Das Schreiben – Erzählung

Das Schreiben – Erzählung von Bernd Thümmel

Bernado reist in den neunziger Jahren mit einem VW-Käfer von München an die Ostseeküste. Grund für die Reise ist eine Aufgabe, die ein Jahrzehnt in einem vergessenen Versteck verschwunden blieb.

Die Erzählung beginnt viele Jahre vor der Reise. In einer Wohngemeinschaft in München stößt Bernado Mitte der achtziger Jahre auf den Auftrag. Der jedoch gerät in Vergessenheit, weil zunächst der Alltag in München, das Studium, Kontakte, Freundschaften und die Arbeit in einer Knäckebrot-Fabrik, um Geld für das Studieren zu verdienen, im Mittelpunkt des Lebens stehen.

1. Der Hausarrest

Die Lehrerin hatte gesagt, dass ich nicht von „man“ schreiben sollte, sondern ich sollte von „mir“ schreiben. Manchmal hatte sie unter meine Aufsätze geschrieben: „Gut Bernado! Der Aufsatz ist dir wirklich gut gelungen! Sehr gut wäre aber, wenn du schreiben würdest: Ich habe gestohlen, ich habe gelogen, anstatt zu schreiben: Man hat gestohlen, man hat gelogen… Ist es nicht so, dass du in dem Aufsatz über dich schreibst? Warum sprichst du dann von „man“?“

Es war mir nie gelungen, der Lehrerin einen Aufsatz zu geben, in dem ich diesen Rat befolgt hätte. Deshalb hatte ich niemals ein „sehr Gut“ von der Lehrerin bekommen. Es war immer bei „gut Bernado, das ist dir wirklich gut gelungen!“ geblieben. Das hat mir nie etwas ausgemacht. Im Gegenteil, ich war sehr zufrieden damit. Ich wollte nicht dadurch auffallen, dass ich ein „sehr Gut“ in einem Aufsatz mit nach Hause brachte. Für mich, so sagte ich mir, ist „gut“ von der Lehrerin gut genug.

Das Zimmer hatte eine Dachschräge mit einem Kippfenster. Dort musste es schon mal rein geregnet haben. Ich sah gelbliche Streifen an der Raufasertapete unter dem Fenster. Mein Blick wanderte am Fenster und der Dachschräge hinauf bis zur weißen Ballonlampe. Die schwang hin und her. Ein leichter Luftzug blies durch das gekippte Fenster in das Zimmer.

Sommerwind strich draußen über die hohen Baumwipfel rund um das Gehöft. Ich hörte deren Blätter, wie sie in dem böigen Lüftchen raschelten. Sie rauschten auf und ab, sodass ich im Halbschlaf, der mich minutenlang umgab, das Rauschen des Meeres zu hören glaubte.

In den Minuten des Dämmerns sah ich mir dabei zu, wie ich im Wind auf dem Brett stand und mit dem Segel kämpfte. Heftige Windböen peitschten dagegen, sodass es hin und her knallte. Ich versuchte den riesigen Gabelbaum und den beinahe vier Meter hohen Mast an mich heran zu reißen. Ich hängte mein Körpergewicht in den Gabelbaum. Ich fand, das sah verzweifelt aus. Es gelang mir nicht, das Surfbrett im scharfen Wind über der Ostsee zu beherrschen.

Kurz bevor das Brett Fahrt aufnehmen konnte, gerade im Augenblick, als ich das peitschende Schlagen im Wind und das Springen des Brettes in den Wellen unter meiner Kontrolle glaubte, knallte eine mächtige Böe schräg von vorn in das Segel. Das Brett drehte in den Wind. Die Böe, sie schien mir irrsinnig, riss mich mitsamt Segel vom Brett ins kalte Wasser. Wieder auftauchend sah ich das Segel, wie es sich aufbäumte, sodass eine weitere Böe es erfasste. Das Surfbrett, jetzt vom Wind getrieben, jagte aufs Meer hinaus. Ich sah es, Gischt auftreibend, vorbei fliegen wie das bunte Ende eines Indianerpfeils.

Ich erkannte eine Schaumkrone. Sie rollte auf mich zu. Ich versuchte seitlich auf sie hinauf zu schwimmen, wollte sie bezwingen, dachte nur von dort oben könnte ich Ausschau nach meinem Brett und dem Segel halten. Doch da sah ich sie schon über meinem Kopf. Tosend brach die Welle auf mich nieder. Es waren Schläge von einem Hammer. Ich wusste gar nicht, dass Schaum und Salz so schmerzhaft sind.

Da war etwas an meinen Beinen. Etwas zog an ihnen. Die Gischt da oben war weich geworden. Ich verlangsamte mein Schlagen gegen den Schaum. Ich erreichte ihn mit meinem Schlagen nicht mehr. Ich wusste, dass da oben Schaum war, versuchte mich darauf zu konzentrieren. Ich wollte fester, entschlossener gegen diesen Schaum einschlagen. Da merkte ich, dass mein Mund weit aufgerissen war. Das Surfbrett war plötzlich wieder da! Ich sah mich darauf liegen wie auf einer Luftmatratze. Ich hörte ein leises Rauschen, so wie die seichten Wellen am Ostseestrand.

Vom Zimmer in dem Gehöft lag der Strand zu Fuß nur zwanzig Minuten entfernt. Ich hatte schon drei Wochen und zwei Tage dort verbracht. Es waren meine Sommerferien. Ende des Schuljahres 1977 war ich vierzehn Jahre alt geworden. In den vergangenen dreiundzwanzig Tagen war ich täglich ein bis zwei Stunden draußen auf dem Wasser gewesen. Ich kämpfte auf dem Surfbrett mit Wind und Wellen. Heute durfte ich das Meer aber nicht sehen, morgen nicht und die folgenden zwei Tage auch nicht.

Ich hatte eine Strafe zu verbüßen. Ich hatte Zeit. Meine Strafe war die Zeit. Es war die Zeit zu denken. Während ich das tat, also an vieles dachte, fielen mir die Lehrerin und deren Sätze zu meinen Schulaufsätzen ein.

Die Ferientage an der Ostsee bei den Feriengroßeltern hatte ich täglich draußen im Freien verbracht. Das Wetter war wunderschön. Es war sonnig und windig. Mir war der Wind manchmal fast zu viel. Das Surfbrett, mein täglicher Kampf mit den Wellen, das alles war neu für mich.

Die Ferienmutter hatte mich in ihrem großen Wagen auf das Gehöft gebracht. Auf dem Dach des Autos hatte sie das riesige Surfbrett transportiert. Ich könne das Surfen auf dem Wasser üben. Sie habe in ihrem Urlaubsgepäck ein Buch mit vielen bebilderten Tipps. Sie wisse, wie wichtig es sei, dass junge Menschen in den Ferien Beschäftigung hätten. Das Surfen mit dem Surfbrett zu lernen, wäre bestimmt eine tolle Ferienbeschäftigung für mich.

„Ich“ lerne das Surfen! So dachte ich, und dass sich mein nächster Aufsatz darum drehen werde, wie „ich“ das Surfen lerne!

Die Ferienmutter nutzte die Zeit während der langen Autofahrt von Berchtesgaden, um mir zu erklären, wie ich das Surfen auf dem Meer lernen könnte. Alles sei genau im Buch mit den vielen bebilderten Tipps beschrieben. An einer Autobahnraststätte hatte sie das Buch aus ihrem Gepäck im Kofferraum gezogen. Ich habe es mir genau angesehen. Ich wollte eine Vorstellung davon entwickeln, wie das mit dem Surfen auf dem Meer funktioniert. Meine Vorstellung sagte mir schließlich: Ich kann das lernen! Deshalb kämpfte ich seit drei Wochen täglich auf dem Wasser.

Die Ferienmutter hatte mich mit ihrem bebilderten Lehrbuch und dem Surfbrett an der richtigen Stelle erwischt. Ich war ein Mensch, der sich durchbeißen konnte. Das wusste sie und ich glaube, die Lehrerin wusste es auch, denn einmal hatte sie gesagt, ich sollte nicht schreiben „der Mensch beißt sich durch“, sondern „ich beiße mich durch“.

Die Ferienmutter hatte sich informiert. Sie hatte in Erfahrung gebracht, was mit mir in vier Ferienwochen am besten anzufangen sei. Sie hatte herausgefunden, dass ich mich durchbeißen konnte. Deshalb hatte die Lehrerin einmal zu mir gesagt, dass ich schreiben, sagen und tun soll, was „ich“ erreichen will.

Gleich am ersten Tag bei den Feriengroßeltern kletterte ich auf das Brett. Ich versuchte tagelang immer wieder das Segel aus dem bewegten Meer zu ziehen. Seit drei Wochen versuchte ich das so lange, bis meine Kräfte schwanden. Oft schaffte ich es nur mit letzter Mühe auf dem Brett liegend, mit den Armen rudernd, zurück an den Strand.

Nicht ein einziges Mal war ich mit dem Surfbrett auf dem Wasser richtig in Fahrt gekommen. Im Buch der Ferienmutter sah ich Männer, die sich am Gabelbaum des Segels festkrallten und mit einer schäumenden Bugwelle vor dem Brett über das Wasser schossen.

Täglich war ich Dutzende Male in die kühle Ostsee gestürzt. Viele Male war ich hinter dem davon flitzenden Surfbrett her geschwommen. Das alles hatte mich nicht entmutigt. Auch heute wäre ich längst schon wieder draußen. Ich zog das Surfbrett auf dem kleinen Handwagen aus der Scheune und war damit jeden Tag hinunter zum Wasser gelaufen.

Gähnend beobachtete ich durch das gekippte Dachfenster den Hof. Friedlich lag er da im Sonnenschein, holprig gepflastert, umgeben von hohen Scheunen. Rechts an einer der Scheunen sah ich das frisch gestrichene Tor.

„Na, das sieht ja schon ganz toll aus, Herr Malermeister Klecksel!“

So hatte der Feriengroßvater gerufen.

Seinen Mercedes parkte er täglich im Hof vor dem Tor. Er inspizierte gemeinsam mit der Feriengroßmutter die Fortschritte meiner Malerarbeiten an dem Scheunentor.

Er, die Feriengroßmutter und die Ferienmutter bestiegen meist gegen drei Uhr den Wagen. Ich stand mit dickem Pinsel und großem Malereimer hoch oben auf der Leiter. Es machte mir Spaß, meine Fortschritte der täglichen Pinselei an dem Tor zu erkennen. Schon nach vier Nachmittagen war ich mit drei Anstrichen an dem Scheunentor fertig.

Ich konnte sehr gut schwimmen. Darüber hatte sich die Ferienmutter ganz sicher vor Reiseantritt informiert. Bestimmt hatte Büchtler alle meine Schwimmabzeichen erwähnt. Wahrscheinlich hatte er gesagt, dass die Kinder alle „wahnsinnige Wasserratten“ seien.

Jeden Samstagvormittag liefen wir von unserem Wohnhaus auf dem Obersalzberg hinunter nach Berchtesgaden. Dort trafen wir im Hallenbad auf Büchtler, der stets mit seinem weißen Porsche dorthin gefahren war.

„Machen Sie sich da mal keine Sorgen! Der ist, wie die meisten unserer Kinder, ein sehr geübter und sehr guter Schwimmer. Der hat alle Schwimmabzeichen schon zweimal gemacht!“

Sie waren auf meine beiden Badehosen genäht, aber die dazugehörigen Papiere waren abhandengekommen. Das allein wäre kein Grund gewesen, noch einmal alle Schwimmprüfungen zu machen. Vielmehr hatte das Jugendamt von Büchtler gefordert, er möge schriftliche Bestätigungen schicken, die bewiesen, dass ich ein sicherer Schwimmer war. Ohne solche Bestätigungen wäre aus der Ferienverschickung an die Ostsee nichts geworden.

Büchtler konnte die Beweispapiere nirgendwo finden. Büchtlers Büro im zweiten Stock des Jungens-Wohnhauses am Obersalzberg sah immer sehr aufgeräumt aus. Hinter seinem Schreibtisch standen Reihen von sauber beschrifteten Ordnern. Die Auszahlung des Taschengeldes an die Kinder, eine Aufgabe, die Büchtler immer samstags nach dem Schwimmen im Hallenbad wahrnahm, verlief stets begleitet von akkuraten Mitschriften Büchtlers in ein sauber geführtes Kassenbuch.

Deshalb war ich überrascht, als Büchtler mir gesagt hatte, dass er mich noch einmal zum Schwimmkurs anmelden müsse, weil die Papiere nicht mehr aufzufinden seien. Büchtler hatte meine Papiere von den Schwimmabzeichen irgendwo in seinem Büro verschlampt! Das war für mich unvorstellbar. So exakt wie der in seine Kassenbücher schrieb, Belege und Quittungen unterschrieb und reihenweise Ordner beschriftet hatte.

Tatsächlich schwamm ich gerne und gut. Die Scheine habe ich im Handumdrehen noch einmal gemacht. Vermutlich hatten Büchtlers Auskünfte über meine Schwimmleistungen, die Ferienmutter in ihrer Idee bestärkt, das Surfbrett und das bebilderte Lehrbuch mitzunehmen und mir das als Ferienbeschäftigung anzubieten.

Am Strand zwischen den Strandkörben saßen nachmittags drei Burschen. Ich sah sie seit etwa zwanzig Stürzen vom Surfbrett in das kalte Ostseewasser. Ich hatte sehr viel Salzwasser geschluckt. Das Schwimmen zum Surfbrett war mir immer schwerer gefallen. Ich paddelte langsam in Richtung Strand.

Sie saßen neben den beiden Strandkörben der Feriengroßeltern. Ich fürchtete, dass sie sich auf meinem Handtuch breitgemacht hatten. Ich hatte es zusammen mit meinen Klamotten neben den roten Strandkorb gelegt. Je näher ich dem Strand kam, desto genauer erkannte ich, dass die Burschen auf ihren eigenen Handtüchern saßen.

