern sich sehr aktiv bei Büchtler dafür eingesetzt hatte.

Das Wildmenü schmeckte den beiden vorzüglich. Dunkles Fleisch so zart zuzubereiten, dass es beinahe auf der Zunge zergehe, sei eine hohe Kunst. Der Feriengroßvater berichtete ausschweifend von der letzten Jagd, die leider erfolglos verlaufen war, nachdem sein sicher geglaubter Treffer sich beim Annähern an das Reh als Streifschuss erwies. Das Tier war vor seinen Augen verletzt in den Wald geflüchtet, noch bevor er seine Büchse erneut auf es anlegen konnte.

Abends auf dem Gehöft genoss der Onkel das feine Birnenkompott. Am Abendbrottisch berichtete er, dass in der Arbeit ein neues Räumkommando und ein Räumungsplan für die kommende Woche beschlossen worden war. Das wäre endlich die lange erwartete Freigabe für den riesigen Kartoffelacker am Waldrand hinter dem Gehöft. Wenn alles gut ginge und keine Blindgängerbombe den breiten Acker in einen tiefen Krater zersprenge, dann könne der Gemüseanbau schon in der übernächsten Woche beginnen.

Die Tante war von dieser Nachricht begeistert. Sie freute sich darauf das riesige Feld bald zu bewirtschaften. Die Versorgungslage war katastrophal. Zwar hatten alle Menschen auf den umliegenden Höfen wegen ihrer kleinen Gemüsegärten genug zu essen, doch im Ort gab es noch viele Menschen die nach wie vor hungerten. Nächtliche Einbrüche in den Höfen, vor allem in deren Speisekammern, waren häufig. Erst in der Vorwoche wurde ein junger Mann beinahe zu Tode geprügelt, weil er auf dem Nachbarhof beim Eierdiebstahl erwischt worden war. Seine schwer kranke Mutter hatte ihn beauftragt auf dem Markt einzukaufen, doch die Preise waren so gestiegen, dass der Speiseplan unmöglich zu bezahlen war.

Das Mädchen hörte den Gesprächen von Tante und Onkel am Tisch jeden Abend aufmerksam zu. Sie freute sich, wenn der Onkel eine Geschichte aus der Arbeit mitbrachte, die die Tante lächeln ließ. Solche Geschichte gab es selten.

Der Räumungsplan, um eventuelle Blindgänger aus den Feldern und Wäldern aufzuspüren und zu entfernen, war so eine Geschichte. Die ganze Umgebung des Hofes war für das Mädchen und für die Arbeiterinnen auf dem Feld tabu. Täglich las die Tante in der Zeitung von Unfällen auf Grund von Explosionen. Bauern die keine Geduld aufbrachten, die Räumungspläne mit ihren Kommandos abzuwarten, fuhren mit ihren schweren Traktoren und Pflügen, manchmal auch nur mit einem Handpflug oder Pferdekarren auf Blindgänger auf.

Den unsäglich vielen sinnlosen Toten des Krieges, so sagte der Onkel am Abendbrottisch, folgten noch unsäglich viele Unvernünftige nach. Das waren solche die entweder selbst Hunger litten, nicht selten aber auch welche die Hungernden ihre Lebensmittel auf dem Markt für viel Geld verkaufen wollten. Einen Bauern aus der Nachbarschaft zählte der Onkel dazu. Er hatte Wochen zuvor seinen Sohn verloren, weil er ihn auf ein Feld geschickt hatte. Dort zerfetzte die Bombe den Sohn so, dass der unauffindbar in einem Krater unter gesprengten Erdmassen verschluckt von braunen Steinen und Lehm begraben worden war.

Manchmal erschrak das Mädchen wegen solcher Geschichten. Aber der Onkel sagte, dass es wichtig sei das zu hören und zu wissen. Denn solange nicht geräumt und freigegeben war lauerten tödliche Gefahren auf den Feldern und in den Wäldern. Das Mädchen bewegte sich Nachmittags nicht weg vom Hof. Vormittags zur Schule ging sie stets auf dem befestigten Weg der vom Hof hinunter zum Deich an die Ostsee führte.

Der Onkel wurde von den Besatzern als Experte für Logistik, Strategie und für die Planung der Räumung eingesetzt. Seine Erfahrung als anfänglich hoher Befehlshaber im zurückliegenden Krieg hatte ihn dazu befähigt. Er galt den Besatzern als jemand, der seine Karriere aus Überzeugung nicht weitergeführt hatte. Sie gewannen ihn als Partner für die Aufgabe.

Im Krieg war er von seinen Ämtern nicht suspendiert worden, sondern er wurde schlicht nicht weiter eingesetzt. Er hatte sich in seinem Amt so weit zurückgezogen, dass andere an seiner Stelle in militärische Würden versetzt wurden. Zuletzt war er straf versetzt worden und so trotz seines hohen militärischen Ranges endgültig in militärische Bedeutungslosigkeit geraten.

Einzig sein Bruder hatte ihn weiterhin in seinem militärischen Rang gesehen. Noch zu Kriegsende hatte ihn der Bruder am Mittagstisch in strengem Ton als verantwortungslosen General beschimpft. Die Sache des Führers und Sieges, so der Bruder, sei noch lange nicht verloren. Verrat werde letztlich jeden sträflich treffen der sich aus Verantwortung und Pflicht am Volke ohne Not entbunden habe.

„Was willst Du damit behaupten?“, schrie der Onkel seinen Bruder an.
Es war eines der letzten Gespräche auf dem Gehöft zwischen beiden, kurz vor dem Kriegsende. Die Tante erschrak so, dass sie kurz die Augen schloss, sich aber gleich wieder fand. Sie stand vom Tisch auf um in der Speisekammer nach einer Glasschüssel mit Kompott vom Vortag zu sehen.

„Damit sage ich Dir, dass wir diesen Krieg dem Endsieg entgegen führen werden und nicht Ruhe geben bis erreicht ist wozu wir uns dem Führer verpflichtet haben: Den Bolschewisten endgültig auszurotten um uns und den Führer in die Freiheit von diesem Teufelsjoch zu führen!“
Der Bruder hatte geschrien, als habe er einen Verurteilten vor sich, dem er die letzten belehrenden Worte eines Urteils um die Ohren warf.
„Und das mit Millionen Toten und nichts als Rauch und brennender Landschaft in ganz Europa?“
Der Onkel hatte das sehr ruhig gefragt und seinem Bruder dabei fest in die Augen gesehen. Der aber bebte vor Wut. Er erhob sich vom Tisch, riss die Tischdecke ein Stück mit sich, packte seine Frau bei der Hand, die sich daraufhin sofort mit ihm vom Mittagstisch erhob.
„Komm wir gehen! Wir haben im Haus eines Deserteurs, der sich immer noch General schimpft, aber in Wahrheit ein feiger Fahnenflüchtling ist, endgültig nichts weiter verloren!“

Der Onkel blieb wortlos am Tisch sitzen, während der Bruder zusammen mit seiner Frau eilig stampfend die Wohnung verließ. Das war die letzte Begegnung zwischen beiden Brüdern vor Kriegsende gewesen. Der Bruder und Vater des Mädchens verschwand wenig später in einem Gefangenenlager. Sein Schicksal blieb jahrelang ungewiss.

Nach Kriegsende sah sich die Mutter des Mädchens nicht in der Lage das Kind alleine zu erziehen. Sie war über die Kriegsgefangenschaft ihres Mannes schwer krank geworden. Deshalb bat sie die Tante und den Onkel um Hilfe. Beide zogen auf das Gehöft, wo sie sofort bereit waren das Kind aufzunehmen. Die verbitterte Mutter lebte jahrelang in einer Wohnung im Ort, wo sie die Rückkehr ihres Mannes aus der Kriegsgefangenschaft abwartete. Als der viele Jahre nach Kriegsende zurückkehrte, bezogen beide wieder das Wohnhaus auf dem Gehöft.

„Ist es richtig, dass Du Deine besten Jahre jetzt für die Erziehung dieses Buben aus einem Kinderheim opferst?“
Auf seine Frage bei Tisch erwartete der Feriengroßvater von der Ferienmutter keine Antwort. Die reichte ihm die Schüssel mit der Nachspeise.
„Ob sich Dein Opfer lohnt, das werden wir wohl erst in Jahren erfahren. Wie ich höre macht der Junge aber schon deutliche Fortschritte?“
Nun erwartete er eine Antwort. Die Ferienmutter sagte:
„In der Schule hat er es zu wirklich guten Noten gebracht, binnen nur eines Jahres stehen da heute nur noch Zweien im Zeugnis.“
Die Ferienmutter sah mich ermunternd an, während sie dem Feriengroßvater weiter antwortete:
„Es ist halt mühsam das Lernen jeden Nachmittag. Aber die Mühe zahlt sich mehr und mehr aus.“

Ich nickte und lächelte. Tatsächlich waren meine Noten, seitdem ich in den Haushalt zur Ferienmutter gezogen war, viel besser geworden. In der Schulklasse war ich zu einem der besten Schüler geworden. Jeden Nachmittag saß ich zusammen mit der Ferienmutter über meinen Schularbeiten. Sie erzog mich zu regelmäßigem, stundenlangem Lernen in meinem kleinen Zimmer. Dort hatte ich einen kleinen Schreibtisch und jeden Nachmittag viel Ruhe. Täglich erhielt ich ab Punkt vier Uhr Nachmittags ihre Unterstützung. Sie fragte mich Vokabeln ab und sie korrigierte mit mir gemeinsam meine vielen Fehler in den Schulheften. Die Fehler wurden immer weniger.

„Dann wird ja hoffentlich ein ordentlicher Junge aus dir.“
Jetzt sah der Feriengroßvater mich an. Er hatte mich angesprochen. Ich nickte und lächelte, antwortete aber nicht.
„Es ist schlimm genug, was in diesem Land mit jungen Menschen geschieht. Da ist jeder der vor dem Abgrund gerettet wird wichtig. Denn man kann sich heute ja kaum mehr hinaus auf die Straße trauen. Das junge Gesindel, das überall bedrohlich zunimmt, weiß nichts mit sich anzufangen! Das ist erschreckend und es ist eine große Gefahr. Aggression gegen Alte, die ihr Leben lang gearbeitet haben, ist da nicht weit!“
„Das wollen wir bei dir mal nicht hoffen“, sagte jetzt überraschend die Feriengroßmutter. Sie hatte das Mittagessen hindurch geschwiegen.
Sofort übernahm der Feriengroßvater wieder das Wort.
„Genau solche Gefahr: Das unnütze herum Gammeln der Jugend habe ich hier im Ort schon oft gesehen. Deshalb ist es wirklich Pflicht dem Buben zu helfen, damit etwas aus ihm wird!“

Die Räumung der Felder um das Gehöft brachte es mit sich, dass eine Vielzahl von Fahrzeugen, schwerem Gerät und ein großer Räumtrupp tagelang auf dem Gehöft und in dessen Ställen einquartiert wurde. Die Tante und das Mädchen hatten eine Woche lang für mehr als zwanzig Menschen zu kochen.

Vor Beginn der Unterbringung und der Arbeiten des Räumtrupps mussten im Haus alle Spuren der Kriegsvergangenheit des Vaters des Mädchens, der in Kriegsgefangenschaft war, beseitigt werden. Der Onkel fürchtete nämlich, dass der Räumtrupp die Spuren im Haus fälschlicher Weise ihm zuordnen könnte. Das hätte die Zusammenarbeit mit dem Räumtrupp behindert, weil es ihn unnötig in Erklärungsnot gebracht hätte.

Vor dem Eintreffen des Räumtrupps wurden ein ganzes Wochenende lang Uniformen, Kleidung, alte Fotos, kistenweise Schriftstücke und eine Vielzahl militärischer Dinge wie Helme, aber auch Orden hinauf auf den Speicher gebracht. Im Wohnhaus wurden Schränke abgebaut und auf dem riesigen Speicher wieder aufgestellt. Darin wurde alles verstaut, was zuvor aus Schränken und Zimmern in Erdgeschoss und erstem Stock des Hauses zusammengetragen worden war.

Der große Speicher lag versteckt hinter einer Tür im ersten Stock. Der Onkel ließ die Holzverkleidung im Treppenhaus und die Speichertüre von der Tante frisch streichen. Der Speicher wurde vom Onkel gut verschlossen. Nichts im Haus sollte an seinen Bruder und dessen Überzeugung erinnern. Die Aufklärungen nach dem Krieg waren bei weitem nicht abgeschlossen. Der Onkel wollte auf keinen Fall, dass ein Verdacht, der im Grunde seinem Bruder zuzuordnen war, auf ihn gelenkt wurde. Er war überzeugt von der Wichtigkeit seiner Arbeit. Ihm war es wichtig gewesen, möglichst schnell die Räumung gefährlicher Blindgänger zu organisieren, weil davon der normale Lebensalltag der Menschen in der Gegend und deren Versorgung abhängig waren. Ein falsches Gerücht, wegen alter Kriegsgegenstände im Haus, hätte die Zusammenarbeit mit dem Räumtrupp gefährdet.

Ein Prozess der dem Bruder in Kriegsgefangenschaft galt, hatte kurz vor Beginn der Räumungsarbeiten begonnen. Der Onkel musste mehrfach in die Stadt fahren um sich dort verhören zu lassen. Er wurde als Zeuge vernommen.

Dem Bruder und drei Soldaten die unter dessen Kommando standen, wurde vorgeworfen, kurz vor Kriegsende zwei junge Burschen nicht vor deren sicheren Tod bewahrt zu haben. Der Vorwurf lautete, dass die Burschen wegen Feigheit von den drei Soldaten erschossen worden seinen, was wiederum der kommandierende Bruder angeordnet habe. Nichts ungewöhnliches im Krieg. Entscheidend in dem Prozess war aber, dass zu dem Zeitpunkt, als der Bruder den Tod der zwei Burschen anordnete, der Krieg schon vorbei gewesen war. Hauptklärungsfrage in dem Prozess war gewesen, ob der befehlshabende Bruder, oder die befehlsausführenden Soldaten wussten, dass der Krieg beendet war. Zu dieser Klärung konnte der Onkel keinen Beitrag leisten.

Abends am Tisch erzählte der Onkel von den Belastungen aus dem Prozess. Das Mädchen hörte aufmerksam zu. Der Onkel betonte, dass sein Bruder und Vater des Mädchens formal kein Unrecht getan habe. Außer Pflichterfüllung sei ihm nichts vorzuwerfen. Der Onkel berichtete dem Gericht zwar von unterschiedlichen Meinungen, die hin und wieder in Gesprächen zwischen den Brüdern aufgetaucht seien, das sei aber normal zwischen Geschwistern. Politisch seien die Auseinandersetzungen zwischen den Brüdern während des Krieges nie gewesen. Grundsätzlich glaubte er nie und nimmer, dass seinem Bruder das vorgeworfene Verhalten ernst gemeint zur Last gelegt werden dürfe. In seinen Augen sei er kein Überzeugungstäter gewesen, sondern gehorsamer Befehlsempfänger. Folglich sei es wohl sehr unwahrscheinlich, dass der Bruder, wenn dem bekannt war, dass der Krieg vorbei war, noch Befehle zur Erschießung Fahnenflüchtiger erteilt habe.

Das Räumen der Felder war mühsam aber lohnend. Es wurden drei Blindgänger gefunden die vor Ort entschärft werden konnten, weil ihre Lage in der Erde so gut war, dass sie zum Entschärfen nicht bewegt werden mussten. Es gab keine Sprengung. Der Wald, der Tümpel, die Felder und die gesperrten Feldwege wurden allesamt nach einer Woche freigegeben. Sofort begann der Onkel unterstützt durch Nachbarn mit dem Anbau auf den Feldern. Die Arbeit erledigten die Bauern aus der Nachbarschaft, während der Onkel weiter die Räumungen in anderen Gebieten plante. Die Versorgungslage in der Gegend wurde von Jahr zu Jahr besser. Mehr und mehr Bauern konnten ihre Felder und Höfe wieder bewirtschaften.

Das Mädchen war bei Onkel und Tante erwachsen geworden. Sie half nach Kräften in der Landwirtschaft. Daneben besuchte sie die Schule und machte schließlich Abitur. Die spätere Rückkehr ihres Vaters aus der Kriegsgefangenschaft brachte der Familie nicht nur Freude. Sofort brachen zwischen dem Onkel und dem Bruder alte Streitigkeiten auf. Der Bruder war überzeugt, dass der Krieg moralisch rechtens gewesen war und der sichere Sieg nur von feigen Fahnenflüchtlingen und Kollaborateuren des Feindes vereitelt worden war. Er schimpfte über das Unrecht das er in Gefangenschaft erlebt hatte.

Onkel und Tante mussten wegen der vielen Streitigkeiten mit dem Bruder schließlich aus dem Gehöft ausziehen. Das Mädchen wohnte zu dem Zeitpunkt schon ein Jahr lang in der Stadt, wo sie mit einem Studium begonnen hatte. Viele Jahre später stieß sie auf mich, den Bedürftigen aus Büchtlers Haus am Obersalzberg, um zunächst meine Ferienmutter beim sommerlichen Besuch ihrer Eltern auf dem Gehöft an der Ostsee zu sein, und um mich wenig später für einige Jahre bis zu meinem Volljährigkeitsalter in ihr Haus aufzunehmen.

13. Wohngemeinschaft

Am ersten Schultag in der Fachoberschule spürte ich den Wunsch in Berchtesgaden geblieben zu sein. Dort hatte ich Sicherheit gehabt. Sie bedeutete Routine und Gespräche. Manchmal war das dumpfe bayerische Geplapper und Geplärre der Mitschüler, das ich seit Jahren kannte, nervig aber es war alltäglich. Das fehlte nun völlig denn ich kannte in der neuen Schule niemanden. Mir blieb deshalb Zurückhaltung und Beobachtung.

Richard war ein Blondschopf. Er trug leicht gewellte helle Haare, hatte lange Arme mit riesigen Händen und eine laute tiefe Stimme. Er begann einfach mit den Leuten um sich herum zu sprechen. Eine Gruppe von etwa dreißig Schülern in einem grauen Neonlicht beleuchteten Flur vor verschlossenen Klassenzimmern. Ich stand beobachtend etwas abseits von wo ich Richard hörte:

„In welchem Club sind wir denn hier gelandet?“
Ein kleinerer Typ mit runder John-Lennon-Nickelbrille antwortete Richard, wohl weil er direkt neben ihm stand:
„Das wird doch nicht der Club der grauen Betonköppe sein, so wie die Bude hier aussieht?“
Richard daraufhin:
„Na, na, na, sind wir mal froh, dass die uns hier überhaupt rein lassen. Hast Du auch so eine dämliche Absage bekommen mit Nummer und Option auf einen Platz in dieser Schule?“

Das war mir passiert. Weil ich nicht aus München stammte und das Angebot an Schulplätzen begrenzt gewesen war, hatte ich zunächst eine Absage erhalten. Erst eine Woche vor Schuljahresbeginn fand ich die Zusage im Briefkasten.

Der Typ mit der Nickelbrille hieß Thomas. Er ärgerte sich über den Bau und den finsteren Flur in dem wir warten mussten. Zum Gespräch der beiden, das ich als pauschale Lästerei über das Gebäude, die Schule und die Schulverwaltung erkannte, gesellten sich nun zwei junge Mädchen. Annette und Sofia. Annette wirkte aufgedonnert, ihr blondiertes Haar stand ihr zu Berge. Ein Anfang der achtziger Jahre üblicher Stil zwischen Punk und New Wave. Sie war groß, sprach laut und lachte laut. Ich fand etwas zu laut. Das wirkte herablassend beinahe gehässig. Vielleicht waren ihre Worte sarkastisch? Ich hörte leider nicht was sie Thomas und Richard zu sagen hatte, denn ich stand noch zu weit entfernt. Sofia war klein, schwarz haarig, sie trug sackartige Kleider, die in bunten Farben leuchteten. Sie sprach viel leiser als Annette. Von ihr hörte ich nicht einmal ihr Lachen, während das von Annette unkontrolliert durch den grauen Gang schallte.

Die Gruppe der vier interessierte mich. Sie waren die einzigen unter den neuen Klassenkameraden, die sich an dem Morgen in einem Gespräch näher kamen. Darin sah ich eine Chance. Ich wollte endlich der gespenstischen Ruhe, die sich seit meinem Umzug nach München in mir breit gemacht hatte, entkommen. Ich sagte mir: Du bist nun dran! Ich näherte mich der gesprächigen Gruppe. Jetzt hörte ich was gesprochen wurde. Es war Ärger darüber, dass wir so lange vor der Klassenzimmertür warten mussten.

Auch ich hatte hier zu warten. Ich mischte mich ein. Ich schloss mich dem Schimpfen der vier an. Ich erfand Beispiele dafür, was ich in dem Augenblick besseres zu tun hätte, wenn ich nicht gezwungen wäre vor der Türe in dem grauen Betonflur zu waren. Ich hatte nichts zu tun. Es gab an dem Tag nichts für mich was sinnvoller gewesen wäre. Trotzdem ärgerte ich mich zusammen mit den Viren über die sinnlose Warterei. Der Inhalt unseres Gespräches war Nebensache, er war belangloses Gequatsche. Ich hatte es geschafft. Ich sprach mit den ersten neuen Freunden in meiner neuen Stadt.

Vor meiner Wohngemeinschaft hatte ich ein altes Auto stehen. Darüber sprach ich, denn ich wollte diese alte Karre reparieren, hatte aber keine Ahnung, wie ich das anstellen könnte. Das Auto hatte ich nahe Berchtesgaden bei einem Schrotthändler gekauft. Die technische Überprüfung war jetzt fällig geworden. An der Rostlaube gab es jede Menge Reparaturbedarf.

„Ruft da mal bei Mikes Ersatzteilrampe an“, hörte ich von Thomas.
„Mike schlachtet die Dinger aus und verkauft gebrauchte Teile für jeden Typ. Ein Käfer ist überhaupt kein Problem, dafür hat Mike alles da. Die Telefonnummer kann ich dir aufschreiben.“
Das Auto zu reparieren, war die einzige Beschäftigung, die mir einfiel, die für mich gerade an stand. Ich wollte den Wagen wieder fit machen und verkaufen.
„Wir könnten deine Rostmühle mal zusammen anschauen, wenn du willst. Habe schon einige derartige Schrottlauben repariert.“
Das war ein Angebot. Ich nickte Thomas zu und erklärte ihm wo meine Wohngemeinschaft lag.

Im Klassenzimmer standen die Tische in U-Eisenform. Das ermöglichte es, dass fünf Personen in gesprächiger Nähe zueinander Sitzplätze fanden. Wir setzten uns an eine Ecke dieses U-Eisens so dass Blickkontakt möglich war. Am Ende des ersten Schultages saß ich zusammen mit den vier neuen Klassenkameraden in einer Kneipe. Annette hatte die Kneipe vorgeschlagen. Es war ihr Arbeitsplatz, an dem sie täglich ab siebzehn Uhr anzutreten hatte. Sie bediente dort jede Nacht bis ein Uhr früh. Erst in der Kneipe wurde mir bewusst, dass es tatsächlich ernst zu nehmende Alternativen gab, Zeit zu verbringen. Annettes Alternative war es, die halbe Stunde des sinnlosen Wartens am Morgen vor dem Klassenzimmer einfach länger zu schlafen. Sie war permanent sehr müde wegen des Kneipenjobs. Für mich war die sinnlose halbe Stunde gut. Jetzt hatte ich Kontakt.

In der Kneipe war ich damit beschäftigt meine Verunsicherung zu überspielen. Arbeit diente der Sicherung des Lebensunterhaltes. Annette hatte ihren Job bitter nötig. Sie lebte von dem Geld das sie damit verdiente. Nur mit dieser Arbeit, von Nachmittags bis spät in die Nacht hinein, konnte sie die Miete für ihr Zimmer in ihrer Wohngemeinschaft und Lebensmittel bezahlen. Annette wollte in zwei Jahren den Abschluss an der Fachoberschule schaffen, um dann zu studieren. Ich staunte innerlich, denn sie war in meinem Alter. Ich aber hatte noch nie richtig gearbeitet.

Logik die Annette hinter ihrem Schulbesuch sah, das Ziel, die Klarheit, mit der sie wegen des Geldes für ihren Lebensunterhalt ihren Kneipenjob erledigte, all das war mir fremd. Ihre Eltern hatten sie in der Luft hängen gelassen. Von denen erzählte sie, war für sie nichts mehr zu erwarten. Sie lebte schon seit knapp drei Jahren in einer Wohngemeinschaft mit drei Studenten. Alles was sie täglich benötigte verdiente sie selbst. Von den Eltern komme sie nichts, weil die für sich selbst kaum genügend Geld hätten.

Ich hatte in München ein Zimmer in einer kleinen Wohngemeinschaft gefunden. Es war eine sogenannte Zweckwohngemeinschaft. Davon sprach man, wenn die Bewohner außer dem Zweck des Zusammenwohnens keine weiteren Absichten miteinander verfolgten. Man könnte auch sagen, dass die Bewohner nicht miteinander befreundet waren.

Christian, ein Bekannter aus Berchtesgaden war wie ich nach München gezogen. Er hatte mich wegen der Zweck-WG angesprochen. Er habe eine kleine Dreizimmerwohnung an der Hand. In diese wolle er mit einer Bekannten einziehen. Es würde aber noch ein Mitbewohner fehlen um die Miete zu berappen. Für mich war das Angebot ideal. Ich brauchte mich um nichts weiter als meinen Umzug zu kümmern. Weil ich in München noch niemanden gekannt hatte fand ich Christians Angebot gut. Was eine Zweck-WG war lernte ich erst im Laufe der Zeit.

Ich fuhr meinen kleinen Hausstand in dem schrottreifen Käfer von Berchtesgaden nach München. Die Zweck-WG lag am südöstlichen Stadtrand, direkt an der Autobahn. Vor meinem Fenster im ersten Stock rasten Autos und LKW auf sechs Autobahnspuren Tag und Nacht dahin. Das machte mir nichts aus. Auch Christian störte der Verkehrslärm nicht. Er fiel nach der Arbeit kaputt in sein Bett.

Christian arbeitete abends in einem Fitnesscenter und besuchte tagsüber eine Berufsoberschule. Die tägliche Arbeit neben der Schule war kein Spaß. Das begriff ich wegen Annette und Christian. Ich konnte mir nicht vorstellen beides unter einen Hut zu bringen. Christian arbeitete genauso wie Annette jeden Tag bis tief in die Nacht.

Ich stellte mir einfach vor, beide hätten mit ihrer Arbeit neben dem Schulbesuch einen Weg eingeschlagen, der die Flucht sowohl in das eine als auch das Andere ermöglichte. Wenn es in der Arbeit nicht gut lief, konnte die Schule ein Grund dafür sein, lief die Schule schlecht, war Grund dafür die Arbeit. So dachte ich darüber. Ich suchte nach Gründen die rechtfertigten, dass ich neben der Schule nicht arbeitete.

Arbeit war kein Zeitvertreib, genauso wenig wie die Schule. Damals fragte ich mich nämlich oft, wo denn der rechte Sinn meines Schulbesuchs lag? Ich sah darin überwiegend den Zeitvertreib. Was sonst sollte ich tun? Ich hatte Büchtlers Haus am Obersalzberg hinter mich gebracht, ich war der Bacheischule in Berchtesgaden entkommen und hatte auf dem Obersalzberg die Realschule geschafft. Annette und Christian hatten ganz andere Motive zu arbeiten und die Schule zu besuchen. Sie hatten ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Diese Wahrheit war für mich neu.

Ich stellte mich in der neuen Schule zu einer Gruppe und stieg in die gesprächige Runde um Richard, Thomas, Sofia und Annette ein. War mir die Lust danach, klinkte ich mich wieder aus. Ich ließ mich von Christian in die Zweck-WG aufnehmen und lebte dort neben der Autobahn dahin. Warum ich dort lebte, dass ich nicht arbeitete um die Schule zu besuchen, warum ich den Lärm neben der Autobahn nicht hörte, das wusste ich nicht. Ich sah mich um und hörte zu. Ich stellte mich dazu und beobachtete das Leben und Geschehen um mich herum.

14. München

Die Stadt tobte um mich herum. Ich kannte das nicht. Sie bedeutete eine riesengroße Umstellung. Berchtesgaden mit seinen Bergketten war ein abgelaufener Film. Er war weg wie eine Vision die nach einem Filmabend im Kopf noch kurz weiterlebt. Er war weg wie auch das Gefühl nach dem Kino weggeht in eine andere Welt getaucht zu sein.

Die Stadt war gewöhnungsbedürftig. Sie forderte mich. Nicht weil es in ihr stank und lärmte, auch weil sie voll war von Menschen und weil sie über den Haufen warf, woran ich zuvor naiv geglaubt hatte. Geld und Kommerz waren wichtig in der Stadt. Einkaufen gehörte zu den Hauptbeschäftigungen von Christian und seiner Bekannten.

Die Bekannte sah ich kaum. Sie schien ihr Zimmer in der Zweck-WG als Kleiderlager zu nutzen. Dort stapelte sie im Laufe der Woche einen Berg Kleidung. Christian erzählte mir, dass sie einen Freund habe bei dem sie wohne. In der Zweck-WG erschien sie meist kurz vor sieben Uhr abends um sich umzuziehen. Am Wochenende kam sie samstags mit großen Einkaufstüten, in denen sich neu eingekaufte Kleidung befand. Die sortierte sie in ihre Schränke. Sie verstaute in ihren Einkaufstüten die im Laufe der Vorwoche gestapelte schmutzige Wäsche und verschwand. Montags ging das Spiel von neuem los. Sie erschien um neunzehn Uhr, zog sich in ihrem Zimmer um und verschwand wieder.

Das Leben in der Stadt schien mit meinem Leben zuvor nichts zu tun zu haben. Was die Bekannte von Christian tagsüber machte, warum sie in der Zweck-WG ein Zimmer gemietet hatte, warum sie ständig neue Kleidung kaufte und täglich kam um sich umzuziehen? Keine Ahnung, das musste mit dem Leben in der Stadt zusammenhängen. In der Stadt ging es anonym zu. Da konnte man wohnen, ohne dass jemand nach dem Zweck des Wohnens fragte. Wichtig war vor allem, dass die Bekannte von Christian dafür bezahlte.

Christian interessierte sich nicht dafür was seine Bekannte tat. Er wusste weder wo ihr Freund lebte, noch ob seine Bekannte tagsüber einer Arbeit nachging, zur Schule ging oder nichts dergleichen tat. Das war ihm völlig egal solange sie die Miete für ihr Zimmer regelmäßig an den Vermieter seiner Zweck-WG überwies. Im Gegenteil, nach einigen Wochen des Zusammenlebens hatte ich das Gefühl, dass Christian es gut fand, seine Bekannte in der Wohnung so selten zu sehen.

Christians Hauptbeschäftigung am Wochenende war das Einkaufen. Dafür nahm er sich viel Zeit. Während der Woche hatte er wegen seines Schulbesuchs und seiner Arbeit dafür keine Zeit. Er kam täglich mittags gegen vierzehn Uhr von der Schule kurz nach Hause, zog sich um und verschwand schon um fünfzehn Uhr wieder. Er erledigte Hausaufgaben und Lernen für die Berufsoberschule offenbar irgendwie neben seiner täglichen Arbeit im Fitnesscenter. In der Zweck-WG erschien er abends nach der Arbeit gegen dreiundzwanzig Uhr.

Samstags fuhr er gegen neun Uhr morgens los, um genügend Zeit für das Einkaufen zu haben. Die Stunden bis um vierzehn Uhr die Geschäfte schlossen, graste er alle möglichen größeren und kleineren Möbelmärkte rund um die Stadt ab. Das tat er zusammen mit seiner Freundin die jedes Wochenende am Freitagabend in die Zweck-WG einzog. Jeden Samstag nahmen sich die beiden ein neues Gewerbegebiet irgendwo am Stadtrand vor.

Genauso wie Christian war dessen Freundin begeisterte Einkäuferin. Es ging ihr hauptsächlich um Kleinigkeiten, die aber wohl entscheidend waren. Ein kleines Deckchen hier, ein Kissen dort, ein Farbtupfer auf dem Fernsehgerät, ein hübsches, dekoratives Stückchen auf dem Fensterbrett. Das alles war reine Geschmackssache. Es bewies ihren Stil. Wegen Kleinigkeiten lohnte es sich, am Samstag immer weiter wegzufahren, um in einem neuen Möbelmarkt hübsche Dinge, die sie Accessoires nannte, einzukaufen. Daran konnte sie sich mit Christian zusammen freuen. Das war deren Lohn der Arbeit.

Ich sah die beiden wenig miteinander lachen. Ich hatte oft den Eindruck sie ärgerten sich über ihren Einkauf. Die Qualität der Waren gefiel meist nicht. Das Objekt war oft doch nicht der erhoffte Schlager, weil die Farbkomposition auf dem Fensterbrett an der Autobahn nicht ganz mit dem Ton des Vorhangs harmonierte. Der Verkäufer hatte meist falsch beraten. Er hatte vom ursprünglich angedachten Objekt abgeraten, was sich in der Zweck-WG an der Autobahn stets als „Geschmacks-Katastrophe“ erwies. Das Resultat: Der eigene Geschmack ist doch am verlässlichsten! Die Beratung im Geschäft war mal wieder ein großer Reinfall! Das Objekt wird nächstes Wochenende umgetauscht!

Wohnen in der Stadt war nicht wohnen weil man halt ein Zimmer oder eine Wohnung brauchte in der man wohnte, von der aus man lebte. Es schien eher eine Stilfrage zu sein. Es ging darum die Anonymität der Stadt zu nutzen. Es schien darum zu gehen sich selbst zu zeigen, dass man konnte wie man wollte. Zu können wie man wollte bedeutete frei zu sein. Geld das er verdiente konnte er ausgeben wie er das wollte. Das war seine Freiheit. „Tinnef“, den er zusammen mit seiner Freundin einkaufte war beider Glück. Deren Glück wurde getrübt, wenn beide sich nach jedem Einkauf konsequent über die erworbenen Stücke und die Verkäufer ärgerten. Das wiederum gehörte zu der Art, wie beide Freiheit definierten. Einkaufen und über das Eingekaufte meckern. Das war der Kick! Freiheit war, wenn Waren durch Umtausch am folgenden Wochenende gekrönt wurden.

Dagegen war mein Alltag in der Stadt sehr einfach: Ich fuhr täglich zur Schule. Zuerst fuhr ich mit einem Stadtbus, stieg danach in die U-Bahn um und nahm anschließend noch einen Bus. Ich saß bis dreizehn Uhr im Unterricht und kam täglich um halb drei Uhr zurück in die Zweck-WG. Dort traf ich manchmal auf Christian der um diese Zeit das Haus verließ um zur Arbeit zu fahren. Nachmittags saß ich im kleinen Wohnzimmer. Dort lernte ich und erledigte Aufgaben für die Schule. Am Wochenende besichtigte ich die neuesten Einkäufe und hörte den Einkaufsgesprächen zwischen Christian und seiner Freundin zu. Das war ’s.