Tags zuvor hatte ich meine Malerarbeiten an dem hohen Scheunentor abgeschlossen. Deshalb hatte mich der Feriengroßvater sehr zufrieden gelobt. Er sagte, dass er keine weiteren Aufgaben auf dem Gehöft für mich habe. Da seien ja noch die Ostsee, das Surfbrett, das schöne Wetter und der Wind. Das wäre doch geradezu ideal für eine Wasserratte.

Weil meine Arbeit am Scheunentor beendet war, konnte ich an dem Tag länger am Strand und auf dem Surfbrett bleiben, als an den Tagen zuvor. Ich fragte mich, ob die Burschen jeden Nachmittag um diese Uhrzeit am Strand neben dem roten Strandkorb herum saßen. Als ich mit dem Brett am Strand angekommen war, erhob sich der Längste der drei.

„Moin ich bin Robert! Du bist doch sicher der Bayerische Lüdd, der uns schon vor Wochen angekündicht wurde!“

Robert reichte mir die Hand. Ich fand, er hatte ein irgendwie schelmisches Lachen im Gesicht. Die beiden anderen standen rechts und links neben Robert.

„Tagchen, ich bin Bernado und bin tatsächlich der angemeldete Bayer! Aber was ist denn so ein Lüdd?“

Die beiden anderen schüttelten meine Hand.

„Moin ich bin Martin.“ „Moin ich bin Mischa.“

Wir setzten uns in die Sonne, auf unsere Handtücher zwischen den beiden Strandkörben. Ich erfuhr, dass Robert ein Enkel der Feriengroßeltern war und in der Nähe mit seinen Eltern auf einem Bauernhof lebte. Martin und Mischa schienen seine beiden besten Kumpels zu sein, mit denen er täglich unterwegs war.

Die drei waren etwa gleich alt wie ich. Ihre Schulferien hatten schon zwei Wochen früher als meine begonnen. Dass ich das Windsurfen noch kein bisschen beherrschte, schien die drei nicht zu interessieren.

„Wie wäre es morgen früh mit einer Bootstour? Wir fahren mit einem Fischkudder zum Blinkern.“, fragte Robert.

Ich kenne Ausflugsfahrten auf oberbayerischen Seen. Ich dachte sofort, dass das Meer aber etwas völlig anderes ist und dass so eine Bootsfahrt auf einem Fischkutter für mich, einen Menschen aus einem bayerischen Gebirgsort, beängstigend ist, wollte das den Dreien gegenüber aber nicht durchblicken lassen. Ich stimmte der Idee deshalb ohne Zögern zu.

„Ja klar eine Bootstour! Gute Idee für Morgen, liebe Leute! Das wird bestimmt ein schöner Spaß werden!“

So rief ich den dreien zwischen den Strandkörben zu. Es war, als wäre ich am Obersalzberg hinter Büchtlers Haus beim Tischtennisspiel mit den anderen Kindern. Dort war ich ein lauter Schreihals. Oft nervte mein Geschrei Büchtler, dessen Büro oben im zweiten Stock lag, sodass der herunter schrie: „Halt endlich mal die Klappe du dämlicher Armleuchter!“ Deshalb dachte ich, dass ich als Neuer an der Ostseeküste vielleicht etwas zu laut schrie. Das schien Robert, Mischa und Martin aber nicht zu stören.

Wir drei sprachen lauthals über das Blinkern und die Bootstour im Fischkutter, die Robert für den nächsten Tag plante. Die Fischerei sollte nicht mit Ködern stattfinden, sondern mit so genannten Blinkern. Soweit ich Robert verstand, würden die Fische durch das Auf und Ab angelockt.

Mischa sagte zum Abschied:
„Beim Opa von Robert findest du jede Menge altes Ölzeuch und zum Fischen hab ich ne super Angel daheim. Die bring ich für dich morgen mit an Bord!“

2. Die Bootstour

Am nächsten Morgen musste ich sehr früh aufstehen. In den Ferien hasste ich das besonders. Der Feriengroßvater hatte abends zuvor mit seinem Enkel Robert telefoniert. Die Sache mit der Bootstour schien eine bereits lange abgesprochene Angelegenheit zwischen den beiden zu sein. Es ging nur noch um den Treffpunkt am Steg im Hafen der kleinen Ostseestadt und die exakte Uhrzeit des Treffpunktes.

„Also juut! Um Punkt siebene sssteeht der Jung in Gummistibl un Ölzoiich veerpackt am Fischeersteech!“ Ohne Abschiedsworte knallte der Feriengroßvater den schwarzen Hörer auf die Gabel.

Um sechs Uhr morgens saß ich mit ihm und der Feriengroßmutter am Frühstückstisch. Sie besprachen den Ausflug in den Ort mit Einkäufen auf dem Markt zu verbinden. Die Feriengroßmutter notierte Einzelheiten, die der Feriengroßvater in für mich teils unverständlichen Worten in deren Richtung murmelte. Die laute, sonore Stimme des Feriengroßvaters hörte sich früh morgens wie ein leises Grummeln an.

Im Hafen stank es fürchterlich nach Fisch. Ich lief hinter dem Feriengroßvater her. Sein Tempo konnte ich nur mit Mühe halten. Immer wieder verfiel ich in einen Laufschritt, um an ihm dran zu bleiben. Er eilte die grob gepflasterte Straße, von der rechts und links Bootsstege abzweigten, wie ein Flüchtender entlang.

An den Stegen wurden Fischkutter entladen. Weiße Plastikkisten von Fisch und Eis stapelten sich an ihnen. Gabelstapler fuhren auf und ab. An Stegen und Schiffen herrschte Reinigungsbetrieb. Stinkende Kübel wurden geschrubbt, Netze auf den Bootsstegen ausgerollt, Decks mit Wasser abgespritzt und mit Schrubbern bearbeitet. Das alles war begleitet von lauten Zurufen, Geschrei und Lachen der Arbeiter.

Der Feriengroßvater bewegte sich sicher durch das Chaos. Zielstrebig eilte er im Stechschritt an den Bootsstegen vorbei. Hin und wieder grüßte er nach rechts oder links, indem er den rechten Arm akkurat nach oben schlug. Einmal schlug er die Seitenfläche der rechten Hand zackig grüßend an den Kopf, dabei blieb er für eine Sekunde stehen, schlug beide Hacken zusammen, sodass es laut krachte. Sofort wandte er sich von dem so Begrüßten ab, um eilig weiter seinem Ziel entgegen zu streben.

Ihm fehlte ein Stock, den er rechts unter seinem angewinkelten Arm hätte tragen können. So ein Bild hatte ich in einem Fernsehfilm gesehen. Wahrscheinlich hatte er die zackig begrüßten Menschen schon sehr oft gegrüßt, vermutlich kannte er sie schon lange. Wir erreichten endlich eine Ecke, die wohl nahe dem Ziel lag. Dort ging ein langer Steg ab. Knallend schlug er einen alten Herrn, der an der Ecke auf einem kleinen Stuhl saß, grüßend die Hacken zusammen. Dann eilte er hinaus auf den betonierten Steg.

Am Ende des Stegs angekommen erkannte ich Robert, Martin und Mischa. Die drei lehnten an der Reling eines rot-weiß gestrichenen Schiffs. Sie trugen wie ich gelbes Ölzeug, das in der Morgensonne glänzte. Mir war in dem Gummizeug heiß geworden. Der Feriengroßvater gab mir nicht die Hand zum Abschied, sondern er deutete mir, dass ich schleunigst über ein Holzbrett auf das Schiff hinauf laufen sollte. Das tat ich sofort. Ich rannte ein schmales Brett hinauf. Dabei zwang ich mich nicht daran zu denken, dass unten das finstere Wasser im Hafenbecken schwappte. An der Reling des Schiffs angekommen schnappte sich Robert meine rechte Hand und zog.

„Moin Bernado!“

Das Laufbrett wurde sofort hinter mir eingezogen.

Auch Martin und Mischa schüttelten mir die Hand. Mein Blick suchte unten den Steg nach dem Feriengroßvater ab. Ich konnte ihn in der Menge der Arbeiter, die sich dort bewegten, nicht mehr ausmachen. Schon hörte ich den Schiffsmotor aufheulen.

Das Schiff wurde durch die Kräfte dreier Männer von seinen Leinen, die um drei riesige eiserne Poller gelegt waren, gelöst. Der Motor qualmte wie eine Dampfmaschine. Der Kahn bewegte sich langsam vom Steg weg. Hinten rührte die Schiffsschraube Schaum auf. Rund um das Schiff bewegte sich aufgeschäumte Salzwasserbrühe. Das Hafenbecken schien, als würde es von einem Schneebesen durch gerührt. Die drei Freunde schoben mich langsam Richtung Heck. Dort hatten sie Angelruten, einen Eimer, mehrere flache Plastikkisten und einen Werkzeugkasten an der Reling deponiert.

Das Schiff tuckerte vorbei an den Stegen Richtung Hafenausfahrt. Es war voll von Menschen, die alle in Regenjacken oder Ölzeug, Gummihosen und Gummistiefeln steckten. An der Reling waren viele lange Angelruten festgebunden. Flache Plastikkisten stapelten sich neben Eimern und Fischerkästen.

Gemächlich ging es an zwei Leuchttürmen vorbei. Ich lehnte mich an die Reling und blickte vor Richtung Bug. Da draußen sah ich das offene Meer. Wir fuhren an einer schmalen Landzunge entlang, die sich ein Stück ins Meer hinaus schob. Auf den Felsen sah ich Angler.

Am Ende der Landzunge erkannte ich noch einen weiteren Leuchtturm. Er blitzte in der Morgensonne. Der Wind blies von Backbord. Im Schutz der Landzunge war er an Bord kaum zu spüren. Draußen auf dem Meer sah ich aber einen langen hellen Strich, der wie gemalt aussah. Ich wusste, dass es die Spur starker Böen war, die ab dem Leuchtturm am Ende der Landzunge, in deren Schutz das Boot noch fuhr, über die Ostsee peitschten.

Am Strand beim Feriengroßvater gab es auch eine Landzunge. Wenn ich mit dem Brett darüber hinaus nach draußen getrieben wurde, war ich dem böigen Wind und hohen Wellen ausgesetzt. Bevor es soweit kam, legte ich das Segel auf das Surfbrett, setzte mich auf es und begann mit den Händen zurück Richtung Strand zu paddeln.

Die Männer auf dem Schiff riefen, lachten und werkelten an deren Angeln. Sie bastelten mit kleinen Werkzeugen aus ihren Fischerkästen an Angelruten und Schnüren herum. Nebenbei tranken sie aus kleinen Flachmännern, die sie aus den inneren Seitentaschen ihrer Regenjacken hervor zogen. Leere Flaschen wurden über Bord geworfen. Flachmänner, Dosen, Plastiktüten, Kronkorken, Butterbrotpapier, das alles und weiterer Müll wurde über die Reling hinaus in die See geschleudert.

Das überraschte mich, denn ich kannte das nicht. Ich wusste nicht, dass es an Bord normal war. In ein Gewässer, aus dem man lebenden Fisch zog, solchen Müll zu werfen, fand ich seltsam. Ich hatte mir einen Kaugummi in den Mund gesteckt. An Deck suchte ich vergeblich nach einem Mülleimer für das Kaugimmipapierchen. Also warf ich es über Bord, was nicht einfach war, denn der Wind blies es zurück, sodass es auf dem grünen Boden davon getrieben wurde.

Im Sommer war ich in Berchtesgaden mit der Schulklasse oder mit Büchtler und den vielen Kindern, die in dessen Haus auf dem Obersalzberg wohnten, im Wald in den Bergen unterwegs, um dort Müll einzusammeln, der wohl von rücksichtslosen Wanderern weggeworfen worden war. Das war mein Begriff von Umweltschutz. Das wurde mir von meiner Lehrerin Jahre lang beigebracht.

Umweltschutz hieß, dass Dreck in eine Tonne geworfen wurde und nicht in die Landschaft. Die Lehrerin zeigte im Unterricht Lehrfilme über den Umweltschutz. Das war modern. Im Klassenzimmer wurden die hohen Fenster mit Gummivorhängen verdunkelt. Schwere Filmrollen wurden von ihr in einen großen ratternden Projektor eingefädelt. Auf der Leinwand, die von der Lehrerin vor der Tafel aufgebaut wurde, sahen wir rauchende Müllberge, die bald der Vergangenheit angehören sollten, denn der Müll würde künftig in Anlagen verbrannt, wo hohe Schornsteine dafür sorgten, dass unten auf den Straßen die Luft sauber blieb. Voraussetzung dafür sei auch, dass Müll nicht mehr in der Landschaft verteilt werde oder am Straßenrand gesammelt und verbrannt werde. Auch sei es generell schlecht, wenn er auf qualmenden Deponien lande. Müll sollte gleich in der Tonne anstatt im Wald landen, um in neuen Verbrennungsanlagen abgefackelt zu werden. Das aber sei noch ein langer Weg, weil erwachsene Menschen sich nur schwer dazu erziehen ließen.

Tags nach solchen Filmvorführungen wurden wir von der Lehrerin in den Berchtesgadener Wald begleitet, um dort Müll zu sammeln. Der wurde in Säcken zu Sammelstellen getragen, von wo er auf einem Lastwagen in die neue Müllverbrennungsanlage abtransportiert wurde. An Bord des Kutters lernte ich nun, dass das auf dem Meer ganz anders war. Das Meer schien eine Abfalltonne zu sein.

Robert, Mischa und Martin verhielten sich wie die Erwachsenen an Bord. Sie hatten eine Brotzeit dabei. Die packten sie, nachdem wir die Landzunge hinter uns gelassen und das Schiff mächtig gegen Wind und Wellen zu stampfen begonnen hatte, aus.

„Magst ne Stulle Alter?“, schrie Robert gegen den Wind in meine Richtung.

„Na klar, gerne!“

Robert gab mir ein Butterbrot und eine Colaflasche. Er zerknüllte das Butterbrotpapier, schleuderte es über die Reling, genauso wie den Kronkorken und später die leere Flasche. Ich fragte nicht lange, was das denn sein sollte, sondern akzeptierte diese neue Regel und tat es den andern Menschen gleich. Es gab keine Mülltonnen an Deck. Das hatte mich anfangs ganz schön irritiert.