15. Umzug

Nach einem halben Jahr in der Zweck-WG tauchte eine weitere Bekannte aus Berchtesgaden auf. Ich traf sie eines Abends in einer Studentenkneipe. Sie erzählte, dass sie in der ehemaligen Wohnung ihrer Eltern eine Wohngemeinschaft mit ihren drei Geschwistern starten wollte. Es sei ein altes villenartiges Haus am Stadtrand. Ihre Eltern hatten sich in Berchtesgaden endgültig niedergelassen und das Haus in der Stadt aufgegeben. Die alte Familienvilla würden sie nun für die nächsten Jahre den Kindern überlassen so lange diese noch studierten.

Die Bekannte bot an mir das Ganze zu zeigen. Im zweiten Stock in der Villa sei noch ein kleines Zimmer frei. Ich war begeistert. Ihr unverbindliches Angebot machte ich sofort zu etwas Verbindlichem. Ich vereinbarte einen Termin gleich für den nächsten Abend. Ich traf pünktlich in der Villa ein. Dort traf ich auf die Geschwister der alten Bekannten. Ich kannte sie alle aus Berchtesgaden.

Mein Zimmer war winzig. Es war eine gemütliche, kleine Dachkammer. Dachschräge, Fenster, ein in die Dachschräge hinein gebauter Schreibtisch und sogar eine winzige Nebenkammer. Das war ein begehbarer Schrank unter dem Dach. Die Miete war traumhaft niedrig. Es ging nur um die Kosten für Heizung, Strom und anfallende Nebenkosten. Diese wurden anteilig nach der jeweiligen Zimmergröße berechnet. Ein Topangebot. Ich sagte sofort zu.

Die Villen-WG war interessanter als die Zweck-WG. Ob es auch eine Zweckwohngemeinschaft sein würde, wusste ich noch nicht. Zeitweise wohnten dort zehn Leute. Es waren Studenten die unterschiedlichste Fächer studierten und unterschiedlicher nicht sein konnten. Einkaufen als Freizeitbeschäftigung gab es nicht. Einkaufen war lästige Pflichtübung die zum Alltag gehörte. Es gab eine WG-Kasse in die jeder einzuzahlen hatte. Die Einkaufsrechnungen wurden daraus beglichen. Die Einkaufsmengen waren gigantisch. Die WG hatte ein Auto das ihr die Eltern und Hauseigentümer überlassen hatten. Ein Traum. Mit dem Wagen, einem großen Kombi, ging es am Samstag in einen Einkaufsmarkt wo alles besorgt wurde was sich im Laufe der Woche auf einer langen Einkaufsliste am Küchenschrank angesammelt hatte.

Die Freizeitbeschäftigungen der WG-Bewohner waren unterschiedlich. Im Gegensatz zur Zweck-WG an der Autobahn wurden teilweise am Wochenende auch gemeinsame Dinge unternommen. Das ging von Wandertouren in die Berge über Schwimmbad, Kino usw. bis zu gemeinsamen Campingurlauben in den Semesterferien. Je nach Interessen setzten sich die Personen für solche Unternehmungen zusammen.

Bei vielen Dingen mischte ich mit, andere ließ ich. Es machte mir Spaß in dem großen Garten zu arbeiten, den Rasen zu mähen, Laub zu rechen. Das wollten andere gar nicht. Ich hielt mich dafür beim Kochen zurück. Das Ganze war für studentische Verhältnisse luxuriös. Mein kleines Dachzimmer war ein Glücksfall.

In die Villen-WG konnte ich Schulkameraden einladen. Es gab dort nämlich genügend Platz in einem riesigen Wohnzimmer und dem großen Garten mit breiter Terrasse. Es war ein sehr altes Haus. Die Mitschüler Richard, Thomas, Annette und Sofia lud ich nach wenigen Wochen ein. Wir gründeten eine so genannte Lerngruppe für die Schule. Die traf sich in der Folge ausschließlich bei mir in der Villen-WG. Der Platz war wegen der großzügigen Atmosphäre sehr gut. Unsere gemeinsame Lernarbeit dagegen war oft nicht sonderlich effektiv. Die Treffen endeten meist spät abends. Dabei kam es zu Alkoholkonsum, begleitet von lauter Musik aus dem Plattenspieler. Der Spaß schob sich mit jedem Treffen weiter in den Vordergrund. Trotzdem brachten diese Treffs auch etwas für die Schule. Gerade vor wichtigeren Tests und Prüfungen gab es Absprachen in der Lerngruppe, wodurch wir besser vorbereitet waren.

Richard fand oft heraus was zur Prüfung an stand und von wo Informationen zu den Prüfungsfragen zu bekommen waren. Er nutzte einen Kontakt in die Staatsbibliothek. Dort kannte er eine Sekretärin. Über die beschaffte er manchen Text den sich Lehrer für die Englischprüfung oder den Test in Deutsch von dort holten.

Meine Beiträge für die Lerngruppe waren dünn. Mein Wissen war eher auf mein Bemühen beschränkt. Meine Kontakte in der Stadt waren gleich Null. Interessant war, dass manche mir fehlende Wissensgrundlage auch Thomas, Richard, Sofia oder Annette fehlten.

Beim Grübeln über ein mathematisches Grundsatzproblem erinnerte ich mich an die Lehrerin. Ich erinnerte mich daran, dass die mathematische Problemlage bereits von der Lehrerin in ihrem Büchlein behandelt worden war. Also erklärte ich der Lerngruppe, dass ich eine Idee hätte unser Problem zu lösen. Ich suchte nach dem Büchlein, fand es aber nicht und verschob deshalb die Problemlösung bis zum nächsten Treffen.

Die nächste Lerngruppe fand drei Tage später statt. Zu dem vereinbarten Termin war aber nur Richard gekommen. Das zu lösende Problem hatte Richard bereits untersucht und uns in der Schule auf sein Ergebnis aufmerksam gemacht. Ich hatte das Büchlein in einer alten Schuhschachtel verwahrt. Die hatte ich in meiner winzigen Dachkammer in dem kleinen begehbaren Kleiderschrank auf einem Regal in der hintersten Ecke verstaut. Richard wollte wissen was ich da für ein Büchlein hatte. Ich hatte das Problem und dessen Lösung in dem Büchlein zuvor tatsächlich gefunden. Ich wollte die Lösung präsentieren, doch Richard interessierten stattdessen schon Detailfragen. Ich blätterte im Büchlein, suchte nach der Seite auf der das Problem geschildert wurde. Richard war ungeduldig. Ich las und versuchte zu erklären. Für Richard war die Lösung längst klar. Ich las etwas von Pythagoras, Richard gähnte und sagte er wollte sich das selbst mal ansehen.

Er griff nach dem Büchlein. Ich wollte es ihm nicht sofort geben, denn in dem Augenblick glaubte ich das entscheidende Detail gefunden zu haben. Richard hatte den Buchdeckel erfasst und zog. So riss das uralte blaue Packpapier auf. Richard entschuldigte sich. Ich klappte das Büchlein zu, legte es auf den Tisch, versuchte den Einband zu glätten. Das ging nicht, denn das Packpapier war so alt, dass es mehr und mehr riss.

„Das macht gar nichts, ich entferne es einfach komplett.“

Ich zog das Packpapier vom Buch. Übrig blieb auf der Buchrückseite ein Stück Papier. Es war das Schreiben. Graues, vergilbtes, sehr dünnes Papier. Es war am Buchrücken fest geklebt.

„Was ist denn das?“, fragte Richard und zeigte auf das Stück Papier.
„Das ist doch absolut uralt!“
Richard nahm mir das Buch ab, hielt den Buchrücken an das helle Fenster, blies seitlich an den Buchrücken, so dass das Papierstück leicht flatterte. „Ist das ein alter Brief?“
„Ich weiß es nicht, es ist ein uraltes Schreiben.“
„Woher stammt das und warum klebt es an diesem Buch?“
„Ich habe es vor fast acht Jahren im Urlaub auf einem alten Dachboden gefunden.“
„Aha und deshalb klebt es auf dem Buchrücken dieses mit uraltem Papier eingewickelten Schlaubergerschulbüchleins? Hast du eine feine Pinzette und ein glattes Stück sauberes, weißes Papier?“
„Was willst du denn damit?“
„Ich will das fein säuberlich ablösen, ohne dein Schreiben zu ruinieren.“
Richard sah mich neugierig an.
„Ich interessiere mich für solche uralten Sachen, von alten Dachböden.“
„Das sollten wir uns wirklich vorsichtig anschauen. Das Schreiben muss uralt sein. Ich weiß das noch von damals, als ich es das letzte Mal gesehen habe und in dem Packpapier auf dem Buchrücken versteckt habe.“

Ich ging ins Bad und sah mich dort nach einer Pinzette um. Die fand ich im Waschbeutel einer WG-Mitbewohnerin. Richard hob mit der Pinzette vorsichtig eine Ecke des gefalteten Papiers an und schob eine Seite glattes, weißes Schreibmaschinenpapier zwischen Ecke und Buchrücken. Mit dem weißen Bogen löste er langsam das Papier vom Buchrücken.

„So das hätten wir. Aber das Entfalten wird schwierig.“
„Wieso?“, fragte ich.
„Weil das Ding offenbar irgendwie zusammenklebt. Wenn wir das einfach so auseinander ziehen, reißen wir wahrscheinlich auch die Schrift mit ab, und wenns ganz schlecht läuft, reißen wir sogar das Papier ein.“ Ich sah Richard fragend an. „Ich habe einen Onkel der sich mit alten Geldnoten beschäftigt und alte Bücher über Geldnoten sammelt. Der kennt sich aus mit altem Papier. Der hat Erfahrung und Werkzeuge und eine kleine Papierwerkstatt. Da flickt er auch alte Geldnoten wieder zusammen. Vielleicht könnte der das Papier so öffnen, dass der Text erhalten bleibt. Außerdem können wir mit dem Text eh nichts anfangen. Der scheint so alt zu sein, dass wir die Schrift wohl gar nicht entziffern können.“
„Du meinst, dein Onkel könnte das vorsichtig öffnen und vielleicht sogar die Schrift für uns entziffern?„
„Glaub schon, dass der das drauf hat.“
„Wann und wo?“

16. Ein alter Onkel

Richards Onkel hatte in einem finsteren Hinterhof in der Innenstadt ein kleines Büro. Über ein paar Außenstiegen ging es hinauf und durch eine schwere Holztür in einen schummrigen Raum. Das Büro war nur wenig größer als meine winzige Dachkammer. Es war voll mit Regalen, in denen sich Bücher stapelten. In transparenten Plastikhüllen steckten alte Geldnoten. Sie lagen stapelweise auf einem kleinen Tisch. Es roch wie auf einem alten Speicher. Ich erinnerte mich an den Geruch, der mir aus der alten Kiste entgegen gekommen war. Altes bedrucktes, verstaubtes Papier.

Der Onkel saß auf einem hohen Hocker hinter einem dunklen schweren Tresen. Dort stand eine beleuchtete große Lupe. Von einer Schnur an der Decke hing ein Lampenschirm. Auf dem Tresen lagen verschiedene Kleinwerkzeuge. Auch hier stapelten sich transparente kleine Plastikhüllen mit alten Geldnoten.

Er blickte freundlich wie ein Zirkusdirektor. Sein Sprechen erinnerte mich an einen früheren Deutschlehrer in Berchtesgaden. Er trug eine Nickelbrille und hatte einen zwirbeligen Schnurrbart.
„Na, da habt ihr mir ja was Hübsches gebracht!“
Wir setzten uns auf zwei Hocker vor dem dunkelbraunen Holztresen. Neugierig sahen wir den Onkel an. Den Brief hatte er in eine größere Plastikhülle gesteckt die auf dem Tresen lag. Daneben hatte er eine Kopie gelegt.
„Ich hab euch das Ganze mal kopiert.“
Er tippte mit einem Zeigefinger auf die Kopie.
„Der Brief ist genau das, woran ich sofort dachte, als Richard dieses gefaltete Papier hier im Büro aus dem Umschlag gezogen hatte. Wehrmachtspost. Ich kenne das selbst noch von früher. Habe damals auch solche Briefe geschrieben. An meine Mama. Genau so ein Brief ist das! Wo hab ihr den denn her?“

Der Onkel fixierte mich, denn Richard hatte ihm natürlich gesagt wer hinter der Sache steckte. Ich wurde sofort rot. Das passierte mir leider oft. Vor allem passierte es wenn eine vernünftige Antwort von mir erwartet wurde.
„Ich habe ihn vor Jahren auf einem Speicher in einer alten Kiste gefunden.“
Die Worte brachte ich kaum raus, verfiel in ein Stammeln, begann zu husten und musste mir von Richards Onkel ein Glas Wasser geben lassen, um den trockenen Hals zu spülen.
„Alles halb so wild“, versuchte der Onkel mich zu beruhigen.
„Das ist ja kein Verhör hier, interessiert mich halt einfach, weil ich damals selbst solche Post geschrieben habe. Der Brief ist vierzig Jahre alt. Genauer gesagt wurde er wohl am dreizehnten Achten fünfundvierzig geschrieben.“
Der Onkel hob die Kopie hoch und deutete auf das dort geschriebene Datum.
„Der Brief muss also kurz vor der Kapitulation und damit dem Kriegsende geschrieben worden sein.“
Richard und ich blickten den Onkel gespannt an.
Anstatt weiter zu berichten, fragte der Onkel mich:
„Also weiter! Woher hast du den Brief und wieso kommt ihr zwei erst jetzt damit zu mir?“
Ich sah Richard an. Der sagte aber nichts, sondern nickte nur. Damit meinte er, ich sollte erzählen was Sachlage ist.
„Ich habe den Brief über etwa acht Jahre im Buchrücken eines Lehrbuches, das ich mit blauem Packpapier eingebunden hatte, vergessen.“ Der Onkel sah mich befremdet an.
„Du hast den Brief also versteckt und behauptest nun ihn vergessen zu haben, verstehe ich das richtig?“
„Ja, so ungefähr.“
Ich trank aus dem Glas Wasser um nicht noch mal zu husten oder gar meine Stimme zu verlieren. Richard nickte seinem Onkel zu.
„Dass der Brief offenbar vergessen war, hab ich mitgekriegt, der flog aus dem Buch wieder raus, weil ich das Packpapier versehentlich abgefetzt habe. War alt und morsch das Zeug, aber der Brief ist dabei zum Glück nicht zerlegt worden.“
„Ok, ok, aber warum hast Du den Brief überhaupt versteckt?“
„Naja, damals war ich erst vierzehn, als ich den gefunden hatte. Ich hatte eben Schiss. Weil ich den Brief auf dem Speicher aus einer Kiste mitgenommen habe, in der ich nichts zu suchen hatte.“
„Was für eine Kiste? Was für ein Speicher? Gibt ’s da noch mehr Briefe?“

Richards Onkel sah mich kritisch an und füllte das Wasserglas nochmal auf.
„Keine Ahnung, das ist schon ewig her. Es war eigentlich ein Versteckspiel. Ich hatte Angst vor dem Feriengroßvater, weil wir auf diesem Speicher eigentlich nicht spielen durften.“
Richard und der Onkel tauschten sich per Blick aus. Beide schauten ungläubig drein.
„Was erzählst Du hier für eine dubiose Kindergartengeschichte? Soll ich die wirklich glauben?„
„Was anderes kann ich dazu nicht sagen. Ich erinnere mich genau. Der Feriengroßvater hatte uns auf dem Speicher beim Versteckspiel erwischt, ich hatte gerade diesen Kistendeckel geöffnet und ihn dann vor Schreck fallen lassen. Dabei flog wohl der Brief heraus, den ich aufhob, zusammenknüllte und in meine Hosentasche stopfte.“
Der Onkel und Richard blickten sich fragend an. Beide nickten sich zu.
„Aha!“
„Wieso Aha? Da gibts nicht mehr dazu zu sagen. Schon damals hatte ich den Fetzen vergessen. Erst nachdem die Sommerferien vorbei waren, tauchte er zu Hause am Obersalzberg wieder aus meiner Hosentasche auf. Er fiel heraus und ich hatte mich daran erinnert, dass ich einen Diebstahl begangen hatte. Vorsichtshalber versteckte ich ihn deshalb im Buchrücken. Das wars.“
Der Onkel sah mich ungläubig an. Richard sah den Onkel ungläubig an. Ich trank aus dem Wasserglas.

„Na gut!“
Der Onkel zog ein Taschentuch aus der Hosentasche und rotzte schnaubend hinein. Das Taschentuch stopfte er zurück in die Hosentasche.
„Jedenfalls schreibt in dem Brief ein junger Mensch, der dürfte damals etwa so alt wie ihr es heute seid, gewesen sein. Es ist mehr oder weniger ein Abschiedsbrief.“
Richard sah seinen Onkel neugierig an. Ich versuchte unbeteiligt zu blicken, denn ich war froh meine Geschichte überhaupt herausgebracht zu haben ohne eine neue Hustenattacke zu bekommen.
„Ich glaube hier verabschiedet sich ein junger Mensch von seiner Mama. Der hat den Brief geschrieben und war sich nicht sicher ob er das, was damals vor ihm stand, überleben würde. Deshalb verabschiedete er sich.“
Richard und ich blickten uns an, dann wandten wir unseren Blick zum Onkel.
„Übrigens der Brief ist echt, da bin ich sicher. Sogar die Adresse der Mutter hat der Knabe im Brief nochmal notiert. Da, schaut: Hier am Ende steht sie. Das scheint irgendwo in Norddeutschland zu sein. Hört sich jedenfalls so an, der Name von diesem Kaff.„
Der Onkel hielt uns den Brief hin und zeigte auf eine Zeile am Ende des Schreibens.
„Der wollte wahrscheinlich sicher sein, dass sein Brief auch zugestellt wird.“

17. Die zweite Prüfung

Die Abschlussprüfungen fanden nach den Osterferien statt. In der Lerngruppe hatten wir vereinbart einen gemeinsamen „Lernurlaub“ zu machen. Die Idee stammte von Richard, auch das Ziel stammte von ihm. Mit dem Villen-WG-Kombi fuhren wir nach Südfrankreich.

Richard war ein begeisterter Starkwindsurfer. In Südfrankreich kannte er einen Campingplatz an einem windigen See. Dorthin verschleppte er uns. Ich erzählte Richard, dass ich das Windsurfen gelernt hatte. Jahre nach dem Ostseeaufenthalt hatte ich einen Kurs belegt und die Technik erlernt. Ich war aber kein begeisterter Starkwindsurfer wie Richard geworden. Mir reichte mittelmäßiger Wind und schönes Wetter. Richard hatte mich mit dem Surfen für den Urlaub geködert. Thomas, Sofia und Annette waren von der Idee „Lernurlaub“ in Südfrankreich sofort begeistert. Also war die Sache klar. Richard hatte ein schrottreifes Kleinfahrzeug, das wir für diesen Urlaub gegen den Kombi der Villen-WG eintauschten. Thomas fuhr mit einem Kumpel in seinem R4.

Zu der Urlaubsgruppe hatten sich noch mir unbekannte Freunde von Annette und Sofia angemeldet. So waren wir insgesamt zehn Personen geworden. Es gab einige Absprachen über die Autos in denen wir das Ziel ansteuerten, den Campingplatz und ein großes Zelt, das Annette aufgetrieben hatte. Sie hatte über ihre Arbeit in der Kneipe einen Menschen kennen gelernt, der bei einem Zeltverleih arbeitete. Von dort lieh sie kostenlos ein riesiges Zelt, das für Partys verliehen wurde. Die unbekannten Freunde von Annette und Sofia fuhren in einem metallic lackierten, getunten VW-Käfer. Dass ein Käfer so aussehen konnte war mir neu. Ich hatte meinen Schrottkäfer ein letztes mal durch den TÜV gefahren und verkauft. Ich finanzierte den Urlaub aus dem Erlös.

Obwohl das geliehene Auto aus der WG stammte in der ich wohnte, ergriff Richard Besitz von dem Wagen. Dass die WG meine WG war und ich das WG-Auto von den Geschwistern geliehen hatte, interessierte Richard nicht. Er hatte eine selbstverständliche Art das Auto zu vereinnahmen und eine noch selbstverständlichere Art seine Insassen in Richtung Südfrankreich zu steuern. Richard prügelte den Peugeot-Kombi dorthin. Wir fuhren nachts und nur auf Landstraßen weil Richard die Autobahnmaut nicht bezahlen wollten. Eine Nacht und einem Tag später erreichten wir unser Ziel nahe Montpellier. Thomas, der das Zelt von Annette transportierte, kam erst fünf Stunden später in der Dunkelheit dort an.

Unter dem Einfluss der Freunde von Annette und Sofia war in Frankreich keine Rede mehr davon, dass wir irgendetwas für die bevorstehenden Prüfungen lernen wollten. Stattdessen ging es darum, möglichst cool durch Tag und Nacht zu stolpern. Die Sache wurde anstrengend und feucht. Das Wetter war kühl und stürmisch. Der Campingplatz verwandelte sich eines Nachts bei Sturm in ein Schlammloch. Das einzige Zelt das den heftigen Sturm überstand war unseres. Grund dafür war, dass es schwer und massiv dastand und dass ein Schlammbach quer durch das Zelt verlief jedoch genau so, dass die Verankerungen nicht unter spült wurden. Dafür hatte Richard beim Aufbau gesorgt. Er hatte den Stellplatz für unser Zelt offenbar nach den Kriterien Starkwind, Bodenneigung und Wasserverlauf bei Regen ausgesucht.

Er hatte in der Gegend schon manchen Sturm erlebt. Ihm war klar gewesen, dass zu dieser Jahreszeit mindestens ein heftiger Sturm kam. So plante Richard ohne mit uns darüber zu sprechen. Richard sorgte dafür, dass wir das Zelt in der Dunkelheit, nachdem auch Thomas mit seinem R4 eingetroffen war, so aufbauten, dass man in den großen Zelteingang von einem geteerten Weg mit dem Auto hineinfahren konnte. Genau dies tat Richard während der Sturm tobte. So konnten wir alles trocken in den Wagen laden. Wir zogen für den Rest der stürmischen Nacht in einen Bungalow im oberen Teil des Zeltplatzes. Am Tag nach dem nächtlichen Sturm schien die Sonne wieder. Es wurde langsam wärmer. Schon Nachmittags konnten wir wieder in das getrocknete große Zelt einziehen.

Ich lernte Richard besser kennen als in den zurückliegenden zwei Schuljahren. Er war ein Macher. Er war ein sehr unruhiger und getriebener Zeitgenosse. Sein Starkwindsurfen war wie sein Autofahrstil. Schnell, ein bisschen riskant und ein bisschen besessen. Richard war immer sehr direkt. Er stieg nur dann auf sein Surfbrett, wenn dunkle Wolken ein Gewitter ankündigten und deshalb ein gutes Erlebnis sicher war. Er setzte stets seinen Kopf durch. Kritische Rückfragen kamen erst dann auf, wenn die betreffende Situation bereits erledigt war und deshalb nicht mehr der Rede wert schien.

Dass er auf der Reise die ganze Nacht und den folgenden Tag am Steuer saß und den Kombi über die Landstraßen jagte, wurde von seinen Begleitern nicht in Frage gestellt. Auf welche Weise das Ziel erreicht wurde, welches eigentlich Richards Ziel war, bestimmte er ohne lange darüber zu diskutieren. Ich dachte nicht daran mich einzumischen.

Abends fuhr Richard in jeweils andere Orte, wo wir bis Mitternacht in Kneipen saßen. Dort unterhielt ich mich jeden Abend mit Thomas, dessen Kumpel Mike und Richard. Annette und Sofia waren jeden Abend mit ihren Freunden unterwegs. Tags darauf wurde im Café auf dem Campingplatz darüber gesprochen was man abends zuvor gemacht hatte. Es war stets das Gleiche. Sofia und Annette erzählten, dass sie mit ihren Freunden in irgendeinem Ort in der Kneipe herum gesessen hatten. Wir berichteten in welchen Kneipen wir herum gesessen hatten.

So vergingen die Tage des Urlaubs zwischen See, Campingplatz, Café und Kneipe. Ein, zwei Mal unternahmen wir kleine Spaziergänge. Einmal fuhren wir nach Montpellier. Hin und wieder versuchte ich mich auf Richards Surfbrett. Der Wind war mir aber insgesamt zu stark, so dass ich es nach dem vierten oder fünften Versuch ganz aufgab. Auf der Heimreise prügelte Richard den Kombi über die Autobahn. Die Bremsen des Wagens waren schwer angeschlagen. Der Bremsbelag war soweit abgefahren, dass bei jedem Bremsmanöver das Schaben von Metall auf Metall zu hören war.

Zurück in der Villen-WG wurde es schließlich mein Job, das Fahrzeug von außen und innen zu reinigen und neue Bremsbeläge zu montieren. Richard hatte damit nichts zu tun. Er übernahm wieder seinen schrottreifen Kleinwagen. Annette brachte das Zelt zurück zu ihrem Partyzeltverleih. Thomas transportierte in seinem R4 eine riesige Batterie Weinflaschen aus Südfrankreich in die Villen-WG. Die hatte ihm Richard in Frankreich unbemerkt in den R4 geladen. Richard hatte den Wein unter der Zeltplane im Auto verstaut. Im Hof vor der Villen-WG lud Richard seinen Wein in seinen Kleinwagen um und verschwand. Der Urlaub ging so belanglos vorbei, wie er begonnen hatte. Die Freunde von Annette und Sofia verschwanden unbekannt, so wie sie zu der Reisegruppe gekommen waren. Ich sah sie nie wieder. Die Reise der Lerngruppe entsprach dem Stil, wie ich die Zeit Mitte der Achtziger Jahre erlebte: Unverbindlich und belanglos. Menschen trafen sich und trennten sich.

Kurz vor den Abschlussprüfungen wurde in der Schule das neue Schwimmbad eröffnet. Das Schulgebäude war ein Neubau der ein dreiviertel Jahr zuvor bezogen worden war. Die Fertigstellung des Schwimmbades hatte sich verzögert. An einem regnerischen Tag hatten sich Richard, Thomas und ich in einer Unterrichtspause in dem neuen Schwimmbad auf einer Sitzbank am Beckenrand niedergelassen.

Der Zugang dorthin war offen, jedoch war es wohl nicht erlaubt, sich da einfach hinzusetzen. Das Wasser war am Tag zuvor eingelassen worden. Wir saßen auf der Bank und unterhielten uns. Nach wenigen Minuten erschien der Hausmeister der Schule. Zu Recht wies er darauf hin, dass das Schwimmbad nicht betreten werden dürfe, schon gar nicht mit Straßenschuhen. Deshalb erhoben wir uns und machten Anstalten, das Schwimmbad Richtung Eingang wieder zu verlassen. Dort aber stellte er sich uns in den Weg.

“Solches Studenten- und Schülerpack wäre früher längst vergast worden!”
„Das meinen sie doch nicht wirklich?“
„Ihr seid ’s doch solche Deppen, da hätten ‘s früher längst kurzen Prozess gemacht.“
Richard wurde rot vor Wut. Er schrie den Hausmeister an:
„Wie bitte?“
„Euch hättens früher nicht alt werden lassen, des sag ich Euch!“
Richard schnaubte vor Wut.
„Das kann doch wohl nicht sein!“
Thomas und ich waren am Hausmeister durch den Eingang der Schwimmhalle schon vorbeigegangen, Richtung Aula der Schule. Richard aber war direkt vor dem Hausmeister stehen geblieben. Fassungslos stand er vor ihm. Er stemmte die Arme in die Hüften. Er sah dabei aus, als würde er am ganzen Körper zittern. Er bebte vor Wut.
„Das können Sie unmöglich ernst meinen!“
Der Hausmeister schob Richard jetzt an der rechten Schulter weg. Er versuchte ihn so in unsere Richtung zu bewegen. Richard schlug die Hand des Hausmeisters von seiner Schulter und versuchte den Mann von sich weg zu stoßen.
„Lang mich nicht an, du Sau-Bub du damischer!“
„Ich habe Sie nicht als erster angefasst!“
So schrie Richard den Mann nun an. „Dich hätten ‘s als ersten erschossen, du Hunds-Krüppel, du depperter!“
So schrie der Hausmeister Richard an.
Richard drehte sich um, so dass er dem Hausmeister nun erneut direkt gegenüber stand. Er war wütend. Sein Gesicht war rot geworden. Er sah den Mann an, sagte aber nichts. Der Hausmeister packte Richard jetzt an der Schulter. Er versuchte ihn zur Eingangstür zu schubsen. Richard schmetterte jetzt dessen Hand von sich. Er schubste den Hausmeister kraftvoll an den Schultern von sich. Das tat er eins, zwei, drei Mal. Der Hausmeister wich zurück, ein, zwei drei Schritte. Vielleicht waren es fünf, sechs Meter. Jedenfalls reichte das bis zum Beckenrand. Da stand er nun und blickte Richard in die Augen:
„Das tust du nicht, du mieser Sau-Hund!“
Richard verpasste dem Hausmeister einen letzten leichten Schubs mit der rechten Hand. Platsch! Der Mann stürzte ins Wasser. Er ruderte im Wasser hin und her und schrie Richard zu:
„Das hat Konsequenzen, ihr Sau-Pack!“ Richard drehte sich um. Er kam zu uns in die Aula. Zusammen gingen wir zurück in unser Klassenzimmer im Obergeschoss.

Noch in der gleichen Woche wurde Richard von der Schule suspendiert. An der Abschlussprüfung konnte er nicht teilnehmen. Er hatte sich in einem Disziplinarverfahren und einem Strafverfahren wegen Körperverletzung zu verantworten. Nach seiner Entlassung aus der Schule habe ich ihn nur ein einziges Mal wiedergesehen. Es war in einem Gerichtsverfahren, in dem Thomas und ich als Zeugen über den Vorfall aussagen mussten. Richard wurde zu einer Geldbuße verurteilt. Er meldete sich bei mir nie wieder. Auch Thomas und die anderen Freunde hörten nichts mehr von ihm. Er war wie vom Erdboden verschluckt.

Die Prüfungszeit war schnell gekommen. Ich hatte mich zuvor noch vier, fünf Mal mit Thomas getroffen. Er konnte mir wichtige Tipps in Sachen Mathematik geben. Mit seiner Hilfe habe ich mich erfolgreich durch die Prüfung gekämpft. Ich machte das ganz schematisch. Bei jeder Aufgabe arbeitete ich soweit ich konnte genau nach einem Schema das Thomas mir beigebracht hatte. Das funktionierte zumindest soweit, dass ich die Prüfung bestehen konnte. Die Logik die sich hinter der tatsächlichen Lösung der Aufgaben verbarg, hatte ich bis zum Abschluss der Schule nicht wirklich verstanden. Ende Juni hielt ich ein mittelmäßiges Abschlusszeugnis in Händen. Ich hatte es gerade noch geschafft!

18. Studium

Es war ein Glücksfall. Viel zu viele Bewerber hatten sich für einen Studienplatz beworben. Die zentrale Vergabestelle hatte mich unter Tausenden ausgewählt für einen Studienplatz in der Stadt. Das Schreiben der zentralen Vergabestelle hätte andere Menschen in Begeisterung versetzt. Bei mir war es anders. Ich hatte nicht recht gewusst was ich eigentlich studieren sollte mit meinem mäßigen Abschlusszeugnis. Nicht nur deshalb, sondern auch wegen meiner mangelnden Interessen wusste ich das nicht. Ich hatte keine Ahnung wo meine wahren Interessen eigentlich lagen.

Nach dem Schulabschluss hatte ich mir einen Job als Nachtwächter besorgt. Nächtelang saß ich an der Pforte einer großen Fabrik herum. Dort sinnierte ich über mein Leben und meine Zukunft. Dabei entstand außer der Idee mich für diesen Studienplatz zu bewerben, allerdings nichts. Ich war froh, dass ich den Job an der Pforte gefunden hatte. Er brachte mir wegen der Nachtschichtzulagen durchaus eine hübsche Summe Geld ein. Aber er entfernte mich von den Mitbewohnern in der Wohngemeinschaft, denn tagsüber schlief ich.

Die Freunde aus der Schule waren nach einem rauschenden Schulabschlussfest schnell von der Bildfläche verschwunden. Ich hatte innerhalb eines knappen viertel Jahres von Juli bis Studienbeginn im Oktober keine neuen Freunde kennengelernt und hatte das Gefühl, alle bisherigen Freunde verloren zu haben. Die einzigen die blieben waren die Mitbewohner zu denen ich wegen der Nachtarbeit aber kaum mehr Kontakt hatte.

Der Studienbeginn brachte mich vom ersten Tag an zurück in die reale Welt. Plötzlich tummelte ich mich täglich in lauten, aufgewühlten Massen von Erstsemestern. Tagelang fühlte ich mich wie geschockt in dieser Menge junger Menschen die sich in Einschreibungs-Schlangen vor Hörsälen und Seminaren drängten. Nach einer Woche stellte ich fest: Ich kenne niemanden. Wo waren meine früheren Mitschüler geblieben? Keinen traf ich im ersten Semester wieder. Zwei Wochen lang bewegte ich mich wie traumatisiert durch die Seminare und Vorlesungen. Ich fühlte mich wie nach einem Jet-lag. Die Umstellung von Nachtbetrieb an der Pforte auf Tagesarbeit als Student kostete mich die ersten zwei Studienwochen.

Ich verstrickte mich schließlich in Zweifel ob so ein Studium für mich überhaupt richtig wäre. Ich dachte darüber nach das Ganze schnell wieder hinzuschmeißen. Ich telefonierte mit der Fabrik und fragte im Personalbüro an ob der Nachtwächterjob, den ich wegen dem Studium aufgegeben hatte, noch frei wäre. Der war aber bereits besetzt.

Die Sekretärin fragte mich verdutzt ob ich denn nun doch nicht mit dem Studium begonnen hätte. Ich erklärte, dass ich mir daneben die Mitarbeit in der Pforte der Fabrik weiterhin vorstellen könnte vor allem auch aus finanziellen Gründen. Sie versprach mir einen Bewerbungsbogen zu schicken.

Tage verbrachte ich in meinem Wohngemeinschaftszimmer unter der Dachschräge. Ich hörte laute Musik und gammelte vor mich hin. Die unbekannten Menschen im Studium hatten mich verunsichert. Die Dozenten wirkten wie Experten von einem anderen Stern die unbekanntes, nicht nur in unbekannter Sprache, sondern auf bis dato vollkommen unbekannte Art und Weise in einer mir fremden Form der Artikulation wiedergaben.

Auf dem Bett in meinem WG-Zimmer hörte ich den Sound von Bands wie Little-Feat und sinnierte darüber, dass ich versuchen sollte den Nachtwächterjob wieder zu bekommen. Ich sah es als Fehler an den Vertrag nur befristet bis zum Studienbeginn geschlossen zu haben und träumte von der Vorstellung, dass dieser Job für mich meine Zukunft bedeuten könnte. Ich überlegte welche Chancen ich hätte die Sekretärin zu überreden den Personalchef dahin zu beeinflussen den neuen Mitarbeiter zu entlassen und mich wieder zu nehmen. Ich schmiedete an einem Argumentationsplan der schlüssig darstellen sollte wie es dazu kam, dass ich den Job mit dem Studienbeginn vereinbarungsgemäß beendet hatte und nun aber wieder einsteigen wollte.

Nach drei Tagen auf dem Bett mit Musik in meinem sonst stillen WG-Dach-Zimmer wunderten sich meine Mitbewohner darüber, dass ich morgens nicht mehr zum Frühstück erschien. Bei der abendlichen Skat-Runde fragten sie mich schließlich wie es denn mit dem neuen Studium so laufe. Da blieb mir nichts anderes als zu behaupten, dass ich ein geistiges Bedenkpäuslein eingelegt hätte. Daraufhin erhielt ich eine Unzahl von gut gemeinten Tipps und Ratschlägen. Die Skat-Runde wurde meinetwegen sogar für diesen Abend ausgesetzt. Ich war darüber nicht traurig, denn mein Skatspiel war trotz häufigen Übens mit den WG-Mitbewohnern auf niedrigstem Interesse für diese Leidenschaft hängen geblieben.

Mit mir wurde nun diskutiert. Es wurden studentische Meinungen zu Engagement und Studienbegeisterung, zu didaktischen Dozentenqualitäten und der Hochschulausstattung, zu studentischer Mitverwaltung, aber vor allem Mitverantwortung für den teuer zu erwerbenden Abschluss besprochen. Zum Schluss der Lehrstunde wurde mir bewusst, dass ich die zurückliegenden drei Tage auf Staatskosten in meinem Bett zu lauter Hippiemusik vor mich hin meditiert hatte. Tagelang hatte ich die einmalige Gelegenheit ignoriert mich in einem gebührenfreien Bildungsbaukasten zu bedienen. Mein Hirn hatte ich der Gefahr ausgesetzt frühzeitig zu vergreisen, indem ich ihm die feil gebotene, zum Gourmetmenü aufbereitete, Nahrung verweigerte. Der Bildungsgourmetbetrieb, aus welchem ich meine Birne nähren könnte, so lernte ich an dem skatspielfreien Abend in der Wohngemeinschaft, sei heute ein qualitativ hochwertiges Produkt unserer Zeit. Ein WG-Mitbewohner verstieg sich zu der Vermutung, dass unsere Bildungszeit von nachfolgenden Generationen vermutlich als „goldene Achtzigerjahre der kostenlosen Bildung“ gelobt werde. Deshalb gäbe es, wenn ein Mensch wie ich den Zugang zum Bildungssystem gefunden hätte, keinen vernünftigen Umstand die goldene Eintrittskarte grundlos zu verspielen!

Das Wohngemeinschaftstribunal befand nach stundenlanger Anhörung, dass ich keinerlei glaubwürdige Argumentation vorzuweisen hatte, die nachvollziehbar begründen könnte, dass ich mein WG-Zimmer auch tagsüber während Studienveranstaltungen frequentierte. Vor allem nicht um mich unnützer Träumereien jedweder Art hinzugeben.

Das war meine Wohngemeinschaft! Von ihr hatte ich ein viertel Jahr lang nichts mehr gespürt weil ich meine Schule abgeschlossen hatte, das Studium noch nicht begonnen hatte, ich mir die Nächte mit dem Job als Nachtwächter um die Ohren geschlagen hatte, um die Tage zu verschlafen.

19. Zusammenspiel

Im juristischen Seminar wurden wir von einem zugeknöpften hundertprozentigen Juristen unterrichtet. Das Rechtsseminar galt als Studienbrecher Nummer eins. Ihm fielen die meisten Studenten zum Opfer. Das hing wohl damit zusammen, dass zur Zwischenprüfung das juristische Material aus vier Semestern zur Prüfung an stand. Ich hatte den Eindruck, schuld daran könnte auch der unterrichtende Jurist haben, gegenüber dem sich automatisch eine gewisse Abwehrhaltung breit machte. Diese wiederum könnte zu einer Lernhemmung bei den Studenten führen. Das blieb meine Hypothese.

Der Mann bereitete das ohnehin trockene Material buchstabengetreu gemäß den zu unterrichtenden Gesetzen auf. Der Praxisbezug, der in dem Studiengang in anderen Fächern durchaus Relevanz hatte, schien im juristischen Seminar, wenn überhaupt, nur nebenbei hin und wieder von Wichtigkeit. Selbst die der Juristerei innewohnende Logik, anhand derer ein Lernender sich einen Zugang zu diesem Gebiet verschaffen könnte, schien dem Dozenten eher im Weg zu stehen. Er nutzte die Fülle der Gesetzestexte um sie umfangreich so zu zitieren, so als unterrichte er in einem philosophischen Seminar. Das war durchaus beeindruckend, denn letztlich stellte sich heraus, dass der Mann manches Gesetzbuch auswendig rezitieren konnte.

In der zehnten juristischen Vorlesung dieser Art fanden sich einige neue Studenten ein, während andere nicht mehr erschienen. Das war ganz normal, denn zu Beginn des Studiums war es noch unklar, wer in dem Studium bereits richtig gelandet war. Andere wiederum hatten ihren Weg in das Studium deshalb noch nicht gefunden, weil sie als Nachrücker auf irgend einer Liste von der zentralen Vergabestelle einen Studienplatz an der Uni der Stadt erhielten.

An dem Tag nahm ich im Seminarraum an einen Tisch Platz der ansonsten noch völlig leer war. Neben mir, vor mir und hinter mir gab es weitere freie Plätze. Das Seminar war insgesamt schwach besucht. Minuten vor Beginn der Vorlesung stand eine Studentin in der Türschwelle die ich bis dahin nicht gesehen hatte. Sie musterte kurz den gesamten Raum. Schließlich bewegte sie sich zielstrebig in meine Richtung. Sie setzte sich neben mich. Nicht nur das, sie lächelte mich an, reichte mir die Hand und sagte:
„Hallo, ich bin Regina.“
Da war ich platt und antwortete:
„Hallo, ich bin Bernado.“
Mehr hatte ich dazu nicht zu sagen.

An diesem Tag verstand ich den Juristen immer weniger. Ich versuchte konzentriert und interessiert zu wirken, beschäftigte mich aber vor allem mit der Frage was es bedeuten könnte, dass sich eine Regina ausgerechnet neben mir niederließ, obwohl doch der halbe Raum leer gewesen war.

In den folgenden Seminaren wiederholte sich das. Sie setzte sich einfach auf den Platz neben mir. Das entwickelte sich zur Normalität. Sie saß neben mir. Bald sah das so aus, als sei es unsere Normalität. Keiner in den Seminaren wusste, dass wir uns vor der zehnten juristischen Vorlesung noch nie begegnet waren. Ich musste nichts tun, es ergab sich stets, dass sie neben mir im Seminar saß.

Sie war von Anfang an interessant. Ich hatte sie in der Türschwelle gesehen und dachte mir genau das: Interessant. Später erkannte ich, dass es Gründe dafür gab wie sie wirkte. Sie war intelligent und stellte oft genau die richtigen Fragen an richtiger Stelle. Sie hatte wohl ein starkes Selbstbewusstsein. Sie interessierte sich für mich, das war klar. Sie ging nicht nur auf mich zu, nein da war noch viel mehr. Sie hatte sich mich ausgesucht. In dem Seminarraum wären genug andere Studenten gewesen, trotz der vielen freien Plätze. Sie hatte sich für mich entschieden.

Nach diesem Erlebnis war der Jet-lag vom Studienbeginn für mich endgültig Vergangenheit. Ich war hellwach geworden. Die Nachtschicht in der Fabrik, die ich auf den Tag im Studium verlegt hatte, war vorüber. Ich hatte eine intelligente Regina kennen gelernt. Nein, sie hatte mich genommen um mich kennen zu lernen. Ich musste ab diesem Zeitpunkt zeigen wer ich war denn ich wurde von ihr täglich gesehen. Das war das Ende meiner Tagträume. Es ging nun darum Regina zu beweisen, dass ich ihr in Sachen Intelligenz nicht all zu weit nach stand, dass sie eine Wahl getroffen hatte, die ihrem geistigen Level entsprach.

Die Sache zwischen uns entwickelte sich rasant. Sie wurde für mich zu einer guten Freundin und später zu einer Partnerin. Noch im ersten Semester entwickelte sich eine Freundschaft die schnell an Intensität gewann, von der ich bald den Eindruck gewann, dass wir beide uns seit langer Zeit kannten, so dass wir jederzeit zusammen Pferde stehlen könnten weil wir ein gut aufeinander eingespieltes Team waren.

Der hundertprozentige Jurist hatte zum Abschluss von einem seiner vier Rechtsseminare ein mündlich zu absolvierendes Kolloquium als Prüfung angesetzt. Bei der Einschreibung für die Prüfung fiel uns beiden auf, dass der Prüfungstermin rechtlich gesehen gar nicht zulässig war, weil er außerhalb der in der Studienordnung vorgesehenen Prüfungszeiträume lag. Wir wunderten uns darüber nicht lange, sondern begannen gleich danach zu forschen, welchen Grund der zugeknöpfte Jurist dafür wohl haben könnte.

Außer uns beiden schien diese Ungereimtheit niemandem aufzufallen oder zu interessieren. Regina ermittelte dank ihres Charmes die Gründe bei einem Sekretär im Vorzimmer des Dekans. Der Volljurist plante in der offiziell angesetzten Prüfungszeit einen umfangreichen Vortragsmarathon an einer Schwesteruniversität im deutschsprachigen Ausland. Deshalb hatte er das Prüfungs-Kolloquium einfach außerhalb der Prüfungszeit angesetzt. Ein klarer Verstoß gegen die Prüfungsordnung. Für einen Juristen eine erstaunlich freie Rechtsauffassung aber vor allem eigennützig und daher markant menschlich meinte Regina.

Wir beide meldeten uns am Semesterende zu einem der ausgeschriebenen Themen bei dem Juristen zur Kolloquiums-Prüfung an. Allerdings wählten wir ein Thema das wir auf dem Prüfungsplan fanden, von dem wir noch nie etwas gehört hatten. Das schien uns außergewöhnlich reizvoll. Dass wir das Thema nicht kannten war spannend und deshalb für unser Vorhaben sehr gut.

Regina fragte mich:
„Wie konnte dieses Thema in die Prüfung geraten? Plant der Mann tatsächlich etwas zu prüfen das im Semester niemals Erwähnung gefunden hatte?“

Wir ließen den Prüfungstag mit dem Kolloquium auf uns zukommen ohne uns auf das Thema vorzubereiten. Unsere Absicht war klar. Wir wollten Pferde stehlen. Kurz vor der Prüfung bekamen wir aber ein wenig Angst. Regina fragte mich ob wir das Ding jetzt wirklich einfach durch ziehen sollten.
Ich nickte und sagte:
„Jetzt ist „ab und durch“ angesagt weil ‘s eh schon zu spät ist.“

Im Prüfungsraum saßen wir beide dem Professor gegenüber der sofort begann einen Gesetzestext zu zitieren. Nach drei Minuten fragte er wie der Text im Kontext des gewählten Prüfungsthemas nun juristisch einzuschätzen sei. Wir saßen vor dem Mann und schwiegen. Das taten wir etwa zwanzig Sekunden lang.
Schließlich sagte ich:
„Wir sind heute gekommen um mit Ihnen zu verhandeln.“
Darauf antwortete der Jurist:
„Aha! Das ist ein interessanter Einstieg in diese Materie!“
Regina:
„Wir haben Ihnen etwas wirklich interessantes anzubieten.“
Der Jurist:
„Ah ja, ich weiß schon worauf Sie hinaus wollen und das trifft die momentane, aber vor allem wohl künftige, Debatte rund um diese juristische Thematik wohl schon ziemlich genau.„
Ich:
„Wir haben uns auf diese Verhandlung selbstverständlich sehr gut vorbereitet. Wir erlauben uns frei heraus alles zu gestehen. Zu dem Thema selbst können und wollen wir aber nichts weiter sagen. Wir haben Ihnen ein Handelsangebot in beiderseitigem Interesse zu unterbreiten.“
Der Jurist:
„Genau das trifft die Sache! Solches gibt das Strafrecht heutzutage nun wirklich nicht her! Es wird aber mehr und mehr, und das ist erschreckend, selbst von eingefleischten Juristen in höchsten Ministerien gefordert.“
Regina:
„Der Handel den wir für Sie mitgebracht haben basiert auf unserem reuevollen Geständnis: Wir haben uns nur auf das Verhandeln mit ihnen vorbereitet nicht aber auf das eigentliche Thema. Ein konsensfähiger Deal zwischen uns beiden dient letztlich unserem beiderseitigen Gewinn!“
Jetzt holte der Jurist voll aus:
„Damit haben Sie das Thema im Kern erfasst! Das deutsche Strafrecht schließt genau dieses aus. Das Gericht verhandelt mit dem Angeklagten nicht! Es verurteilt nach einer souverän geführten, geordneten Beweisaufnahme gemäß den Buchstaben des Gesetzes. Es wird nicht verhandelt, es ist im Sinne geltender Gesetze zu verurteilen! Das meint der „Inbegriff der Verhandlung“ im Sinne der Strafprozessordnung, dass eine Verurteilung nicht auf dem Einverständnis des Verurteilten beruht, sondern auf Wahrheit und Gerechtigkeit!“

Der Jurist blickte uns beide angestrengt an. Er erwartete keine Antwort. Er setzte die Brille ab. Atmete dabei tief ein, womit er wohl seinen drei letzten Worten zu schwerem Gewicht verhelfen wollte. Einige schweigende Sekunden später setzte er die Brille wieder auf als wollte er in einen Text lesen. Er fixierte uns seine beiden Prüflinge und fuhr nach erneutem tiefem Einatmen mit harter Stimme fort:

„Die Wahrheit wird das Gericht aber durch einen Deal nicht herausfinden! Eine Verurteilung, ohne dass sich die Schuld des Verurteilten zu einer gewachsenen Überzeugung des Strafgerichtes stabilisiert, verbietet sich vor dem Hintergrund des strafrechtlichen Verfassungsrechtes. Demnach sind wir keine Verhandlungspartner! Sie die Angeklagten sind mit allen Instrumenten der Strafjustiz zu belehren, zu beraten, zu verteidigen und schließlich zu verurteilen. Alles andere entspringt letztlich einer fatalen Fehlentwicklung von Rechtsstaatlichkeit die das deutsche strafrechtliche Verfassungsrecht keinesfalls zulässt. Ihr Deal ist dorthin zu verbannen wo er hingehört: Auf den Jahrmarkt!“

Regina und ich saßen schweigend vor dem Juristen. Der hatte sich offenbar in einen Richter verwandelt. Unser Schweigen dauerte Sekunden. Es waren Sekunden die sich wie Minuten anfühlten. Mein Kopf war leer. Ich glaubte, dass wir beide mit unserer Nummer vom Pferde stehlen in einen völlig falschen Film hineingeraten waren. Wir hatten uns in ein unkontrollierbares abseits manövriert. Die Ausführungen des dozierenden Juristen waren fünfmal so umfangreich wie der Beitrag von uns beiden. Angesichts eines Prüfungs-Kolloquiums schien mir der von uns wiedergegebene Textbeitrag zum Thema extrem kurz geraten. Wohin hatten wir uns verstiegen? Mit wem hatten wir uns hier angelegt? Wie soll das nun weitergehen? Keine Ahnung. Das war alles was mein Hirn dazu zu sagen hatte.

Regina brach das Schweigen. Sie sagte:

„Sie sprechen noch kein Urteil über uns! Wir ziehen unseren Vorschlag zurück. Nichts haben wir Ihnen anzubieten, denn wir sind keine Handelspartner von Ihnen. Diese Rolle steht uns nicht zu, denn es gibt sie gar nicht. Wir fügen uns, denn wir wissen wohl, dass der Richter am deutschen Gericht kein Schiedsrichter ist. Das Gerichtsurteil ist als wahr in der von Ihnen getroffenen Feststellung und als gerecht betreffend des vom Gericht verhängten Strafmaßes letztlich nur von Ihnen Herr Richter allein zu verantworten! „

Volltreffer! Der Jurist war von unserer Show schwer beeindruckt. Er war überzeugt, dass wir das von ihm gestellte Thema aufgelockert und ungewöhnlich präsentieren wollten. Wir mussten unsere eigentliche Absicht Pferde zu stehlen gar nicht in die Tat umsetzen. Wir brauchten dem Mann nicht damit zu drohen, ihn mit seiner außerhalb der Prüfungszeit angesetzten Prüfung auffliegen zu lassen. Wir mussten mit ihm nicht über das verhandeln, was er uns für unser Schweigen anzubieten hatte, weil er uns für unsere Show ohnehin eine gute Note gab. In dessen Augen hatten wir den Kern des Prüfungsthemas getroffen.

Regina hatte sofort begriffen worum es ging. Mit Ihren Schlussworten hatte sie den zugeknöpften Juristen schwer beeindruckt. Für Studenten im ersten Semester schien ihre Show dem Thema zu begegnen perfekt inszeniert. Der Zugeknöpfte war hoch zufrieden damit zwei Erstsemester-Prüflinge vor sich zu haben, die seine Prüfung in eine Art Schauspiel verwandelten. Dass der Jurist den Hauptbeitrag dazu selbst geliefert hatte, spielte keine Rolle. Ich glaube er war einfach sehr begeistert davon, dass er in dem Rollenspiel den Richter spielen durfte.

Regina hatte nicht nur den Juristen, sondern auch mich schwer beeindruckt. Ich hatte zum Schluss geschwiegen, weil mir schlicht nichts eingefallen war. Ich wusste nicht wie wir aus dieser Szene wieder herauskommen. Regina aber hatte durchschaut worum es ging. Sie hatte die Sekunden unseres Schweigens genutzt, um ihre Sätze im Kopf zu sortieren. Sie ließ sich nicht beirren. Schon gar nicht versetzte sie sich selbst, so wie ich es getan hatte, in einer Art geistige starre. Sondern sie nutzte die Sekunden um eine souveräne, geordnete und überzeugende Antwortet zu geben. Ich fand in meinem Kopf nur Leere. Ich fand tiefes Unverständnis darüber was nun zu sagen war. Ich fand sogar Angst darüber wohin was wir angerichtet hatten führen könnte. Deshalb verlor ich in dem Gespräch die Fähigkeit zu führen. Regina führte uns.

20. Gemeinsames Studieren

In den ersten Semesterferien fuhren wir zusammen in einen wochenlangen Urlaub nach Griechenland. Wir reisten mit Rucksäcken und fuhren per Bahn, Bus und per Anhalter. Regina hatte es geschafft. Sie hatte erreicht was sie wollte. Wir waren ein Paar geworden. Sie war richtig glücklich. Monatelang war ich überrascht wie sich das entwickelt hatte und wie schnell das alles gegangen war. Meine Überraschung aber verflog mehr und mehr. Regina entwickelte sich zu meiner Realität. Ich ließ mich darauf ein.

Sie hatte zwei befreundete Paare aufgetrieben mit denen wir gemeinsam die Reise antraten. Die beiden anderen Paare entpuppten sich als erstaunlich lockere Personen. Ich hatte nämlich zunächst Bedenken, denn ich wollte nicht, dass der Urlaub ein Stresspotential in Richtung Gruppendynamik entwickelte. Außerdem dachte ich, ist das ja immer so eine Sache mit Paaren im Urlaub. Was ich damit genau meinte wusste ich aber nicht, denn so einen Urlaub hatte ich noch nie erlebt. Regina war die erste Partnerin mit der ich so einen Urlaub plante.

Regina setzte sich durch. Tatsächlich gab es keinen Stress. Man einigte sich über die Etappenziele und Aufenthaltsorte. Alles verlief äußerst harmonisch und es kam zu keinerlei Streit. Jedes Paar verfolgte die eigenen Interessen soweit das möglich war. Die gemeinsamen Interessen kamen nicht zu kurz. Der Urlaub wurde zu einem gemeinsamen Ereignis das uns beide enger zusammenbrachte.

Im zweiten Semester war es Alltagsnormalität geworden, in Begleitung von Regina das Studium zu durchlaufen. Es war völlig normal, dass wir uns ständig sahen, miteinander arbeiteten und uns liebten. Ich schöpfte aus dem Kontakt sehr viel Energie die ich am Anfang des Studiums nicht gehabt hatte. Regina war eine tolle Frau an meiner Seite. Das lag vor allem daran, dass sie es perfekt beherrschte in jeglicher Hinsicht eine ungewöhnliche Souveränität auszustrahlen. Diese Souveränität, gepaart mir ihrer Intelligenz, beeindruckte mich. Ihre Unauffälligkeit bestand in ihrer Klarheit, in ihrer deutlichen Sprache, ihrer Gewandtheit sich an richtiger Stelle zum richtigen Zeitpunkt genau passend einzubringen. Sie hatte es in keinem Studienfach nötig sich in den Vordergrund zu spielen. Sie hatte es nicht nötig Aufmerksamkeit zu erregen, sie bekam sie. Dass ich auf ihrer Seite war weil sie mich ausgewählt hatte, schien ihr außerordentlich wichtig zu sein. Sie ließ daran keinen Zweifel. Mir schien ich gehörte in das Bild das sie von sich hatte.

Ich fühlte mich dabei sehr wohl. Es war nach dem gemeinsamen Urlaub mit den zwei befreundeten Paaren so, als gehörte ich schon immer zu ihr. Ich konnte mir keine andere Lebenssituation mehr vorstellen. Was ich zuvor getan hatte, wie ich gelebt hatte ohne sie, das war unvorstellbar für mich geworden. Ich verschwendete keine Gedanken daran, denn ich hatte das Gefühl in meinem Leben mit ihr zusammen angekommen zu sein in dem ich glücklich geworden war, so wie ich das niemals zuvor erlebt hatte. Wie das entstanden war, warum es sich entwickelt hatte oder wie das überhaupt gelingen konnte, diese Fragen stellte ich nicht. Es gab sie nicht denn sie waren unnötig. Es war mit Regina einfach so geworden wie es war und das war gut so.

Nach dem Urlaub schenkte mir Regina ein wunderschönes Foto von sich. Es war ein Schwarzweißfoto das sie vergrößern ließ und mir in einem hübschen Bilderrahmen überreichte. „Damit kannst du deine Studenten-WG-Bude etwas schmücken“, sagte sie lächelnd zu mir. Tatsächlich sah es in meinem winzigen Wohngemeinschaftszimmer nicht gerade edel aus. Das hübsche Bild platzierte ich an verschiedenen Stellen in dem kleinen Raum. Es wollte sich aber nicht gleich der richtige Platz dafür finden. Wegen der Dachschrägen wirkte das Zimmer kleiner als es ohnehin war. Ich wusste einfach nicht wohin mit dem Bild. Also räumte ich es in die Schreibtischschublade.

Ich legte mich auf das Bett und dachte nach. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich eine richtige Partnerin die mir nun auch noch ein hübsches Bild von sich geschenkt hatte. War das ein Traum oder die Wahrheit? Ich versenkte das Bild in der Schublade? Das ging gar nicht! Ich stand auf, setzte mich an den Schreibtisch und öffnete die Schublade. Da lag sie drin. Regina lächelte mir entgegen. Ich nahm das Bild wieder heraus.

Jetzt fand ich das Schreiben, den Brief, den Richards Onkel vor dem Schulabschluss im Jahr zuvor untersucht hatte. Seit dem Nachmittag im Laden von Richards Onkel lag es zwischen Papieren in meiner kleinen Schreibtischschublade. Ich hatte mich nicht weiter darum gekümmert. Es hing auf der Unterseite von Reginas Bild. Es hatte sich hinten am Bilderrahmen an einer Ecke eingekeilt.

Ich legte das Schreiben vorsichtig neben Reginas Bild auf den Schreibtisch. Ich saß und überlegte. Der Bilderrahmen war ein Standardrahmen mit Halterung für die Wand und ausklappbarem Fuß damit man es auf einen Tisch stellen konnte. Mit meinem Taschenmesser öffnete ich vorsichtig den Rahmen. Ich nahm die Vorderseite heraus. Auf die Rückseite des Fotos legte ich das Schreiben. Ich setzte den Bilderrücken wieder ein. Das Bild hängte ich an die Wand an einen Haken neben dem Bett. Vom Bett aus konnte ich es so gut sehen. Das schien mir ein sehr guter Platz für Reginas Foto.

Das Studium entwickelte sich mit Regina zusammen sehr gut weiter. Meine anfänglichen Konzentrationsschwächen wegen der Frau an meiner Seite waren im zweiten Semester endgültig verschwunden. Ich konnte wieder voll mithalten. Wir unterstützten und ergänzten uns gegenseitig. Was ich nicht wusste, wusste sie und manchmal auch umgekehrt. Weil wir ähnliche Interessen hatten konnten wir uns in der Fachauswahl bestens ergänzen.

Der Freundeskreis von Regina entwickelte sich wie selbstverständlich auch zu meinem. Das fing bei den beiden Pärchen aus dem Urlaub an und baute sich rapide weiter aus, so dass ich in Windeseile massenhaft neue Bekannte gefunden hatte. Reginas Stammkneipe war das Café Notfall in Haidhausen. Ich kannte die Kneipe aus früheren Zeiten, als ich noch die Schule besucht hatte. Deshalb wunderte ich mich darüber, dass ich Regina dort damals nie getroffen hatte. Das klärte sich auf. Regina hatte das Café Notfall erst mit Studienbeginn zu ihrer Stammkneipe erklärt. Wir trafen uns dort mehrmals wöchentlich mit all ihren und meinen neuen Freunden. Von meinen früheren Bekannten aus der Schule traf ich in der Kneipe erstaunlicher Weise niemanden mehr. Sie waren alle wie Richard wie vom Erdboden verschluckt.

Im Café Notfall hatten wir jahrelang sehr viel Spaß miteinander. Wir feierten stets, obwohl es eigentlich nie richtig was zum Feiern gab. Das Café entwickelte sich zu einem kultischen Treffpunkt, in dem wir beide bald bekannt waren wie bunte Hunde. Mit beinahe jedem Gast hatten wir mindestens einmal gesprochen. Es entwickelte sich zu einem zweiten Zuhause. Es wurde unser Kneipenzuhause. Wir wussten dort stets Kontakt zu finden. Das musste zuvor nicht telefonisch organisiert werden. Es war eine Wohltat nicht jeden Abend mit Freunden telefonisch die Kneipe vereinbaren zu müssen. Wir trafen uns automatisch im Café Notfall. So etwas hatte ich bis dahin in der Stadt noch nicht erlebt. Es war überaus angenehm und einfach.

Meine Mitbewohner aus der Wohngemeinschaft spielten letztlich auch wegen Regina wieder eine größere Rolle für mich. Regina besuchte mich oft. Sie war eine die sich abends in der WG mit an den Tisch setzte. Die Skatrunden spielte sie bis tief in die Nacht hinein enthusiastisch mit. Das war begeisternd. Denn meine Fähigkeiten beim Skat waren lange Zeit wahrlich begrenzt. Ich hatte damals meist ab elf Uhr Nachts einen schläfrigen, glasigen Blick in den Augen. Um zwölf Uhr nachts war es mir stets wichtig nach jeweils vier Runden für ein Minuten langes Nickerchen auszusetzen. Gegen ein Uhr Nachts konnte ich nur noch verlieren. Beim Ramsch war ich für die Mitspieler das optimale Verlierer-Opfer.

Das war mit Regina in den Skatrunden schnell vorbei. Ich konnte mich nicht weiterhin einfach so gehen lassen. Ich hatte mitzuhalten und ich konnte mithalten. Das war nicht nur für mich persönlich überraschend. Es wirkte sich auf die Mitspieler aus. Den ausgemachten Verlierer gab es nicht mehr. Nachts um drei saß ich am Skattisch und kannte die Blätter in den Händen der Mitspieler. Ich rechnete mit, als habe ich deren Blätter in meiner Hand. Keiner, am wenigsten ich selbst, hatte damit gerechnet. Die Skatrunde endete nachts nicht mehr vor drei Uhr. Ich war nicht mehr müde. Regina und ich waren spät nachts stets die letzten die immer noch weiterspielen wollten. Aber es gab in der Villen-WG keinen dritten Spielpartner der mit uns mithalten konnte.

21. Arbeiten

Mein Studentenleben finanzierte ich mit verschiedenen Jobs. In der Wohngemeinschaft gab es eine Doppelgarage mit einem großen Vorplatz. Dort reparierte ich Autos von Freunden und Bekannten. Seit ich nach dem Urlaub mit Richard die Bremsbeläge gewechselt hatte, merkte ich, dass mir die Bastelei an Autos lag. Das sprach sich schnell herum, so dass ständig mindestens ein Reparaturfahrzeug vor der Garage stand.

Nachmittags bastelte ich bis in den frühen Abend beinahe täglich an zu reparierenden Auspuffanlagen, schweißte an Löchern in Bodenblechen herum, baute defekte Lichtmaschinen aus, schraubte Zündkerzen rein und raus, zerlegte defekte Wasserpumpen oder reinigte Vergaser und ersetzte Filter. Die Mitbewohner der Wohngemeinschaft sorgten dafür, dass ich mir ein regelrechtes Kundenbüchlein anlegen musste, denn wöchentlich kam mindestens ein neuer Anruf von irgendeinem Studenten, der mir seine Rostlaube vorbei bringen wollte. Dass die Garage und der Parkplatz von mir binnen Monaten zu einer Werkstatt mit Schweißanlage, Auffahrrampe und jeder Menge Werkzeug verwandelt wurden, störte niemanden.

Die Bastelei an den Autos war ein traumhafter Ausgleich zum Studium. Aber ich verdiente dabei kaum Geld. Denn ich lernte, dass ich kein guter Verkäufer war. Meine Kunden hatten wie ich nur wenig Geld. Deshalb verkalkulierte ich mich beinahe bei jedem zu reparierenden Wagen. Ich war nicht in der Lage, die Preise nach oben zu verhandeln. Die Zeit die ich investierte, das Werkzeug das ich kaufte und die Ersatzteile die ich benötigte, fraßen beinahe immer die Zahlungen der Kunden komplett auf. Ich investierte viel Zeit. Ich war ja kein gelernter Mechaniker. Also war beinahe jedes Problem Neuland. Ich hatte mich stets neu einzuarbeiten. Das kostete Zeit und brauchte viel Geduld. Beides nahm ich mir. Für mich stand im Vordergrund selbst bestimmt, genau, aber nicht unbedingt schnell zu arbeiten. Ich arbeitete nach meinem Rhythmus. Das war ein Rhythmus der die Tüftelei, das Lösen eines Problems, wie etwa der Reparatur einer defekten Radnabe ohne Fachwerkzeug beizukommen war, in den Mittelpunkt stellte. Ich widmete mich den Herausforderungen der Schrottlauben der Studenten akribisch wie ein Forscher dem ständig neue Probleme begegneten.

Für manche Klapperkiste, an der ich viele Nachmittage herum schraubte, wäre es wesentlich effizienter gewesen einen Schrottplatz zur Endlagerung anzusteuern. Stattdessen ließ ich mich herausfordern den TÜV davon zu überzeugen, dass hoffnungslos durchgerostete Türschweller, Radläufe und sogar Achsaufhängungen so zusammengeschweißt werden konnten, dass sie höchstens optisch aber nicht technisch zu bemängeln waren.

Bei den Freunden wurde ich schnell bekannt als einer dem zu fast allen Problemen am Auto immer eine Idee einfiel und der mit viel Geduld keinen Aufwand scheute, wenn es darum ging den letzten Müllhaufen von Fahrzeug wieder in einen technisch ordentlichen, fahrbaren Untersatz zu verwandeln. Ich war für viele Studenten die ideale Werkstatt. Eigentlich konnten sich die wenigsten meiner Kunden ein Auto wirklich leisten. Deshalb brauchten sie eine Werkstatt wie mich.

Geld verdiente ich mit einem anderen Job. Den Nachtwächterjob hatte ich mit dem Bewerbungsbogen, den mir die Sekretärin geschickt hatte, erfolgreich in einen Wochenendjob, den ich samstags und sonntags tagsüber erledigen konnte, verwandelt. Die Fabrik war mit meiner Bewerbung einverstanden. Ich hatte mich zufällig unmittelbar nach dem Tod eines zuverlässigen Rentners der das bis zu seinem Ende gemacht hatte, für den Wochenenddienst interessiert.

Dort fand ich viel Ruhe um intensiv zu lernen. Die Tag-Schicht der Arbeiter fand am Wochenende in der Fabrik reduziert statt, der Bürobetrieb der Verwaltung fand gar nicht statt. Unfälle die in der Nachtschicht durchaus regelmäßig den Nachtwächter an der Pforte beschäftigten, gab es praktisch nicht. So konnte ich mit diesem Job nebenher jedes Wochenende alles aufarbeiten was ich während der Studienwoche nicht verstanden hatte.

Regina war zuerst nicht sehr begeistert davon, dass ich jedes Wochenende samstags und sonntags in der Pforte der Fabrik arbeitete. Das hinderte uns an gemeinsamen Wochenendausflügen und Unternehmungen mit Freunden. Ich verstand das gut, konnte mir jedoch keinen anderen Job vorstellen. Denn ich wusste genau, dass ich diese ruhige, regelmäßige Zeit benötigte um mir die Studieninhalte zu vergegenwärtigen. Meine Chancen, die regelmäßigen Semesterprüfungen zu bewältigen oder gar die Vorprüfungen zu meistern, wären ohne den Pförtnerjob am Wochenende rapide gesunken. Ich hätte mich niemals regelmäßig abends oder am Wochenende in der Wohngemeinschaft in meinem stillen Kämmerlein an den Schreibtisch gesetzt. Die Zeitstruktur des regelmäßigen Wochenendjobs war fix festgelegt. Das war für mich optimal um wirklich was zu lernen. Eine feste Zeitstruktur zum Lernen selbstständig festzulegen, hatte ich niemals gelernt.

Regina lernte ganz anders als ich. Sie hatte es nicht nötig in ihrer Studentenwohngemeinschaft in der Innenstadt zu sitzen um zu lernen. Sie lernte schon in der Vorlesung viel mehr und schneller als ich. Sie konzentrierte sich offenbar ganz anders. Das hatte mir unser erstes gemeinsames Prüfungserlebnis in dem mündlichen Kolloquium bewiesen. Während ich noch über irgendetwas sinnierte, hatte sie bereits klare eigene Sätze zum Thema im Kopf. Bis ich begriffen hatte worum es ging, war sie dazu übergegangen das Thema in eigenen Worten perfekt zu bearbeiten.

Regina finanzierte ihr Studium wie ich durch Arbeit. Auch sie erhielt zeitweise ein bisschen Studenten-BaföG, nahm das aber nicht weiter in Anspruch. Der Grund war einfach. Wir waren in eine Gesetzesreform der damaligen Regierung geraten. Die hatte es genau in unserer Studienzeit als geeignete Maßnahme der Bildungsförderung definiert, die BaföG-Förderung auf Volldarlehen umzustellen. Weil das aber bedeutete, dass jeder der diese Art Förderung in Anspruch nahm, nach dem Studium einen gewaltigen Schuldenberg vorfand, verzichteten wir beide darauf. Wir entschieden deshalb das Studium in die Länge zu ziehen und nebenher zu arbeiten um es zu finanzieren.