Böiger Wind peitschte Gischt über die Reling an Deck. Erst jetzt wurde klar, welchen Sinn es hatte, dass der Feriengroßvater mich angewiesen hatte, das gelbe Ölzeug anzuziehen. Trotz Sonnenschein war mir längst nicht mehr zu heiß. Der schnelle Marsch über das Hafengelände schien Stunden zurückzuliegen. Aus Schweiß an meinem Körper war ein Frösteln geworden. Ich knöpfte die gelbe Gummijacke bis oben zu, zog die Kapuze ins Gesicht und band sie mit den Schnüren fest. Die Ostsee war schwer in Bewegung. Schaumkronen schlugen von rechts vorne gegen das Schiff. Sie donnerten vom Unterschiff hinauf an die Reling, wo der starke Wind dafür sorgte, dass Gischt in breiten Fontänen über das Deck schlug.

Robert zupfte an meiner Gummijacke. Wind, Wellen und Schiffsmotor waren so laut geworden, dass ich Robert kaum hören konnte. Er deutete auf eine rostige Stahltür an Deck, die offen stand. Dort sah ich Leute in gelbem Ölzeug verschwinden. Ich folgte den dreien.

Hinter der Tür ging es eine steile Treppe hinunter ins Unterschiff. Unten gab es einen Kiosk, eine Theke und viele Tische. An denen saßen Männer, die rauchten und tranken. Robert bugsierte uns in eine Ecke an einen freien Platz. Wir legten unsere angebissenen Butterbrote auf den Tisch. Die halb leeren Colaflaschen landeten in Metallhaltern, die an den Seiten der Tischplatte angeschraubt waren. Wir befreiten uns von den nassen Gummijacken, die Robert an eine Reihe von Hacken hängte.

Mein Eindruck war, Robert hatte beide Freunde an diesem Tag genauso wie mich zum ersten Mal mit auf die Bootstour genommen. Mischa und Martin wirkten unsicher, so als würden sie sich mit den Abläufen an Bord wenig auskennen. Ich kannte mich überhaupt nicht aus.

Wir saßen in einem von Neonlicht beleuchteten Gastraum unter Deck. Es herrschte die Atmosphäre einer kleinen verqualmten Bahnhofshalle mit niedriger Decke. Auf den Seiten befanden sich Bullaugen, gegen die das Meerwasser schlug. Der Schiffsmotor dröhnte so laut, dass man sich gegenseitig anbrüllte, um verstanden zu werden.

Ich fand das alles in Ordnung. Ich war zufrieden, in diesem trockenen Raum am Tisch zu sitzen, denn ich fror nicht mehr und ich wusste, was oben an Deck los war.

„Wie wärs mit nem kleinen Spielchen?“, rief Robert in Richtung Mischa und Martin. Beide nickten sofort. Es schien den beiden klar zu sein, welches Spielchen Robert meinte. Zu mir gewandt rief Robert:
„Kennst du Poker?“
Ich nickte und rief:
„Ja klar! Das spielen wir oft!“
„O.k.! Alles paletti!“

Robert zog ein Kartenspiel aus der Hosentasche und begann die Karten zu mischen. Es interessierte ihn nicht, wen ich mit „wir“ meinte. Wahrscheinlich fragte er nicht danach, weil es so laut war und er nicht mehr brüllen wollte, als für das Pokerspiel unbedingt notwendig.

Das Spiel kannte ich aus Berchtesgaden. Ich spielte es oft mit anderen Kindern bei Büchtler am Obersalzberg. Der Einsatz bestand aus Pfennigen vom wöchentlichen Taschengeld. Dessen Taschengeld für uns stammte von Jugendämtern, die mich und andere Kinder in Büchtlers Haus am Obersalzberg untergebracht hatten. Büchtler tat aber jeden Samstagvormittag so, als zahlte er sein persönlich verdientes Geld großzügig an uns Kinder aus. Er hatte Spaß daran, dass sich dreißig Kinder nach dem Schwimmen im Eingangsbereich des Hallenbades um ihn scharten.

Büchtler zeigte mir, dass Geld etwas Wichtiges war, denn es diente dazu, über uns Kinder zu herrschen. Büchtler herrschte aber nicht nur mit der Macht des Taschengeldes, das ihm anvertraut worden waren.

Einmal hatte er mich im Sandkasten hinter seinem Haus am Obersalzberg so heftig verprügelt, dass ich ein angeschwollenes Auge bekam und Schürfwunden, die von einer Erzieherin mit Jod behandelt werden mussten, was mir seht weh tat.

Ich hatte einem Kind, das tags zuvor neu von einem Jugendamt zu Büchtler gebracht worden war, von Dingen erzählt, die Büchtler nicht gefielen. Ich sprach von meinem Hass auf ihn, weil er ein brutaler Kerl sei. Genau in diesem Moment war er am Sandkasten vorbeigekommen. Das war mein Pech.

Büchtler schlug oft zu. Zum Glück nicht immer so brutal wie an diesem Tag. Er war getrieben von tiefem Hass auf Kinder. Warum das so war, weiß ich nicht. Aber ich hörte nicht auf, Gründe für dessen immer präsenten Hass am Obersalzberg zu suchen. Ich begann irgendwann damit, Begründungen für dessen Gewaltausbrüche zu erfinden. Eine meiner Erfindungen war, dass der Mann generell Kinder nicht mochte. Dumm daran war, dass meine Erfindungen meist neue Fragen auf warfen. Warum lebte der Mann dann mit Kindern zusammen? Das war so eine neue Frage, für die ich Antworten erfinden musste.

Ich war seiner harten Faust oft im Weg. Dass ich in seinem Haus wohnen musste, hatte mit meinen Eltern zu tun, die mich nicht selbst erziehen konnten. Warum ausgerechnet einer wie Büchtler dazu besser geeignet war, verstand ich nicht und begann auch dafür Antworten zu erfinden. Er war schlau. Das zeigte mir sein ordentliches Büro im zweiten Stock, von dem aus er unser Taschengeld verwaltete. Er war so schlau, dass Jugendämter ihm Kinder und Geld anvertraut hatten. Ich übte mich täglich darin der Gewalt von Büchtler und anderer, mit denen ich am Obersalzberg zusammen lebte, aus zu weichen und darin Antworten und Gründe für die Gewalttätigkeit, unter der ich und andere litten zu erfinden.

Michael hatte von Büchtler den machtvollen Umgang mit Geld perfekt erlernt. Er war bei Büchtler zu einem Geldverleiher geworden. Auch Michael wurde von einem Jugendamt nach Berchtesgaden geschickt. Weil ihm das Taschengeld von Büchtler nicht genug war, nahm er Zinsen, die er von Schuldnern kassierte, um sie beim Pokern einzusetzen. Stets setzte er nur so viel ein, wie er zuvor verdiente Zinsen von anderen Kindern in die Tasche bekam. Er stieg rechtzeitig aus. Oft ging er als Gewinner aus den Pokerrunden hervor. Nie sah ich ihn als Verlierer gehen.

Wenn am Obersalzberg jemand in Schulden geriet, dann wurde Michael gefragt. Es gab neben ihm niemanden ,bei dem man Geld leihen konnte. Michaels Schuldner hielten stets einen Platz im Schulbus für ihn frei. Beim Essen waren ihm zusätzliche Schinkenscheiben sicher. Sie hatten den Käse am Tisch für ihn reserviert oder sie stellten sich im Sommer für Michael in der Schlange am Kiosk im Aschauer-Weiher-Schwimmbad an. Um für Michael eine Cola am Schul-Kiosk zu besorgen, riskierten sie noch vor dem Pausenläuten, den Direktor im Schultreppenhaus zu treffen, weil sie für Michael als erste am Kiosk stehen wollten.

Im Anschluss an die Taschengeldausgabe sollte kein säumiger Schuldner versuchen, der Zinszahlung zu entgehen. Vor Jahren, als Michael mit den Geldgeschäften angefangen hatte, verprügelte er mich. Das machte er längst nicht mehr selbst. Wenn einer am Samstag nach der Taschengeldausgabe nicht die wöchentlichen Zinsen an Michael bezahlte, wurden dessen Geldeintreiber aktiv.

Samstagnachmittags spürten sie mich im Wald am Obersalzberg auf. Sie schleiften mich über den Waldboden zu einer kleinen Lichtung, wo sie mich an einen Baum banden. Dort durchsuchten sie meine Taschen. Wenn sie nichts fanden, verpassten sie mir ein paar kräftige Bauchschwinger. Dann banden sie mich wieder los und sagten mir, wie hoch die Zinsen seien, die ich am nächsten Samstag zu bezahlen hatte. Am folgenden Samstag bezahlte ich.

Einmal hatte ich mich in einem Pokerspiel mit Michael darauf verständigt, dass meine Schulden sich verdoppelten, sollte ich verlieren oder dass sie mir erlassen seien, wenn ich gewann. Sechs Wochen lang zahlte ich danach mein Taschengeld konsequent an Michael.

Vor den Sommerferien hatte ich zwei Mark fünfzig Schulden bei Michael. Das ergab nach vier Wochen Ferienverschickung eine Mark Zinsen für Michael. Es warteten also drei Mark fünfzig Schulden auf mich. Michael hatte mir erklärt, dass ich ihm dankbar sein könne, dass er auf den Zinseszins verzichte. Ich wusste nicht, was er damit meinte. Er erklärte, dass er stattdessen wöchentlich fällige Zinsen immer dann neu errechne, wenn die Schuld bei ihm um eine volle Mark angestiegen war. Sein Zinssatz von zehn Prozent wöchentlich bliebe immer gleich. Ich brauchte etwas Zeit, um Michaels Rechenmodell zu kapieren. Seither wusste ich, warum Hartwig und andere Kinder so tief bei Michael in der Kreide standen.

Das Pokerspiel an Bord drehte sich um nichts. Es gab keinen Einsatz, nicht einmal Pfennige. Man sagte nur: „Ich gehe mit.“ Aber es lag kein Einsatz in der Mitte des Tisches.

Das verwirrte mich. Zunächst hatte ich sofort zu meinem kleinen Geldbeutel in der Hosentasche gegriffen. Ich wollte prüfen, wie viele Pfennige ich darin hatte. Mein Griff zu meinem Geldbeutel bemerkte keiner der Beteiligten. Ich ließ die Geldbörse stecken und lehnte mich erst mal zurück, denn ich wollte beobachten, welche Regeln an der Ostsee galten. Wo der Müll über Bord ins Meer geworfen wurde, konnten auch andere Pokerregeln als am Obersalzberg gelten.

3. Ein Tier

Wir spielten, um uns die Zeit zu vertreiben. Manche Regel war in deren Spiel anders. Darüber verständigten wir uns von Spiel zu Spiel besser. Die Zeit unter Deck verging beim Poker sehr schnell, obwohl es um nichts ging.

Der Schiffsmotor ging aus. Da merkte ich, dass der Lärm ein irrsinniges Dröhnen in meinem Kopf verursacht hatte, das auch ohne Motorenlärm weiter anhielt. Der ausgeschaltete Motor war ein Signal. Aufstehen, Öljacken anziehen, hinauf an Deck gehen, Angelruten auswerfen.

Oben herrschte reger Betrieb. Viele Männer hatten ihre Angelruten längst ausgeworfen und blinkerten mit kräftigen Auf und Ab Bewegungen. Mischa drückte mir eine schöne gelbe Angel in die Hand. Sie war sehr lang und hatte einen schwarzen Griff. Ihr Blinker und Angelhaken glänzten.

Ich beobachtete die drei wie sie ihre Angeln auswarfen, sich bäuchlings an die Reling lehnten, die Angelschnur eine kurze Zeit lang vom Gewicht des hinab sinkenden Blinkers abwickeln ließen, sie schließlich stoppten und so lange kurbelten, bis sie die wohl notwendige Spannung auf der Angelschnur zu haben glaubten. Dann begann jeder der drei damit, die Angel auf und ab in Bewegung zu halten. Ich tat es ihnen nach. Blinkern bestand darin, die Angel ständig langsam nach oben zu ziehen und den schweren Blinker nach unten wieder abzulassen. Das kam mir nach wenigen Minuten eintönig vor.

Plötzlich hörte ich aufgeregtes Geschrei. In einiger Entfernung, ein paar Angler-Nachbarn weiter, sah ich an der Reling einen Mann, der offenbar mit viel Kraft an der Kurbel seiner Angel arbeiten musste. Das war wohl so anstrengend, dass ihm schließlich ein anderer Mann zu Hilfe eilte. Beide schienen nur mit vereinten Kräften in der Lage, die Angelrute festzuhalten. Der kurbelnde Mann setzte seine Kräfte auf die Kurbel, während der andere sich an der Angel zu schaffen machte, die sich bog, wie eine feine Mondsichel. Umstehende Männer verfolgten den Vorgang, bewegten aber trotzdem ihre eigenen Angelruten weiterhin auf und abwärts.

Schließlich schien es soweit. Die beiden Männer zogen einen riesigen Fisch über die Reling nach oben. Der Fisch schlug über dem Wasser wie wild um sich. Er klatschte auf das Deck. Einer der beiden nahm einen dicken Gummihammer zur Hand. Er stürzte sich auf den Fisch und schlug mit dem Hammer heftig auf dessen Kopf ein. Mit seinen riesigen Händen versuchte er den glitschigen Fischkörper auf den Boden zu pressen. Der Fisch aber entkam. Er sprang Meter hoch vom Boden auf. Er hatte den Angelhaken mit dem Blinker noch im Maul. Deshalb riss er die Angel, welche zuvor zu Boden gelegt worden war, mit sich. Deren schwarzer Griff schlug jetzt einem bislang unbeteiligten Angler von hinten auf dessen glänzende Öljacke. Der sah sich von dem jetzt immer wieder hochspringenden Fisch und von der fliegenden Angelrute bedroht. Deshalb griff der Mann zum Gummihammer eines neben ihm Stehenden. Mit dem Hammer bewaffnet sprang er auf den riesigen Fisch, der wieder zu Boden gekommen war. Als wolle er sich rächen, schlug er mit dem Hammer zu. Er schlug so oft auf das Tier ein, bis es sich unter dessen riesigen Händen nicht mehr bewegte.