Regina startete im zweiten Semester eine lukrative und hoch interessante Aufgabe. Sie begann gemeinsam mit einigen Dozenten an der Hochschule bei der Umsetzung von deren Buchprojekten mitzuarbeiten. Für mich war das eine unvorstellbare Aufgabe. Wie konnte es ihr gelingen schon im zweiten Semester an so ein Projekt zu kommen? Noch im ersten Semester hatten wir gemeinsam den zugeknöpften Juristen eher zufällig, oder besser durch einen Glücksfall gerade noch so über den Tisch gezogen, da traf sie sich im zweiten Semester bereits mit Dozenten um an der Veröffentlichung von deren Buchprojekten mitzuwirken?

Hätte ich sie zu diesem Zeitpunkt nach dem ersten gemeinsamen Urlaub nicht schon sehr gut gekannt, ich hätte mich wahrscheinlich aus einer diffusen Angst heraus mit irgendeiner fadenscheinigen Begründung von ihr getrennt. Sie war eine die voll durchstartete. Nur weil ich wusste, dass sie mich wollte und weil ich spürte, dass sie mich liebte, konnte ich neben ihr so leben als sei alles was sie tat für mich völlig normal. Sie aber war auf ganz anderem Niveau als ich unterwegs. Ihr Weg verlief senkrecht nach oben.

Sie hatte das gesamte zweite Semester hindurch zusammen mit fünf Dozenten an der Gründung eines eigenen kleinen Verlages gearbeitet. Der wurde schließlich mit finanziellen Mitteln der Dozenten zum Semesterende gegründet. Es ging um die Idee eine praxisorientierte Buchreihe herauszubringen. Weil sich für diese Absicht auf dem Markt aber kein Verlag fand, gründeten die fünf zusammen mit Regina ihren eigenen kleinen Verlag.

Einer der beteiligten Dozenten war der zugeknöpfte Jurist. Letztlich war er wegen ihres Auftritts in dem Erstsemester-Kolloquium auf sie aufmerksam geworden. Regina hatte den Mann von sich überzeugt. Sie hatte nach Ansicht des Mannes das Zeug, Theorie und Praxis zu verbinden. Sie war in der Lage Texte auf ihre Schlüssigkeit und damit auch Praxistauglichkeit zu prüfen und bei Bedarf gar verständlicher zu formulieren als der Jurist.

In dessen Augen verfügte Regina über bessere Fähigkeiten praktikable Übersetzungen juristischer und anderer Texte zu liefern, als jeder Dozent. Woher der Mann diese Erkenntnis bezog, blieb mir unbekannt. Regina hatte, genauso wie ich, noch nie in der Praxis gestanden. Aber auch ich fand, dass sie wunderbar schnell in der Lage war, neue Dinge, Themen, Daten und Fakten zu erfassen und aufzubereiten. Sie erkannte die Absichten eines Autors oder Vortragenden manchmal schneller als dieser lesen oder vortragen konnte. Regina war in der Lage schnell ein schlüssig formuliertes Konzept zu einem Thema zu zaubern. Ihre Konzepte hörten sich innovativ und immer irgendwie neu an. Was sie vorlegte war immer logisch aufgebaut, frei von Brüchen und verständlich formuliert. Ihre Texte überzeugten.

Regina wusste, dass ich vollkommen anders gestrickt war. Sie respektierte meinen Wochenendjob nicht nur, sondern sie besuchte mich dort beinahe jeden Samstag und Sonntag. Das tat sie anfangs um mich dort bei meinem Lernen zu unterstützen. Außerdem besorgte sie immer ein kleines Mittagessen das wir gemeinsam in einer winzigen Teeküche neben dem Pförtnerbüro zubereiteten.

Dass wir unterschiedliche Jobs, mit weit auseinander klaffendem Niveau hatten interessierte sie nicht. Es war wie selbstverständlich, dass ich Nachmittags Autos zusammen schweißte, während Sie sich mit Dozenten traf, sich mit der Verlagsgründung beschäftigte und erste zu veröffentlichende Bücher redigierte. Es war kein Thema zwischen uns, dass sie mir samstags in der Pforte der Fabrik, den einen oder anderen juristischen Vortrag einer Vorlesung aus der Vorwoche anhand praktischer Beispiele erläuterte. Für sie war es klar mich zu unterstützen. Für mich war klar, dass ich ihre Unterstützung benötigte um das Studium überhaupt bewältigen zu können.

Die Prüfungen am Ende des zweiten Semesters wären ohne sie für mich nicht zu schaffen gewesen. Ich hätte vermutlich das Studium abgebrochen. Solche Idee stellte sich ihretwegen nicht. Ich schrieb die Prüfungen bei weitem nicht so gut wie sie. Aber Dank ihr hatte ich den nötigen Durchblick um es zu schaffen.

22. Familie

Im dritten Semester schlug Regina einen gemeinsamen Besuch bei ihren Eltern vor. Sie hatte ihnen von mir erzählt. Ich war von ihrem Vorschlag überrascht. Wir hatten so gut wie nie miteinander über unsere Familien gesprochen. Das kam mir wegen meiner familiären Situation sehr entgegen.

Durch den Vorschlag von Regina wurde mir klar, dass sie ahnte oder gar wusste, warum ich das Thema bislang umschifft hatte. Sie war mir entgegengekommen indem sie mich damit nie behelligt hatte. Meine familiäre Geschichte war kein Thema zwischen uns beiden. Sie hatte sich darauf eingestellt, dass ich keine Eltern zu bieten hatte. Wir hatten höchstens zwei bis drei Mal über meine Familie gesprochen. Sie wusste, dass ich meine Kindheit bei Büchtler am Obersalzberg zugebracht hatte.

Ich sah uns beide in unserer Studienausbildung, sah unser beider Freunde im Café Notfall und unsere jeweilige Arbeit. Darin bestand unser gemeinsames Leben. Das war für mich alles. Dass aber die Eltern gefehlt hatten die man sich in einer Beziehung wie wir sie zu dem Zeitpunkt pflegten wohl irgendwann einmal gegenseitig vorstellte, zu denen man Kontakt hatte, die folglich wussten, dass die Tochter sich in einer Partnerbeziehung befand, daran hatte ich nie gedacht.

Eltern relevante Termine, wie Weihnachten oder Geburtstage hinderten mich nicht daran, das Thema weiterhin auszublenden. Ich hatte schon vor Studienbeginn als ich noch auf die Schule gegangen war die Weihnachtstage alleine oder in der Wohngemeinschaft mit anderen Gestrandeten verbracht. Ich dachte nicht daran, dass diese Zeit im durchschnittlichen deutschen Haushalt gemeinsam mit Eltern zugebracht wurde. Ich fand es immer äußerst angenehm, dass in dieser Zeit so gut wie nichts los gewesen war. Keine Anrufe, keine unerwarteten Besuche, keine Autoreparaturaufträge, aber vor allem mal insgesamt Ruhe und keine Hektik auf den Straßen und Plätzen der Stadt. Die Hektik unserer von Stress geplagten Gesellschaft brach jedes Jahr in den Weihnachtstagen einfach in sich zusammen. Das fand ich sehr schön. Wo man sonst jemanden traf, z.B. im Café Notfall oder rund um die Uni war plötzlich beinahe niemand mehr. Ich fand das richtig toll. Ich glaubte jahrelang, dass es allen Menschen wie mir ging oder zumindest ganz ähnlich. Der Alltag war einfach mal abgeschaltet.

Dass es aber die Zeit von Eltern und Familie war, dass Paare sich in dieser Zeit bei Ihren Eltern einfanden, dass in dieser Zeit regelrechte Familientribunale bei Braten und Alkohol abgehalten wurden, dass Paare ihre persönliche und wirtschaftliche Familienbilanz in diese Zeit bei ihren Eltern abzuliefern hatten, dass Unausgesprochenes zwischen Kindern und ihren Eltern in dieser Zeit besonders oft ausgesprochen wurde, weil man das ganze Jahr über nie mit so viel familiärem Erfolgsdruck im Genick auf seine Eltern traf, dass Eltern überhaupt erwarteten, dass die Kinder sich in dieser Zeit bei ihnen blicken ließen, all das war mir über viele Jahre einfach unbekannt geblieben.

Das alles war von mir so weit weg wie die Vogelkundestunde im Sachkundeunterricht der zweiten Grundschulklasse. Es war quasi so, dass dieser mir eigentlich bekannte Vogel „Familientermin: Weihnachten oder Geburtstag“, jedes Jahr aufs Neue zu Weihnachten aus seinem Sommerrevier herein geflogen kam. Er setzte sich jedes Mal irgendwo auf ein Fensterbrett. Dort begann er mit seinem ruhigen Gesang. Ich sah diesen Vogel jedes Jahr und dachte mir: Der kommt mir irgendwie bekannt vor, der singt ja ganz angenehm beruhigend vor sich hin, da kann man ja richtig zur Ruhe kommen. Das war Weihnachten, das war für mich mein Geburtstag. Steckte unter dem hübschen Gefieder dieses Vogels nicht noch mehr? Da steckten doch noch Familiengeschichten und Familiendramen? Alles über den Vogel was ich in der Vogelkundestunde vor vielen Jahren mal darüber gelernt hatte, interessierte mich nicht mehr. Weihnachten und Geburtstage hatten nichts mit Eltern oder Familie zu tun.

Ich blendete das genauso aus wie die Idee mit Regina zusammen zu ziehen. Für mich und für sie war es niemals Thema, dass wir anstatt in unseren getrennten Wohngemeinschaften zu wohnen, auch zusammen in eine Wohnung ziehen könnten. Das war eher für unsere Freunde ein wunderbares Thema. Es war ein Punkt an dem wir beide nach außen erkennbar nicht perfekt im Mainstream unterwegs gewesen waren.

Wir verbrachten unsere Ausbildungen miteinander. Die Zeit meines Jobs verbrachten wir jedes Wochenende in der Pforte der Fabrik miteinander. Abends sah man uns zusammen im Café Notfall. In den Semesterferien fuhren wir zwei, wie beim ersten Urlaub, gemeinsam mit befreundeten Paaren nach Italien, nach Spanien, nach Griechenland, nach Frankreich, nach Sardinien, nach Korsika. Wir lebten zusammengeklebt wie ein altes Paar, das seit vielen Jahren miteinander auskam. Aber wir wohnten nicht zusammen.

„Klar!“, sagte ich, „dass können wir gerne machen!“
Reginas Eltern waren sehr ruhige, gelassene Menschen. Sie arbeiteten täglich in einem Bekleidungsgeschäft in der Innenstadt. Sie waren die Eigentümer des Ladens. Sie begrüßten mich nicht überschwänglich, aber herzlich. Beim Essen erzählten sie abwechslungsreiche Geschichten und die eine oder andere Anekdote aus ihrem Alltag im Laden. Dort verkauften Sie solide Herrenbekleidung an Geschäftsleute und Menschen die sich teure italienische Anzüge leisten mussten oder einfach leisten wollten. Sie wirkten auf mich wie ihre Tochter: Ruhig und intelligent. Ihre Geschichten aus dem Laden erzählten sie nicht wichtig, sondern alltäglich.

Ich war in solchen Situationen immer unsicher. Das war ich, obwohl mich Regina sehr gut vorbereitet hatte. Das Thema Bekleidung war etwas worauf ich noch nie in meinem Leben ein Augenmerk gesetzt hatte. Ich versuchte mich stets unauffällig zu kleiden. Dabei hatte ich immer mein sehr begrenztes Budget im Blick. Der Automechanikerjob brachte es manchmal mit sich, dass ich auf dem Weg zur Uni schnell noch ein Schräubchen hier und eine Mutter da anzuziehen hatte, was manchmal auch auf noch neueren Hosen zu unschönen Ölflecken führte.

23. Gespräche an der Oberfläche

Fast jeden Abend trafen wir im Café Notfall auf viele Freunde. Dort besprachen wir alle möglichen Themen die uns im Laufe eines Studentenlebens beeindruckten. Unsere Kommunikation wirkte intellektuell, war es aber nicht. Was ich sah und hörte war was ich in den achtziger Jahren über das Café Notfall und ähnliche Kneipen der Stadt in den Szeneblättern nachlesen konnte. Ich wusste nicht recht ob die Menschen im Café Notfall so waren weil das so in den Szeneblättchen geschrieben stand oder ob das was in den Blättchen geschrieben stand, tatsächlich von irgend jemandem beobachtet worden war bevor es geschrieben wurde.

Es gab dort offene Menschen, es gab Intellektuelle, es gab eine ganze Anzahl von Blendern, es gab sehr viele Redner, es gab eine Gruppe gestrandeter Journalisten, es gab Musiker, Künstler, Lebenskünstler, echte Künstler, Kunstliebhaber und es gab uns beide. Mein Gefühl war, dass Regina perfekt hineinpasste. Über mich selbst dachte ich, dass ich in diese Szene mit ihr irgendwie hinein gerutscht war.

Hin und wieder dachte ich daran, dass ich im Café Notfall in Haidhausen früher ganz andere Menschen getroffen hatte. Als ich neu in die Stadt gezogen war, um meine Schule zu besuchen, hatte ich doch neue Freunde kennengelernt: Wo waren die geblieben? Wo waren Sofia, Annette, Richard und Thomas geblieben? In der Stadt war es meine Realität geworden ständig neue Freunde zu gewinnen und zu verlieren.

Individuell und intellektuell zu wirken war die angesagte Linie. Das war der Trend im Café Notfall und der Szene. Darüber berichteten die Szeneblätter. Alle Beteiligten fühlten sich gut dabei. Jeder war begeistert und überzeugt, dass hier wichtiges stattfand. Die Zeit wurde hier gestaltet. Die Szene wurde hier entwickelt. Mein Eindruck war, dass die meisten Gäste im Café Notfall nicht sagen konnten was auch immer das bedeuten sollte. Darüber sprach man nicht. Darüber schrieben die Blättchen, in denen im Prinzip immer das gleiche belanglose Zeug zu lesen war.

Meine neuen Freunde im Café Notfall waren und blieben Reginas Freunde und Bekannte. Ich lief dort unter Reginas Namen irgendwie mit. Trotzdem fühlte ich mich irgendwann im Café Notfall wohl. Das Bild von mir zusammen mit Regina in dieser Kneipe gefiel mir immer besser. Eines Tages war mir das alles richtig angenehm geworden. Ich profitierte von ihrer Präsenz, ihrer Ausstrahlung und ihrem Niveau.

Niemals hätte Regina einen Hauch von Macht über mich, oder das Ansinnen ihre intellektuelle Überlegenheit mir gegenüber auszuspielen erkennen lassen. Das erleichterte alles. Ich liebte sie nicht nur, sondern wegen ihrer Souveränität verehrte ich sie. Ich war ein Abhängiger geworden. Den Freunden im Café Notfall war nicht entgangen, dass ich ihr im Grunde nicht das Wasser reichen konnte. Aber keiner der Freunde konnte das Ungleichgewicht nutzen um eine Störung in unserer Beziehung zu verursachen.

Es gab sehr viele die sich für Regina interessiert hatten. Niemals aber habe ich es erlebt, dass Regina auf deren Signale entgegenkommend reagiert hätte. Sie nahm die Signale wahr. Doch sie hatte sich ihren Partner bereits ausgesucht. Ihre Wahl hatte sie gezielt getroffen und dazu stand sie. Wir haben nie darüber gesprochen wie das bei ihr gewesen war an dem Tag als sie die Türschwelle zu dem Seminarraum überschritten hatte, um auf mich zuzugehen.

Im Café Notfall interessierte mich die Gruppe der gestrandeten Journalisten. Das waren drei Leute die allesamt an der deutschen Journalistenschule in München gescheitert waren. Trotzdem, so behaupteten alle drei von sich selbst, hatten sie den Beruf ergriffen und seien nun aktive unabhängige Journalisten geworden. Das fand ich interessant. Mich beeindruckte deren selbstbewusste überzeugende Art, die Fähigkeit das Abgewiesen werden in Kräfte zu verwandeln, die Ziele die sie aus der Abweisung durch sogenannte Profis entwickelten und wie sie darüber im Café Notfall sprachen. Ich fand es schier unglaublich, dass drei sich Journalisten schimpften, aber die Aufnahmeprüfung an der deutschen Journalistenschule nicht geschafft hatten. Sie hatten sich vorgenommen Journalisten zu werden und zogen dieses Ding durch. Das passte ins Café Notfall. Die Szene dort war voll von Machern und selbsternannten geistigen Höhenfliegern.

Die gestrandeten Journalisten hatten stets irgendwelche angeblich wichtigen Aufträge von Blättern für die sie in der Stadt recherchierten. Regina und ich waren für die drei deshalb interessant, weil wir nach deren Ansicht so unterschiedlich wie die Welt waren. Keiner von den Dreien konnte mir erklären was damit gemeint war. Nach vielen langen und Alkohol getränkten Gesprächen an deren Tisch begriff ich, dass sie als Grundlage in ihrem Job vor allem die genaue Recherche sahen. Danach erst kam der Artikel der im Grunde die geringste Arbeit darstellte.

Erst jetzt verstand ich, dass sich Regina mit ihrem Dozenten-Buch-Verlag-Job eine optimale Tätigkeit gesucht hatte. Denn die Recherche, das gesamte Material, alle Themen lieferten ihr die Dozenten fein säuberlich geordnet an. Sie musste daraus nur noch neue vor allem nach Innovation riechende Konzepte zusammen zimmern. Die baute Regina schlüssig auf. Das beste daran war wohl, dass die Konzepte nicht von ihr oder den Dozenten umzusetzen waren, sondern von den Praktikern die sich die Bücher kauften weil die genau solche Konzepte erwarteten. Ob die Konzepte wirklich umsetzbar waren oder funktionierten schien dabei nicht wirklich von sehr hohem Interesse zu sein. Wirklich wichtig aber war, dass die Texte das Funktionieren glaubwürdig und schlüssig wiedergaben.

Regina bemächtigte sich eines Teils der Kompetenz der Gestrandeten. Gegen ein Honorar das ein Bruchteil ihrer Vergütung durch die Dozenten im Buchverlag darstellte, vergab sie an die drei freien Journalisten befristete Rechercheaufträge zu Themen die sie für den Dozenten-Buch-Verlag bearbeitete. Das zeigte mir neben all ihren Fähigkeiten, dass sie zudem auch noch geschäftstüchtig war. Eine Kompetenz die mit völlig fremd war, was meine wirtschaftlich erfolglosen Autobasteleien bewiesen.

Regina traf sich über mehrere Semester immer wider mit den Gestrandeten. Irgendwann war von den Dreien nur einer übrig geblieben. Die anderen beiden hatten sich erneut an der deutschen Journalistenschule beworben und waren erfolgreich. Sie verschwanden aus der Szene und aus dem Café Notfall und versanken der Ausbildung.

Übrig geblieben war Holger. Er übernahm regelmäßig Aufträge von Regina. Daneben arbeitete er angeblich bei einem der Szeneblätter der Stadt. Ich sah das mit Zweifeln, denn ich kaufte mehrfach das Blatt über das er sprach, fand darin aber nie einen Artikel von Holger.

Regina erklärte mir den Zweck ihrer Aufträge an Holger immer genau. Es ging meist darum, und das fand ich am Anfang dieser Aufträge unglaublich, dass sie sich auf Grundlage einer neutralen Recherche der Richtigkeit bestimmter Inhalte der Bücher des Verlages vergewissern wollte. Ihr Wirken an den Büchern brachte es nämlich mit sich, dass auch sie namentlich in deren Autorenverzeichnis aufgenommen wurde. Sie wiederum erkannte bei aller Freude darüber, dass sie bei weitem nicht die Kompetenz besaß wirklich zu beurteilen ob alle Inhalte die sie auf Grundlagen der Dozentenvorgaben formulierte, auch stimmig waren. Also nutze sie die journalistischen Fähigkeiten von Holger um bestimmte Fragen und Themen abklären zu lassen.

Regina hatte mit Holgers Hilfe eine Versicherung installiert. Sie wollte der Gefahr begegnen, dass in irgendeinem der Bücher definitiv falsche Inhalte von ihr aufbereitet wurden. Für mich war das schier Unglaubliche, dass sie im Grunde daran arbeitete ihre spätere Karriere nicht durch derartige Fehler in den veröffentlichten Praxisbüchern zu gefährden oder zumindest schon frühzeitig zu beschädigen. Ihr Vertrauen in das Wissen ihrer fünf Dozenten im Buchverlag sah Regina durch den Sicherheitstrick nicht gefährdet.

Tatsächlich lieferte Holger hin und wieder wertvolle Erkenntnisse bei ihr ab. Auch da hatte Regina eine Sicherheitsschraube eingebaut. Holger war von ihr mit einem Honorarvertrag ausgestattet worden, den sie zuvor in juristischen Seminaren gleich von mehreren Professoren auf Aktualität und Wasserdichte hatte prüfen lassen. Es gab keine Möglichkeit für Holger aus den Aufträgen von Regina, während der Recherche oder danach, noch weiteren Profit herauszuschlagen. Er war hundertprozentig an seinen Auftrag gebunden. Sein Beitrag spielte für die Buchveröffentlichungen keine Rolle. Selbst wenn er einen Skandal gefunden und aufgedeckt hätte, wäre nicht er derjenige gewesen der aufdeckte, sondern seine Auftraggeberin. Anderes Verhalten wäre Holger sehr teuer zu stehen gekommen.

Holger fand nie einen Skandal. Was er fand waren Daten und Fakten, die in manchen Büchern an einigen Stellen zu Korrekturen führten, weil sonst Themen und Bereiche unzulässig miteinander verschränkt worden wären. Er trug so dazu bei, dass die trockene Materie der Theorie und deren Grundlage ab und an von Regina berichtigt werden musste. Seine Arbeit hatte aber auf keines der Praxiskonzepte wirklich eine Auswirkung.

Holger arbeitete immer sauber, zuverlässig und fristgerecht. Alle Verträge erfüllte er stets korrekt. Deshalb hielt Regina bis zum letzten Semester an der Zusammenarbeit mit Holger fest. Am Ende des Studiums veröffentlichte Regina ihre Magisterarbeit in einem Buch des Verlages. Selbst für diesen eigenen Auftrag hatte sie noch Holger eingesetzt.

24. Die dritte Prüfung

Die Jahre des Studierens liefen perfekt organisiert beinahe wie selbstverständlich vor sich hin. Wir hatten unser Leben ideal aufeinander abgestimmt. Regina und ich arbeiteten während der Semester jedes Wochenende in der Pforte der Fabrik miteinander an den Themen der anstehenden Semesterprüfungen, schrieben an Seminararbeiten und besprachen die Inhalte der zurückliegenden Studienwochen. Das konnten wir dort beinahe ungestört tun. Keiner der Mitarbeiter der Fabrik störte sich daran, dass die Pforte am Wochenende stets von uns beiden besetzt war. Die Firmenleitung, von der meist sonntags mehrere Vertreter in den Büros zur Arbeit erschienen, fand es sogar gut, dass wir die Zeit in der Pforte gemeinsam sinnvoll nutzten, anstatt sie totzuschlagen.

Dass Regina in der Fabrik gar nicht angestellt war, interessierte die Chefs nicht. Der oberste Chef selbst ließ für uns zwei ausgemusterte Computer in das Pförtnerbüro stellen, an denen wir am Wochenende an unseren Hausarbeiten schrieben und Regina ihre Texte redigierte. Unsere Daten sicherten wir damals auf Disketten und nahmen sie wieder mit nach Hause. Der Chef fühlte sich durch uns an seine eigene Studienzeit erinnert. Er meinte, dass die Arbeit in der Pforte wohl optimal sei, neben einem Studium und dass er alles dafür tun wollte, dass wir möglichst an der Sache dran blieben. Damit meinte er sowohl das Studium aber auch den Job am Wochenende in der Pforte in seiner Fabrik. Wir sollten uns bei ihm melden wenn wir eine Idee hätten wie er die Verbindung des Studierens mit dem Pförtnerjob noch verbessern könnte.

Regina entwickelte im Laufe der Jahre einige Ideen. Der Chef ging darauf so weit ein, dass schließlich regelmäßig Studierende verschiedener Fachrichtungen in unterschiedlichen Bereichen der Fabrik, von der Personalabteilung über das Controlling bis zum Maschinenbau, ihr studienbegleitendes Praktikum dort absolvierten. Die alten Computer der Firma wurden nicht weiterverkauft, sondern an Studenten über einen Service, den Regina zusammen mit Holger organisierte, zur Erarbeitung von Diplom- und Magisterarbeiten verliehen. Das war bis Mitte der zweiten Hälfte der Achtziger Jahre ein attraktives Angebot, weil die Preise dieser Geräte für die meisten Studenten unbezahlbar waren. Studentische Arbeiten wurden bis Ende der Achtziger Jahre überwiegend auf Schreibmaschinen, gelegentlich auf so genannten Schreibcomputern geschrieben. Der Computerverleih war deshalb der Renner. Der Chef war begeistert von Reginas Ideen und Tatendrang.

Meine eigentliche Arbeit in der Pforte bestand darin, alle drei Stunden einen zwanzig Minuten langen Rundgang durch die Firma zu absolvieren. Im Falle eines von mir auf dem Rundgang entdeckten Schadens hätte ich gemäß einem Alarmplan die Einsatzkräfte zu alarmieren gehabt. Dazu kam es nie. In der Fabrik wurde auch am Wochenende mit einer reduzierten Schicht von Arbeitern rund um die Uhr produziert. Deshalb wurden Schäden und andere Vorkommnisse immer durch den dienst habenden Vorarbeiter direkt gemeldet und geregelt. Die mit mir besetzte Pforte und meine Rundgänge durch die Fabrik hatten im Grunde eine reine Alibifunktion. Es ging darum, dass einige für die Fabrik bestehende Versicherungen die rund um die Uhr besetzte Pforte und die Rundgänge erforderten.

Regina erledigte beinahe ihre gesamte Arbeit für den Buchverlag samstags und sonntags in der Pforte. Sie hatte, genauso wie ich, in ihrer Wohngemeinschaft keinen Computer. Diese Geräte waren auch für uns beide unerschwinglich. In der Uni gab es sie natürlich, dort konnten wir sie regelmäßig benutzen. Unsere Disketten bearbeiteten wir nach den Seminaren in der Uni weiter. Regina war ihren Dozenten technisch gesehen weit voraus. Keiner von ihnen konnte seine Texte mit einem Computer bearbeiten.

Regina nutzte die an der Uni frisch installierten Computer und Scanner, um von studentischen Hilfskräften sämtliche Texte einlesen zu lassen. Diese wiederum bearbeitete sie am Wochenende in der Pforte und während der Woche in der Uni. Sie organisierte eine studentische Hilfskraft, die alle Fehler die der Scanner und seine mangelhafte Software produzierten, zunächst grob korrigierte. Diese Fassungen bearbeitete Regina danach weiter. Sie fand für den Buchverlag eine Druckerei die aus den unformatierten Texten die Druckvorlagen fertigte. Das war damals ein neues, sehr effektives und unglaublich modernes Vorgehen.

Regina baute das zu einem regelrechten Produktionsverfahren aus. Das Verfahren erklärte sie schnell, nachvollziehbar und überzeugend den Dozenten. Regina sammelte mit dem Verfahren wichtige Punkte, denn damit bewies sie ihre Geschäftstüchtigkeit. Das Erscheinen des ersten Buches bestätigte Reginas Arbeit nicht nur durch dessen aufbereiteten Inhalt, sondern auch durch hohe Qualität und im Vergleich sehr günstige Produktionskosten.

Der Verkauf verlief dank einer Werbekampagne die Holger gestaltete und organisierte so gut, dass die zweite Auflage schon nach einem halben Jahr produziert werden konnte. Das Projekt insgesamt war mehr als nur kosten deckend. Die Rückmeldungen waren teils begeistert, teils überschwänglich. Das Wichtigste waren respektvolle Erwähnungen in einigen Fachzeitschriften. Das Buch und die Idee dahinter eine Verknüpfung mit der Praxis zu erreichen, waren erfolgreich. Bis zum Studienende begleitete Regina vier weitere derartige Projekte. Sie liefen alle nach dem gleichen Erfolgskonzept ab und wurden durchgängig rentabel produziert. Alle fanden, wie das erste Buch, ihren Platz in den entsprechenden Fachzeitschriften.

Die Art und Weise wie wir zusammenlebten und zusammenarbeiteten zog sich das gesamte Studium hindurch. Deshalb waren für mich die Abschlussprüfungen einschließlich der Magisterarbeit im Grunde keine wirklich erwähnenswerten Herausforderungen. Alle vorherigen Prüfungen waren für mich stets mit Grenzerfahrungen verbunden gewesen. Aufregung die früher immer da gewesen war fehlte bei der Prüfung völlig. Ich hatte alles was ich wissen musste im Kopf. Erreicht hatte ich das durch disziplinierte Kontinuität mit der ich über Jahre hinweg jedes Wochenende gemeinsam mit Regina in der Pforte der Fabrik zusammengearbeitet hatte. Die Sicherheit mit der ich zum Schluss das Studium meisterte und beendete war zu einem einmaligen Ereignis geworden. Was da geschah hatte es für mich zuvor nie gegeben und es wiederholte sich danach nie mehr. Über Jahre hatte ich kontinuierlich das Wissen welches mir im Studium geboten wurde in mich aufgesogen und am Wochenende regelmäßig mit Regina weiterverarbeitet. Deshalb musste ich mich auf Semesterprüfungen immer weniger vorbereiten. Vorbereitung fand permanent statt. Eine Prüfung war nicht mehr im bisherigen Sinne eine Prüfung, sondern sie war ein Routinecheck an dem alles wiedergegeben und erneut verarbeitet wurde, was bekannt war. Prüfung war zur Alltäglichkeit geworden. Das war Nerven schonend und befreiend.

Am Ende des Studiums gab es eine rauschende Feier. Mit dem ASTA zusammen organisierten wir eine Riesenparty die vom frühen Abend bis in den späten Vormittag des nächsten Tages hineinreichte. Das Fest wurde von den Dozenten des Buchverlages reich unterstützt. Selbst der Chef aus der Fabrik ließ es sich nicht nehmen auf dem Fest zu erscheinen. Von Regina war eingefädelt worden, dass er dem Dekan einen Spendenscheck seiner Fabrik für die Anschaffung neuester Computertechnologie für die Uni überreichte. Holger hatte einen riesigen Presserummel organisiert, der die Scheckübergabe und das Fest erscheinen ließ, als sei es kein Studienabschlussfest, sondern ein Uni-Fest zur Millionenspende der Fabrik, obwohl es nur zehntausend Mark gewesen waren.

25. Abschied

Am Tag nach dem Abschlussfest besuchte ich Regina in ihrer Wohngemeinschaft. Es war ein sehr kühler, verregneter Sommertag. Deshalb kochte Regina Tee. Ich ließ mich auf dem Sofa in ihrem Zimmer nieder und blickte durch den Raum der bei dem Regenwetter beinahe wie im Herbst wirkte. Ich sah mir alles genau an. Ich ließ meine Augen vom Fenster über das Bett zum Schreibtisch über den Schrank, die Kommode zu den Bildern an der Wand gleiten. Ich saß sehr ruhig da, sehr gelassen, atmete langsam aber tief durch, entspannte mich bei dem ersten Schluck Tee. Ich sagte lange nichts. Ich saß einfach in ihrem Zimmer auf ihrem Sofa.

Dort hatten wir beide gemeinsam über die Jahre schon oft gesessen, denn wir trafen uns meist bei Regina, bevor wir ins Café Notfall gingen. Das Café lag nur wenige Straßenzüge von ihrer Wohngemeinschaft entfernt. Auf dem Sofa neben mir sitzend, hatte mir Regina so manchen Plan und manches Vorhaben erläutert über dem sie gerade mit ihren Buchprojekten brütete. Manchmal konnte ich ihr den ein oder anderen nützlichen Tipp oder eine gute Anregung geben. Oft habe ich in diesem Zimmer bei ihr übernachtet. Wir liebten uns immer nur dort, denn mein Wohngemeinschaftszimmer, vor allem aber mein Bett war viel zu klein. Seit Wochen hatte ich nicht mehr bei ihr übernachtet.

Regina setzte sich mit ihrer Teetasse auf die Bettkante gegenüber dem Sofa. Das war ganz anders als sonst. Wir beide hatten uns in diesem Zimmer nie gegenüber gesessen. Wir saßen immer dicht beieinander auf dem Sofa. Sie schwieg. Ich blickte jetzt langsam durch den Dampf meiner Teetasse, die ich mit beiden Händen hielt, zu ihr hinüber an das Bett.

Da sah ich sie wieder, die Frau die strahlend durch die Tür des Seminarraumes in der zehnten juristischen Vorlesung trat, sich umsah und schließlich gezielt auf mich zu kam. Ich sah sie wie sie das erste Mal Samstagmittags bei mir in der Pforte der Fabrik erschien, mit ihrem Fahrrad war sie dorthin gefahren. Aus ihrem Fahrradkorb nahm sie einen kleinen Picknickkorb mit dessen Inhalt sie in der winzigen Teeküche ein Mittagessen zubereitete. Ich sah sie wie sie zum ersten Mal mit dem Chef in der Fabrik sprach, der daraufhin zwei alte Computer für uns beide in die Pforte schaffen ließ. Ich sah sie wie sie im Urlaub trampend allein am Straßenrand stand und wie sie dem verdutzten Fahrer in perfektem Englisch versicherte, dass auch ich, ihr „Husband“ mitfahren würde.

„Wie lange läuft das schon?“
Ich fragte das sehr leise und blickte sie dabei an. „Seit einem dreiviertel Jahr.“ Sie sah mich nicht an. Sie blickte vor sich auf den Teppichboden. Sie wirkte dabei wie erstarrt. So hatte ich sie noch nie zuvor gesehen.

Ich wandte meinen Blick von ihr ab. Sah hinüber zum Fenster. Dort beobachtete ich sekundenlang die Wasserperlen wie sie sich langsam in Bewegung setzten, sich mit darunter liegenden Perlen vereinten, um schließlich so schwer zu werden, dass sie in schnellem Tempo nach unten rollten. Ich wandte mich jetzt wieder in ihre Richtung. Unsere Blicke trafen sich in Höhe ihres Schreibtisches.

„Wie machen wir jetzt weiter Regina?“

Ich spürte, dass meine Stimme an Ruhe verloren hatte. Ich bemerkte in ihr ein leichtes, sehr verunsicherndes Beben. Die innere Ruhe die in meinem Körper zuerst aufkam als ich mich sehr langsam auf das Sofa gesetzt hatte, war verschwunden. Der Tee stand neben mir auf dem Tisch. Er würde mich beruhigen. Doch ich traute mich jetzt nicht zur Tasse zu greifen weil ich fürchtete so sehr an den Händen zu zittern, dass ich den heißen Tee verschütten könnte.

Sie hatte mich nie belogen. Sie hatte alles in unserem Leben zu steuern gewusst, ohne dabei zu lügen. Sie brauchte nicht zu lügen, denn sie regelte alles auch das Komplizierteste und Widersprüchlichste. Sie war in meine Falle getappt. Ich hatte wieder gefragt was ich schon wusste. Das hatte ich seit sehr langer Zeit nicht mehr getan.