Damit nicht genug, als sei es dessen Fang, packte der Mann das offenbar leblose Tier an der Flosse und hielt es in die Höhe. Der eigentlich erfolgreiche Jäger stand dabei neben ihm. Er schien sich nicht sicher, ob ihn der Hammerschläger degradieren wollte. Deshalb schob er sich dicht an den Triumphierenden heran. Der ließ endlich das Tier zu Boden, um der eigenen Angelrute an der Reling wieder gewahr zu werden. Der erfolgreiche Jäger begann sofort mit einem großen Messer an dem am Boden liegenden Tier herum zuschneiden.

Nach dem ersten Einstich allerdings sprang der Fisch erneut in die Höhe. Wieder riss das Tier die Angelrute mit sich. Sie flog aber nicht wie zuvor Richtung Reling, sondern krachte gegen eine Stahlwand neben der Tür, die unter Deck in den Raum mit dem Kiosk führte. Der Fisch klatschte zu Boden. Ich erkannte, dass der Kopf des Tieres zertrümmert war. Aus dem zermalmten Fischkopf stach nach oben ein großer Angelhaken heraus. Daran hing ein blitzender Blinker.

Ich zog weiter an meiner Angel auf und ab. Ich wusste, dass mein eintöniges Ziehen sich ganz schnell in einen ungleichen Kampf mit einem Fisch verwandeln konnte. Ich wusste nun auch, dass dieser Kampf auf jeden Fall mit dem Töten eines Tieres zu beenden war. Meine Gedanken machten mein Ziehen an der Angel immer gemächlicher.

Ich hörte begeisterte Rufe wegen des „riesigen Brummers“, den die beiden da aus der See gezogen hatten. Von überall an Deck dröhnten Jagd- und Siegesrufe: „Hee kieck mal wat der für nen fetten Dorsch an der Waage hängen hat! Oh Mann dat is ja n dolles Ding!“ Die Dorsche bissen gut an dem Tag. Immer wieder sah ich, wie Angler um uns herum mit den großen Griffen ihrer Messer oder mit einem Gummihammer auf die Köpfe ihrer gefangen Fische einschlugen und wie sie die toten Tiere in flache Plastikkisten auf Eis warfen.

Nach etwa einer halben Stunde war es auch bei uns soweit. Martin begann kräftig an seiner Angel zu arbeiten. Er zog die Rute mit kräftigen Zügen nach oben und arbeitete beim Herunterlassen hektisch an der Kurbel. Die Angel bog sich so stark, dass ich glaubte, sie breche gleich ab. Robert knotete seine Angel an der Reling fest. Er half Martin beim Hochziehen. Wenige Minuten später baumelte ein mittelgroßer Dorsch über dem Wasser. Der Fisch schlug wild um sich. Robert riss das Tier mit einem Zug über die Reling. Martin schnappte nach dem am Boden springenden Fisch. Er schlug dessen Kopf mit dem dicken Griff seines großen Messers ein.

Martin hatte einen guten Fang gemacht. Die drei musterten das zuckende Tier, bevor Robert es an den Kiemen davontrug. Er ging mit dem zappelnden Tier zu einer Waage, die an einer Stahlstange am Vorderdeck hing. Dort standen mehrere Männer mit zuckenden Dorschen in einer Schlange wartend, um ihren Fang zu wiegen.

„Dreißig Pfund, fast acht Kilo! Das ist fürs Erste nicht schlecht, Jungens!“

So rief Robert, als er von der Waage zurückgekommen war. Er warf den Fisch in eine weiße Plastikkiste, in der ich ein paar grobe Eisklötze erkannte. Er schloss den Deckel der Kiste und zog aus seiner inneren Gummijackentasche einen Zettel und einen Stift. Den Zettel auf dem Kistendeckel notierte er während er rief:

„Martin: Dreißig! Gucken wir mal, wie dat heute noch so weiter jeht Leute!“

Mein Ziehen und Loslassen an der Angelrute war immer langsamer geworden. Um das Schiff herum hatten sich Massen von kreischenden Möwen eingefunden. Viele Fischer warfen immer wieder Teile ihres Fangs über Bord. Die Möwen stürzten sich sofort auf die Wasseroberfläche oder sie schnappten sich die weggeworfenen Fischreste schon in der Luft. Weil die meisten Fischer ihre gefangenen Fische sofort ausnahmen und sie erst danach auf das Eis in ihre Plastikkisten warfen, stank es an Bord fürchterlich. Das Schiff schaukelte schlimmer als die schlimmste Schiffschaukel, die ich in Berchtesgaden auf dem jährlichen Rummelplatz erlebt hatte.

An der Reling lehnend, fixierte ich jetzt hinter den immer wieder aus der Luft heran schießenden Möwenschwärmen den fernen Horizont. Zwischen dem Schiff und dem Horizont schäumte es mächtig. Ständiges auf und ab. Das Schiff bewegte sich kreisförmig um den weißen Horizont. Der blaue Himmel, an dem ich einige Schäfchenwolken zu sehen glaubte, drehte sich hin und her. Ich sah schäumendes Geröll rings um das Schiff. Alles auf dem Schiff schaukelte. Die Menschen, die toten Fische, die Kisten, die Eimer und Angeln, die Öljacken, die grünen, gelben und braunen Gummihosen, die ich in vielen Gummistiefeln stecken sah. All das war auf dem stinkenden Schiff in eine rollende Bewegung geraten.

Es waren zwei, drei Ameisen im Schlaf auf einer grünen Wiese. Man nahm sie zuerst nur als leichtes Kitzeln wahr. Doch die Ameisen hatten Hunderte Freunde mitgebracht. Das Rollen und Schaukeln an Bord schlich eine Zeit lang unbeachtet wie zwei, drei Ameise um mich herum. Es war zu spät.

Meine gelbe Angelrute stand still. Trotzdem ging das Auf und Ab weiter, als würde ich die Angelrute hoch und runter lassen. Ich konnte es nicht stoppen. Auf und Ab waren da, ohne dass ich Einfluss nehmen konnte. Im Hoch und runter zwischen Schiff, Wellen und Horizont sah ich einen Mann nur wenige Meter entfernt, der einem riesigen Fisch den Bauch aufschlitzte. Mit kräftiger Hand griff er in den Bauch des großen Tiers. Sein gigantisches Messer rührte darin. Langsam zog die Hand des Mannes Fäden, braunes und grünes Zeug aus dem Bauch. Das warf er mit Schwung in die Luft über Bord den kreischenden Möwen zu.

Ich kümmerte mich um nichts mehr. Ich ließ die drei Freunde einfach stehen. Ich ließ meine Angelrute los und eilte so schnell ich konnte Richtung Heck. Dabei presste ich meine beiden Hände auf den Mund. Das Schiff schaukelte wie wild. Vor mir sah ich das Heck des Kahns. Es stieg auf und ab. Das Schiff drehte sich zwischen Himmel, Wolken und Horizont. Da kam eine rostige Stahltür in meinen Blick. Ich blieb stehen, denn da war noch etwas. Ich erkannte neben Kisten einen Eimer. Ich eilte hin, ging über dem Eimer in die Knie und nahm meine Hände vom Mund.

Es kam in mächtigen Schüben, ich verschluckte mich ein paar Mal, sodass gleich noch mal was kam. Neben der Tür war ein verrosteter Eisengriff. An dem hielt ich mich fest. Mein Magen war schnell leer. In meiner Jackentasche hatte ich kein Taschentuch. An der Kante der offenen Stahltür arbeitete ich mich langsam mit beiden Händen nach oben.

Ich sah mich um. Das Heck des Schiffes war nur wenige Meter entfernt. Die Angler um mich herum schienen mich nicht zu beachten. Richtung Steuerbord und Bug sah ich Fischer stehen wie aufgereiht. Der ein oder andere hatte einen Fisch an der Angel, der zu Boden gedrückt wurde, auf dessen Kopf eingehämmert wurde. Ich sah auch Robert, Martin und Mischa. Sie hatten etwas gefangen, denn alle drei knieten am Boden. Robert schlug auf das Tier ein, das ich von der Stahltüre aus nicht sehen konnte.

Langsam schwankte ich durch die Türe in das Innere des Schiffes. Das Waschbecken war verdreckt. In dem Raum stank es nach Urin. Aus dem Wasserhahn kam Salzwasser. Ich spülte meinen Mund aus und wusch mein Gesicht. Das schmeckte grauenvoll. Ich blickte in einen zerkratzten Spiegel. Ich sah aus wie ein heller Käse. Langsam bewegte ich mich raus an Deck. Von dort nahm ich den Eimer, ging zurück zur Toilette und spülte ihn aus. Mir war zum Kotzen schlecht.

„Alles paletti?“
Robert grinste, während er kräftig an seiner Angelrute zog.
„Deine Angel ist abjestürzt, hab sie einjehoold und da hinne bei unserer Kiste abjeleecht.“
„Danke, hab vergessen sie anzubinden!“

Wie auf dem Surfbrett ist es auch auf einem Schiff. Wenn so ein Schiff nicht fährt und der Seegang kräftig ist, dann ist das Schaukeln sehr schlimm, viel schlimmer als in der Schiffschaukel auf dem Rummelplatz. Ich war froh, dass bei mir nichts mehr herauskommen konnte, weil ich schon alles hergegeben hatte. Ich setzte mich auf den Deckel der weißen Plastikkiste von Robert.

„Schau da mal rein!“
Ich hob den Deckel an. Da lag ein großer Fisch.
„Fast hundert Pfund, der Riesen-Oschi!“, schrie Robert.
„Das ist ja unglaublich! Wie habt ihr das mords Vieh denn raus gebracht?“
„Das ging nur zu dritt und noch zwei Manne ham kräftig mit zugepackt! Das gibt heute Abend gute Kohle, liebe Leute!“, schrie Robert in Richtung Martin und Mischa.

Roberts Plan, den Dorsch abends zu verkaufen, kannte ich noch nicht. Ich dachte, dass unser Fang für die heimische Küche von Roberts Eltern und den Großeltern gedacht sei. Aber Robert wollte aus unserem Fang Geld machen. Ich hatte noch nie Geld auf anderem Weg bekommen als das Taschengeld von Büchtler.

Langsam bewegte ich mich von der kühlen Plastikkiste mit der gelben Angelrute in Händen zurück zur Reling. Mir ging es besser. Ich hatte das Gefühl, nicht mehr so kreidebleich zu sein. Ich warf die Angel aus und zog daran gemächlich auf und ab.

Wenn der Fischverkauf, den Robert für den Abend geplant hatte, etwas abwarf und die drei sich fairer verhielten als die Kinder bei Büchtler am Obersalzberg, dann könnte das meine Chance sein. An der Reling ging es mir mit diesen Gedanken besser. Nach einer knappen viertel Stunde spürte ich sogar meinen leeren Magen. Ich hatte Hunger.

Bei Robert tat sich wieder etwas. Er zog und kurbelte kräftig. Er hatte einen mittelmäßig großen Dorsch dran. Den zog er routiniert an Bord. Er tötete ihn mit einem kräftigen Schlag auf den Kopf. Später kam Robert lächelnd von der Waage zurück und warf den Fisch auf das Eis in die Kiste.

Ich erschrak, denn jetzt zog es an meiner Angelrute. Der starke Zug Richtung Wasser riss mir die Angel beinahe aus der Hand. An das Auf und Ab hatte ich mich gewöhnt, nicht aber daran, dass plötzlich jemand so zerrte. Ich brauchte viel Kraft, um den Blinker nach oben zu ziehen. Ich versuchte zu tun, was ich zuvor bei den Freunden beobachtet hatte. Ich zog die Angel kräftig nach oben und kurbelte, während ich die Angel wieder hinunter ließ.
„Haste einen dicken Oschi dran?“, fragte Robert.
„Weiß nicht.“
„Brauchste Hilfe?“
„Glaub nicht, geht schon.“
„Dann kann der Dorsch auch nicht so affenschwer sein!“

Ich zog, kurbelte, zog und kurbelte. Ich schwitze, mein Atem war kurz und schnell geworden. drei, vier Minuten später war es soweit. Ein kleiner Dorsch zappelte an meiner Angel. Er schlug wild über dem Wasser. Robert hatte seine Angel an der Reling befestigt und gab mir sein großes Messer. Er nahm mir die Angelrute ab, schleuderte den Fisch mit festem Schwung auf den Boden an Deck und rief mir zu:
„Der ist gerade so groß, dass ich ihn nicht wieder rein werfen würde!“

Ich ergriff den glitschigen Fisch. Ich packte ihn an den Kiemen und presste ihn sofort auf den Boden. Fest schlug ich mit dem dicken Messergriff ein paar Mal auf dessen Kopf ein, bis das Zappeln aufhörte. Beinahe wäre der Fisch davon gesprungen, denn der Dorsch versuchte noch einen letzten kräftigen Satz. Ich ließ das Messer fallen, packte das Tier an der Schwanzflosse und drückte es zu Boden.
Es war vorbei. Ich tat, was ich zuvor bei Robert beobachtet hatte: Ich steckte meine Finger in die Kiemen und hob das Tier an. Die drei sahen hinüber zur Waage. Dort stand nur ein Mann. Ich ging dort hin und hängte meinen Fang an den Haken. Die zeigte vier Kilo an. Ich lief zurück zu den dreien. Dort verkündete ich stolz:
„Sechzehn Pfund, das ist doch schon mal was!“
Ich war sehr aufgeregt. Die Umrechnung in Pfund fiel mir nicht leicht. Ich war froh, dass mir die zweihundertfünfzig Gramm Butter als Eselsbrücke eingefallen waren. Ich ging sehr langsam von der Waage zu den Freunden zurück, denn ich brauchte Zeit, um meinen schnellen Atem zu beruhigen und um die Pfunde aus vier Kilo zu errechnen. Ich wollte gelassen und ruhig wirken.