Schweigen von Regina hatte mir stets gesagt, dass ich meine Frage selbst beantworten konnte. Beim Lernen mit Regina in der Fabrikpforte hatte sie immer geschwiegen, wenn ich ein Thema ansprach und dazu eine Frage stellte, von der sie meinte, dass ich die Antwort selbst wusste. Sie musste nur lange genug schweigen. Tatsächlich kam die Antwort meist binnen weniger Minuten aus mir heraus. Das war ihre wunderbare Methode, die es mir ermöglichte alles aus mir herauszuholen was ich wusste. Durch ihre Methode merkte ich, dass ich fast alles bereits wusste, wonach ich sie fragte.

Gleiches bedeutete ihr Schweigen jetzt. Deshalb fragte ich mich in der Ruhe unseres Schweigens, was ich alles wusste. Ich wusste was ich gerade gefragt hatte selbst. Ich wusste, dass es nicht weiter gehen würde mit uns beiden. Als ich dieses Zimmer betrat wusste ich, dass es heute das letzte Mal sein würde. Ich wusste, dass wir beide uns nie mehr an die Hand nehmen würden, dass wir uns nie mehr küssen würden, dass wir uns nie mehr lieben würden. Ich wusste, dass wir nie mehr miteinander lernen würden, in der Pforte der Fabrik arbeiten würden und dass wir keinen Urlaub mehr miteinander verbringen würden.

Ich saß auf dem Sofa schloss meine Augen und spürte, dass da Tränen waren die raus wollten. Ich versuchte sie aufzuhalten, das gelang mir aber nicht. Deshalb nahm ich jetzt die Taschentücher vom Tisch neben dem Tee. Dabei bemerkte ich, dass meine Hände wieder ruhig geworden waren. Deshalb nahm ich die Teetasse in beide Hände und trank einige Schluck.

„Warum Holger?“

Meine Stimme zitterte wieder, obwohl ich sie mit dem Tee geölt hatte. Ich brachte die beiden Worte meiner Frage kaum heraus. Ich dachte daran weiter zu fragen. Ich wollte einfach nach den Dingen fragen, welche in solcher Situation, die für mich neu und deshalb ungeübt war, vielleicht üblich waren. Mir fielen die Fragen „warum gerade er?“, und „was hat er, was ich nicht habe?“, ein. Doch ich fragte nicht weiter. Ich saß und schwieg. Ich wusste, dass ich auch das bereits wusste. Ich nahm mir vor nicht mehr nach den Dingen zu fragen, die ich bereits wusste.

Holger war attraktiv, intelligent, selbstbewusst und sehr aktiv. Er war ein hoch agiler, in meinen Augen manchmal beinahe hyperaktiver Intellektueller. Was er organisierte hatte Hand und Fuß. Wo er auftrat scharten sich interessierte Menschen. Interesse der Menschen weckte er, indem er letztlich durch gezielte Propaganda für deren Interesse sorgte. In meinen Augen schaffte es Holger, dass die Menschen nicht merkten, dass deren vermeintliches Interesse an Themen die Holger propagandistisch bearbeitet hatte, in Wahrheit dessen Interesse war. Er war ein Demagoge. Ihm verfielen alle, denn er konnte gar nicht anders, als alle von sich zu überzeugen.

„Warum gerade er?“

Ich blickte sie bei dieser Frage die ich eigentlich nicht stellen wollte wieder an. Sie wich meinem Blick aus. Sie wandte ihren Blick zum Fenster, wo inzwischen alle Perlen verschwunden waren weil der Regen so stark geworden war, dass die Tropfen wie kleine Bächlein an der Scheibe hinunter liefen ohne dass sich zuvor Perlen bilden konnten.

Holger hatte schon seit langer Zeit mit ihr geschlafen. Das ging schon seit Jahren. Ich wusste das seit der ersten Begegnung mit den gestrandeten Journalisten im Café Notfall. Ich sah sie auf der Bettkante mir gegenüber sitzen, wie sie sich von mir abwandte und zum Fenster hinüber blickte.

Sie saß im Café Notfall am Tisch und sog die Signale von Holger aus der Gruppe der drei Gestrandeten auf. Holger war nicht zufällig der übrig gebliebene aus der Gruppe. Es war kein Zufall, dass er nicht genauso verschwand wie seine beiden Freunde. Seine Bewerbung an der deutschen Journalistenschule, sein Erfolg den er dort in Wahrheit hatte, war für ihn nicht, wie bei den beiden anderen, Anlass gewesen von der Bildfläche im Café Notfall zu verschwinden. Holgers Behauptung, er schreibe für das Szeneblättchen in dem ich seinen Namen nie fand, seine Ansage er gehöre zu den drei Gestrandeten und sei an der deutschen Journalistenschule gescheitert, gehörte zu Holgers Strategie. Holger nahm mich von Beginn an nicht ernst, er spielte sein Spiel, dessen Wahrheit ich mich nicht zu lüften traute, denn ich war ein Abhängiger.

„Was hat er, was ich nicht habe?“

Regina blickte zu Boden auf den Teppich vor dem Bett. Ich sah am Fenster, dass die einzelnen Bahnen des Regens verschwunden waren. Es war draußen dunkel geworden, weil ein schweres Gewitter über München lag. Der Regen schlug gegen die Scheibe, so dass keine Bahnen mehr zu sehen waren, sondern die Scheibe sah aus wie eine einzige Wasserbahn über die in einem glatten Bach der Regen hinunter lief.

Es war das was ich nicht hatte. Es war das was Regina über viele Jahre von mir nicht bekommen hatte. Dessentwegen war ich jahrelang im Anschluss an das Café Notfall, morgens um drei Uhr, nach Hause in meine Villen-WG gefahren. Holger war der über den wir beide nie sprachen. Seit der ersten Begegnung im Café Notfall war er immer präsent geblieben.

„Warum?“

Auch meine letzte Frage konnte ich selbst beantworten.

Draußen auf der Scheibe war jetzt eine Veränderung eingetreten. Der Regen hatte an Schärfe verloren. Es schlugen wieder einzelne Tropfen gegen die Scheibe. Jetzt sah ich die Perlen endlich wieder. Das Schauspiel begann erneut. Perlen liefen langsam hinunter, sie verbanden sich mit weiteren Perlen, so dass ihr Gewicht sie schnell nach unten trieb. Unten auf dem Fensterbrett zerplatzten sie.

Hinweis von Bernd Thümmel:

Auf meinem Album “calling back” aus dem Jahre 2016 habe ich den Song “noises” veröffentlicht. Ich finde der Song beschreibt die innere Stimmung an dieser Stelle in meinem Buch.

26. Urlaubsplanung

Die Villen-WG war mein neues altes Zuhause geworden. Dort verkroch ich mich tagelang. Ich lag auf dem Bett, hörte laute Musik und sinnierte wie früher über mich und mein Leben.

Am Samstag und am Sonntag schlug ich zum ersten Mal in der Pforte der Fabrik die Zeit tot. Ich saß am Tisch vor den beiden ausgeschalteten Computern und erlebte den Raum um mich herum völlig verändert. Es war eine Stille eingetreten die mich mit den Stunden mehr und mehr in eine fremde Welt zu ziehen drohte. Obwohl ich die Welt um mich herum bestens kannte, weil sie mir seit Jahren vertraut geworden war, traf ich in ihr jetzt unbekanntes, Befremdendes. Das verunsicherte mich. Die neue Fremde in vertrauter Umgebung machte mir Angst.

Das weckte in mir keine Neugierde. Es ging nicht darum entdeckt zu werden. Was ich in der Pforte nun empfand weckte keine Impulse in mir, ich wollte es nicht erforschen. Gefühle die gar nicht erforscht werden wollten, die nicht gefunden werden wollten, die am liebsten nicht vorhanden sein wollten. Wenn es nach mir ginge, so dachte ich nach Stunden an meinem Arbeitsplatz in der Fabrik, dann wünschte ich, dass alles wieder so wäre wie es noch vor zwei Wochen gewesen war.

Kein Anruf von Dozenten die mit Regina über den Verlauf ihrer Arbeit an einem Text sprechen wollten. Keine studentische Hilfskraft die eine Diskette mit korrigierten Texten vorbei bringen wollte. Kein Student aus dem ASTA-Büro der ein organisatorisches Detail wegen des Abschlussfestes klären wollte. Niemand wollte sich in die Warteliste des Studentischen Computerverleihs eintragen lassen. Nichts geschah, einfach nichts. Schließlich vermisste ich sogar den Anruf von Holger der Regina begeistert davon berichtete, wie vielen Presse- und Medienleuten er schon definitive Zusagen für das Abschlussfest an der Uni entlockt hatte, und vorschlug eine Lounge auf dem Fest für Redakteure und Journalisten einzurichten.

Ich schaltete beide Computer in der Pforte ein um deren Surren zu hören. Endlich ein vertrautes Geräusch in diesem Raum. Das Surren von zwei Lüftern der Computer. Jetzt brauchte ich es, um ein winziges Detail wieder herzustellen. Ich brauchte es, um ein weniges an meiner Situation, an meinem mir jetzt endlos lang scheinenden Arbeitstag richtig zu stellen. Aber schon nach Minuten fehlte mir das Geräusch des Tippens auf der Tastatur. Es fehlte das vertraute schnelle Tippen von ihr, die Leichtigkeit mit der sie die Tastatur bearbeitete um ihr einen Text zum Thema eines Buchkapitels zu entlocken den sie mir später als ersten Leser bekannt machte.

Mittags kochte ich zum ersten Mal nur das wofür die winzige Küche eigentlich vorgesehen war. Ich machte mir Tee, obwohl draußen längst wieder die sommerliche Sonne schien. Ich spürte trotzdem eine Kälte in mir die ich glaubte mit Tee vertreiben zu könnten. In der Küche stieß ich auf unsere Gewürze in der oberen rechten Ecke eines Hängeschrankes. Ich lehnte mich an die Wand der Küche vor dem offenen Gewürzschrank, schloss die Augen und hörte das Gurgeln des Wassers im Wasserkessel auf dem Herd. Ich sog den Geruch des Wasserdampfes und der Gewürze aus dem offenen Regal ein. Da sah ich sie wie sie in der engen Küche vor dem Herd stand. Sie rührte in einem Topf und einer Pfanne und erzählte von einem wunderbaren Rezept das sie heute einfach einmal ausprobieren wollte. Es ginge ganz schnell und benötige nur Topf und Pfanne, man könnte das tatsächlich in dieser Puppenküche machen. Ich sah sie wie sie mir von der Seite vor dem Herd zulächelte und mir schließlich einen leichten Kuss auf die Wange gab. Ich roch sie ganz nah bei mir und glaubte schließlich ihren Atem neben meinem linken Ohr zu hören und zu spüren.

Es klingelte ein Telefon. Das läutete schon länger. Ich nahm den Wasserkessel vom Herd und ging mit ihm und meiner Teetasse in das Pförtnerbüro. Ich stellte alles auf den Untersetzer auf den hohen Thekenschrank, setzte mich an den Pförtnerschreibtisch und hob den Hörer ab.

Der Chef meldete, dass er dieses Wochenende nicht ins Büro kommen werde, weil er in der Schweiz auf Geschäftsreise sei. Er bedankte sich für die große organisatorische Leistung des Universitätsfestes, vor allem aber für die feierliche Atmosphäre und die Dankesreden mit denen er bei der Scheckübergabe an den Dekan bedacht worden war. Er wollte mit Regina persönlich sprechen, denn ihm sei klar, dass die pompöse Ausrichtung des Festes und die dabei herausragende Scheckübergabe letztlich wohl ihr zu verdanken sei. Ich enttäuschte den Chef, sagte ihm lapidar, dass Regina heute leider verhindert sei. Er trug mir auf seinen Dank weiterzugeben. Schließlich dankte er auch mir und wünschte uns beiden einen wunderschönen und erholsamen Urlaub. Den hätten wir uns nach den Anstrengungen der Prüfungen, der schriftlichen Arbeiten und der gigantischen Organisation des Abschlussfestes ja redlich verdient. Ich bedankte mich für seine Wünsche und verabschiedete mich für die kommenden sechs Wochen.

Meine Urlaubsvertretung an den kommenden Wochenenden wurde von einer Firma organisiert die auch für die Nachtschichten an der Pforte zuständig war. Regina und ich hatten einen sechswöchigen Urlaub nach Griechenland geplant. Wir wollten eine Reise antreten die eine ganz ähnliche Route haben sollte wie unsere erste gemeinsame Reise mit den beiden befreundeten Paaren. Wir hatten uns vorgenommen die interessantesten Stationen von damals noch mal aufzusuchen. Wir wollten sehen was sich seitdem dort verändert hatte und wir wollten versuchen auf Leute zu treffen, die wir damals getroffen hatten. Regina erzählte mir sogar, dass sie sich vorstellen könnte darüber ein kleines Buch zu machen. Veränderungen die nach Jahren an einem Ort eingetreten sind, Menschen wieder zu begegnen die man vor Jahren getroffen hatte, das sei doch interessant für eine winzige Studie. Gemeinsam studierten wir vor Monaten noch Landkarten um die grobe Route abzustecken.

Mehr Reisevorbereitungen hatten wir nicht getroffen. Einzig die Urlaubsvertretung für die Fabrikpforte hatte ich organisiert. Im Vordergrund standen die Abgabe unserer Abschlussarbeiten und die Organisation des Abschlussfestes. Die Frage wie es mit dem Job an der Pforte für mich weitergehen sollte, nachdem das Studium beendet war, spielte gar keine Rolle. Ich hatte keinerlei Perspektive für mich entwickelt. Der Urlaub war in meinem Kopf verschwunden aber trotzdem anvisiert.

An meiner Abschlussarbeit hatte ich in den letzten Wochen auf Hochtouren getippt. Wir beide nutzten den frühest möglichen Abgabetermin. Die Prüfungen schrieben wir zum frühest möglichen Termin. Unsere Studienzeit hatten wir wegen unserer Jobs nicht in die Länge gezogen. Regina wäre eine Zeitverkürzung am liebsten gewesen. Das gab die Studienordnung aber nicht her.

Ich saß am Pförtnerschreibtisch, die Teetasse in beiden Händen, die Ellenbogen auf den Schreibtisch gestützt. So lauschte ich dem regelmäßigen Surren der beiden Computer am Tisch hinter mir. Durch das große Fenster das ich gekippt hatte, strömte warme Sommerluft herein. Draußen blies ein leichter Sommerwind. Die Sonne beleuchtete die in ihr glänzenden grünen Blätter riesiger Buchen auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Ich sah ein sattes, kräftiges Grün in den Bäumen und dahinter eine von Blumen bewachsene hohe Wiese. Die war mir in all den Jahren gar nicht aufgefallen. Ihre Gräser und bunten Sommerblumen bewegten sich im leichten Wind. Ich hörte trotz des gekippten offenen Fensters wegen dem Surren der Lüfter in den Computern aber nichts von diesem Wind. Die Äste der Bäume und die Gräser bogen und legten sich in dessen Richtung.

Ich ging zu den Computern und zog deren Stecker aus der Steckdose. Jetzt stellte alle Pflanzen mit ihren Töpfen vom Fensterbrett weg auf den hohen Tresen. Ich öffnete das große Fenster beim Pförtnerschreibtisch und setzte mich wieder an den Schreibtisch und blickte nach draußen. Der Wind sorgte für ein leichtes Rascheln in den Blättern der riesigen Buchen. Das wurde nur manchmal vom Lärm vorbeifahrender Autos unterbrochen. Der Wind roch nach Sommer. Es war der Duft einer Welt die direkt vor mir lag.

Zum ersten Mal in diesem Sommer sah ich draußen zwischen den Gräsern surrende Bienen nach Nektar suchen und dabei den Blütenstaub von Blüte zu Blüte verteilen. Das erinnerte mich daran, dass dies die Lehrerin früher im Unterricht ausführlich erklärt hatte. Es hatte mich aber nie wirklich interessiert. Ich wollte gar nicht wissen, dass es wahr war, dass es tatsächlich geschah und in der Natur beobachtet werden konnte. Stattdessen war das zu einem Lernstoff für mich geworden, den ich damals an richtiger Stelle wiedergekäut ausspuckte.

Ich verließ die Pforte und setzte mich mitten in die Blumenwiese hinter der gegenüber liegenden Straßenseite. Dort erlebte ich minutenlang was vor sich ging. Es waren massenhaft Insekten unterwegs die ihrer alltäglichen natürlichen Beschäftigung nachgingen.

Was war meine Beschäftigung? Ich hatte keine Beschäftigung mehr, denn ich hatte sie in den Wochen zuvor erfolgreich abgeschlossen. Die Prüfungen waren geschafft, alle Arbeiten waren geschrieben. Auch wenn das Ergebnis der Abschlussarbeit noch aus stand, war sicher, dass ich es geschafft hatte. Was war meine Aufgabe? Ich erhob mich aus dem surrenden Leben in der Blumenwiese. Am Schreibtisch mit Blick auf das Leben überlegte ich und dachte an mich und an das was mein Leben inzwischen geworden war.

Abends lag ich mit offenen Augen auf meinem Bett in meinem kleinen Zimmer unter den Dachschrägen. Nachmittags hatte ich keine Antwort auf meine Frage gefunden. Ich war noch mehrmals über die Blumenwiese gestreift, hatte sie zweimal umrundet, hatte verschiedene Käfer, Ameisen und anderes kleines Getier gesehen.

Das Licht in meinem Zimmer schimmerte wie immer in einem matten gelblichen Ton. Von der Lampe auf dem Nachttisch wurde es über die schräge Decke an die Wand neben dem Bett geworfen. Dort warf es einen runden Schatten von der Ballondeckenleuchte die im leichten Sommerwind, der durch das offene Fenster blies, hin und her schwankte. Rechts von dem bewegten Schatten warf das Licht der Nachttischlampe eine beinahe rechteckige, erstaunlich hell erleuchtete Fläche an die Wand. In Mitten dieser Fläche sah ich Regina. Sie lächelte mich an. Ihre dunklen großen Augen blickten in linke Richtung genau zu mir. Ich richtete mich auf und sah ihr in die Augen. Sie hatte ein Lächeln auf den Lippen das ich seit vielen Jahren kannte. Ihre Augen waren klar, so wie sie es immer gewesen waren. Ihr Blick sagte zu mir, dass ich jetzt nichts sagen sollte. Ich sollte sie nichts fragen denn die Antwort kannte ich bereits. Ich sollte schweigen und nachdenken dann komme die Antwort von selbst. Das war alles.

Am Sonntag saß ich mit einer Straßenkarte von Deutschland die ich auf dem Weg zur Fabrik an einer Tankstelle gekauft hatte, mit dem Bilderrahmen aus dem Regina blickte, den ich von meiner Wand im Dachzimmer der Villen-WG genommen hatte und mit meinem Taschenmesser am Schreibtisch in der Fabrikpforte. Ich legte alles säuberlich auf die Schreibtischplatte. Mein Taschenmesser hatte ich in der hintersten Ecke meiner Schreibtischschublade nach langem Suchen gefunden.

Ich stützte beide Ellenbogen auf die Schreibtischplatte und versuchte vorsichtig die Klinge des Taschenmessers zu öffnen. Die saß hoffnungslos fest. In der Küche badete ich das Messer in heißem Wasser. Das brachte nichts. Das Messer wollte sich nicht öffnen. Also ging ich an unser Gewürzfach. Dort fand ich Olivenöl, das ich in das Messer träufelte. Ich legte es auf den Rücken damit das Öl in die Klinge und vor allem in die Mechanik des Messers laufen konnte. Ich ließ es minutenlang einwirken. Ich lehnte mich wieder an der Wand an. Jetzt roch ich unsere Gewürze aus dem offenen Fach. Ich sah dort alles stehen was Regina hier regelmäßig zum Kochen benutzt hatte. Ich öffnete den Mülleimer unter der Spüle, nahm ihn aus der Halterung und stellte ihn auf die Arbeitsplatte unterhalb unseres Schrankfaches. Die Gewürze schob ich klirrend und scheppernd in den Mülleimer.

Das Taschenmesser ließ sich wieder öffnen. Ich spülte es noch einmal heiß ab, bewegte die Klinge mehrfach hin und her. Ich wollte dass diese Übung dem Messer zeigte, dass mir dessen Funktion jetzt wieder wichtig geworden war. Vorsichtig schob ich die Klinge des Messers seitlich in den Bilderrahmen, drehte sie langsam hin und her um so die Rückwand des Rahmens möglichst unbeschadet von der kleinen Glasplatte mit dem Foto zu lösen. Zwischen der Rückwand und dem Foto fand ich das Schreiben genauso wie ich es vor Jahren dort hineingesteckt hatte. Ich legte es auf den Tisch neben die Landkarte. Das Foto von Regina ließ ich auf der Glasscheibe und schloss den Rahmen wieder.

Im Gang zum Büro des Chefs stand ein Fotokopierer. Den warf ich an und kopierte das Schreiben dreimal. Ich zog aus der Schreibtischschublade im Pförtnerbüro eine Klarsichthülle in die ich das Original des Schreibens vorsichtig hinein schob. Danach legte ich Hülle und Kopien in einen grauen Aktendeckel den ich zusammen mit Reginas Foto in meinem Rucksack verstaute.

27. Abreise

Morgens war die Sonne wie Feuer aus einem fernen Vulkan empor gestiegen. Am Horizont, an dessen Ende die Autobahn verschwand, sah ich einen Wolkenstreifen der sich nach oben wie dichter dunkler Rauch in der Atmosphäre verteilte. In der Mitte des Rauchs strahlten dunkelrote und gelbe Linien hinauf in den Himmel. Nach Minuten stieg ein Feuerkegel aus der weit entfernten Rauchwand empor, der den gesamten Qualm in ein rot-gelbes und orangefarbenes Meer verwandelte. Rechts sah ich plötzlich ein riesiges blaues Schild das mit dem entfernten Vulkan nichts gemein hatte. Ich blinkte und fuhr in dessen Richtung ab. Sein Pfeil führte mich auf eine leichte Anhöhe. Ein Parkplatz der sich einfach „Alp“ nannte.

Minutenlang saß ich in dem Wagen, einem geliehen VW-Käfer, orangefarben wie das Sonnenfeuer auf der Anhöhe dieses Parkplatzes. Ich starrte durch die Windschutzscheibe hinaus. Ich gähnte laut und intensiv vor mich hin. Das störte niemanden, denn ich saß allein im Käfer. Den hatte ich von Ulli, einem Villen-WG-Mitbewohner geliehen. Der plante die gesamten Semesterferien auf Reisen zu sein. Mit seiner Freundin zog es ihn nach Nordamerika, nach Mittelamerika, nach Südamerika und nach Patagonien. Ich versprach Ulli mich sehr gut um sein Auto zu kümmern.

Während es Ulli irgendwohin in die Weltgeschichte trieb gehörte sein Wagen mir. Ich dürfe damit herum fahren oder verreisen wenn die Kiste im Oktober zu Semesterbeginn repariert und fahr tüchtig wieder vor der Villen-WG stünde. Das garantierte ich. Es waren kleinere Reparaturen nötig die ich dem Käfer am Wochenanfang angedeihen ließ. Neuer Keilriemen, Ölwechsel, neue Zündkerzen, ein neuer Verteilerfinger, ein kleines Loch zu schweißen im linken Schweller. Der Experte vom TÜV war zufrieden. Der Wagen lief einwandfrei. Selbst die Heizung die sich beim Käfer üblicherweise im Sommer nicht abschalten ließ, konnte ich abschalten.

„Fast zwanzig Jahre alt die Kiste, x-mal über lackiert, aber technisch einwandfrei!“
Das meinte der Mann vom TÜV und klebte die ersehnte Plakette auf das Nummernschild. Ulli konnte zufrieden sein.

Nachts schlief ich nur kurz ein. Um drei Uhr morgens war ich aufgewacht. Ich wollte schnell auf die Toilette und danach wider einschlafen. Damit war aber nichts. Ich lag wach und schwitzte in der warmen Dachkammer. Ich schaltete das Nachttischlicht ein. Im hellen Schimmer an der Wand sah ich sie wieder. Sie strahlte mich von dort aus an, wie seit Jahren. Ich richtete mich an der Bettkante auf, nahm das Bild von Regina vom Haken, sah es noch einmal an und versenkte es in der Ecke meiner Schreibtischschublade, dort wo ich Tage zuvor mein Taschenmesser gefunden hatte.

Ich wollte mich von den Villen-WG-Mitbewohnern, die nicht wie Ulli in den Urlaub verreist waren, morgens noch verabschieden. Aber ich war viel zu früh dran. Am Abend zuvor hatte ich das Auto mit meinem Schlafsack und meiner Isomatte bepackt und vorne unter die Haube eine halbe Autowerkstatt eingeladen. Morgens steckte ich noch die Zahnbürste und einige Kleinigkeiten in meinen Rucksack. Den Rucksack und eine Tüte mit Proviant warf ich in der Dunkelheit in Ullis Käfer. Dann schmiss ich den Motor an und fuhr los.

Gähnend genoss ich den Blick über die schwäbische Alp hinüber auf die immer heller werdenden feurig roten Wolkenmauern am fernen Horizont. Die Luft auf der Anhöhe war klar und erfrischend. Ich rannte einige Runden wie ein Getriebener auf dem Grünstreifen am Parkplatz auf und ab. Danach setzte ich mich in den Käfer und kramte aus der Provianttüte eine Thermoskanne hervor.

Morgens hatte ich nicht darauf verzichtet in der Küche der Villen-WG so leise wie möglich meinen Kaffee zu kochen. Ich wusste, dass ich Stunden später unweigerlich darauf angewiesen sein würde. Die Thermoskanne hatte ich zusammen mit dem Proviant in einem riesigen Supermarkt einer großen Kette gekauft. Ich hatte die Kanne zufällig im Vorbeigehen gesehen. Weil man auf die Kanne direkt einen Kaffeefilter aufsetzten konnte, erschien mir das für meine Reise sehr praktisch. Also hatte ich den Filter einschließlich Filterbeutel und Kaffee gleich mitgenommen. Das alles hatte ich in die Gepäckablage hinter der Rücksitzbank geworfen.

Der Kaffee war meine Rettung. Ohne ihn wäre mein Weiterkommen nicht möglich gewesen. Ich warf den Motor an und setze meine Fahrt fort. Es war egal in welchem Reisetempo ich mich fortbewegte. Ich war deshalb auf höchstens einhundert Stundenkilometer fixiert. Der Kilometerstand auf dem Tacho des Käfers zeigte hundertachtundneunzigtausend an. Der Motor machte auf mich nicht den Eindruck, dass er das wirklich schon auf dem Buckel hatte. Ganz sicher war ich jedoch nicht, denn die fünf Vorbesitzer, die in den Papieren eingetragen waren, könnten deutsche Autopfleger gewesen sein. Regelmäßige Motorwäsche bewirkt viel. Deshalb wollte ich dem Motor auf keinen Fall zu viel zumuten. Ohnehin bedingte mein Fahrtziel ganz eindeutig, dass der Kilometerzähler irgendwann während dieser Reise Zweihunderttausend überschreiten würde. Das wäre für einen Vierunddreißig-PS-Käfermotor schon einiges.

Mein Fahrtziel war die ferne Ostseeküste. Auf der Straßenkarte hatte ich mir die schnellste Route mit einem roten Stift markiert. In den finsteren Stunden seit der Abreise war ich aber noch nicht sehr weit gekommen. Ich hatte die schlechte Beleuchtung des Autos unterschätzt. Der neue Keilriemen war dringend notwendig gewesen. Ich hatte aber nicht begriffen, dass er nicht das primäre Problem gewesen war. Das waren eher die Kohlenkontakte in der Lichtmaschine. Die hätte ich besser ausgewechselt. Die Beleuchtung war so schummrig schwach, dass sie eigentlich vom TÜV hätte bemängelt werden müssen. Da die Scheinwerfereinstellungen aber perfekt gewesen waren und alle Leuchten einwandfrei funktioniert hatten, war da nichts bemängelt worden. Ich war bislang mit dem Auto nie bei Stockfinsternis unterwegs gewesen. In der Stadt auf meinem Weg zur Fabrik am Wochenende, wofür mir Ulli das Auto manchmal geliehen hatte, war mir die schwache Beleuchtung nie aufgefallen.

In meinen Werkzeugkisten unter der Haube vermutete ich noch ein paar gebrauchte, aber nicht abgeriebene Kontaktkohlen von einer alten Käfer-Lichtmaschine die ich vor Jahren mal komplett erneuert hatte. Die alte Lichtmaschine war völlig durch geschmort und schließlich komplett abgeraucht. Ich musste sie wegwerfen. Zuvor hatte ich alle noch brauchbaren Teile abgebaut. Die Lichtmaschine stand als erste kleine Reparatur an Ullis Käfer auf meinem Reise-Reparaturplan. Die Fahrt bei Tageslicht verlief viel angenehmer als bei Dunkelheit. Tagsüber war ich mit dem Käfer kein Verkehrshindernis mehr.

Das Radio brachte leider nur rauschende knackende Sender hervor. Die Verkabelung schien keine korrekte Entstörung zu haben, denn ich hörte das Getöse des Motors deutlich im Radio. Das war ein surrendes an-und-ab schwellendes Brummen. Es würde die zweite Kleinreparatur an Ullis Käfer werden. Auf Dauer wurde etwas das bei kurzen Fahrten zwischen Villen-WG und Fabrik kein Problem gewesen war, zur nervigen Begleiterscheinung. Auf der langen Fahrt war ein Autoradio fast über-lebensnotwendig um nicht an einer tödlichen Dosis Langeweile oder an tief schürfender Gedankenpflege einen langsamen Lenkradtod zu sterben. Kurz nach Werneck Richtung Petersberg, Bad Hersfeld und Kassel fuhr ich an einem großen Parkplatz raus. Im Auto war es heiß geworden.

Auf dem Parkplatz öffne ich die Motorhaube und ließ sie offen stehen. Ich erhoffte mir von den letzten Kaffeetropfen, dass sie mir die Augen weit öffneten und mich wieder fit machten. Es gab leider keinen Grünstreifen auf dem ich auf und ab laufen konnte. Die Hitze hätte mir das wahrscheinlich auch kräftig verleidet. Ich zog zwei trockene Brotscheiben aus der Provianttüte, dazu gab es geschmolzenen Käse. Das schmeckte etwas eigenwillig war mir aber egal denn ich hatte richtig Hunger bekommen.

In der Raststätte kaufte ich teuren Süßkram den ich mir während der Fahrt einverleiben wollte. Zwei Flaschen Wasser kosteten mich unglaubliche drei Mark neunzig. Die mangelhafte Planung meiner Provianteinkäufe im neuen Einkaufsmarkt in der Nähe der Villen-WG kostete mich nun bares Geld. Wie selbstverständlich fiel mir bei diesen Gedanken im Laden der Autobahnraststätte Regina ein. Ihr wäre so etwas nicht passiert. Mit ihr wäre ein perfekter Einkauf vor der Abreise garantiert gewesen. Der Mist den ich in meiner Provianttüte dabei hatte, wäre ihr niemals zu kaufen eingefallen. Der billige Käse und dazu dieses trockene Brot: Mit Regina unmöglich.

Martin trug ein dunkelgraues Baseballkäppie. An der Kasse in der Raststätte war er mir aufgefallen. Ich hatte ihn dabei beobachtet wie er eine rot-weiße Schachtel Zigaretten in seinen ausladenden Hemdsärmeln verschwinden ließ. Er trug ein orange braun gesteiftes, sehr weites Hemd, dessen lange Ärmel er nicht nach oben gekrempelt hatte. Das fiel auf, denn die Hitze des Tages verleitete die Menschen dazu, sich von möglichst vielen Kleidungsstücken zu befreien oder zumindest die von denen man sich nicht befreien konnte oder wollte, möglichst hoch zu krempeln.

Der Diebstahl wurde von der Kassiererin nicht bemerkt. Ich beobachtete ihn von hinten aus der wartenden Schlange an der Kasse. Das hatte er nicht sonderlich geschickt gemacht. Außer mir warteten noch weitere Kunden an der Kasse mit Blick auf Martin, die nach meiner Meinung Selbiges beobachtet haben mussten. Keiner der Kunden einschließlich mir machte die Kassiererin auf Martin und seine Tat aufmerksam. Alle die vor mir in der Kassenschlange warteten, verließen den Laden ohne ihre Beobachtung der Kassiererin anzuzeigen.

Draußen sah ich Martin wieder. Er stand hinter Ullis Käfer und begutachtete rauchend den geöffneten Motor.
„Luftkühlung?“, fragte er und blies mir dabei lässig den Qualm seiner Kippe von der Seite ins Gesicht.
Ich wedelte das beiseite während ich nickte. Ich stellte die Wasserflaschen auf dem heißen Autodach ab, schloss die Beifahrertür auf und warf den gekauften Süßkram ins Handschuhfach.
„Ich bin Martin und hätte da mal so ne Frage.“
Er reichte mir die Hand, die ich ergriff und schüttelte.
„Schieß los Martin, mit deiner Frage.“

Zusammen mit Martin fuhr ich den immer heißer werdenden Nachmittag lang im Käfer auf der Autobahn Richtung Kassel. Er hatte beim Einsteigen nicht nur die Ärmel seines Hemdes hoch gekrempelt, sondern er zog das Ding gleich ganz aus und warf es zusammen mit seinem, wie das Hemd, orange-braun gestreiften Rucksack auf die Rücksitzbank. Sein Ziel lag in einem Ort nördlich von Kassel. Er war von Stuttgart kommend an der Raststätte abgeladen worden. Sein „Lift“, wie er das nannte, konnte ihn wegen eines anderen Fahrtziels nicht weiter im Wagen behalten. Er hatte sich mit dem Fahrer beratschlagt und die Raststätte als guten Umsteigepunkt gewählt. drei Stunden lang hatte er nach einem weiteren „Lift“ Richtung Kassel Ausschau gehalten.

Die Einzigen die bereit gewesen wären ihn mitzunehmen, seien einige „Ossis in ihren Klitschen“ gewesen, die ja seit letztem Jahr „rübergemacht“ hätten und die nun die Raststätten überrannten, weil sie offenbar nur noch auf Reisen wären. In so eine „Schaukel“ wollte er aber nicht einsteigen.

Warum er das nicht wollte konnte mir Martin nicht sagen. Martin äußerte handfeste Vorurteile. Die richteten sich gegen „die Ossis“, weil die ihm wohl an dem Tag auf der Raststätte besonders aufgefallen waren. Die Wiedervereinigung war für Martin ein unverständliches Drama, mit dem er niemals gerechnet hatte. Natürlich hätten die Menschen gleiche Rechte wie wir, doch warum so fragte Martin, musste deshalb die Mauer fallen und die Grenze geöffnet werden? Jetzt könnte er nicht mehr so schön mit seiner Schwester hinüber fahren und seiner Tante östlich von Berlin, die leckeren Schokoladen mitbringen, über die sie sich jahrelang immer so gefreut habe. Die Schokolade könnte sich die Tante jetzt selbst kaufen.