Wir zogen mit einem polternden Handwagen von Haustür zu Haustür. Robert war stolz auf den Fang. Roberts Vater hatte uns in einem alten, klapprigen Peugeot am Parkplatz vor dem Hafen erwartet.
„Knapp vierhundert Pfund!“, rief Robert seinem Vater zu.
„Ordentlich, ordentlich Männer!“
Das war alles, was der Vater dazu sagte. Ich war froh, dass Robert die Fische nicht an Bord ausnahm, wie es die meisten anderen Männer auf der Rückfahrt zum Hafen getan hatten. Das stank fürchterlich und war ein grauenvolles Gemetzel. Robert meinte zu Mischa und Martin, dass dies seine Mutti besser machen könne als er.

Allerdings hatte die nicht damit gerechnet, dass die Fische gleich von ihr ausgenommen werden sollten, damit wir schnell auf Verkaufstour gehen konnten. „Den Fisch müssen wir ganz frisch verkaufen“, meinte Robert „morgen früh will den doch keiner mehr haben!“
Robert wuchtete gemeinsam mit Mischa, die fast hundert Kilogramm schwere Kiste auf einen riesigen Tisch, der in der Mitte der Küche stand. „Ich wasche danach das ganze Zeug auch schön sauber“, versicherte Robert.

Auf den selbst gebauten Handwagen war Robert mächtig stolz. Das Ding hatte er mit Mofabereifung und einer dicken Achse ausgestattet. Sein ganzer Stolz war eine selbst geschweißte Kupplungskonstruktion, mit der er den Handwagen an seinem Fahrrad anbringen konnte. Weil wir beinahe hundert Kilo Fisch und Eis zu transportieren hatten, zogen wir den Wagen aber ohne Fahrrad durch den Ort.

Der Verkauf ging schleppend. Die Leute feilschten mit Robert. Der war der Meinung, er könne für ein Pfund fünfzig Pfennig verlangen. Das war den Leuten viel zu viel. Ich hatte den Eindruck, dass die meisten den Fisch eigentlich gar nicht wirklich haben wollten. Jedenfalls sah ich bei keiner der Hausfrauen echte Freude über unser Angebot. Ich sah stattdessen rümpfende Nasen. Von Begeisterung keine Spur. An der Ostsee gab es zu viel Fisch. Mein Eindruck war, dass den Leuten das Zeug schon zu den Ohren heraus stand.

Bis halb acht Uhr abends hatten wir immerhin dreihundert Pfund verkauft. Das Pfund jedoch nur für zehn Pfennig. Wir hatten dreißig Mark in Roberts Tasche. Das Geld teilte Robert zwischen uns auf. Für jeden gab es fünf Mark. Die Bootsfahrt hatte pro Mann zwei Mark fünfzig gekostet. Ich fand das überaus korrekt von Robert. Ich hatte am wenigsten aus dem Meer gezogen. Ich freute mich riesig, dass ich an diesem Tag fünf Mark verdient hatte. Ich dachte an meine Schulden bei Michael am Obersalzberg. Bei den Feriengroßeltern gab es abends frischen Dorsch.

4. Das Versteckspiel

Nachmittags besuchten mich die drei auf dem Gehöft. Wir saßen bei mir in dem kleinen Zimmer. Draußen war Sturm mit viel Regen aufgekommen. Deshalb hatten wir uns nicht am Strand bei den Strandkörben getroffen. Vormittags hatte ich stundenlang auf dem Wasser mit dem riesigen Surfsegel in den Wellen gekämpft. Ich war erschöpft. Es hatte mir nichts ausgemacht, einfach nur auf dem Bett herum zu lümmeln und den drei Burschen beim Quatschen zuzuhören. Ich fand das lustig, weil ich das Norddeutsche in Berchtesgaden nie hörte. Die drei langweilten sich aber schon nach wenigen Minuten. Martin fragte deshalb, ob wir nicht etwas spielen könnten.
„Oh ja! Wat Spaßliches!“, rief Mischa.
Ich schwieg abwartend.
„Auf dem Speicher könnten wir Verstecken spielen!“, schlug Martin vor.
„Zu viert?“, fragte Mischa kritisch.
„Das geht schon: drei verstecken sich und einer sucht!“, meinte Martin.

Wir verließen mein winziges Zimmer und gingen den finsteren Gang Richtung Treppe entlang. Martin öffnete eine Tür, die mir bislang nicht aufgefallen war. Obwohl ich seit drei Wochen täglich die Treppe hinaufgestiegen und den Gang entlang zu meinem Ferienzimmer gelaufen war, hatte ich die Tür neben dem Treppenabgang übersehen. Eine dunkel gestrichene Holztür wie die Farbe der Holzverkleidung im Treppenhaus. Der Türgriff war winzig und im gleichen Farbton gehalten. Ich dachte an eine Geheimtür. Warum eine unauffällige Tür, wo nur ein Speicher hinter ihr lag? Ich fantasierte, dass wir vier bestimmt Verbotenes taten. Der Feriengroßvater war mit dem Wagen unterwegs. Ich dachte, dass die drei wussten, was wir taten.

Der Speicher erstreckte sich eine weitere Etage hinauf, die über eine wackelige Holztreppe erreicht wurde. Deshalb breitete sich der Dachboden zweimal über die Fläche des gesamten Wohnhauses aus.

Unser Spiel erinnerte mich an den Speicher im Haus von Büchtler am Obersalzberg. Dort lagen Matratzen und stand Mobiliar herum. Wir hatten finstere Lager aus Holzbrettern und Matratzen gebaut. Er lag in einem von Büchtlers beiden Häusern. Dort waren die Mädchen untergebracht. Deshalb hatten Jungs eigentlich keinen Zugang. Zweites Problem war, dass sich die stählerne Tür am Ende des Mädchenwaschraumes befand. Den zu betreten war absolut tabu. Wir brauchten erstens den Türschlüssel, zweitens musste einer von uns Toilettenpapierdienst haben und drittens durfte kein Mädchen im Waschraum sein. Um das Toilettenpapier vom Treppenaufgang zum Speicher hinter der Stahltür zu holen, bekam der Toilettenpapierdienst den Speicherschlüssel. Der Dienst durfte nur wegen des Toilettenpapiers das Mädchenstockwerk betreten. Bester Zeitpunkt für unser Versteckspiel in unseren Matratzenlagern waren Samstag und Sonntag am Nachmittag.

Nach Hallenbad und Mittagessen war das ein schönes Programm. Manchmal hatte ich das Gefühl, mit dem Lager über dem Mädchenstockwerk etwas Eigenes zu haben. Etwas Geheimes auf dem Speicher! Das war etwas anderes als ein Bett oder ein Schrank im Zimmer. Bett und Schrank konnten jederzeit von Erwachsenen kontrolliert und durchsucht werden.

Der Speicher über meinem Ferienzimmer war voll von altem Mobiliar. Viele hohe Schränke boten gute Verstecke. Nahe der Tür war es hell wegen eines Dachfensters. Im oberen Stock ging es zwischen Schränken einen finsteren Gang bis an das Ende des Hauses entlang. Kurz vor dem Hausende waren die alten Schränke so angeordnet, dass sich daraus mehrere finstere Schrankzimmer ergaben. Der Sucher hatte kaum eine Chance, die Versteckten zu finden. Der Speicher bot zu viele Möglichkeiten, sich zu verstecken.

Aber das Suchen hatte seinen Reiz. Es fand in absoluter Ruhe statt. Jedes Knarren und Knacken erschreckte den Sucher. Das Vordringen in den oberen Bereich und in die drei Schrankzimmer löste bei mir Anspannung aus. In jedem Schrank konnte einer stecken. Jede Schranktür konnte zu einem Aufschrei von Mischa, Martin oder Robert führen. Alte Klamotten konnten auf mich hernieder kommen. Ein Buch konnte mir auf den Kopf fallen. Oder Blechgeschirr schepperte zu Boden, ein alter Stahlhelm konnte aus einem Schrank heraus knallen und über dem Speicherfußboden eiern.

In vielen Schränken fanden sich riesige Holzkisten. Die waren so groß, dass ich hineinpasste. Meist fand ich Mischa, Martin und Robert aber stehend in den Schränken. Sie versteckten sich zwischen müffelnden Mänteln, Jacken, Hosen und Hemden. Wenn eine Schranktür quietschend geöffnet wurde, sprang ich sofort aus meinem finsteren Versteck. Gefunden zu werden war wie eine Erlösung. Hinter den langen Mänteln in einem Schrank versteckt, hörte ich aufmerksam auf jedes Rascheln, Knacken, Knistern, Knarren. Geräusche konnten von einem suchenden Ferienfreund stammen, sie konnten aber auch von etwas anderem kommen, zum Beispiel von einer Maus.

Einer Maus wollte ich in der Dunkelheit im Kleiderschrank nicht begegnen. Ich stand zwischen den kratzenden Kleidungsstücken und war froh, wenn ich schnell von Robert gefunden wurde. Die Vorstellung, dass eine kleine Maus über meine Hausschuhe laufen konnte oder gar aus einer alten Jackentasche auf mich springen konnte, ließ mich in schnellen Zügen kurz atmen.

Wir vier hatten Respekt vor dem riesigen Speicher. Wir nutzten seine Größe nicht. Drei, die sich da versteckten, steuerten zwar unterschiedliche Verstecke an, diese aber lagen nie weit voneinander entfernt. Wir behielten uns gegenseitig im Auge. Der Speicher war uns unheimlich, wegen dessen Größe und des vielen alten Zeugs, das in den Schränken schlummerte.

Beim Zählen blinzelte ich durch die Finger vor den Augen. Ich wollte eine Ahnung davon haben, welche Richtung ich beim Suchen einschlagen musste. Das Suchen hatte keine Chance, wenn nicht ein Anhaltspunkt bestand. Jeder wusste, dass Blinzeln gegen die Regeln war. Jeder machte es und jeder akzeptierte, dass der andere es machte. Keiner sprach darüber, denn jeder war froh, dass der andere ihn darauf nicht ansprach.

Kurz vor Beginn des Hausarrestes war ich das letzte Mal mit den Dreien da oben. Beim Suchen lief ich in das hintere der drei spärlich beleuchteten Schrankzimmer. Der Schrank stand finster in einer Ecke. Langsam öffnete ich die leise knarrende Türe. Sie verdeckte die ohnehin wenigen Lichtstrahlen. So lag das Schrankinnere völlig im Dunklen. Ich tastete mich mit der linken Hand vorsichtig nach vorne. Ich wollte ertasten, ob im Schrank Kleidung hing oder nicht. Es roch modrig aus dem Schrank heraus. Schränke, welche ich zuvor geöffnet hatte, mit alten Klamotten, hatten einen anderen Geruch.

Mit der rechten Hand hielt ich die Tür fest. Meine linke Hand tastete ins Leere. Ich führte die Hand von links nach rechts. Da war nichts. Ich ging einen kleinen Schritt nach vorne. Meine Hand erreichte die hintere Schrankwand. Noch einmal tastete ich von links nach rechts: nichts. Dann ging ich langsam in die Knie, um nach unten zu tasten. Meine rechte Hand glitt an der hölzernen Schranktür langsam nach unten, denn die Tür wollte ich weiterhin offen halten. Mit der linken Hand erreichte ich auf etwa halber Höhe im Schrank ein Holzbrett.

Ich zog meine Hand langsam nach vorne, trat dabei einen Schritt zurück. Ich spürte den Staub, über den ich meine Hand zog. Ich tastete mich am vorderen Rand des Brettes weiter nach unten. Es war kein Schrankbrett. Ich tastete mich weiter bis auf den Fußboden nach unten. Holz, an dem ich mich entlang tastete. Es musste eine große Kiste sein. Nun arbeitete ich mich wieder nach oben. Am oberen Rand der Kiste drückte ich mit dem Daumen gegen das obere Brett. Ich drückte langsam nach oben, hörte dabei ein leichtes Knarren und spürte, dass sich der Deckel öffnete.

Hätten Mischa, Martin oder Robert sich da drin versteckt, wären sie längst laut aufschreiend und erlösend lachend aus der Kiste gesprungen. In solch einer Kiste zu sitzen, zu hören, wie von außen daran herum getastet wird und dann das leise Knarren des sich öffnenden Deckels zu hören, da wäre keiner von uns vier lange ruhig sitzen geblieben. Mir war klar, dass in dieser Kiste niemand saß. Trotzdem konnte ich mich von ihr nicht abwenden. Meine Neugier war zu groß. Obwohl ich in der Dunkelheit gar nichts sehen konnte, öffnete ich den Kistendeckel weiter und weiter. Die Schranktüre führte ich mit der rechten Hand an meinen Rücken, wo ich sie anlehnte. Meine rechte Hand ließ nun die Schranktür los und griff langsam in die Kiste. Das fühlte sich ähnlich wie auf dem Deckel an. Die Kiste schien voll zu sein. Mit der Rechten tastete ich und hörte jetzt ein ganz leises Rascheln. Dieses Rascheln kannte ich. Es konnte nur von Papier kommen. Eine Kiste voll Papier! Wie langweilig!

Plötzlich ertönte ein lautes Knarren, dann polterte es und ein lauter Schlag einer Tür knallte. Der Lärm kam von unten. Es war die Speichertüre. Ich erschrak so, dass ich den Kistendeckel fallen ließ. Das war ohrenbetäubend. Staub kitzelte in meiner Nase.
„Bernado, wo steckst Du? Komm sofort her!“, schrie der Feriengroßvater von unten zu mir hinauf.

Ich zitterte, zwang mich so laut ich konnte zu rufen:
„Ich komme! Ich komme sofort!“

Die Schranktüre schob ich vorsichtig zu. Es war wieder totenstill. Ich drehte mich um. In dem schwachen Lichtschimmer sah ich aufgewirbelten Staub in der Luft. Einige Meter vor mir Richtung Treppe, lag ein Stück Papier auf dem Boden. Das hatte vorher noch nicht dort gelegen! Ich war ganz sicher. Beim Betreten des Schrankzimmers hatte ich den Fußboden durch das einfallende, schwache Licht gesehen. Ich erkannte meine Fußspuren im Staub auf dem Boden. Das Papier lag auf einem meiner Fußabtritte im Staub. Ich hob den Fetzen auf und stopfte ihn in meine Hosentasche. Von unten hörte ich den Feriengroßvater wütend auf und ab stampfen, er schrie:
„Bernado sofort zu mir!“

Ich polterte die Treppe hinunter. Was mir einfalle, auf dem Speicher herum zu turnen! Das sei eine ganz schlimme Pflichtverletzung! Der Feriengroßvater schnaubte vor Wut über mich.
„War es mir erlaubt, den Speicher zu betreten? Nein! Das war es nicht!“
Er brüllte mich fragend an, antwortete sich aber selbst ohne eine Antwort von mir abzuwarten. Weil es nicht erlaubt war, schrie der Feriengroßvater mich an, war es eindeutig verboten!

Am Anfang der Ferien hatte ich zugesichert, nur zu tun, was zwischen uns beiden klar vereinbart worden war. Der Feriengroßvater hatte das in seinem Arbeitszimmer mit mir besprochen. Spielen und Herumlungern auf dem Speicher waren nicht vereinbart worden.

„In einem fremden Haus verhält man sich anständig und vor allem ehrlich!“

Ich sei ein hinterhältiger Saukerl! Er schrie sich in Rage. Freundlichkeit, Bescheidenheit und Zurückhaltung den ganzen Tag vor zu spielen sei bösartig. Es stecke eine betrügerische Absicht dahinter.

Ich verstand nicht, was er damit meinte, welche betrügerische Sache ich auf dessen Speicher mit den vielen uralten Sachen im Schilde führen könnte. Er ließ mich nicht zu Wort kommen, stattdessen schrie er:
„Mit deiner Verlogenheit ist jetzt Schluss! Was du dir erlaubt hast, ist eine Unverschämtheit, die ihresgleichen sucht!“

Die Ferienmutter hatte wohl von Büchtler nicht nur gehört, dass ich ein guter Schwimmer war, sondern auch ein besonders schwer zu erziehendes Kind.

„Es ist eine Unverschämtheit, mich so zu hintergehen! Menschen, die dir ihre Hand reichen, versuchst du skrupellos hinters Licht zu führen!“

„Befohlenem ist zu gehorchen! Gerade Du hast zu gehorchen! Dir werden wir Deine Verlogenheit schon noch austreiben!“
Ich hatte bewiesen, dass ich nicht einmal die leichteste Übung bestand. Statt Pflichterfüllung: Vertrauensmissbrauch.
„Für einen deutschen Jungen beschämend! Statt Dank ein versuchter Diebstahl!“
Die großzügige Hand, die der Feriengroßvater mir entgegen gestreckt hatte, versuchte ich auszunutzen.
„Ein dahergelaufener Kerl aus einer Erziehungsanstalt! Das hab ich im Leben nicht erlebt, nicht mal im Krieg!“

Er schickte mich in mein Zimmer. Er werde die Sache mit seiner Tochter besprechen. Stunden später überbrachte mir die Ferienmutter die Entscheidung, die beide gemeinsam getroffen hatten.

„Das gibt Dir die Zeit, über Dein niederträchtiges Verhalten nachzudenken!“

Die letzten vier Tage der Ferien auf dem Gehöft sollte ich in meinem Zimmer verbringen.

Ich lag auf dem Bett in meinem Ferienzimmer. Der Hausarrest sollte noch drei weitere Tage dauern. Ich starrte an die Decke mit der weißen Ballonlampe. Darüber lag der Speicher.

5. Die Jagd

Der Feriengroßvater ging jeden Abend um halb zehn Uhr aus dem Haus. Vor drei Tagen hatte er am Abendbrottisch gesagt, dass ich mitkommen sollte in den Wald. Ich war überrascht, denn wir hatten zuvor darüber nicht gesprochen. Er war nicht sehr gesprächig. Er sagte, ich solle Jacke und Pullover mitnehmen, denn auf dem Jägerstand könne es nachts schon mal frisch und windig sein.

Wir trafen uns pünktlich um halb zehn vor der Eingangstür des Wohnhauses. Er trug grüne Kleidung, wie ich sie mir bei einem Jäger vorstellte, dazu über der rechten Schulter ein großes Gewehr. Ich lief neben ihm über den grob gepflasterten Hof. Auf der anderen Seite schlugen wir rechts in einen kleinen Feldweg Richtung Wald ein.

Dort stand ein alter Kirschbaum mit süßen Kirschen. Die Feriengroßmutter schickte mich stets nach dem Abendessen hinauf. Ich könne mir noch eine kleine Nachspeise einverleiben so wie es die Vögel tun. Der Baum war ein toller Kletterbaum. Ich konnte an ihm beinahe bis ganz oben hinaufsteigen.

Weil wir Kinder bei Büchtler regelmäßig über die Bergwiese hinauf in den Wald liefen, um dort auf Bäumen herum zu klettern, hatte ich keine Angst auf solch einem Baum bis ganz nach oben hinauf zu steigen. Die besten Baumhütten waren schwer zu erreichen, weil wir sie ganz oben in die hohen Baukronen hinein gebaut hatten. Je höher es einer geschafft hatte, gestohlene Bretter in eine Baumkrone zu schaffen und mit gestohlenen Nägeln und Schnüren eine ebene Fläche zu zimmern, als Grundlage für eine winzige Hütte, desto mehr Bewunderung war ihm gewiss.

Die verwegensten Konstruktionen bauten Michael und dessen erkaufte Helfer. Schuldner in den Diensten des Geldeintreibers waren bereit für den Bau seiner hoch im Baum liegenden Hütte in die umliegenden Scheunen und Ställe einzubrechen. Dort stahlen sie Nägel, Zangen, Hämmer und Holzbretter. Michaels Hütte stand auf der höchsten und wahrscheinlich ältesten Buche unserer Waldlichtung. Dort trieben wir uns beinahe jeden Nachmittag herum. Seine Baumhütte war in den letzten Metern nur über ein Seil zu erreichen. Er hatte alle Äste in der oberen Krone abgesägt. Michael nahm ein Seil mit einem Haken, warf es vom letzten Ast vor der Hütte hinauf. An dem Seil hangelte er sich hoch. Anderen denen er Zutritt gewährte, warf er von oben eine selbst gemachte Strickleiter entgegen. Der mächtige Geldverleiher thronte auf dem höchsten Wipfel unserer Waldlichtung. Zu ihm hatten wir aufzublicken.

Um das Baumhaus von Michael rankten sich viele Geschichten. Die am häufigsten genannte war, dass es sich lohnen würde, bei Nacht hinaufzusteigen und einzudringen, weil Michael dort Geld deponiert habe. Davon erzählte Hartwig, mit dem ich bei Büchtler in einem Zimmer wohnte. Er habe Michael einmal beobachtet, wie der mit einer vollen Plastiktüte hinaufgestiegen sei und ohne diese wieder heruntergekommen war. Sicher, so meinte Hartwig, habe er da oben auch Lebensmittel und andere Dinge deponiert. Er hatte Schulden bei Michael, aber mehr als ich und seit viel längerer Zeit. Hartwig träumte davon, sich an Michael zu rächen. Das würde er aber nie alleine tun, weil er zu viel Angst hatte. Ich hätte mich gerne mit Hartwig verbündet, um gegen Michael vor zu gehen. Das wäre mir nur zusammen mit einem anderen Jungen gelungen, denn allein wäre ich viel zu schwach gewesen. Aber ich vertraute Hartwig nicht.

Er sprach über Michael, dass ich das Gefühl hatte, er wollte am liebsten zu dessen Geldeintreibern und Bretterdieben gehören. Um das zu erreichen, hätte er sich Respekt verschaffen müssen. Er hätte Michael mit dessen Waffen imponieren müssen: Gewalt, Macht und Angst. Mindestens eine dieser Waffen hätte Hartwig gegen ein anderes Kind einsetzen müssen. Damit hätte Hartwig Michaels Sprache beherrscht. Das hätte bedeutet, dass er es wert gewesen wäre, einer von dessen Geldeintreiber zu werden.

Hartwig schaffte es nicht. Er kam nicht von seinen Schulden bei Michael weg. Er wurde ständig von dessen Helfern verprügelt, weil er immer wieder nicht bezahlte. Samstags im Berchtesgadener Hallenbad machte er stets den gleichen Fehler. Währenddessen Büchtler, akkurat mit gespitztem Bleistift sein Kassenbuch führte, um an dreißig Kinder das Taschengeld auszuzahlen, gelang es Hartwig ab und an, durch die Menge der Kinder vorbei an den Besuchern des Hallenbades zu verschwinden:
Büchtler saß an einem winzigen Tisch im Eingangsbereich. Wir drängten uns um den Tisch. Die Besucher des Hallenbades drückten sich an uns vorbei. Weil Michael und seine Helfer in diesen Minuten auch ihr Taschengeld ausbezahlt bekamen, konnte ein kleiner Hartwig immer wieder aufs Neue flüchten. Er lief eilig nach Berchtesgaden hinauf, um dort sein Taschengeld für Süßigkeiten auszugeben.

Die Geldeintreiber kümmerte das aber eher wenig. Sie erwischten Hartwig dann halt nachmittags oben im Wald. Wenn sie ihn da nicht fanden, griffen sie am Sonntag zu. Dass Hartwig das Spiel ständig wiederholte, verstand ich nicht. Seine Schulden nahmen wegen der Zinsen schnell zu. Ich konnte mit ihm darüber aber nicht reden, denn ich hatte kein Vertrauen zu Hartwig, genauso wenig wie zu andern Kindern in Büchtlers Haus am Obersalzberg.

Bei Büchtler in Berchtesgaden spielten wir Kinder miteinander im Wald oder auf dem Speicher, doch dabei bestahlen wir uns gegenseitig und wir prügelten aufeinander ein. Hatte ich von meinem Taschengeld etwas nicht ausgegeben und auch nicht an Michael zurückzubezahlen, musste ich das sehr gut verstecken. Ich verstaute es in einem Briefumschlag in meiner Matratze. Ich achtete genau darauf, dass Hartwig davon nichts bemerkte. Ich wählte einen Zeitpunkt. an dem Hartwig nicht in unserem gemeinsamen Zimmer war. Samstagabends, während Hartwig sich im Bad die Zähne putzte, hatte ich dazu Gelegenheit. Einmal hatte ich meine kleine Geldbörse mit einer Mark Taschengeld nachts in der Hose auf meinem Stuhl neben dem Bett liegen gelassen. Am nächsten Tag war die Geldbörse leer. Seitdem vertraute ich weder Hartwig noch einem anderen Kind in Büchtlers Haus.

Büchtler war mächtig und stark wie Michael. Das zeigte er uns ständig. Fast täglich schlug er ein Kind, indem er Ohrfeigen oder Kopfnüsse verteilte. Manchmal gab es auch Faustschläge. Hin und wieder war Büchtlers Schlag so kräftig, dass ein Kind durch eine Glasscheibe flog oder eine Treppe hinunter stürzte. Büchtler war unser Erzieher und unser Vorbild. Er erzog uns, indem er uns Kinder dauerhaft verängstigte. Das tat er so lange, bis wir, wie er es nannte, „parierten“. Hatte er das erreicht, verwendete er weiter seine Angst machenden Methoden, indem er uns seine hasserfüllte Haltung täglich zeigte, durch Auftreten und Worte. Das war die Erziehungsmethode, mit der er uns Kinder, wie er es nannte, „im Griff“ hatte. Deshalb schickten Jugendämtern über etwa dreißig Jahre Kinder in das Kinderheim von Büchtler nach Berchtesgaden und bezahlten Büchtler.

Am Obersalzberg gab es damals zwei Menschen, die ich abgrundtief hassen gelernt hatte: Michael und Büchtler. Deshalb begann ich mich für alles zu interessieren, was anders aussah als das, was Büchtler und Michael demonstrierten. Ich wollte beiden nicht hinterherlaufen, wie Hartwig es tat. Ich wollte mit den beiden so wenig wie möglich zu tun haben.

Auf dem Bett liegend starrte ich den Kopf voll mit diesen Gedanken an die weiße Raufasertapete. Die Ballonlampe warf ihren schaukelnden Schatten an die Wand. Nicht an Büchtler, Hartwig und Michael denken! Meine Aufgabe war es, über das hier und jetzt auf diesem Gehöft nachzudenken.

Der Feriengroßvater war mit mir in der Dämmerung den Feldweg entlang gelaufen. Auf dem Weg hatten wir nicht gesprochen. Hartwig, Michael und Büchtler waren mir unterwegs eingefallen. Ich hatte daran gedacht, dass vielleicht Michael der bessere Gast beim Feriengroßvater wäre.

Die Ruhe des Hausarrestes sollte ich nutzen, um über das nachzudenken, was ich auf diesem Hof Schlimmes getan hatte. Das war meine einzige Aufgabe. Stattdessen fiel mir die Jagd ein, weil ich da an Menschen wie Michael und Büchtler am Obersalzberg gedacht hatte, die ich viel schlimmer fand als mich. Die Ferienmutter wusste nicht, dass ich ständig über das nachdachte, was um mich herum geschah. Um das zu tun, brauchte ich keine Strafe wie diesen Hausarrest. Nachzudenken war bisher für mich eigentlich gar keine Strafe.

Ich dachte aber nicht nur über mich nach, sondern in meinem Hausarrestzimmer merkte ich, dass ich immer verleitet war, über das nachzudenken, was gar nicht die Strafaufgabe war: Ich fragte mich, wer wohl eigentlich der Feriengroßvater war, bei dem ich die Ferien seit über drei Wochen verbrachte, der bisher kaum mit mir gesprochen hatte. War er einer wie Büchtler? Auch Büchtler sprach wenig mit mir und den anderen Kindern. Fängt der Feriengroßvater, wenn ich noch länger hier bliebe, bald an zu schlagen?