„Warum das alles?“

Das war eine schöne Frage von Martin, auf die ich mich aber nicht einließ. Das war auch gar nicht nötig, denn er erwartete von mir keine Antwort. Er sprach die Frage aus wie eine Erkenntnis, die er aus seinem Inneren hervorgehoben hatte. Er formulierte sie als Frage, meinte das wohl aber eher rhetorisch. Seine Frage war eigentlich eine schlichte Mitteilung. Sie war eine nebensächliche Erwähnung in einem längeren Bericht, im Grunde einem Redeschwall ohne Punkt und Komma.

Dass ich diesen Menschen von der Raststätte mitgenommen hatte brachte mir zunächst als einzigen Vorteil, dass er mich wach hielt, weil er unentwegt sprach, über sich selbst laut lachte und auf seine Fragen offenbar grundsätzlich keine Antworten erwartete. Diese Art der Unterhaltung mit Martin auf der Autobahn kam mir, bei allem Unsinn den der von sich gab, sehr entgegen. Ich war auch mit den Rauchpausen die wir jede halbe Stunde einlegten sehr zufrieden, denn die Hitze des Nachmittags war in dem Käfer fast unerträglich geworden.

Martin hatte erstaunlicherweise gar nicht vor in dem Käfer zu qualmen. Er sprach von einer Sache des Anstands gegenüber dem Chauffeur. Er wollte mir aber eine „gute Offerte“ unterbreiten. Es sei ihm sehr daran gelegen um regelmäßige Pausen zu bitten, damit er seinen „Nikotinbedarf“ decken, aber mich vom Rauchen im Auto verschonen könnte. Für mich war das Angebot das mir mein Fahrgast unterbreitete eine gut anzunehmende „Offerte“.

Anfangs war ich von Martins gewählter Ausdrucksweise überrascht. Die passte so gar nicht zu seinem Auftreten an der Kasse in der Raststätte, zu seiner Kleidung und zu seinen anfänglichen Sprüchen über die Menschen aus Ostdeutschland. Im Laufe der Fahrt mit ihren qualmenden Pausen merkte ich aber, dass Martin mit seiner Sprache eine Art Lebensgefühl ausdrückte. Ich verstand das als eine Art alltägliches Theaterspiel das Martin permanent betrieb, das in seiner Sprache ihren Ausdruck fand. Damit lockerte er den heißen Nachmittag im Käfer auf.

Mein Kopf kochte vor Hitze. Schweiß lief mir den Rücken runter. Länger als eine halbe Stunde den Wagen zu steuern war unmenschlich geworden. In meinem Genick spürte ich eine schmerzliche Versteifung die wahrscheinlich mit den geöffneten Fenstern zu tun hatte. Bei geschlossenen Fenstern wäre die Fahrt aber unmöglich gewesen. Schon deshalb waren die halbstündigen Pausen für mich wichtig, um mich am Nacken ein wenig zu massieren und dem Zug des Fahrtwindes zumindest kurzzeitig zu entgehen.

Meinen Geldbeutel hatte ich mir in die Hosentasche gesteckt, was beim Sitzen eher unangenehm war. Doch ich musste mich davor schützen, dass Martin sich daran vergriff, während ich auf die Toilette ging. Den Wagen konnte ich unmöglich absperren, die Türen mussten auf dem Parkplatz offen stehen. Die Hitze hätte sich darin so gestaut, dass die Weiterfahrt ein sicheres Hitzeschlagprogramm geworden wäre. Ich rekapitulierte welche Wertsachen ich in meinem Rucksack im Wagen hatte. Mir fiel aber nichts wirklich wertvolles ein so dass ich dass Risiko, dass Martin einen Blick in meinen Rucksack werfen konnte, einfach einging.

Stunden und Massen von Schweißperlen später passierten wir Kassel. Die Sonne stand schon recht tief, glühte aber immer noch. Martin war mit seinem Unterhaltungsprogramm am Ziel seiner Reise angekommen. Seine zauberhafte Schwester habe zu einer „tollen Geburtstagsfete“ in ihre „Datscha“ geladen. Der Ort nördlich von Kassel sei ein verschlafenes Kaff in das es ihn nur einmal im Jahr, eben zu Schwesters Geburtstag ziehe. Dieses Jahr gäbe es eine außerordentliche Veranstaltung, weil die Schwester zweiundzwanzig Jahre alt werde. Das sei ja wohl ein Grund zum runden Feiern!

Ich verstand nicht ganz was Martin an dieser Zahl rund fand. Aber das war wohl er. Für ihn war rund was groß angekündigt war. Martin sprach von mindestens einhundert Leuten die zur Fete am heutigen Abend geladen seien. Ich fand es etwas eigenartig für Donnerstagabend eine rauschende Geburtstagsfeier anzusetzen wo doch der Freitag hierzulande schon immer ein Arbeitstag gewesen war. Ich rechnete den Kalender durch, fand aber keinen Feiertag der auf den morgigen Freitag fiel. Dann begann ich mit der Rechnerei von neuem, weil ich mir plötzlich unsicher geworden war ob nicht doch schon Freitag war. Aber ich kam zu dem Ergebnis, dass ich mir genau drei Tage Zeit genommen hatte, um Ullis Käfer fit zu machen. In der Zeit hatte ich noch einen anderen Wagen, einen Golf, für einen ehemaligen Kommilitonen mit einer neuen Auspuffanlage ausgerüstet. Ich war mir ganz sicher, dass Donnerstag sein musste. Warum donnerstags groß feiern, wenn freitags kein Feiertag war um auszuschlafen?

Martin war jetzt soweit gekommen mir den genauen Weg zum Kaff seiner Schwester zu erklären. Es sei wirklich nicht weit dorthin. Wenn ich ihn dort hin bringen würde könnte ich sogar die Nacht über bleiben und mich ein bisschen an deren „coolen Pool“ entspannen. Da horchte ich gebannt auf. Meine Frage ob denn der Wochentag stimmte, hatte ich nicht gestellt. Martins Worte klangen in meinem überhitzten Kopf richtig gut. Denn ich klebte am ganzen Körper vor Schweiß. Jetzt antwortete ich Martin das erste Mal seitdem wir zusammen diese Reise im Käfer fortsetzten. Es war erstmals möglich auf ihn zu reagieren, weil ich an dieser Stelle den Raum einer Pause in Martins Redeschwall fand. Er war ruhig geworden. Martin schwieg sekundenlang.

„Ist das wirklich möglich? Ich schwitzte nämlich wie ein Elch!“
Die Frage und mein Spruch waren für Martin genau richtig. Ob Elche schwitzen wusste ich nicht, den Spruch hatte ich aber schon öfter an heißen Tagen von Kommilitonen an der Uni gehört.
„Na klar, das ist gar kein Problem!“
Martin rief das mehr zum Fenster hinaus als in meine Richtung. Danach setze er seinen Redeschwall, den er für diese Klärung unterbrochen hatte, fort. O.k. dachte ich mir. Bei dieser Hitze die am späten Nachmittag ihren Höhepunkt erreicht hatte, war ein kühler Gartenpool genau das was ich brauchte!

Die Strecke über die Landstraße zog sich. Erst mit Einbruch der Dunkelheit erreichten wir schließlich das Kaff von Martins Schwester. Die spärliche Beleuchtung am Käfer, die sich mir bei der Durchfahrt des beinahe unbeleuchteten Dorfes in Erinnerung rief, deutete an, dass ich mich wohl vor Tagesanbruch aus dem Kaff nicht mehr wegbewegen würde. Beim Aussteigen vor einem schmucken Einfamilienhaus spürte ich meine Klamotten an meinem Körper. Wie von einem Eimer heißen Wassers übergossen klebten sie an mir. Mein Kopf glühte von der Hitze. Ich hatte Kopfschmerzen und fühlte mich wegen des langen, heißen Tages und des dröhnenden Käfermotors wie benommen.

Für eine riesige Fete die hier von Martin angesagt worden war, lag das Haus erstaunlich ruhig, beinahe finster da. Auch der Gehsteig vor dem Haus war leer, wo ich doch auf Kilometer von parkenden Fahrzeugen gefasst war. Hinter einer dunklen hohen Hecke erkannte ich auf dem Grundstück das Wichtigste. Dezent beleuchtet lag er da, der versprochene Swimmingpool. Martin schien die Ruhe rund ums Haus und die fehlenden parkenden Autos der Gäste nicht zu stören. Er schlenderte in seinem weiten, offenen Hemd, seinen gleichfarbigen Rucksack auf dem Rücken, zielstrebig zur Haustür. Dort läutete er meiner Meinung nach etwas zu enthusiastisch, schien dabei aber die Ruhe selbst zu bleiben. Nach nur wenigen Sekunden wiederholte er sein Läuten. In dem erkannte ich nun die exakte rhythmische Wiederholung des Ersteren: „Ba baba bapp“.

Jetzt wurde die gewellte Milchglashaustür von einer schwarz haarigen jungen Frau geöffnet, die Martin und auch mich um zwei Köpfe überragte.
„Ja kommt ihr denn heute schon?“
Das rief die Frau Martin entgegen, während sie ihm sogleich um den Hals viel.
„Wir sind doch erst für morgen zum Feiern verabredet!“
Martins Schwester begrüßte auch mich. Sie fragte ob Martin unterwegs irgendwelche Dummheiten angestellt hätte. Der warf einen skeptischen Blick zu mir. Ich schüttelte überzeugend den Kopf.

Hinweis von Bernd Thümmel:

Dass auf der Reise dieser Martin auftaucht, erinnert mich an meinen Song „summer“ in meinem Album “the wrong song”. In diesem Song spreche ich von vergangener Zeit an einem schönen Ort und davon dass die guten Zeiten vorbei seien. Aber ich finde mein Song kling auch ein wenig so, als könne jeder Zeit wieder was gutes auftauchen, etwas wie dieser Martin, der einen völlig anderen Wind mitbringt als der Wind der bisher blies.

28. Reisetempo

Die Schwester entpuppte sich als gesprächige Person wie Martin. Sie schien ihrem Bruder allerdings in jeglicher Hinsicht überlegen zu sein. Nach einer ausgiebigen, eiskalten Dusche servierte sie uns beiden ein reichhaltiges Abendessen mit einer Vielzahl von frischen Salaten, die sie für ihren Geburtstag am nächsten Tag vorbereitet hatte. Sie erwartete nicht ihren zweiundzwanzigsten Geburtstag, sondern es war der siebenundzwanzigste. Eine Zahl die noch weniger rund war. Das interessierte Martin aber gar nicht. Für ihn stand am nächsten Tag ein Runder an.

Wir saßen bis tief in die Nacht im Garten vor dem Pool am Abendbrottisch. Um zwölf Uhr stießen wir mit der Schwester auf ihren Geburtstag an. Wir ließen uns von Martin unterhalten dem eine lustige Geschichte nach der anderen aus seiner Wohngemeinschaft einfiel. Er wohnte seit Jahren nahe bei Stuttgart. In Martins Geschichten tauchte irgendwann auch der Tag unserer heutigen gemeinsamen Autofahrt auf. Er habe auf der Autobahnraststätte mal einen coolen Typen kennen gelernt, der ihn in dessen „Mobil“ stundenlang bei glühender Hitze durch die Landschaft gekarrt habe. Den habe er schließlich nach Hause zu seiner Schwester gelotst, obwohl der eigentlich wo anders hin wollte. Er habe ihn den halben Tag lang im Auto voll gequatscht, wurde von dem deshalb aber nicht raus geschmissen, so wie zuvor von anderen, die ihn mitgenommen hatten. Er durfte sogar jede halbe Stunde eine lässige Zigarette in Pausen auf dem Parkplatz rauchen. Das wäre richtig cool gewesen.
„Was ist denn daran so cool gewesen?“, fragte ich Martin.
„Bist einfach ‘n cooler Typ“, antwortete der darauf. Er lachte mich jetzt nicht nur an, wie er es Nachmittags im Auto die ganze Fahrt über immer wieder getan hatte, sondern er fiel mir jetzt regelrecht um den Hals.
„Mit dir könnte ich ne Weltreise machen, in deinem super Bluesmobil!“
„Ich will aber nur bis zur Ostseeküste.“
„Macht gar nichts, ist ja auch ein großes Meer. Ich liebe das Meer!“
Martin lachte und fiel mir nochmal um den Hals.
Die Schwester sagte:
„Lass mal Martin, lass den Mann mal in Ruhe sein Bierchen trinken.“
„Ist kein Problem. Das tue ich ja schon den ganzen Abend lang.“
„Ich liebe das Meer, ist echt cool der blaue weite Teich! Das ist toll da wo du hin willst.“

Mit Martins Schwester kam ich am frühen Morgen gegen zwei Uhr ein wenig ins Gespräch. Martin hatte sich auf eine Liege vor dem Pool gelegt, wo er eingeschlafen war.
“Er ist wirklich ein lustiger, aber manchmal gibt ’s auch Probleme. Vor allem dann, wenn er in seinen Geschichten zu maßlos übertreibt und er damit dubiose Leute anlockt. Aber er ist echt o.k.”

Ich nickte bestätigend denn der heiße Nachmittag im Wagen mit Martin war insgesamt völlig unproblematisch. Von seinen Geschichten hatte ich profitiert weil ich es nur durch sie so lange in der Hitze hinterm Lenkrad ausgehalten hatte und nun sogar eine frische Dusche, ein herrliches Abendessen und kühle Getränke in einem Garten am Pool genießen konnte.
„Bleiben Sie morgen noch hier?“
„Bitte nicht schon wieder „Sie“, ich bin Bernado, das hatten wir doch schon geklärt.“
Christine erzählte, dass sie am nächsten Tag etwa zwanzig Leute erwarte und dass mittags auch ihr Mann endlich wieder nach Hause komme. Der sei viel auf Reisen. Er verkaufe weltweit komplizierte Elektronikbauteile für Produktionsanlagen.
„Ich weiß noch nicht recht.“
„Martin würde sich echt freuen. Der hat Sie, äh Dich, glaube ich irgendwie lieb gewonnen.“
„Tja das glaube ich auch. Obwohl ich bislang kaum zu Wort gekommen bin.“
„Das gehört zu Martin, der quatscht am Anfang jeden voll. Das ist seine Art der Kontaktaufnahme. Aber man merkt, dass Du bei ihm gelandet bist. Sonst würde er ganz anders reden. So wie über die anderen Autofahrer die ihn rausgeworfen haben.“
„Hmm, kann schon sein.”
Ich nickte, denn ich kannte ihren Bruder ja erst einen knappen Tag lang.
„Wenn Martin jemanden schätzt, lässt er sich von dem auch mal etwas sagen. Manchmal geht er nämlich ein bisschen zu weit, dann muss man ihn bremsen. Ich glaube Sie hätten da gute Chancen.“
“Ich musste ihn bisher aber noch nicht bremsen.“

„Ich kenne meinen Bruder seit siebenundzwanzig Jahren. Ich habe immer für ihn gesorgt. Seitdem er in dieser Wohngemeinschaft lebt, geht es ihm viel besser als früher, denn da kann er so leben wie er möchte. Zuvor verbrachte er einige Jahre in einem größeren Heim, das war nichts für ihn, denn von da kam er kaum mehr raus. Deshalb habe ich für ihn diese Wohngemeinschaft gesucht. Das funktioniert viel besser. Manchmal übertreibt er es, so wie heute. Er hätte eigentlich erst morgen kommen sollen und er hätte mit dem Zug fahren sollen. Weil er aber das Autofahren so cool findet, hat er sich mal wieder an die Autobahnauffahrt gestellt. Deshalb ist er auch schon so früh losgefahren, denn manchmal nimmt ihn keiner mit. Dann hätte er eventuell meinen Geburtstag morgen verpasst und er hätte dafür gesorgt, dass wir anstatt zu feiern eine Vermisstenanzeige aufgeben und eine Suchaktion nach ihm hätten starten müssen!“

„Dann hat er mir ja während der Fahrt absichtlich was schönes auf die Nase gebunden.“
„Was denn?“
„Er hat erzählt, dass der Geburtstag heute wäre, dass es ein runder wäre und dass eine riesige Fete mit hundert Gästen steigt.“
Sie lachte jetzt schallend.
„Genau das ist Martin! Er weiß was er zu erzählen hat damit er erreicht was er erreichen will. Er wollte mit Dir hier auftauchen. Das war sein Ziel. Da war es für ihn kein Problem Dir das vorzugaukeln.”
“Das hat ja sehr gut geklappt. Immerhin seine Werbung mit dem kühlenden Pool war richtig.“
„Übrigens hätte er das nicht mit jedem gemacht. Du hast bei ihm schon irgendeinen Stein im Brett, er findet Dich wirklich cool. Warum weiß nur er und er wird es dir ganz bestimmt nicht sagen. Aber er weiß auch, dass du mitkriegen wirst, was mit ihm los ist, weil er Dich mit hierher gebracht hat und Du jetzt mit mir sprichst. Das erlaubt Martin nur coolen Leuten.“ „Immerhin ist von dem was er erzählt hat wahr, dass du jetzt tatsächlich Geburtstag hast. Ich glaube ich werde morgen noch bleiben. Ich habe es eigentlich nicht wirklich eilig. An die Ostsee komme ich auf jeden Fall.“
Wir reichten uns die Gläser zum prost.
„Das findet Martin bestimmt richtig cool.“

Am nächsten Tag wachte ich auf einem Bettsofa das Martins Schwester für mich bezogen hatte im Zimmer von Martin auf. Martin röchelte auf dem Rücken liegend in seinem Bett. Da hinein hatte er sich früh morgens, als wir zu Bett gingen, mit letzter Kraft von seiner Pritsche am Pool geschleppt. Durch das Fenster zum Garten sah ich einige Sonnenstrahlen herein blitzen die den feinen Staub im Zimmer in klaren Streifen in die Luft malten. Auf meiner Armbanduhr erkannte ich, dass der Mittag schon weit voran geschritten war. Es war halb vier Uhr Nachmittags geworden. Ich hatte geschlafen wie ein Stein. Das Zimmer war bis jetzt kühl geblieben. Es lag auf der Nordwestseite des Hauses, beschattet von hohen Bäumen durch die offenbar erst Nachmittags einige Sonnenstrahlen ihren Weg in den Raum fanden.

Das Geburtstagsfest wurde nicht zuletzt wegen Martin sehr lustig. Er unterhielt sich mit allen Gästen, hatte für jeden einen heiteren Spruch auf den Lippen, tobte sich im Pool aus und peitschte abends als Diskjockey hinter dem Plattenteller die Stimmung nach oben. Christines Mann war ein ruhiger Typ der sich hinter dem Gartengrill platzierte und den Gästen jeden Grillwunsch erfüllte. Spät nachts, als die letzten Gäste sich verabschiedet hatten, saßen wir zu viert am Tisch neben dem Pool.

„Irgendwann ist auch das schönste Fest zu Ende.“
„Tja leider!“, meinte Martin und zog sekundenlang eine aufgesetzte Trauermimik.
„Fährst du denn Morgen wirklich an die Ostsee?“
„Klar! Das ist mein Reiseziel.“
„Wann willst Du denn losfahren?“
„Schätze mal etwa so um zehn Uhr.“

Am nächsten Morgen weckte mich meine Armbanduhr um viertel nach neun Uhr auf. Im Zimmer von Martin war es wegen des Schattens der Bäume noch relativ finster. Ich drehte mich auf den Rücken und versuchte mich auf Martins Röcheln zu konzentrieren. Aber es war nicht da. Ich richtete mich auf und sah, dass Martin gar nicht in seinem Bett lag.

Unten am Frühstückstisch saßen Christine und ihr Mann. Sie boten mir Kaffee an, den ich dankend nahm.
„War ja eine ziemlich kurze Nacht, da brauche ich dringend einen starken Kaffee, hab ja eine weite Reise vor mir heute.“
Ich setzte mich und begann mir ein Butterbrötchen zu schmieren.
„Wo ist denn eigentlich Martin geblieben?“
„Der sitzt seit halb Neun bei Dir im Auto.“
„Wie bitte?“
„Der hat sich da rein gesetzt mit Schlafsack, Isomatte, Rucksack und bockt.“
„Was will er denn da?“
„Der will an die See. Er will mitkommen mit Dir.“
„Oje das ist ja was!“
„Der lässt sich nicht davon abbringen. Er hat keine Lust heute oder morgen mit dem Zug nach Stuttgart zurück zu fahren. Er will mit dir zusammen in den Urlaub an die See weil er jetzt sowieso Ferien hat und meint das wäre die ideale Gelegenheit endlich ans Meer zu kommen.“
„Was machen wir denn da?“
„Keine Ahnung. Wenn der eine Idee im Kopf hat, kann ‘s echt schwierig werden.
„Dann brauchen wir gute Argumente dagegen.“
„Puhh. Welche könnten denn das sein?“

Ich nahm einen tiefen Schluck aus der Kaffeetasse der wirklich gut war. Ich spürte meine Müdigkeit langsam schwinden. Ich merkte, dass mein Hirn jetzt langsam begann in Schwung zu kommen.
„Ich habe oben an der Ostsee nichts gebucht, ich habe dort keine Unterkunft, ich weiß nicht genau wohin mich meine Reise an die See führen wird. Sind das gute Argumente?“
Kopfschütteln bei Christine und ihrem Mann.
„Ich brauche Ruhe und Luft an der Ostsee, ich will die frische See genießen.“
Erneutes Kopfschütteln.
„Ich wollte eigentlich alleine reisen. Ich bin ein Einzelgänger, ein Individualist und mein Auto ist klein und eng.“
Wieder Kopfschütteln.
„Ich kenne Martin eigentlich gar nicht, zumindest hatte ich ihn vorgestern noch nicht gekannt.“
„Kein Grund ihn jetzt nicht richtig kennenzulernen.“
Das sagte der Mann von Christine unvermittelt. Die sah ihren Mann überrascht an und schüttelte den Kopf.
„Warum eigentlich nicht?“, fragte ich.

Nach einer halben Stunde Fahrt auf der Autobahn steuerten wir den ersten Parkplatz an. Martin lehnte lässig am Wagen und paffte eine lange Zigarette, die er aus seiner rot-weißen Schachtel gepult hatte.
„Hab’ ein cooles Tape dabei. Ist mein Lieblings-Tape! Können wir das nachher mal einwerfen?“
„Äh, ich hab’ keine Ahnung ob das Ding überhaupt funktioniert. Das Auto gehört nicht mir, hab es von einem Kumpel geliehen der Ulli heißt. Das Radio läuft das hab ich schon getestet. Aber der Kassettenrecorder? Das weiß ich nicht. Hast du denn mehr Kassetten als nur deine Lieblingskassette dabei?“
„Ja! Vier Stück, alle toll und cool, von meiner lässigen Lieblingsband!“
„O.k. Martin. Aber wir sollten sicherheitshalber erst den Kassettenrecorder mit einer schlechten Kassette testen. Denn wenn das Ding kaputt ist, dann frisst die Maschine vielleicht eine deiner Lieblingskassetten und macht aus dem Band Knittersalat. Die Kassette wäre dann wohl futsch und das wäre echt schade oder?“
„Alles klar das will ich nicht! Dann testen wir das Ding erst mal! Hast ‘e so eine miese Kassette zum Ausprobieren dabei, mit der wir das testen könnten?“
„Nein ich hab gar keine dabei. Wir fahren am besten beim nächsten Ort raus und kaufen in einem Supermarkt irgendwo eine billige, leere Kassette. Damit testen wir das Gerät.“
„Bisschen kompliziert, oder?“
„Nö, wieso? Damit gehen wir auf Nummer sicher, dass der Rekorder in Ullis Autoradio deine Kassetten nicht ruiniert.“
„Alles klar hab schon kapiert! Wenn meine Kassetten kaputt gehen kriegt dein Ulli satten Ärger mit mir!“

Der nächste Ort lag dreißig Kilometer entfernt. Dort steuerten wir einen großen Supermarkt am Ortsrand an. Auf dem Parkplatz meinte Martin, dass er jetzt dringend auf die Toilette müsste. Weil es die dort nicht gab, verschwand er seitlich von einem breiten Grünstreifen in ein kleines Wäldchen.

Ich nutzte die Zeit um mir die Lichtmaschine im Motorraum von Ullis Käfer mal genauer anzusehen. Mir war eingefallen, dass die Stromversorgung während der Fahrt gefährdet sein könnte, wenn wir Ullis Autokassettenrecorder in Gang setzten. Ich öffnete zunächst den Kofferraum vorne und fand nach minutenlangem Suchen tatsächlich die nur leicht abgeriebenen Kontaktkohlen der alten Lichtmaschine in einem meiner Werkzeugkästen. Dann begann ich, hinten im Motorraum an der eingebauten Lichtmaschine herum zu fummeln. Es war ein Leichtes den alten Kontakt herauszunehmen und den gebrauchten, neuen einzusetzen. Während ich die Gehäuseschrauben an der Lichtmaschine wieder anzog, ertönte plötzlich ein schallend lauter Sound. Das war ein bekannter, aber meiner Meinung nach sehr schlechter Schlager. Irgend ein Spinner übertrieb es wohl mit der Lautstärke seines Autoradios. Das Getöse war ohrenbetäubend laut. Ich erschrak davon so sehr, dass ich hektisch den Kopf nach oben riss und mir an der Kante des Motorraumdeckels den Hinterkopf anschlug.

Jetzt sah ich, dass Martin schon wieder im Wagen saß. Genau von dort hörte ich den miesen Schlager aus meinem Auto dröhnen. Ich sprang in den Wagen, schlug die Tür zu, drückte auf den Off-Knopf des Kassettenrekorders und brüllte Martin ins Gesicht:
„Spinnst Du denn jetzt völlig?“
Der erschrak davon so, dass er einen Arm vor sein Gesicht riss als würde ich ihn schlagen wollen. Er nahm den Arm nicht weg sondern begann leise zu weinen.
„Ist schon gut Martin. Hör mal auf zu weinen. Ich wollte dich nicht anbrüllen. Ist nur so raus gerutscht weil ich nicht damit gerechnet habe, dass du im Auto sitzt und dass du schon eine Kassette eingelegt hast.“
„Ich mag nicht wenn mir einer so laut ins Gesicht schreit! Da krieg ich Angst und später werde ich böse.“
„War keine Absicht Martin. War nur mein Schrecken. Hab mir vor Schreck den Kopf angehauen. Hör schon auf zu heulen.“
„O.k., sind wir wieder quitt?“
Martin hielt mir die platte Hand zum Zusammenschlagen hin.
„Na klar sind wir das!„
„Alles o.k. Kumpel, dann lass uns mal einschlagen.“
Patsch.
Ich öffnete die Autotüre und kurbelte die Scheibe herunter. Die Hitze begann wie auf der Fahrt vor zwei Tagen stechend von oben herunter zu glühen.
„Warum hast Du denn das Tape jetzt schon eingeworfen?“
Martin lachte mich schlitzohrig an.
„Ist nicht Deine Lieblingsmusik oder?“

Ich hoffte inständig darauf und schwor demütiges, dankbares Abbitten, wenn Martin diese Frage bejahte. Denn diese Musik war der sichere geistige Tod. Sie würde auf der langen Autofahrt nichts menschliches in meinem Gehirn übrig lassen. Ich würde wohl zum Gorilla mutieren, wenn ich bis zur Ostseeküste damit gefoltert würde.

Martin brüllte jetzt vor Lachen. Aber er sagte nichts sondern hielt sich die rechte Hand vor den Mund. Mit der linken Hand deutete er durch das Beifahrertürfenster nach draußen. Dort stand eine Reihe geparkter Autos. Etwa in der Mitte dieser Reihe sah ich ein großes Cabriolet.

Ich sah Martin an.
Der sah mich an.
Wir beide nickten.
Jetzt versuchte ich eine Mimik, als wollte ich ihn wieder anschreien.
Darauf zuckte er zurück. Ich flüsterte, versuchte dabei aber auszusehen als schrie ich wie zuvor:
„Spinnst Du denn jetzt völlig?“
Martin lächelte und nickte.
„O.k.“, sagte ich.
„Wir sollten zusehen, dass wir schnell von hier verschwinden. Wir können doch hier nicht mit diesem Ohren-Terror den Parkplatz bedröhnen. Vor allem nicht, wenn jederzeit der Eigentümer der Kassette zu seinem dicken Cabriolet zurückkommen kann. Der hört diesen Krach doch!“
Martin verstand und nickte.

Ich räumte das Werkzeug vorne wieder auf, schloss hinten die Motorhaube und fuhr auf der Autobahn bis zum nächsten Parkplatz. Dort warfen wir den Kassettenrecorder mit dem Test-Tape an. Die Lautstärke hatte Martin beim Einschalten versehentlich auf volle Lautstärke verstellt. Sie ließ sich zum Glück einwandfrei regulieren. Die Kassette war fürchterlich. Das lag aber an der Musik und nicht am Rekorder Alles funktionierte, selbst das Hin- und Herspulen der Kassette.
„Alles klar!“
Ich warf die Kassette aus und gab sie Martin.
„Hier Dein Lieblingsband!“
Martin nahm das Ding und schlenderte damit in seinem offenen orange-braun gestreiften Hemd mit einer Kippe im Mundwinkel zu einem kleinen, grünen Mülleimer. Dort ließ er die Kassette hinein plumpsen.
„Jetzt aber mal Abfahrt!“, rief ich „wir wollen doch noch an die Ostsee.“
Martin steckte eine seiner vier Lieblingskassetten in den Rekorder und drückte die Rückspultaste. Fünf Minuten später, so langsam spulte der Kassettenrecorder von Ulli, klickte es. Dann ertönte der satte Bluessound mit den fetten Bläsersätzen der Bluesbrothers.

Jetzt wurde mir klar warum Martin Ullis Käfer gestern „Mobil“ genannt hatte und einmal das Wort „Bluesmobil“ benutzte. Jetzt wusste ich auch warum er so gerne Auto fuhr. Er liebte die Bluesbrothers.

Eine halbe Stunde später, kurz vor der Ausfahrt zur nächsten Raststätte steckte sich Martin die übliche Kippe in den Mund. Aus den Boxen schallte der Song „she caught the katy“. Martin griff zum Zigarettenanzünder. Der funktionierte aber offenbar nicht. Bevor ich mich versah, hatte er ihn schon durch das offene Fenster hinausgeworfen.

Ich schrie diesmal wieder richtig laut. Allerdings nicht in Martins Richtung, sondern aus meinem offenen Fenster hinaus. Wegen des Lärms ging mein Geschrei im Fahrtwind und dem Krach der Musik unter.
„Ja spinnst Du denn jetzt endgültig? Das ist kein Bluesmobil! Die Karre gehört meinem Kumpel Ulli! Der Anzünder gehörte auch ihm!“
Martin blickte mich lächelnd von der Seite an und fragte ruhig und langsam:
„Ulli ist kein cooler Typ so wie du einer bist oder?“

29. Ankunft

Vier jeweils neunzig Minuten lange Bluesbrotherskassetten und zwölf Zigarettenpausen später erreichten wir in der Dämmerung unser Ziel. Die Ostsee lag im Licht des abnehmenden Mondes spiegelnd und glatt vor uns. Oberhalb der Dünen hatte ich an einem weiten Strand mitten in der Flensburger Bucht einen kleinen Parkplatz gefunden. Martin und ich saßen im Wagen auf dem Parkplatz und überblickten unten einen weitläufigen, im Mondlicht hell schimmernden, breiten Sandstrand. Auf ihm verteilten sich hunderte verstreuter kleiner schwarzer Punkte. Das waren Strandkörbe die tagsüber von Badegästen bevölkert wurden die bei der Hitze in diesen Wochen bestimmt die kühle Ostsee zu schätzen wussten. Martin war begeistert. Er schrie neben dem Auto stehend zum Strand:

„Ich liebe das Meer!“

Wir liefen in der Dunkelheit am Wasser einige hundert Meter auf und ab. Martin hüpfte wie ein riesiges Kind zwischen Wasser und Strand hin und her. Dabei juchzte er vergnügt und sang immer wieder lauthals „I’m a soulman – baa, baba, bapp“! Als ich Martin so in der Dämmerung des Mondscheins am Meer herum springen sah und ihn dabei diesen rhythmischen Song trällern hörte, erkannte ich, dass er sich den Rhythmus von „Soulman“ und den Beat des Bläsersatzes in dem Lied als Tür-Klingel-Rhythmus zu eigen gemacht hatte. Während der Ankunft bei seiner Schwester hatte er vorgestern nämlich genau zweimal hintereinander exakt in diesem Rhythmus an deren Haustüre geläutet.

Jetzt versuchte Martin am Strand ein Rad zu schlagen. Ich traute meinen Augen nicht. Denn schließlich wog er mindestens achtzig, vielleicht sogar neunzig Kilo. Aber er schaffte es. Schließlich sprang er auf mich zu. Er überschlug sich dabei dreimal und kam genau vor mir zum Stehen. Das wirkte akrobatisch und einstudiert. Als er genau vor mir zum Stehen kam, kurz bevor er mir um den Hals fiel und vor Freude weinte, wurde mir klar woher er diese Akrobatik übernommen hatte. Es war das Springen aus dem Bluesbrothersfilm. Jake und Ellwood brachten in ihrer Musikshow in dem Film genau solche nach vorne gewandten springenden Überschläge auf die Bühne.

„Hey Martin, jetzt beruhige dich mal wieder. Wir sind nur an der Ostsee!“
„Ja, ich bin ja ganz ruhig. Bin völlig entspannt. Ist echt cool hier am riesigen Teich!“

Am Strand aßen wir ein paar Brötchen und Salate, die uns Martins Schwester vom Fest eingepackt hatte. Die waren wegen der Hitze des Tages bedenklich in sich zusammengefallen, was man in der Dunkelheit aber gut übersehen konnte. Geschmacklich waren sie noch einwandfrei. Wir tranken jeder zwei Flaschen warmes Bier und legten uns schließlich in zwei nebeneinander stehende Strandkörbe. Hinter uns rauschte leise das Meer und über uns strahlte der Mond. Ideale Bedingungen um schnell in unseren Schlafsäcken einzuschlafen.