Ich hörte den Kies unter unseren Schuhen knirschen. Bei klarem Sommerwetter begann die Nacht erst gegen Mitternacht. Der Feldweg führte in einen Laubwald. Nach etwa fünf Minuten im Wald führte er zu einer kleinen Kreuzung. Rechts und links zweigten zwei Trampelpfade ab. Wir nahmen den Rechten. Er führte nach einigen Hundert Metern ganz leicht bergan. Es gab in der Gegend keine Berge wie rund um Berchtesgaden. Nicht einmal Anhöhen gab es, das waren eher leichte Erhebungen. Genau auf solch eine leichte Erhebung führte uns der Trampelpfad. Er führte an den Waldrand mit Blick über ein offenes, bereits abgeerntetes Feld. Das Feld umstand von allen Seiten der Wald. Auf der Erhebung am Waldrand, genau an dessen höchstem Punkt, erhob sich der Jägerstand des Feriengroßvaters. Der ideale Standort, um das Feld und die Waldränder im Überblick zu haben.

Nachdenken über die Verletzung meiner Pflichten sollte ich, das hatte die Ferienmutter mit dem Feriengroßvater besprochen. Warum ich nicht dankbar sei, dass ich hier im Hause des Feriengroßvaters sein durfte, sondern stattdessen versuchte den Feriengroßvater zu bestehlen. Und warum ich mir solch eine Unverschämtheit leistete gegenüber denjenigen, die mich unterstützten. Darüber versuchte ich jetzt nachzudenken:
„Ich weiß nicht warum.“ Das war meine einfache Antwort. Das aber wäre der Ferienmutter und dem Feriengroßvater zu kurz gewesen. Allein schon diese Kürze war wieder eine große Unverschämtheit. Ich hatte Tage Zeit und sagte: Ich weiß es nicht. Das war eine Frechheit! Je länger ich auf dem Bett lag, je genauer ich darüber nachdachte, also die Aufgabe ernst nahm und die Zeit dafür nutzte nachzudenken, so wie es die Aufgabenstellung des Hausarrestes war, desto mehr fielen mir anstatt Antworten Fragen ein. Ich fand keine Antwort darauf, warum ich meine Pflichten verletzt hatte, warum ich undankbar gewesen war, warum ich unverschämt geworden war und warum ich den Feriengroßvater bestehlen wollte. Ich wusste nicht, was ich zu stehlen versucht hatte. Ich wusste nicht, welche „Unverschämtheit“ ich begangen hatte. Ich wusste nicht, worüber ich nachdenken sollte und warum ich den Hausarrest bekommen hatte. Das nicht zu begreifen war unverschämt gegenüber den Erwachsenen.

Wegen der vielen unbeantworteten Fragen in meinem Kopf wurde die Aufgabe im Hausarrest immer länger, immer schwieriger, immer größer und schwerer. Deshalb wurde ich nervös und zappelig. Ich sprang hastig vom Bett auf, lief zum Fenster, schlug mir mit der platten Handoberfläche ein paar Mal an den Kopf. Da stimmte doch was nicht in meinem Kopf! Warum kamen in meinem Kopf immer mehr Fragen? Ich wollte endlich Klarheit! Je mehr ich nachdachte, umso mehr Fragen. Warum? Ruhe bewahren! So kommst du nicht weiter Bernado! Ganz ruhig bleiben und noch einmal mit dem Denken von ganz vorne anfangen! Das hätte jetzt bestimmt die Lehrerin zu mir gesagt.

Ich ging langsam zum Bett zurück. Meine beiden Hände pressten sich an meinen Kopf, als wollten sie ihn aus wringen, bis er leer war, damit ich mit der Aufgabe dieses Hausarrestes mit einem leeren neuen Kopf noch einmal von vorne los legen konnte. Ich setzte mich auf die Bettkante. Ich ließ meinen Kopf los. Ich sagte zu mir: Jetzt ist mein Kopf leer! Jetzt fange ich von vorne an. Ich fragte mich: Was ist meine Pflicht, die ich hier verletzt habe? Sofort schoss es durch meinen Kopf: Falsch Bernado! Du solltest nicht fragen! Es ist deine Aufgabe zu antworten! Ich legte mich wieder hin, starrte an die Decke. So geht das nicht!

Der Feriengroßvater hatte mir auf dem Weg zum Jägerstand zu verstehen gegeben, dass dort oben nicht gesprochen wurde. Ganz leise beobachteten wir also das in der Dämmerung liegende Feld und die Waldränder rings herum. Hin und wieder kamen auf der andern Feldseite Hasen mit riesigen Ohren hervor. Die blieben aber meist so weit weg, dass der Feriengroßvater nicht einmal seine Büchse anlegte. Auf dem Hochstand war ein Brett so montiert, dass die Büchse dort aufgelegt werden konnte. Durch das Zielfernrohr ließ mich der Feriengroßvater die Hasen auf der anderen Feldseite beobachten. Sie hoppelten dort munter herum, verschwanden im Wald und kamen wieder hervor.

Erst nach zwei Stunden auf dem Hochstand wurde es ernst. Da erschien am Waldrand auf der rechten Seite in der Dämmerung ein großer Hirsch. Der Feriengroßvater zog am Gewehr, durch dessen Zielfernrohr ich immer noch die Hasen beobachtete. Ich setzte mich auf die äußerste Seite des Sitzbrettes. Der Feriengroßvater lud in aller Ruhe das Gewehr. Dann legte er es auf das für diese Zwecke konstruierte Brett und blickte konzentriert durch das Zielfernrohr. Gespannt beobachtete ich das alles.

Der Hirsch stand genauso wie er vor Minuten dort erschienen war am Waldrand. Er rührte sich nicht. Der Feriengroßvater führte langsam den Finger seiner rechten Hand an den Abzug. Erst jetzt wurde mir klar, was kommen würde. Ich presste mit beiden Händen meine Ohren zu. Trotzdem hörte ich einen ohrenbetäubenden Knall. Aus dem Gewehr stieg dicker Qualm auf. Den fächerte der Feriengroßvater hastig beiseite. Er blickte angestrengt zum Waldrand. Ich tat es ihm gleich. Der Hirsch stand nicht mehr dort. Ich erkannte einen dunklen Punkt auf dem abgeernteten Feld. Der Feriengroßvater nickte zufrieden.
„Das war ein Treffer!“

Er schulterte die Büchse und kletterte die Leiter des Hochstandes langsam hinab. Ich folgte ihm. Unten lud der Feriengroßvater sein Gewehr erneut. Das wunderte mich.
„Das Tier könnte noch leben. Bleib Du weit genug weg!„

Ich lief in weitem Abstand hinter dem Feriengroßvater her. Wir näherten uns dem dunklen Punkt am Feldrand. Nur noch wenige Meter entfernt, hörte ich ein leises Röcheln und Schnauben. Der Hirsch lebte noch. Der Feriengroßvater deutete mir, ich solle bleiben, wo ich war. Ich nickte. Er näherte sich langsam dem Tier. Er legte erneut die Büchse an. Ich drückte meine Hände an die Ohren. Der Knall war leiser als zuvor.

Eigentlich wollte der Feriengroßvater das Tier mit dessen Hufen an einer langen Stange festbinden, die er vom Hochstand geholt hatte. Es sollte an der Stange baumelnd, auf unser beider Schultern lagernd zum Hof getragen werden. Das entsprach dem Bild, das ich von Jägern im Kopf hatte. Der Versuch, die Beine des Tieres an die Stange zu binden, funktionierte mit meiner Hilfe nicht. Das Tier lag ungünstig auf dem Feld. Wir versuchten den Körper in eine geeignete Position zu bringen, um es an den Füßen anzubinden. Mir fehlten aber die Kräfte. Mir war schlecht geworden. Ich fühlte mich schwach. Mein Kreislauf spielte nicht mehr ordentlich mit.

Der Schädel des Tieres war bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt worden. Das Geweih war dem Tier schon von der ersten Schrotladung, die der Feriengroßvater vom Hochstand aus abgefeuert hatte, vom Schädel gerissen worden. Der Feriengroßvater fand es einige Meter entfernt auf dem Feld. Er zeigte es mir. Er streckte es mir entgegen wie eine Trophäe. Er erklärte etwas über das Geweih, was ich aber nicht verstand, weil ich trotz der Dämmerung erkannte, dass ein Stück vom Schädel des Tieres daran herunter hing. Das aber kümmerte den Feriengroßvater nicht. Ich sah an dem Geweih einen Teil des Gehirns des Tieres. Ich sah Blut und einen verschmierten Fetzen, der da baumelte. Daran hing ein Auge. Das Auge schwabbelte immer wieder zwischen Boden und Geweih des Tieres auf und ab, während der Feriengroßvater mit dem Geweih gestikulierend vor mir stand.

Ich sog die frische Luft der Sommernacht tief in mich ein. Ich setzte mich hin, weil ich nicht riskieren wollte, umzukippen. Mein bleiches Gesicht drehte ich weg, damit der Feriengroßvater es in der Dämmerung nicht sah. Ich kniete mich auf dem Feldboden vor dem toten Tier nieder und tat so, als wollte ich es besser betrachten. Ich konnte mich nicht einfach auf das Feld legen und tief atmen, bis meine Kreislaufschwäche vorbei war. Das hätte dem Feriengroßvater klar gezeigt, dass ich für die Jagd ein völlig ungeeigneter Begleiter war. Ich musste das durchstehen, es gehörte zum normalen Alltag auf dem Hof. Tiere wurden gejagt, getötet, ausgenommen, zerteilt, zubereitet und gegessen.

Das Geweih mit den blutig herabhängenden Fetzen, dem herausgerissenen Auge und den anderen triefenden Tierteilen interessierte mich überhaupt nicht. Trotzdem zwang ich mich zum Feriengroßvater aufzublicken. Er hielt das Geweih immer wieder in die Höhe und erklärte Dinge, die ich nicht verstand, denn ich konnte wegen meiner Kreislaufschwäche dessen Stimme nicht mehr hören. Ich kannte das. War ein Kreislaufzusammenbruch schlimm, hörte ich ein hohes Rauschen in den Ohren. Die Geräusche der Menschen um mich herum konnte ich noch hören, aber ich verstand deren Worte nicht mehr. Das dauerte Minuten. Dann verschwand mein Schwindel und ich hörte Stimmen wieder normal.

Der Feriengroßvater gestikulierte und hielt immer wieder das Geweih vor mein Gesicht. Ich wusste, dass ich mich auf meinen Atem konzentrieren musste, um meinen Kreislauf wieder hochzubringen. Ich blieb auf den Knien vor dem toten Tier und sog die kühle Sommerluft tief ein. Langsam, als würde ein Lautstärkeregler hochgedreht und gleichzeitig ein Radiosender klarer eingestellt, hörte ich den Feriengroßvater wieder. Das Geweih hatte er mitten auf den Feldweg gelegt. Jetzt verstand ich, was er sagte. Er gab mir Anweisungen in welche Richtung ich an den Hinterläufen des Tieres ziehen sollte, um es mit ihm zusammen für den Abtransport in die richtige Lage zu drehen. Ich hatte keinerlei Kräfte dafür. Der Kreislaufzusammenbruch hatte mich geschwächt. Ich brauchte Zeit, um mich zu sammeln. Ich atmete so tief ich konnte durch.

„Das geht so nicht! Wir müssen den Handwagen holen!“
Auf dem Feldweg liefen wir langsam durch die Nacht Richtung Gehöft. Der Feriengroßvater hatte das Geweih über seine Schulter gelegt. Der daran baumelnde Teil vom Schädel des Tieres interessierte ihn immer noch nicht. Ich lief so weit wie möglich rechts vom Feriengroßvater. Ich trug dessen schwere Büchse. Ich schleppte sie mit dem Gurt auf der rechten Schulter. Ob ich mit der schweren Schrotflinte schießen könnte? Worauf würde ich zielen? Den Feriengroßvater?

Der finstere Waldrand neben dem Feldweg und dessen langsam vorbei ziehende Baumwipfel erinnerten mich an den Obersalzberg und an Büchtler in dessen Haus ich seit vielen Jahren lebte. Auf den würde ich zielen! Die schwere Büchse müsste ich allerdings irgendwo auflegen, so wie der Feriengroßvater das auf dem Hochstand getan hatte. Durch das Zielfernrohr könnte ich Büchtler genauso wie ich die Hasen am Feldrand ins Visier genommen hatte, anvisieren. Ob ich abdrücken würde? Dessen fiese Witze, wenn er mich mit Abendessensentzug bestrafte und mich als „Armleuchter“ beschimpfte, dessen knallharte Ohrfeigen und Kopfnüsse, vor allem dessen Magenschwinger und Faustschläge, das alles hasste ich so sehr, ich würde nicht zögern abzudrücken.

Blut und Hirn des Schädels am Geweih stanken fürchterlich. Als wir zum Trampelpfad durch den Wald gekommen waren, vergrößerte ich den Abstand zum Feriengroßvater. Ich versuchte dem Gestank zu entgehen, hielt mich rechts am Waldrand, versuchte die kühle Luft des Waldes zu riechen. Aber der Gestank des vor mir laufenden Feriengroßvaters zog mir direkt in die Nase. Würde Büchtlers zerschossener Kopf auch so stinken? Mir wurde wieder schlecht. Ich spürte meinen Magen, der zu rebellieren begann. Ich versuchte an etwas anderes zu denken.