Morgens war das Geschrei groß:
„Was seid ihr denn für zwei freche Lüdden?“
Da stand eine große Frau. Beide Arme in die Hüften gestemmt, musterte sie uns, die wir verschlafen aus unseren Schlafsäcken zu ihr auf glotzten.
Martin fragte mich:
„Was sind den solche zwei frechen Lütten?“
Ich fragte in Richtung der Frau:
„Entschuldigen Sie bitte! Aber wüssten Sie vielleicht eine schöne, preiswerte Pension für zwei Lüdden?“
„Da kann ich Euch zween schon weiterhelfen!“
„Du weißt, was das ist, so ein Lüttchen?“, so fragte mich Martin und gähnte dabei lauthals, ohne auch nur den Ansatz zu unternehmen sich die Hand vor den aufgerissenen Mund zu halten.
„Wir sind das!“
„Wir sind freche Lüttchen?“
„Lüdden!“, rief jetzt die Frau.
„Ihr seid wohl kaum von hier oder?“
„Nein wir sind weit gereist, gestern mit unserem Bluesmobil das dem Ulli gehört der aber nicht so cool ist wie der hier.“
Martin zeigte jetzt mit dem Zeigefinder auf mich.
„Lass das jetzt mal Martin! Wir müssen sehen, dass wir hier wegkommen glaube ich. Sonst könnte es vielleicht Ärger geben.“
„Das glaubste nicht nur meen Jung, das ist so! Der Korb ist nämlich Privatbesitz, auch wenn er nicht verschlossen ist!“
Wir beide standen auf, warfen uns die Schlafsäcke über die Schultern und suchten nach unseren Schuhen.
„Ne Müllkippe ist das hier erst recht nicht!“
„Klar! Wir nehmen alles wieder mit.“
„Ganz logisch werte Madam!“
Das rief jetzt Martin.
„Da sind wir ihnen einiges schuldig. Und deswegen sind wir auch ganz Gentleman. Darf ich mich vorstellen? Martin mein Name. Was sind wir Ihnen schuldig? Wir lassen es uns selbstverständlich nicht nehmen unseren geschuldeten Obolus für die klare Nacht an dieser herrlichen weiten See ihres wunderschönen Landes in ihrem gemütlichen Strandkorb zu entrichten.„
So reichte er der Frau die Hand und neigte den Kopf ehrfurchtsvoll nach vorne, während er mit der anderen Hand an seine Gesäßtasche griff und seinen Geldbeutel hervorholte.
„Wie war gleich Ihr werter Name?“
Mit dieser Frage blätterte er in seiner geöffneten Geldbörse, die er der Frau unter die Nase hielt.
„Ich geb Dir gleich was! Macht Euch mal lieber hurtig in den Wind ihr zwee!“
Martin sah die Frau verständnislos an. Jetzt drehte er sich um, schob die Geldbörse wieder in die Gesäßtasche und blickte auf das Meer.
„Ich liebe das Meer! Soweit sind wir gereist in Ullis Blues-Klitsche! Kein Weg war uns zu lang, bis wir dich spät nachts endlich hier finden konnten!“
Und zur Frau gewandt: „Das ist doch wirklich wie ein Traum hier! Oder werte Madame?“
„Jetzt aber mal hoplahopp!“
Ich schlug Martin leicht auf die Schulter.
„Komm Martin, wir müssen. Haste dein Zeug alles beisammen?“
„Ernas Blickfang fiele mir da ein.“
„Was ist das?“, fragte ich die Frau.
„Eine kleine Pension. Gleich da oben auf der Düne.“
Die Frau deutete in die Richtung.
„Ist echt nett die Erna. Sind von hier ungefähr fünfhundert Meter.“
„Aha! O.k. das wäre vielleicht was für uns oder Martin?“
„Erna? Hört sich echt cool an.„
Martin wandte sich der Frau zu:
„Madame! Es war uns eine Ehre! Wir stehen in Ihrer Schuld. Bis auf bald!“
Er verneigte sich noch mal leicht und trat zwei Schritte zu Seite, als würde er von einer Bühne abtreten.
Die Frau schüttelte den Kopf während sie ihre Badetasche auf die Fußablage des Strandkorbes stellte und ihr Handtuch im Korb ausbreitete.

Ernas Blickfang war ein wunderschönes mit Holz verkleidetes Haus das direkt über dem Strand zwischen den Dünen auf einer schönen kleinen Aussichtsanhöhe stand. Das Haus war ein wirklich hübscher Blickfang. Die Aussicht vom Haus aufs Meer aber war berauschend.

Martin schien bei unserer Ankunft dort wieder kurz vor einem Freudentaumel zu sein. Deshalb fragte ich ihn ganz offen, ob er nicht noch schnell, bevor wir versuchen in Ernas Blickfang einzuchecken, ein paar Freuden-Purzelbäume hinter den Büschen unterhalb der Düne schlagen wollte.

„Spinnst Du denn jetzt endgültig?“
Das fragte mich Martin. Dabei äffte er mich in Stimme und Gestik nach, so wie ich ihn im Auto auf dem Parkplatz, nach der Sache mit dem Cabriolet, angebrüllt hatte. Dann trat er an die Haustür und läutete:
„Baa, baba, bapp!“

„Alles klar, ist echt spitze, wirklich cool!“
So rief Martin und schüttelte Erna die Hand. Wir standen mit der Pensionswirtin in einem herrlichen Doppelzimmer. Draußen vor dem breiten Zimmerfenster sah man die weite Ostsee, die hellen Dünen und den riesigen Strand auf dem wir übernachtet hatten. Das Zimmer war preiswert und sehr sauber. Ernas Pension war von guter Hand geführt. Ein Gast hatte seine Reservierung Tags zuvor wegen Erkrankung zurückgezogen. Wir waren also ein Glücksfall. Auch für Erna, denn sie sagte:
„Das trifft sich hervorragend, dass Sie beide heute hier auftauchen. Ich hab da für ne Woche noch ein Zimmer frei. Wie der Zufall es will, ist es gestern frei geworden und ab heute beziehbar!“
Martin fiel der Frau um den Hals. Ich musste ihn von ihr wegziehen.
„Ist schon gut Martin. Du kennst die Frau doch noch gar nicht.“
Das gefiel Erna. Sie lächelte Martin an und sagte dabei:
„Rauchen ist hier drin und auf meinem Grundstück strengstens verboten! Wegen Gestank und Brandgefahr in der Düne.“
„Alles klar Madame!“

Wir bezogen das Zimmer, bekamen ein leckeres Mittagessen und machten es uns nachmittags am Strand gemütlich. Martin tobte im Meer wie ein großes Kind.

30. Suchen

Am nächsten Morgen hatte Erna ein wunderbares Frühstück mit Rührei und Speck zubereitet. Martin und ich erschienen erst zum Frühstück als die letzten Gäste bereits Richtung Strandkörbe unterwegs waren. Erna setzte sich zu uns an den Tisch.

„Bisschen spät geworden gestern?“
„Ich liebe das Meer! Deshalb konnte ich mich da gestern kaum loseisen. Die halbe Nacht war ich am Strand gelegen. So was tolles gibt ’s bei uns gar nicht was Sie hier haben, liebe Frau Erna! Ihr Frühstück sieht ja super aus. Ich mag Rührei mit Speck!“

Martin zauberte mit seiner Begeisterung einen Hauch von Lächeln in das Gesicht von Erna. Ich war mir nicht sicher ob sie sich aus Interesse zu uns gesetzt hatte, oder ob sie vorgehabt hatte, uns darauf hinzuweisen, dass die Frühstückzeit um halb elf Uhr Vormittags eigentlich längst beendet war. Martin jedenfalls sorgte dafür, dass diese Regel für uns Beide außer Kraft gesetzt blieb. Erna fragte nach den Gründen unserer Anwesenheit an der Ostsee am Strand in ihrer beschaulichen Pension.

„Ich liebe das Meer! Meer und Urlaub, deshalb sind wir hier“, meinte Martin.

Ich hielt mich zurück. Martin erzählte von der langen Autofahrt und davon, dass er die Reise nur ausgehalten habe, weil er seine Lieblingsmusik aus Ullis Autokassettenrecorder hören durfte. Die Hitze vertrage er nämlich ganz schlecht. Deshalb sei er auch unendlich froh gewesen, als die Ostsee vor seinen Augen erschienen war und dass er sich in ihr jetzt täglich abkühlen könne. Ob Erna einmal seine Lieblingsmusik hören wollte, fragte Martin unvermittelt.

Erna antwortete, dass sie eigentlich nicht besonders viel Musik höre. Sie sei einmal in der Woche Freitags am Abend drüben im Ort im Altenheim. Dort finde eine Tanzveranstaltung mit Musik für die alten Leute statt. Da könne man zu Musik tanzen. Das sei eigentlich alles was sie mit Musik zu tun habe.
„Das ist aber schade! Musik ist wichtig im Leben, da kommt Spaß auf. Musik muss man oft haben, damit man Spaß haben kann!“
Erna nickte Martin verständnisvoll an. In ihren Augen glaubte ich die Frage zu sehen, die Martin sogleich beantwortete.
„Ich höre besonders gerne Bluesmusik. Die Bluesbrothers gefallen mir besonders gut! Da sind viele Bläser mit riesigen Trompeten und Saxophonen dabei und die tanzen auch ganz toll dazu. Vielleicht so wie sie in ihrem Altenheim? Kennen sie die Bluesbrothers?“
Erna schüttelte lächelnd den Kopf.
„Das ist schade. Die muss ich Ihnen unbedingt mal vorspielen. Echt toll der Sound.“
Martin verschlang das Rührei mit riesigem Appetit. Das wirkte als habe er drei Tage nichts gegessen. Erna sah Martin begeistert beim Essen zu. Sie verschwand kurz in der Küche, um mit einer weiteren Pfanne zurückzukommen.
„Das ist schön ihren großen Appetit zu sehen.“
Zu mir gewandt sagte sie:
„Da sollten Sie sich mal ein Beispiel dran nehmen, junger Mann!“
Ich fragte Erna:
„Kennen Sie hier in der Nähe ein größeres Gehöft? So mit Ställen und großem Innenhof?“
„Hier gibt ’s viele solcher Höfe. Alles Bauernhöfe. Es gibt hier viele Landwirtschaften. Die ganze Gegend lebt vom Ackerbau, vom Fischfang, vor allem vom Dorsch und einige Wenige wie ich, leben von Euch, den Touristen.“
Martin nickte:
„Wir sind auf Urlaub und bringen Geld. Das hat meine Schwester auch gesagt, dass das teuer wird! Deshalb hat sie mir was in die Geldbörse rein getan.“
Martin stand auf und zog die Geldbörse aus der Gesäßtasche hervor.
„Lass das mal Martin. Wir zahlen erst bei unserer Abreise.“

Erna fragte freundlich:
„Was ist das für ein Gehöft, das Sie suchen?“
Das weiß ich selbst nicht ganz genau. Ich war da mal vor etwa zwölf Jahren. Ich habe dort damals ein paar Urlaubswochen verbracht. Es war ein altes Ehepaar. Ich glaube der Feriengroßvater war irgendwie wichtig im Krieg gewesen. Jedenfalls erinnere ich mich daran, dass in seinem Arbeitszimmer viele alte Fotos hingen auf denen es um das Militär ging.“
Erna sah mich jetzt skeptisch an.
„Und da wollen sie jetzt irgendwie drin herum stochern?“
„Nein, ich hab da was von damals, das ich zurückbringen will.“

Martin gähnte jetzt ausführlich. Er schien genug Rührei gegessen zu haben, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und trank Orangensaft aus einem großen Glas.

„Hmm“, stöhnte Erna und blickte zum Fenster hinaus.
„Ein wichtiger Mann aus dem Krieg ist vor Jahren gestorben. Der wurde drüben im Ort auf dem Friedhof beigesetzt. Er hatte einen Hof, vielleicht fünfzehn Kilometer entfernt von hier. Ich glaube seine Frau wohnt noch dort. Aber ob der das ist, den sie meinen?“
„Könnten Sie mir den Weg zu dem Hof beschreiben?“
„Na klar, da finden sie schnell hin. Ob die Frau Telefon hat weiß ich nicht, glaube es aber nicht. Seit ihr Mann gestorben ist hat die sich ziemlich zurückgezogen. Ich sehe sie nie im Ort und auch zu den Tanzabenden Freitags ins Altenheim kommt sie nie.“
Martin wurde bei dem Stichwort wieder aufmerksam.
„Dürfen wir mitkommen zum Tanzabend?“
Ich hoffte inständig, dass Erna ein klares Nein für diese Frage hatte. Denn ich war der Meinung, dass wir uns auf keinen Fall in so einen Schunkelabend im Altenheim einmischen sollten.
„Na klar junger Mann! Der Abend ist offen für den ganzen Ort. Da sind auch junge Leute gern gesehen! Die kommen nur nie.“
„Prima, wir kommen gerne!“
Martin sah mich von der Seite an und nickte begeistert.
„Musik und Tanzen! Das wird toll!“

Die Strecke zum Gehöft führte über eine schmale Schotterpiste die zwischen hoch stehenden Rapsfeldern hindurch verlief. Kurz vor dem Gehöft sah ich links hohe Bäume. Dort war eine breite Blumenwiese. Dahinter lag ein grüner Weiher. Das musste der kleine von hohen Bäumen bewachsene Tümpel sein, an dem ich damals abends mit Robert, Martin und Mischa saß. Wir tranken dort heimlich aus Bierflaschen die Robert von Einnahmen aus dem Dorschverkauf spendiert hatte. Der Schotterweg war damals ein im Sommer mit Gras bewachsener Feldweg. Jetzt war er richtig mit Schotter befestigt. Mir schien aber, dass er nicht häufig befahren wurde, denn das Unkraut wucherte an einigen Stellen hoch aus dem Schotter, es verschwand unter der HaubeAm nächsten Morgen hatte Erna ein wunderbares Frühstück mit Rührei und Speck zubereitet. Martin und ich erschienen erst zum Frühstück als die letzten Gäste bereits Richtung Strandkörbe unterwegs waren. Erna setzte sich zu uns an den Tisch.

„Bisschen spät geworden gestern?“
„Ich liebe das Meer! Deshalb konnte ich mich da gestern kaum loseisen. Die halbe Nacht war ich am Strand gelegen. So was tolles gibt ’s bei uns gar nicht was Sie hier haben, liebe Frau Erna! Ihr Frühstück sieht ja super aus. Ich mag Rührei mit Speck!“

Martin zauberte mit seiner Begeisterung einen Hauch von Lächeln in das Gesicht von Erna. Ich war mir nicht sicher ob sie sich aus Interesse zu uns gesetzt hatte, oder ob sie vorgehabt hatte, uns darauf hinzuweisen, dass die Frühstückzeit um halb elf Uhr Vormittags eigentlich längst beendet war. Martin jedenfalls sorgte dafür, dass diese Regel für uns beide außer Kraft gesetzt blieb. Erna fragte nach den Gründen unserer Anwesenheit an der Ostsee am Strand in ihrer beschaulichen Pension.

„Ich liebe das Meer! Meer und Urlaub, deshalb sind wir hier“, meinte Martin.

Ich hielt mich zurück. Martin erzählte von der langen Autofahrt und davon, dass er die Reise nur ausgehalten habe, weil er seine Lieblingsmusik aus Ullis Autokassettenrecorder hören durfte. Die Hitze vertrage er nämlich ganz schlecht. Deshalb sei er auch unendlich froh gewesen, als die Ostsee vor seinen Augen erschienen war und dass er sich in ihr jetzt täglich abkühlen könne. Ob Erna einmal seine Lieblingsmusik hören wollte, fragte Martin unvermittelt.

Erna antwortete, dass sie eigentlich nicht besonders viel Musik höre. Sie sei einmal in der Woche Freitags am Abend drüben im Ort im Altenheim. Dort finde eine Tanzveranstaltung mit Musik für die alten Leute statt. Da könne man zu Musik tanzen. Das sei eigentlich alles was sie mit Musik zu tun habe.
„Das ist aber schade! Musik ist wichtig im Leben, da kommt Spaß auf. Musik muss man oft haben, damit man Spaß haben kann!“
Erna nickte Martin verständnisvoll an. In ihren Augen glaubte ich die Frage zu sehen, die Martin sogleich beantwortete.
„Ich höre besonders gerne Bluesmusik. Die Bluesbrothers gefallen mir besonders gut! Da sind viele Bläser mit riesigen Trompeten und Saxophonen dabei und die tanzen auch ganz toll dazu. Vielleicht so wie sie in ihrem Altenheim? Kennen sie die Bluesbrothers?“
Erna schüttelte lächelnd den Kopf.
„Das ist schade. Die muss ich Ihnen unbedingt mal vorspielen. Echt toll der Sound.“
Martin verschlang das Rührei mit riesigem Appetit. Das wirkte als habe er drei Tage nichts gegessen. Erna sah Martin begeistert beim Essen zu. Sie verschwand kurz in der Küche, um mit einer weiteren Pfanne zurückzukommen.
„Das ist schön ihren großen Appetit zu sehen.“
Zu mir gewandt sagte sie:
„Da sollten Sie sich mal ein Beispiel dran nehmen, junger Mann!“
Ich fragte Erna:
„Kennen Sie hier in der Nähe ein größeres Gehöft? So mit Ställen und großem Innenhof?“
„Hier gibt ’s viele solcher Höfe. Alles Bauernhöfe. Es gibt hier viele Landwirtschaften. Die ganze Gegend lebt vom Ackerbau, vom Fischfang, vor allem vom Dorsch und einige Wenige wie ich, leben von Euch, den Touristen.“
Martin nickte:
„Wir sind auf Urlaub und bringen Geld. Das hat meine Schwester auch gesagt, dass das teuer wird! Deshalb hat sie mir was in die Geldbörse rein getan.“
Martin stand auf und zog die Geldbörse aus der Gesäßtasche hervor.
„Lass das mal Martin. Wir zahlen erst bei unserer Abreise.“

Erna fragte freundlich:
„Was ist das für ein Gehöft, das Sie suchen?“
„Das kann ich nicht ganz genau sagen. Ich war da mal vor etwa zwölf Jahren. Ich habe dort damals ein paar Urlaubswochen verbracht. Es war ein altes Ehepaar. Ich glaube der Feriengroßvater war irgendwie wichtig im Krieg gewesen. Jedenfalls erinnere ich mich daran, dass in seinem Arbeitszimmer viele alte Fotos hingen auf denen es um das Militär ging.“
Erna sah mich skeptisch an.
„Und da wollen sie jetzt irgendwie drin herum stochern?“
„Nein, ich hab da was von damals, das ich zurückbringen will.“
Martin gähnte ausführlich. Er schien genug Rührei gegessen zu haben, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und trank Orangensaft aus einem großen Glas.
„Hmm“, stöhnte Erna und blickte zum Fenster hinaus.
„Ein wichtiger Mann aus dem Krieg ist vor Jahren gestorben. Der wurde drüben im Ort auf dem Friedhof beigesetzt. Er hatte einen Hof, vielleicht fünfzehn Kilometer entfernt von hier. Ich glaube seine Frau wohnt noch dort. Aber ob der das ist, den sie meinen?“
„Können Sie mir den Weg zu dem Hof beschreiben?“
„Na klar, da finden sie schnell hin. Ob die Frau Telefon hat weiß ich nicht, glaube es aber nicht. Seit ihr Mann gestorben ist, hat die sich ziemlich zurückgezogen. Ich sehe sie nie im Ort und auch zu den Tanzabenden freitags ins Altenheim kommt sie nie.“
Martin wurde bei dem Stichwort wieder aufmerksam.
„Dürfen wir mitkommen zum Tanzabend?“
Ich hoffte inständig, dass Erna ein klares Nein für diese Frage hatte. Denn ich war der Meinung, dass wir uns auf keinen Fall in einen Schunkelabend im Altenheim einmischen sollten.
„Na klar junger Mann! Der Abend ist offen für den ganzen Ort. Da sind auch junge Leute gern gesehen! Die kommen nur nie.“
„Prima! Wir kommen gerne!“
Martin sah mich von der Seite an und nickte begeistert.
„Musik und Tanzen! Das wird toll!“

Die Strecke zum Gehöft führte über eine schmale Schotterpiste die zwischen hoch stehenden Rapsfeldern hindurch verlief. Kurz vor dem Gehöft sah ich links hohe Bäume. Dort war eine breite Blumenwiese. Dahinter lag ein grüner Weiher. Das musste der kleine, von hohen Bäumen bewachsene, Tümpel sein, an dem ich damals abends mit Robert, Martin und Mischa saß. Wir tranken dort heimlich aus Bierflaschen die Robert von Einnahmen aus dem Dorschverkauf spendiert hatte. Der Schotterweg war damals ein im Sommer mit Gras bewachsener Feldweg. Jetzt war er richtig mit Schotter befestigt. Mir schien aber, dass er nicht häufig befahren wurde, denn das Unkraut wucherte an einigen Stellen hoch aus dem Schotter, es verschwand unter der Haube des Käfers und stellte sich nach dem Drüberfahren hinter dem Wagen wieder auf.

Ich fuhr langsam eine Steigung hinauf, die mich daran erinnerte wie anstrengend es damals gewesen war, den Handwagen mit dem riesigen Surfbrett hoch zu ziehen. Deshalb war ich froh gewesen, dass ich das Brett in den letzten Tagen vor dem Hausarrest unten am Meer in einer Scheune nahe dem Deich auf einem anderen Hof abstellen durfte. Ich fuhr sehr langsam am Eingang des Haupthauses vorüber. Ich sah durch die Seitenscheibe an Martin vorbei genau zur Eingangstür. Es war die gleiche schwere Tür. Neben der Tür hing aber kein trocknendes dunkles Hirschfell.

Martin fragte mich besorgt:
„Ist dir schlecht geworden? Du siehst plötzlich so bleich aus.“
„Nein, es ist nichts. Ich bin nur ein bisschen aufgeregt, denn ich war hier nur einmal im Leben und weiß jetzt gar nicht so genau ob das richtig ist hier wieder her zu kommen.“

Ich fuhr den Käfer auf den leeren Hof. Alles war von Unkraut überwuchert. Aus den Ritzen der groben Pflastersteine sprießten Gräser und Löwenzahn. Ich lenkte das Auto bis vor das hohe, braun gestrichene Scheunentor. Dort stellte ich den Motor ab. Ich sah mir durch die Windschutzscheibe das Tor an. Die braune Farbe war schwer verwittert. Sie blätterte an vielen Stellen ab. Sie sah aus, als habe sie seit damals keinen neuen Anstrich mehr erlebt. Ich erinnerte mich der kurzen, scharfen Stimme des Feriengroßvaters, wie er die zügig voranschreitende Arbeit des Malermeister Klecksel an dessen Scheunentor lobte.

Noch im Wagen sitzend sagte Martin:
„Tief durchatmen, ganz tief atmen, das ist das beste. Viel Luft braucht der Mensch, wenn ihm schlecht geworden ist. Frische Luft bringt den Kreislauf wieder in Schwung.“
Ich drehte mich zu Martin, lachte ihn an und sagte:
„Geht schon wieder, mit mir ist alles klar.“
„O.k. Kumpel“, sagte Martin, hielt mir die flache rechte Hand hin. Ich klatschte meine Linke darauf.

Wir stiegen aus. Das Haus sah so aus wie ich es in Erinnerung hatte. Es war nur viel kleiner. Aber das Dach, die Fenster, der rankende Wein rund um das Haus, alles war wie damals. Kein Mensch war zu sehen. Wir schlenderten langsam Richtung Eingangstür. Ich musterte die Scheunen, alles sah so aus wie in meiner Erinnerung. An der Tür fand sich derselbe Klingelknopf. Martin drückte drauf: „Baa, baba, bapp!“ Wir warteten, aber es rührte sich nichts. „Baa, baba, bapp!“ Nach fünf Wiederholungen stoppte ich Martin.
„Da scheint niemand zu Hause zu sein.“
„Da wohnt gar niemand“, sagte Martin.
„Wie kommst du denn da drauf?“

Martin lotste mich von der Haustüre zur Terrassentüre, hinter der sich nach meiner Erinnerung das Arbeitszimmer des Feriengroßvaters befand. Neben der Terrassentür zeigte mir Martin ein Fenster. Ich verstand nicht was Martin dort gesehen hatte. Er deutete auf das Fenster. Ich neigte mich nach vorne und sah hinein. Das war das Arbeitszimmer. Aber es war leer. Es war völlig leer geräumt, kein einziges Möbelstück war zu sehen. Die Wände waren kahl, kein einziges Foto hing dort.

Ich nickte Martin zu.
„Du scheinst Recht zu haben. Bewohnt sieht das nicht aus.“

Wir gingen um das Haus und sahen zu vielen Fenstern hinein. In keinem Zimmer standen Möbel. Das Haus schien leer geräumt worden zu sein. Der Obst- und Gemüsegarten war überwuchert von Gräsern und Unkraut. Martin fand trotzdem einige Beeren die er zupfte und genüsslich verschlang.

Je länger wir uns aufhielten desto klarer wurde, dass der Hof wohl seit einiger Zeit unbewohnt war. Ich sah vom Gemüsegarten aus nach oben in den ersten Stock. Auch dort schien sich kein Mobiliar mehr in den Räumen zu befinden. Vorhänge, an die ich mich erinnerte, fehlten. Vom Hof aus sah ich mir die Fenster an der Vorderseite im ersten Stock genau an. Alle waren ohne Vorhänge, auch das winzige Dachfenster des Speichers. War denn da je ein Vorhang? Warum sollte da einer gewesen sein? Das Speicherfenster sah seltsam aus. Es war klar und sauber. Sauberer als alle anderen Fenstergläser. Martin merkte, dass sich meine Aufmerksamkeit auf das winzige Speicherfenster richtete. Auch er sah dort hinauf.

„Keine Glasscheibe mehr drin gell?“
„Scheint so“, antwortete ich, denn das war es was dort anders war. Da spiegelte sich nichts. Das Glas fehlte, oder das Fenster stand einfach offen.

Das riesige Scheunentor ließ sich mit vereinten Kräften öffnen. Drinnen stand der alte Mercedes des Feriengroßvaters. Die Nummernschilder fehlten. Martin öffnete eine Wagentür und erschrak, weil darin viel Leben herrschte. Mehrere Tauben flatterten aufgebracht hinauf bis zur hohen Decke. Oben landeten sie auf Querbalken die von vielen Tauben besetzt waren.

Ich blickte nach oben. Da hing sie auf der Seite an der Wand. Eine riesige Leiter die mir der Feriengroßvater damals gegeben hatte, um das Tor zu streichen. Die Metalleiter war weiß von Taubenkot. Wir schleppten sie zusammen in den Hof hinaus. Dabei verscheuchten wir in der Höhe der Scheune einige Tauben, denn wir schlugen mit der langen Leiter mehrfach gegen die Deckenbalken. In der Scheune herrschte minutenlang helle Aufregung.

Die Leiter war alt aber in Ordnung. Wir lehnten sie an dem Dachfenster an. Martin wollte auf keinen Fall da hoch steigen. Das fand ich sehr gut, denn sein Gewicht hätte der Leiter fast die doppelte Belastung abverlangt wie meines. Ich setzte mir meinen Rucksack auf den Rücken und begann langsam auf der Leiter hinauf zu steigen.

Martin hatte ich zuvor erklärt, dass ich mich da oben nur ein bisschen umsehen und etwas ablegen wollte, was ich vor vielen Jahren von dort gestohlen hatte. Martin hörte mir beim Stichwort „gestohlen“ sehr aufmerksam zu. Ich zeigte ihm das Schreiben in der Plastikhülle aus meinem Rucksack.

Martin sah mich fragend an.

Ich erklärte ihm, dass man irgendwann im Leben auf seine Missetaten zurückgeworfen würde. So sei es zum Beispiel, wenn man etwas gestohlen habe. Das vergesse man meistens nie und irgendwann tauche es dann so stark wieder auf, dass man sich auf den Weg machte. Ich sei hier auf so einem Weg. Ich hoffte darauf, dass ich nicht zu spät dran war. Es sähe zwar nicht gut aus, denn leider wohnten der Feriengroßvater und dessen Frau wohl nicht mehr hier, doch es gäbe noch eine kleine Chance. Wenn oben in diesem Speicher die Kiste noch da sei, würde ich das Schreiben einfach wieder hineinlegen. Die Kiste würde vielleicht eines Tages, genauso wie das Mobiliar von den Erben oder den ehemaligen Hausbewohnern noch abgeholt werden. Damit wäre der Diebstahl zumindest soweit erledigt, dass die Nachfolger des Besitzers das Schreiben wieder zurückbekommen hätten.

Martin fand es seltsam, dass ich überhaupt ein Schreiben geklaut hatte und fragte warum ich das nicht einfach weggeschmissen hätte. Minutenlang dachte ich darüber nach.
Ich antwortete:
„Ich dachte damals, als ich da oben auf dem Speicher in der Kiste wühlte, dass es vielleicht Geld sein könnte. Das konnte ich in der Dunkelheit aber nicht erkennen. Als ich sah, dass es ein Stück Papier war, musste ich es einstecken weil es aus der Kiste heraus auf den Boden gefallen war. Ich hatte Angst, dass der Feriengroßvater es finden und mich als Dieb entlarven würde. Denn wer sonst außer mir hätte es aus der Kiste nehmen sollen? Seitdem habe ich mich nicht getraut das einfach weg zu schmeißen. Obwohl es uralt ist, könnte es wichtig für seinen Besitzer oder dessen Nachfolger sein. Der Brief lag vielleicht Jahre lang hier in diesem Haus auf dem Speicher herum, ohne jemals dort anzukommen wohin er versendet worden war. Vielleicht will der Besitzer ihn jetzt versenden, wenn er ihn hier wieder findet?“

Martin verstand nichts von dieser seltsamen Erklärung.

Das Dachfenster war winzig aber es reichte für mich. Nachdem ich eingestiegen war, winkte ich zu Martin der unten die Leiter hielt. Ich knipste meine Taschenlampe an und leuchtete durch den Speicher. Der war leer. Kein Schrank stand mehr oben an der Holztreppe. Stattdessen war der Speicher voll von Tauben. Schallendes, wildes Geflatter tobte um mich herum. Ich arbeitete mich gebückt vor. Tausende von Tauben schienen über meinen Kopf hinweg zum winzigen Fenster zu fliegen. Gebückt arbeitete ich mich zur Speichertüre weiter. Der Boden war übersät mit Taubenkot. An der Türe angekommen, drückte ich die alte Klinke hinunter. Das schaffte ich nur mit beiden Händen. Also machte ich die Lampe aus. Ich stemmte mich auf die Türklinke, die sich knarren nach unten bewegte. Laut quietschend öffnete sich die Tür. Ich trat in den Gang und warf die Tür hinter mir fest zu.

Im Lichtkegel der Taschenlampe bewegte ich mich den Flur entlang nach links. Dort sah es so aus wie vor zwölf Jahren. Der Boden und die Wände schienen seit damals nicht verändert worden zu sein.

Ich bewegte mich bis zur Kammer in der ich damals gewohnt hatte. Die Türklinke ließ sich viel leichter herunter drücken als die der Speichertüre. Ich öffnete langsam die Tür. Zu meiner Überraschung stand in dem Zimmer noch das Bett auf dem ich damals geschlafen hatte und an der Decke hing immer noch die weiße Ballonleuchte aus Papier. Unter dem Fenster sah ich getrocknete, gelbe Streifen von Wasser, so wie ich sie damals auch schon gesehen hatte. Ich ging zum Fenster und öffnete es vorsichtig. Ich lehnte mich hinaus. Unten sah ich Martin an der Leiter stehen. Ich winke ihm zu und rief hinunter:
„Alles klar Martin, ich komme gleich wieder runter!“

Links sah ich das Speicherfenster aus dem immer noch Tauben heraus flogen. Das Zimmer war abgesehen von Bett und Lampe völlig leer. Ich schloss das Fenster. Ich blieb noch Sekunden in dem Zimmer, sog den Geruch ein. Es roch wie damals.

In diesen Sekunden wurde mir bewusst, dass ich hier völlig unsinniges im Schilde führte. Warum war ich an den Ort zurückgekommen? Ich wollte das Schreiben seinem Besitzer oder seinem Adressaten bringen. Was ich hier tat war anderes. Ich war in ein Haus eingedrungen, in dem ich nichts zu suchen hatte. Was war mit mir geschehen? Wollte ich das Schreiben hier abliefern obwohl die Hausbesitzer gar nicht mehr hier lebten? Was sollte der Unsinn? Warum sollte das Schreiben wieder dort hinkommen, von woher ich es hatte?

Ich verließ das Zimmer. Im Lichtkegel der Taschenlampe ging ich langsam den Gang entlang. Vorsichtig stieg ich durch das verstaubte Treppenhaus hinunter. Unten war ich kurz in Versuchung einen Rundgang durch die Zimmer zu machen. Doch mir wurde erneut bewusst, dass ich in diesem Haus nichts zu suchen hatte. Deshalb ging ich sofort zur Eingangstür. Sie war nicht verschlossen, sondern sie war nur ins Schloss gefallen. Ich trat hinaus und stand in der Durchfahrt zum Hof. Ich zog die Tür hinter mir zu.

Martin war überrascht, dass ich so schnell zurückgekommen war und dass ich dazu nicht mehr die Leiter benutzt hatte.
„Hundertachtundneunzig Stück und das hört immer noch nicht auf!“
Er hatte die Tauben gezählt die aus dem Dachfenster geflogen waren.
„Komm, lass uns die Leiter wieder wegschaffen und verschwinden.“

Wir trugen die Leiter in die Scheune, hängten sie an den Haken, stemmten gemeinsam das Scheunentor wieder zu und fuhren langsam im Käfer auf dem Schotterweg hinunter in Richtung Meer.

Abends nach dem Abendbrot erzählte ich Erna von unserem Besuch auf dem verlassenen Gehöft. Sie hatte inzwischen im Ort ermittelt, dass die ehemalige Feriengroßmutter kurz nach dem Tod ihres Mannes auch gestorben war. Seitdem stehe das Gehöft wohl leer. Angeblich soll es demnächst abgerissen werden um für einen Feriengasthof Platz zu machen. Das könne aber noch dauern, weil sich die Erbengemeinschaft wohl ziemlich uneinig wäre. Erst jetzt fragte mich Erna was ich denn auf dem Hof überhaupt zu suchen hätte. Nach Kriegstrophäensammlern sähen wir beide nämlich nicht aus.

Ich erzählte Erna die Geschichte von dem Schreiben und zeigte ihr eine Kopie davon. Erna konnte die alte Schrift lesen! Die Straße in der Adresse kannte sie im Ort aber nicht. Sie könnte aber ihre Mutter danach fragen, denn es war viel gebaut worden seit dem Krieg. Da könne es gut sein, dass die Straße inzwischen einen anderen Namen bekommen hatte. Sie treffe ihre Mutter morgen.

31. Finden

Den nächsten Vormittag verbrachten wir am Strand in einem Strandkorb. Das herrliche Wetter wollte uns nicht verlassen. An der See blies eine schöne Brise welche die Hitze vertrieben hatte. Mittags fuhren wir zum Hafen. Ich hatte Martin versprochen, dass wir da jede Menge fetter Pötte sehen würden. Leider war das zu viel versprochen, denn ich war kein Seemann und hatte über mein Versprechen nicht eine Sekunde lang nachgedacht. Die Schiffe waren fast alle ausgelaufen. Also setzten wir uns an einen Pier und warteten.

Im Laufe des frühen Nachmittags tat sich dann aber etwas. Ein Schiff nach dem anderen lief in den Hafen ein. Es gab sie also noch. Die Hochseefischerboote welche die Fischer und solche die es gerne geworden wären für eine Tagesfahrt hinaus brachten, um nach Dorsch zu angeln. Ich beobachtete Familien, Kinder und Jugendliche, die wie wir es damals getan hatten, hinaus gefahren waren, um mit langen Angelruten und glänzenden Blinkern in der Ostsee zu fischen. Sie stiegen mit ihren Angelruten, Angelkästen und den Tagesfängen über wacklige Holzbrücken von den Schiffen hinüber zu den Stegen.

Der Fisch wurde offenbar schon am Steg zum Verkauf feil geboten. Das war früher anders gewesen. Wir hätten unseren gefangenen Dorsch nicht schon im Hafen weitergebracht. Dafür mussten wir mühsam mit dem Handwagen durch den Ort von Haus zu Haus laufen und unseren Fang wie saures Bier anbieten. Auf den Stegen sammelten sich Menschentrauben um erfolgreichen Fischern den Fang abzukaufen. Mitten in einer Gruppe vor uns auf dem Steg entdeckte ich auch Erna. Sie lief mit einem Eimer in der Rechten und ihrer Geldbörse in der Linken auf und ab. Minuten später fand sie zwei junge Burschen mit denen sie offenbar schnell handelseinig wurde. Fünf riesige Dorsche verfrachteten die in ihren Eimer. Den schleppte Erna vom Steg in Richtung Hafenparkplatz.

Zum Abendessen servierte Erna frisches Dorschfilet dazu Bratkartoffeln mit frischem Gemüse. Martin juchzte und schlemmte. Erna hatte ihre Mutter wegen meinem Schreiben befragt. Sie setzte sich nach dem Essen an unseren Tisch. Sie könnte für morgen Abend ein Treffen mit ihrer Mutter organisieren. Ob wir da Zeit hätten. Genau das hatten wir in großer Menge.

Am nächsten Tag tobte Martin den ganzen Vormittag im Meer, während ich die ganze Zeit in einem der Strandkörbe von Ernas Blickfang vor mich hin döste. Abends fuhren wir gemeinsam zu Ernas Mutter. Sie lebte in einem Backsteinhaus am Ortsrand. Wir durchschritten einen großen hübschen Obstgarten mit Kirschbäumen, Apfel- und Birnbäumen. Die Kirschernte war wegen der Wärme in diesem Sommer schon gelaufen, so dass nur noch vereinzelte, verdorrte Früchte an einigen Ästen ihr Dasein fristeten. Martin griff nach einem roten Apfel, der ließ aber nicht von seinem Ast, er versuchte es mit Gewalt.

„Momentchen bitte!“, rief da die Mutter von Erna, die uns über einen gepflasterten Weg entgegeneilte. Martin ließ sofort vom Apfel ab. Er streckte der Frau die Hand entgegen.
„Grüße Sie Gott, verehrte Madame! Die rote Farbe war es und der Glanz Ihres Apfels an diesem Baum, da konnte ich einfach nicht widerstehen.“

Ernas Mutter begrüßte uns herzlich. Die Äpfel waren noch lange nicht reif, auch wenn mancher schon rot wurde. Trotzdem würde das noch Wochen dauern. Wir setzten uns vor dem Haus an einen bunt gedeckten Tisch. Was Ernas Mutter nicht wusste war, dass wir am Abend zuvor bereits Dorschfilet von ihrer Tochter genossen hatten. Was wir nicht wussten war, dass wir zum Essen eingeladen waren.

Martin überreichte feierlich einen bunten Blumenstrauß. Den hatte er zuvor auf der Wiese am Waldrand vor dem Gehöft gepflückt. Wir waren deshalb extra nochmal dorthin gefahren. Martin hatte von jeder Blumenart genau fünf Stück ausgesucht. Den Strauß hatte er mit Gräsern nach seiner Vorstellung zurechtgemacht. Im Wagen hielt er den riesig gewordenen Strauß vor sich und steckte noch bis zur letzten Sekunde die Blumen ineinander, bis der Strauß genau seinen Vorstellungen entsprach. Ernas Mutter war begeistert.

Sie stellte den riesigen Strauß in eine große Vase, die auf dem Tisch aber keinen Platz fand. So musste Martin damit Vorlieb nehmen, dass sein toller Strauß auf ein kleines Mäuerchen zum Garten gestellt wurde. Er setzte sich am Tisch so, dass er seinen Blick auf sein Werk und den Garten richten konnte. Dafür machte ich ihm meinen Platz frei. Martin war zufrieden. Das Dorschfilet schmeckte hervorragend. Es langweilte gar nicht, nochmal Fisch zu essen, denn wir beide bekamen sonst ja nie frischen Fisch aus dem Meer.

Martin erzählte begeistert vom Meer und dem tollen Land rund um das Meer in dem Frau Erna und unsere Gastgeberin, deren Mutter lebten. Er steigerte sich von einem Lob für die Gegend aber vor allem für das Meer zum nächsten. Dann kam er zu seiner Wohngemeinschaft bei Stuttgart und seiner Begeisterung für die Tanztheatermusikgruppe, in der er wöchentlich tolle Showtänze übte. Von da ging es weiter zum Neid den er bei seinen Wohngemeinschaftsmitbewohnern heute schon sehe, wenn er beginnen werde, von seinem tollen Urlaub an diesem riesigen Meer zu erzählen. Da würde so Manchem die Kinnlade nicht mehr zugehen. Von dort schweifte Martin weiter zu unserer Reise. Mit dem tollsten Bluesmobil das er sich erträumen könnte, es gehörte Ulli dem „Uncoolen“, wären wir durch die ganze Republik gefahren. In brütender Hitze hätte er alles nur deshalb ausgehalten, weil er wusste wo die Reise hin ging und wegen der coolen Zigarettenpausen.

„Darf ich hier an Ihrem Gartentisch rauchen Madame?“
Martin kam endlich an der Ostsee an, deren Anblick im Mondenschein, nach einer zehrenden Reise, alles übertroffen habe, was seine Träume jemals hergegeben hätten.
Er rief:
„Gigantisch! Madame, wirklich gigantisch!“
Danach kam Martin zum Gehöft. Ich blickte ihn streng an. Dort sei eine herrliche Blumenwiese auf der er diesen großen Strauß, Nachmittags ganz frisch „extra für Sie Madame!“, ernten durfte. Jetzt schwieg Martin. Er war mit seinem Bericht am Ende.

Welches Gehöft das denn sei fragte die Mutter von Erna. Ich erzählte von meinem Aufenthalt dort vor fast zwölf Jahren. Die verstorbenen Feriengroßeltern, so die Mutter von Erna, kannte jeder im Ort. Der Feriengroßvater sei ein sehr angesehener Mann gewesen. Er habe den Hof aber schon sehr lange Zeit nicht mehr bewirtschaftet, denn er konnte nicht mehr arbeiten, weil er unter einer Kriegsverletzung litt.

Die Mutter von Erna kam sehr schnell zu meinem Schreiben. Die Adressatin des Briefes war eine alte Schulfreundin von ihr. Auch sie lebte genauso wie sie selbst schon immer im Ort. Es falle ihr jetzt aber sehr schwer mir zu sagen wer das sei, denn das Schicksal ihrer Freundin sei wirklich hart. Ihr waren alle drei Söhne im Krieg umgekommen. Zum Schluss dann auch noch der Jüngste von dem das Schreiben stammte. Der war ein ganz junger Bursche. Er war in den letzten Kriegstagen aus seiner Schulklasse heraus an die Front geschickt worden von wo er nicht wieder nach Hause zurück gekommen war.

Martin und ich schwiegen. Weil jetzt auch die Mutter von Erna schwieg, fragte ich:
„Ist der Brief dann nicht wichtig für die Mutter?“
„Er ist es vielleicht, vielleicht ist er es auch nicht. Ich weiß es nicht. Ich glaube ich will ihr das nicht zumuten nach so langer Zeit. Post vom toten Sohn der vor siebenundvierzig Jahren gestorben ist. Das ist doch nichts oder?“
Jetzt sagte Martin der ruhig an seiner Zigarette paffte:
„Wir sind im Namen des Herrn unterwegs, Madame!“
Ich sah streng zu Martin.
Die Mutter von Erna fragte:
„Wie bitte?“
„Wir sind von sehr weit gekommen um einen Auftrag von biblischem Gewicht zu erfüllen.“
Ich sah Martin noch strenger an.
„Sind sie beide denn Priester?“
„Nein, nein! Martin ist ein Freund von mir. Wir sind auf Reisen. Martin findet unseren Auftrag wichtig. Ob er so wichtig ist, dass er einer Himmelsbotschaft gleicht, weiß ich aber nicht. Martin sieht gerne Filme. Die Bluesbrothers gefallen ihm besonders gut. Die waren im Namen des Herrn unterwegs. Mit uns beiden ist das aber etwas ganz anderes.“
Jetzt sah mich Martin streng und beleidigt an.
„Unser Auftrag ist wichtig! Sonst wärst Du nicht hierher gekommen!“
„O.k.!“, sagte ich.
„Martin hat vollkommen Recht. Es ist wichtig. Ich will mein Schreiben gerne seiner Adressatin bringen. Ich wollte es dem Feriengroßvater bringen, aber der ist ja nun gestorben.“

Jetzt war der Feriengroßvater im Blickpunkt:
„Wissen Sie eigentlich, wie der damals zu diesem Schreiben kam?“, fragte Ernas Mutter.
„Keine Ahnung“, musste ich da achselzuckend zugeben.
„Er hatte es einfach nicht weiter geschickt damals, Ihr Feriengroßvater! Er hatte es bei sich behalten. Denn er war es gewesen, der den Jungen von zu Hause weg in den Krieg und damit den Tod geschickt hatte.“
Martin und ich schwiegen.
„Deshalb will ich der Mutter des Buben ihr Schreiben nicht zumuten. Sie hatte bisher geglaubt ihr Junge wäre in Gefangenschaft umgekommen. Sie dachte er wäre, wie der Feriengroßvater, drüben in Gefangenschaft gewesen. Ihr Feriengroßvater hatte gesagt, er sei von dem Buben getrennt worden. Er habe nie mehr etwas von dem Kind gehört. Dass der Junge aber in einem Graben zu Tode gekommen sein könnte, wie wir es aus diesem Brief schließen müssen, ob das nach so langer Zeit wirklich sein muss?“

Ich verstand nichts. Martin auch nicht.
„Ich verstehe das nicht ganz. Wieso in einem Graben? Warum denn doch nicht in Gefangenschaft?“
„In seinem Brief schreibt er von einer Stellung, von schlaflosen Nächten und von viel Angst. Er schreibt, dass wenn nicht bald Schluss sei, er selbst Schluss machen werde.“
„Er wollte sich umbringen?“
„Vielleicht wollte er das, vielleicht wollte er auch flüchten um als Fahnenflüchtling erschossen zu werden. Den Brief kann ich mir nur so erklären: Der Feriengroßvater hatte meiner alten Freundin jahrelang eine Lügengeschichte aufgetischt. Er wollte für den Tod des Jungen nicht verantwortlich gemacht werden. Die Jungens hatten ja fürchterliche Angst, Todesangst. Viele von ihnen kamen noch in den letzten Tagen sinnlos um. Sie bewachten nutzlos Gräben, Straßen, Brücken, Lager und so weiter. Der Krieg war zwar noch nicht ganz aus, zumindest aber war er entschieden. Ihr Feriengroßvater aber hielt wohl weiter an Befehlen fest. Er hielt den Brief zurück, denn er ist voll von Angst vor dem nahen Tod. Daraus hätte man damals Rückschlüsse ziehen können. Schließlich hatte er behauptet der Junge sei in Gefangenschaft geraten, so wie er selbst. Der Junge starb aber vielleicht schon im Graben in den ihn Ihr Feriengroßvater damals geschickt hatte. Vielleicht war er fahnenflüchtig erschossen worden oder er erschoss sich selbst vor lauter Angst. Wir wissen das nicht und werden das vielleicht nie erfahren. Das Einzige was Sie hier mitbringen ist ein alter, ängstlicher Abschiedsbrief, der nie abgeschickt worden ist. Und das wollen Sie meiner alten Freundin zumuten?“

Die alte Freundin wohnte im Altenheim im Ort. Sie bewohnte dort ein hübsches Zimmer mit Blick zur See. Ich setzte mich mit Martin zu der alten Freundin an einen runden Tisch am Fenster. Es gab Tee aus gold umrandeten Teetassen und für Martin ein großes Glas Orangensaft.

Martin hatte für den Termin gesorgt. Er hatte gefragt, ob die Frau sehr krank sei. Das überraschte die Mutter von Erna.
„Wieso sehr krank?“, wollte sie wissen.
Weil sie dann, wenn sie gesund sei vor allem wenn sie im Kopf noch fit sei, bestimmt erfahren wolle, dass ihr Sohn noch einen Brief an sie geschrieben hatte. Sie sei die Mutter. Eine Mutter wolle immer wissen was mit dem Sohn war. Das könne gar keine Zumutung sein.
„Was sie nicht zumuten wollen Madame, muss zugemutet werden, sie sind doch selbst Mutter oder?“
Martin war in dem Moment offensichtlich nicht mehr im Namen des Herrn unterwegs sondern in der Realität angekommen. Seine Klarheit überzeugte Ernas Mutter. Die selbst hatte Söhne im Krieg gehabt die zum Glück alle überlebten.

Beim Tee gab Martin der alten Frau einen kurzen Überblick zu unserer Anreise. Er schmückte einige Details ganz neu aus. So übernachteten wir plötzlich in unserer ersten Nacht am Strand nicht im Strandkorb, sondern direkt am Wasser. Das kühle Ostseewasser an den Füßen zu spüren, bei dieser brütenden Hitze, sei wunderbarer als jede Kneippkur.

„Wir sollten einen gemeinsamen Spaziergang am Stand machen. Wären sie dazu vielleicht zu späterer Stunde noch bereit Madame?“

Er erzählte nichts vom Gehöft, sondern davon, dass er gekommen sei weil er zwar einen schmerzlichen letzten Brief des Sohnes aus dem Krieg überbringen müsse, aber er wisse, dass sie sich guter Gesundheit erfreue. Das sei das höchste Gut, auch wenn das Leben unendliche Schmerzen bereitet hatte. Trotzdem sei sie in einer Lage des Glücks weil sie so einen herrlichen Ort wie dieses Meer und die Natur genießen durfte.

Martins Ausschweifungen zauberten ein Lächeln auf das Gesicht der alten Frau. Ich erahnte darin ihre Schönheit, die sie in jungen Jahren gehabt hatte. Sie unterbrach Martin, als der in einer Redepause nach Luft schnappte:
„Ein Spaziergang am Stand? Das wäre mir schon recht junger Mann!“
Eine dreiviertel Stunde später bugsierte Martin den sperrigen Rollstuhl vom Gehsteig vor dem Altenheim auf meine drei Werkzeugkisten im Kofferraum des Käfers.
„Das geht nicht, der Mist muss da raus!“

Meine Werkzeugkisten und verschiedene Autoersatzteile schleppten wir in den Garten des Altenheimes. Dort schlichteten wir alles auf einen Haufen. Der Rollstuhl passte genau in den Kofferraum. Aber er ging nicht mehr richtig zu. Also band ich ihn mit einer Schnur fest. Zum Strand war es nicht weit. Martin hatte Bärenkräfte die wir jetzt brauchten. Die alte Dame im Rollstuhl brachten wir mit seiner Kraft über den Strand zum Wasser. Dort ging es leichter mit dem Rollstuhl. Martin schob. Ich lief nebenher. Die alte Frau war jahrelang nicht mehr so dicht an der Ostsee gewesen. Sie strahlte.

32. Noch bleiben

Am Freitag gab es im Altenheim den versprochenen Tanzabend. Martin fieberte den ganzen Tag lang auf diesen Abend zu. Am Strand schlug er Räder und vollführte wilde Tänze im kühlen Wasser. Erna kam zusammen mit ihrer Mutter und deren Freundin im Rollstuhl. Im Speisesaal waren Tische für die Tanzfläche beiseite geräumt worden.

Hinter einer kleinen Tischreihe stand ein adretter Herr mit Nickelbrille. Er bediente dort einen Plattenspieler. Zu jedem Stück, das er zum besten gab, forderte er die „jungen Damen und Herrn“ dazu auf, sich bitte doch einen für das nachfolgende Lied geeigneten Tanzpartner zu suchen. Durchs Mikrofon beschrieb er vorab das folgende Tanzstück.

Da waren musikalische Frühlingsblüten, ernüchternde Herbstträume, spannungsgeladene Tango-Rhythmen und romantisch seichte Tränenschmetterer dabei. Der Herr beschrieb zur jeweiligen Gemütsverfassung eines Tanzstückes das er ankündigte, ein kurzes Erlebnis aus seinem reichen Leben. Da wurde an Chancen erinnert, die zu ergreifen gewesen waren und vom musikalischen Rhythmus des Bossanova untermauert wurden. Es gab Tränen die nutzlos verflossen, während der Swing langsam dahin plätscherte. Es gab die Eifersucht, in der man beim Cha-Cha-Cha in der Tanzschule der vermeintlichen Freundin beim Tanz mit einem Anderen nachweinte und es gab die Schicksalsschläge, denen nur der langsame Rhythmus des Blues in ihrer wirklichen Tiefe gerecht wurde.

Martin war der beliebteste Tanzpartner des Abends. Charmant forderte er alle „jungen Damen“ zum Tanz auf. Ich versuchte mich raus zu halten was mir kräftig misslang. Zu „vorgerückter Stunde“, das war so gegen halb zehn Uhr, wurden die Gäste des Abends deutlich müde. Deshalb sagte der grau melierte Herr hinter dem Plattenteller die letzte Chance für einen jugendlichen Hüftschwung an. Den Abend endgültig beschließend, kündigte er den Hausbewohnern und Gästen, die nun wie in einer Tanzschule alle auf Stühlen rund um die Tanzfläche Platz nahmen, ein „Überraschungsschmankerl“ an.

Das war der Einsatz von Martin. Aus seinem Plattenteller zauberte der Herr nun einen Song der Bluesbrothers der die Zuschauer sofort zum Mitklatschen animierte. Martin erschien in der Mitte der Tanzfläche. Er hatte sich eine schwarze Sonnenbrille aufgesetzt. Jetzt entzückte er die „jungen Damen“ in einem schwarzen Anzug, den er extra für den Abend von Erna hatte bügeln lassen. Dazu trug er ein weißes Hemd. Tatsächlich sah er ein bisschen aus wie Jake von den Bluesbrothers. Er legte einen gefährlich lockeren Stepptanz hin, den er mit ein paar riskant aussehenden Hüftschwüngen garnierte. Die Damen im Publikum hielten ihre helle Begeisterung nicht zurück. Auch die alte Freundin von Ernas Mutter strahlte, wie beim Spaziergang am Meer. Sie klatschte und ich glaubte zu sehen, dass sie sogar sang.

Martin schlug Räder wie er sie schon am Strand geschlagen hatte. Er landete weich in die Hocke gehend und wirbelte die Beine, dabei nun mit den Händen auf dem Boden stehend, in einem Zirkelkreis über die Tanzfläche. Seine Show schloss er mit einem dreifachen Überschlag den er mir am ersten Abend unserer Ankunft am Strand schon vorgeführt hatte. Er verneigte sich vor dem begeisterten Publikum und dankte tausendfach für den wunderbaren Abend so nah am Meer.

Am nächsten Tag besuchten wir noch einmal die alte Dame im Altenheim. Wir saßen mit ihr im Garten. Sie hatte den Brief eingehend studiert. Ihr Sohn hatte geahnt, dass er das nicht überleben würde. Warum der Feriengroßvater den Brief nicht verschicken ließ war ihr unverständlich. Sie hatte mit Erna besprochen, den Brief einem Universitätsprofessor zu schicken, der historische Forschung zu solchen Geschehnissen am Ende des Krieges betrieb. Vielleicht könnte der damit etwas anfangen und vielleicht würde das irgendwann zur Korrektur von irgend einer Zeile in irgendeinem Geschichtsbuch betreffend dem Wirken des Feriengroßvaters im Krieg führen.

Die ungeklärte Frage wo der Leichnam ihres Sohnes geblieben war, war für die alte Dame das schlimmste. Er war nie zurückgekehrt. Die beiden anderen Söhne waren in einer Urne zurückgekommen. Der Brief gab keinen Aufschluss über die Todesumstände des jüngsten Sohnes. Seine Beerdigung neben den Brüdern, das hätte ihr Gewissheit gegeben. So blieb es auf dem Friedhof bei der Gedenktafel für den jüngsten Sohn neben dessen beiden Brüdern.

Ob auf dem Speicher noch mehr Briefe gewesen waren ließ sich nicht mehr ermitteln. Die Erbengemeinschaft hatte das Haus von einer ortsansässigen Firma räumen lassen. Die wiederum hatte alles in der Verbrennungsanlage südlich vom Ort vernichten lassen. Die alte Kiste war damit endgültig verschwunden.

33. Jetzt gehen

Die Abreise stand bevor. Martin war ruhig geworden. Seine Begeisterung für das Meer war abgeebbt. Er war in Abschiedsstimmung. Für mich war der Urlaub aber noch nicht vorbei. Deshalb telefonierte ich abends, so wie Martin das in der Woche zweimal getan hatte, mit dessen Schwester. Christine war von meiner Idee ganz angetan. Ich gab ihr einige Daten durch, so dass sie Geld für Martin per Postanweisung schicken konnte.

Martin war wegen meiner Idee völlig aus dem Häuschen. Dass es bald noch viel mehr Meer zu sehen geben würde, als an der Ostseeküste, ließ ihn mehrere Luftsprünge vor Ernas Pension hinlegen. Zum Abschied hatten wir noch mal die Blumenwiese besucht. Martin pflückte für Erna und die alte Dame zwei riesige Sträuße. Er kaufte zwei leere Kassetten. Darauf nahm er im Altenheim gemeinsam mit dem graumelierten Herren dessen Schallplatte mit der Bluesbrothersmusik auf. Die eine Kassette schenkte er Erna, die andere der Freundin von deren Mutter im Altenheim, dazu gab ‘s noch, für jede der beiden, ein schönes Polaroid-Foto, das ein Pfleger im Altenheim mit seiner Kamera von Martin gemacht hatte. Man sah ihn darauf, wie er auf der Wiese vor dem Altenheim einen Luftsprung hinlegte, genauso wie bei seinem Showtanz den er am Tanzabend vorgeführt hatte.

Der Abschied war herzlich, kurz aber schmerzlich. Für Martin hatte ich drei Packungen Taschentücher besorgt. Die brauchte er auch. Er fiel Erna dutzende Male um den Hals. Er dankte ihr für alles und fand seine Euphorie für das Meer wieder, für das er Erna schließlich auch noch dankte. Wir warfen unsere Taschen in den Käfer, stiegen ein und fuhren los. Erna und einige Pensionsgäste, denen unser Aufenthalt, vor allem der von Martin, nicht verborgen geblieben war, standen winkend vor Ernas Pension Blickfang.

Martin heulte Rotz und Wasser. Ich war nicht sicher ob die drei Päckchen Taschentücher ausreichten. Auf der Autobahn warf ich eine von seinen vier Kassetten an. Es dauerte Minuten bis ihn seine Lieblingsmusik in das Auto und die Welt zurückholte. Nach dreißig Minuten an der ersten Raststätte lehnte Martin wieder lächelnd und paffend am Auto. Ich prüfte den Ölstand, denn das hatte ich die Woche über bei Erna vergessen. Martin kam interessiert zum offenen Motorraum wo er sich cool aufbaute.

„Luft gekühlt?“, fragte er mich im gleichen Tonfall und mit der gleichen Gestik wie bei seiner aller ersten Frage die er auf dem Rastplatz an mich gerichtet hatte. Er trug dasselbe orange-braun gestreifte Hemd und dazu sein graues Baseballkäppie.
Minuten später, auf der Autobahn, zog Martin eine Sonnenbrille aus seiner Hemdtasche.
„Hier, die ist für Dich!“
Ich sah zu ihm hinüber. Es war die gleiche Brille, die er auf der Nase hatte. Er hatte sie auch bei dem Tanzabend getragen.
„Für mich?“, fragte ich verdutzt.
„Hab ich gerade an der Tankstelle für dich gekauft!“
„O.k., vielen Dank!“ Ich setzte die Brille auf.

So saßen wir nebeneinander und fuhren auf der breiten Autobahn, auf der rechten Spur, in unserem Ulli-Käfer, Richtung Westen. Etwa einhundert Zigarettenpausen und fünfunddreißig Blueskassettenlängen später, sah ich Martin dabei zu, wie er begeistert vor den Riesenwellen des Atlantiks am Strand stand. Ich sah ihn, wie er vor Meter hohen Wellen seine Räder am Strand schlug und einen dreifachen Überschlag hinlegte. Ich sah ihn, wie er in seinem orange-braun gestreiften Riesenhemd, im Wind flatternd, hinauf zum Himmel über den Wellen brüllte:

„Ich liebe das Meer!“

Ende

Hinweis von Bernd Thümmel:

Dazu fällt mir mein Song “Sepp” ein. In meinem Album “alles verspielt” aus dem Jahr 2014 habe ich in “Sepp” davon gesungen, dass gerade in dem Augenblick in dem man nicht daran denkt “so ein Sepp daher kommt, der es guat mit dir meint” …

Lyrics: Acoustic Planet II

  1. Citiyrocker from Acoustic Planet II
    Every night same late time
    Out of my door same big crime
    Meet my friends get in to the beat
    Walk all night long in this big heat

    All the night turn on my light
    Dresses in black heat of the night
    Early in the morning things getting right
    I am a city rocker on a never ever ending fight
    Yeah every night same late time
    Out of my door same big crime
    Meet my friends get in to the beat
    Walk all night long in the big heat

    All the night turn on my light
    Dresses in black heat of the night
    Think everything getting right
    I am a city rocker on a never ending fight
    My home is big city every long night
    I don‘t want to be the looser in the night
    I claim about all the thing‘s when I don’t feel right
    In the broken morning I turn of the light
    All the night turn on my light
    Dresses in black heat of the night
    Think everything getting right
    I am a city rocker on a never ending fight
    The streets are my world, hard sound is my knife
    Don’t want to stop to stay in dark of life
    Speed ckrack and cool drinks are my hype
    When all the girls good looking feel right

    All the night turn on my light
    Dresses in black heat of the night
    Think everything getting right
    I am a city rocker on a never ever ending fight
    All the night turn on my light
    Dresses in black heat of the night
    Think everything getting right
    I am a city rocker on a never ever ending fight

  2. Destroyer from Acoustic Planet II
    I turn on my pc watching online to my profile
    Hundreds of new messages telling me they deeply hate me
    Calling and entitling me with words that I real not like
    Quantity of messages telling me they deeply hate me

    They are destroyers well they wanna destroy me
    They are destroyers yes they wanna destroy me

    People writing on my profile in bad kind bottomless
    Showing me and talk to me bearing with deep hate red
    It seems to me intending hate crime a big crowd of people
    Concentrated hate in mails is my deep trepidation

    Destroyers yes they want to destroy me
    They are destroyers well they wanna destroy me

    I don’t know why my daily watched profile full of hate shit
    In school I never done conspicuous eye catching behavior
    I’m not the one who‘s dealing things I‘m not flashly dresses
    Reason why that just takes me I don’t know

    Destroyers well they wanna destroy me
    They are destroyers think they want to destroy me

    Since weeks I’m looking fight againts hateful discrimination
    I can’t find anyone in my online wold who not convicts me
    I don’t know what is good to do because real live is online
    I‘m sitting on my smartphone despearing hopless

    They are destroyers well they want to destroy me
    They are destroyers think they want to destroy me

    Hello is there the hotline I need help imediately
    There is something going wrong with my online profile
    Here are hundrets of so called online friends
    I think they try to kill me
    Please help me
    Hello here is your exclusive online helpdesk
    We will give you the best help you ever had
    First of all help us to develop our qualitymanagementsystem
    Type one for shit type two for bullshit
    Sorry that wasn’t the right lyrics the right lyrics go like this
    Please hold the line please hold the line please hold the line please please hold the line
    Destroyers well they wanna destroy me
    They are destroyers think they want to destroy me
    Destroyers yes they want to destroy me
    They are destroyers think they want to destroy me yea

  3. Blue House from Acoustic Planet 2
    Night was clear an cold many stars and moonshine
    Drove on a parking place two girls backseats
    I heard a blue voice crying and blaming
    So I left my old car to meet this blue voice

    I walked into a place people called the blue house
    Felt alone in a place they called that blue house

    Indoor were I saw clouds of smoke in that deep dark
    I heard a blue voice deep piano hard guitar
    Saw many rolling people in front of a smoky wall
    My two accompanists they run of with two boys

    Felt alone in a place people called the blue house
    Deep voice of a place they called the blue house

    I tried to near that big blue voice
    So I slowly stepped through rows of dark bright people
    I went along leather dressed smocking an drinking men
    Arrived the front of high stage where I saw a big fat mama called

    Deep voice of a place people called the blue house
    I felt lonely in group of dancing strangers

    Now electricity was growing up to me
    The man on stage they acted like robot dancers or machines
    Big lady upstage suddenly she called my by name
    Sounds strange to me a kind of a flash came over me

    Felt so lonely in group of dancing strangers
    Lonely left this place people called that blue house

  4. We Don’t Know Where We From from Acoustic Planet II
    We don’t know where we from we don’t know where we go
    We are here for winning doing our financial-show
    We hope you feeling alright and happiness grow
    Tonight performing for you hope you enjoy our show

    We‘re not from this country and were not from your town
    But we are here to take you on a trip out of brain
    When you attend to join us given credit at all
    Be sure that‘s the right decision for your future we know

    We don’t have a goal yeah and we don’t know where we go
    On our trip to nowhere our life getting cool
    Hope you are ready for listening a watch our show
    Tonight we try to take you on a place we don’t know

    You will flying high we don’t take you a wrong way
    We’re the right ones for you please contract and pay
    So we all feeling alright getting nowhere at all
    While our time is going over yeah feeling so cool

    On a tour to nowhere please come on inside
    We’l help you pay for our goals are quite right
    And some day you‘ll be in trouble we will help you at all
    Course your brain and money given to us that‘s your chance to heal

  5. Fool On The Hill from Acoustic Planet II
    When I was the usual young boy my mother she told me
    Not to be the only one who is just the silly one
    And to know that life still stops deadly
    And also to be sure not to kill me

    Now as I’m here on my own
    Everyone told me
    Not to be this clown
    Not to be this fool
    Everyone told me still not to stop this show
    Well I want my thrill
    Cause I am standing still
    Like the fool on the hill
    And today I want you

    Daddy was to cool to talk and most of time to cool to walk
    Every time my dad he was cool to be responsible
    Every time he was on the road and tour
    Cause he loved riding on his big cars

    Surely daddy he felt good like a super star
    But he never talked to me and never walked with me
    Cause to him and his friends is was not cool
    To have a child like I was one

  6. God is Dead from Acoustic Planet II
    Yes I’m walking and I got the blues
    They told me since I was born
    God is living and protects the world
    Since many years I feel no fire
    Because children hungry and dying
    Women are gangraped and killed
    People watch on tv

    This god is dead he never existed
    He only was listed in the virtual program of this world

    Well I was walking into the blues
    Everyone singing that god was good
    Finally the told me just to believe
    Today it’s sure they tried to fool me
    They pulled wool over my eyes
    So I was blinded by this fools
    I became ill of there lies

    This god is dead he never existed
    He only was listed in the virtual program of this world

    While I was walking into my blues
    They didn’t stop telling god was good
    Children changed in killing soldiers
    But since years I feel new fire
    I know companies occupy countries
    I know to stop believe in lies
    I know changing view is truth

    This god is dead he never existed
    He only was listed in the virtual program of this world

  7. Hometown from Acoustic Planet II
    Lovely town many years
    Many things giving reasons for fears
    You loved to live in but time has changed
    You now it’s impossible being rearranged
    You have to leave with your children

    You have to go outside
    You have no chance against the power of
    Money in this fight
    There is no way there is no reason
    Living on your homeside
    The rich with there money
    They clame on there right

    Buildings of the city people lived years ago
    Not real empty but live there had to go
    Working architectes or layers
    They have an easy way to play
    They are able to rent every flat no matter what they have to pay
    You have to leave with your children
    You have to go outside
    You have no chance against the power of
    Money in the fight
    There is no way and no reason
    Living on your homeside
    The rich with there money
    They clame on there right

    You an your children have to leave the place
    Your dreams of family live chanced in a deep dark face
    Hometown chanced in a city of hostility
    For you with your family there I no possibility
    You have to leave with your children
    You have to go outside
    You have no chance against the power of
    Money in this fight
    There is no way and no reason
    Living on your homeside
    The rich with there money
    They clame on there right

    Children are not laughing like you have done
    Blocks and flat are empty children are gone
    There is no more laugh of theme there noises are done
    Hometown means money what’s going wrong

    You have to leave with your children
    You have to go outside
    You have no chance against the power of
    Money in this fight
    There is no way there is no reason
    Living on your homeside
    The rich with there money
    They clame on there right

  8. Riding In My Head from Acoustic Planet II
    Hate this horse riding in my head
    Sometimes I wish that I was dead
    It’s the sound of a horse they called secret gun
    It’s deep and its bad sounds in my head like a gun

    These days when the sun goes down
    I remember sunny day near Munich town
    I was walking along quiet way
    My dog suddenly was running so far away
    Secret gun over me killing machine on my head
    Layed in a cold field felt I was dead

    Hate this horse riding in my head
    Sometimes I wish that I was dead
    It’s the sound of a horse
    They called secret gun
    It’s deep and its bad sounds in my head like a gun

  9. Thunder from Acoustic Planet II
    Blue thunder is mixing up your live
    It came over you like a sharp cutter knife
    Wich normally used to cut cured meat
    To you this thunder is like a daring feat

    Time kill blue thunder
    It’s time for resistance
    Time to fight thunder
    Time to burn it off
    It‘s time kill blue thunder
    Time for resistance
    Time fight thunder
    Time to burn it off

    Blue thunder came over you like a fire
    While you think you have to fight to the finish
    It takes everything hasn’t turned to satisfy
    In some places blue thunder maybe the best you can try

    Time to kill blue thunder
    Time for resistance
    Time fight thunder
    Time to burn it off
    It‘s time kill blue thunder
    Time for resistance
    Time fight thunder
    Time to burn it off

    Blue thunder takes part of last resistance
    Blue thunder takes every day of your live
    It sets you out of past it sets you out of your future
    Blue thunder never makes you the winner of the tour
    Time kill blue thunder
    Time for resistance
    Time fight thunder
    Time to burn it off
    Time kill blue thunder
    Time for resistance
    Time to fight thunder
    Time to burn it off

  10. Workahorlic from Acoustic Planet II
    Workaholic
    I’m my chief an a working king
    I’m day an night active
    I don’t need at home a couch to live
    Every time available
    Always full case
    Always track
    the competition under control

    I‘m a workaholic
    I’m my chief an a working king
    I’m day an night active
    I don’t need at home a couch to live
    No one can kill me
    Cause I have my firm commitment
    Bourn out is Fashion scrap
    I’m born to be a power man

    I’m a workaholic
    I’m my chief an a working king
    I’m day an night active
    I don’t need at home a couch to live

    I am fit and toned
    Always with all talking
    Always friendly but firm
    Finance equipment everything is on my screen

    I’m a workaholic
    I’m my chief an a working king
    I’m day an night active
    I don’t need at home a couch to live

    House car and wife with child
    Everything I have under control
    Think it’s just a money live
    Yea I real hate the workaholic day