Ich wollte nicht, dass der Feriengroßvater bemerkte, dass ich das Jagdabenteuer nur mit größter Mühe schaffte. Meine Schwäche wollte ich diesem Mann auf keinen Fall zeigen. Ich war froh, dass mir nicht so schlecht wurde wie am Feldrand neben dem getöteten Hirschen. Ich konzentrierte mich auf mein tiefes Atmen. Ich dachte nicht mehr an Büchtler und dessen zerschossen Kopf und an Michael, den ich mit der Schrotflinte auch erschießen würde, weil er mich oft auf der Toilette im Haus bei Büchtler am Obersalzberg so verprügelt hatte, dass ich minutenlang benommen auf der Kloschüssel liegen blieb. Ich schaffte den Trampelpfad. Das letzte Stück zum Gehöft verlief wieder auf dem breiteren Feldweg. Da ging ich rechts neben dem Feriengroßvater. Dort stank es nicht mehr so fürchterlich nach dem Hirn vom toten Hirschen.

Der Feriengroßvater sprach auf dem Feldweg kein Wort. Alles zu seinem Jagderfolg hatte er zuvor schon erklärt. Weil ich ihm am Feldrand aber nicht hatte zuhören können, wusste ich nichts. Ich hatte trotzdem so getan, als hörte ich zu. Ich nickte und spielte Verständnis und Interesse vor, obwohl mein Kreislauf zusammengebrochen war und ich das Rauschen und den hohen Ton in den Ohren hatte.

Ich tat das sehr oft in der Berchtesgadener Bacheischule und im Haus von Büchtler am Obersalzberg. Ich nickte und blickte aufmerksam zum Sprechenden. Ich bestätigte damit, zu verstehen worum es ging. Wenn aber Rückfragen kamen, warfen die mich aus dem Konzept. Meist kamen keine Rückfragen. Kinder wie ich wurden nicht gefragt.

Fragen des Feriengroßvaters waren keine Fragen an mich, denn er beantwortete sie stets selbst. Am Feldrand hatte er mir alles erklärt, was er zu dem erlegten Tier erklären wollte. Weil mir so schlecht geworden war, hatte ich all meine Aufmerksamkeit auf meinen Atem, aber auch den dozierenden Feriengroßvater gerichtet. Ich erkannte dabei nicht, dass er mich etwas gefragt hatte. Ein Mensch, der fragt, schweigt nach seiner Frage, um eine Antwort zu erhalten. Ich sah den Feriengroßvater erklären und mit dem Geweih des Tieres gestikulieren. Da war kein wartendes Schweigen. Der Feriengroßvater war ein Mensch, zu dem ein Kind wie ich nur dann zu sprechen hatte, wenn er es dazu aufforderte. Ich hatte das Gefühl, dass der Feriengroßvater junge Leute generell nur schwer ertragen konnte. Was er gar nicht ertrug, war einer wie ich, der Schwächen zeigte. Einen Mann, der auf der Jagd zusammenklappte, gab es nicht. Der Feriengroßvater wusste, dass ich zusammengeklappt war. Darüber aber sprachen wir beide nicht. Das war ähnlich wie beim Versteckspiel auf dem Speicher. Jeder blinzelte, jeder wusste das, aber keiner sagte etwas.

Der Feriengroßvater war der einzige, der bei Tisch ein Gespräch eröffnete. Die Feriengroßmutter stimmte dessen Ausführungen immer uneingeschränkt zu. Die Ferienmutter antwortete stets auf Fragen. Sie erzählte zu manchen Dingen auch mal etwas. Sie berichtete aus ihrer Erfahrung in Berchtesgaden. Ich schwieg und hörte zu. Eine wichtige Regel auf dem Gehöft war es, zu schweigen. Bei Tisch sprachen nur Erwachsene.

Ich fand Schweigen nicht schwer. Ich fand es gut, nur zuhören zu müssen. Am besten fand ich es, wenn ich von einem Gespräch gar nicht betroffen war. Dann nämlich war die Gefahr gering, etwas nicht oder falsch zu verstehen. Es gab dann nichts zu überhören, was mich betraf und es gab nichts miss zu verstehen. Das hatte ich bei Büchtler am Obersalzberg über lange Zeit gelernt. Anfangs überhörte ich oft etwas, das mich betraf, weil ich nicht ordentlich zugehört hatte. Weil ich eh nicht mitreden durfte, schaltete ich frühzeitig ab. Ärger war dann nicht weit. Ich lernte deshalb bei Büchtler immer besser zuzuhören, auch wenn die meisten Dinge mich nicht betrafen. Ich fürchtete Ärger, weil ich etwas überhörte.

Er hatte gesagt, dass es für mich da oben nur mein Zimmer gäbe. Damit meinte er im Grunde, dass der Speicher für mich tabu wäre. Wahrscheinlich hatte er ihn auch deshalb nicht erwähnt, weil er wusste, dass ich ihn ohnehin nicht finden würde. Ich hätte besser zuhören müssen. Dann hätte ich verstanden, dass es dort oben einen Speicher gibt, den ich nicht betreten durfte. Tatsächlich hatte ich den Speicher nicht gefunden. Es waren die Freunde, die wussten, dass es ihn gab und wo er zu finden war.

6. Krieg

Am Mittagstisch saß neben mir noch ein anderer junger Mensch. Paula war ein Aupairmädchen aus England. Die Feriengroßeltern hatten sie für die Ferienzeit von Nachbarn ausgeliehen. Paula schwieg bei Tisch, so wie ich. Sie hatte einen anderen Grund zu schweigen. Sie war gekommen, um Deutsch zu lernen. Sie sprach noch sehr schlecht Deutsch.

Paula wurde vom Feriengroßvater wie ein Küchenmädchen behandelt. Sie hatte von morgens bis abends im Haushalt zu arbeiten. Sie hatte der Feriengroßmutter, die das Regiment führte, beim Kochen zu helfen. Sie war zuständig zu Waschen, zu Bügeln, den Hof zu kehren, das Treppenhaus und die Zimmer zu putzen und sie hatte sich dabei ruhig zu verhalten. Dabei sollte sie Deutsch lernen.

Der Feriengroßvater war groß, stark und mächtig. Es war selbstverständlich, dass auf seinem Hof geschah, was er geschehen lassen wollte. Dazu brauchte er keine langen Worte. Er war es nicht gewohnt, seinen Hof oder gar sich selbst auf seinem Hof zu erklären. Jemandem wie mir, der dort neu erschien oder Paula, die nicht einmal die deutsche Sprache beherrschte, brauchten die Hofregeln nicht lange erklärt zu werden, denn sie waren in den Augen des Feriengroßvaters selbstverständlich.

Im Schuppen auf dem Gehöft lud ich das Surfbrett von dem Handwagen ab. Mit dem leeren Wagen wartete ich im Innenhof. Es war eine laue, warme Sommernacht. Rings um den Hof war es sehr still, kein Lüftchen regte sich. Aus der Ferne hörte ich ein Auto. Zunächst glaubte ich, der Wagen fahre auf der Landstraße unterhalb des Gehöftes vorbei. Dann sah ich am Himmel über dem Hof Scheinwerferlicht. Sekunden später passierte ein alter Peugeot die Eingangstür des Wohnhauses und rollte knatternd auf den Hof. Robert stieg aus dem Wagen. Sein Vater saß am Steuer. Robert kam direkt auf mich zu. Begeistert rief er:
„Na, ihr habt einen mords Fang gemacht?“ „Ja, ein Riesenvieh.“ „Du siehst aber etwas fertig aus. Bist du müde?“
Ich nickte und sagte: „Naja, schon etwas.“

Roberts Vater reichte mir die Hand. Er fragte, ob ich denn überhaupt zum Abtransport des Tiers mitkommen wollte, so müde wie ich aussah. Das war meine Chance. Ich zuckte die Schultern.
Roberts Vater: „Wir schaffen das auch ohne dich!“

Endlich wurde klar, dass der Jagdabend beendet war. Jetzt erschien der Feriengroßvater in der Tür des Wohnhauses. Auch für ihn schien klar zu sein, dass ich am Abtransport mit dem Handwagen nicht beteiligt sein würde. Die zwei marschierten mit Robert, der den Handwagen über den Innenhof zog, am Kirschbaum vorbei auf den Feldweg.

Am nächsten Tag sagte die Feriengroßmutter, dass heute jede Menge Arbeit anstehe. Der riesige Fang der Jagd in der letzten Nacht sei mittlerweile ausgeblutet. Nun gelte es, das Tier zu zerlegen. Sie fragte mich aber nicht, ob ich dem Feriengroßvater, der im Stall mit dieser Arbeit zu Gange war, helfen wolle. Das wollte ich auf keinen Fall. Ich wollte lieber mit dem Surfbrett hinaus aufs Meer.

In der Scheune traf ich auf den Feriengroßvater. In einer blutverschmierten Gummischürze stand er da. In der Hand hielt er ein riesiges Messer. Der Hirsch hing an einen breiten Balken mitten in der Scheune. Sein Schädel war vollständig abgetrennt. Unter dem Tierkörper stand eine große Schüssel voll Blut. Ich sah den Feriengroßvater, der mich schweigend und nickend begrüßte, um sich sogleich wieder dem toten Tier zuzuwenden.

Mein Blick fiel auf den Handwagen, den ich für das Surfbrett brauchte. Der Wagen stand seitlich von dem toten, hängenden Tierkörper. Ich ging am toten Hirschen und dem schneidenden Feriengroßvater vorbei, sog dabei einen Atemzug von Blutgeruch auf, ergriff die Deichsel des Handwagens und zog ihn aus der Scheune. Der Wagen war von Blut und Haaren verschmiert. Ich polterte mit dem Wagen über den Innenhof. Dort gab es einen Wasserhahn.

Mit dem Gartenschlauch spritze ich das Blut und alles andere vom Wagen ab. Dabei wurde mir schlecht. Ich begann zu würgen. Ich übergab mich. Der Boden neben der Wasserstelle war feucht und glitschig. Ich verlor das Gleichgewicht, ging in die Knie, konnte mich nicht mehr kontrollieren, sah plötzlich nichts mehr, denn alles war schwarz geworden. Ich stürzte auf ein Knie, fiel zu Boden. Jetzt schlug ich mit dem anderen Knie auf einer Steinplatte am Wasserhahn auf. Alles ging sehr schnell. Da spürte ich eine Hand unter meinem rechten Arm. Ich wischte mir mit dem linken Ärmel über die Augen und atmete tief durch. Jetzt wurde es wieder hell.

Es war Paula. Sie sprach kein Wort, sondern lächelte mich an. Stützend begleitete sie mich zur Eingangstür und sie reichte mir ein Papiertaschentuch. Sie setzte mich in die Küche an den riesigen, schweren Küchentisch. Dort stellte sie ein Glas Wasser hin. „Drink“, sagte sie und sie wiederholte: „Drink das.“

Sie verließ sie für einige Sekunden die Küche. Sie brachte Pflaster, eine Mullbinde und Jod. Vorsichtig tupfte sie mit dem Jod mein Knie ab. Ich biss die Zähne zusammen, sie lachte mich an: „Don’t worry, this hurts you only for a few seconds!“ Es brannte wie der Teufel. Ich war trotzdem froh, dass sie sich kümmerte. Das rechte Knie blutete ordentlich. Sie verband mir das Knie und erklärte: „No saltwater today. Ich lerne Deutsch“. Sie lachte mich an. Plötzlich standen Feriengroßmutter und Feriengroßvater in der Küchentür. Paulas Lachen verschwand. Beide stellten blutverschmierte Schüsseln und Messer auf die Küchenspüle. Der Feriengroßvater bedeutete Paula, dass sie das abspülen sollte. Paula wandte sich von mir ab und begann mit ihrer Arbeit an der Spüle.

Nachts schlief ich sehr unruhig. Schon nachmittags war starker Wind aufgekommen. Er toste um das in der Dunkelheit liegende Haus und peitschte Regen wie Wasserfontänen gegen die Fenster und Türen. Zwei Fensterläden hatten sich gelöst. Sie schlugen ständig im Wind hin und her, doch ihr Lärm wurde vom Rauschen des Sturms in den hohen Bäumen rund um das Gehöft übertönt. Der Wind war im Laufe der Nacht immer kälter geworden. Er hatte an Kraft ordentlich zugelegt und seine Richtung von Nordwest auf Nordost geändert. Starke Böen peitschten durch den Wald hinter dem Hof. Riesige Äste wurden dabei zu Boden gerissen.

Ich hatte mich tagelang in dem kleinen Wäldchen an dem Tümpel nahe dem Gehöft sicher gefühlt. Die hohen Buchen und die riesigen Tannen boten besten Sichtschutz. Sie waren von hoch gewachsenen Wiesen umgeben, die zusätzlichen Blickschutz boten. Der Herbst war nicht mehr weit, das bewiesen der Sturm und der plötzlich eiskalte Wind.

Ein gewaltiger Ast war von einer Buche herab gerissen worden. Er verfehlte mich knapp, traf mich aber noch mit einem Seitenarm, der auf meinen Kopf fiel. Mit der Rechten fuhr ich über meine Haare, glaubte dort warmes Regenwasser zu spüren. Der eiskalte Regen war wieder warm geworden wie im Sommer. Er fühlte sich in der Handfläche richtig schön an. Ich fuhr mir durch das Gesicht, wo der Regen sich auch schön warm anfühlte. Dabei spürte ich ein Gefühl von Glück, denn der Sommer mit seinem warmen Regen war in Verlängerung gegangen. Ich knipste meine Taschenlampe an. Ich hatte meinen Beutel verloren. Wahrscheinlich war er von dem Buchenast zu Boden gerissen worden. Ich leuchtete den feuchten Waldboden ab. Die Batterien der Lampe waren schwach. Sie gaben nur für Sekunden einen Lichtstrahl ab. Auf dem Waldboden sah ich im Schimmer der Lampe die Nässe von Regen und rote Farbe, die herabtropfte. In meinem Gesicht ertastete ich jetzt eine Wunde, fuhr mit meinen Fingern hinauf in mein Kopfhaar, wo ich eine Beule ertastete, die jetzt zu brennen begann.

Langsam näherte ich mich der Eingangstüre. Sie lag im Dunklen. Trotzdem erkannte ich an der hellen Wand neben der Türe einen großen schwarzen Fleck. Der Fleck verwirrte mich. Was hing dort? Geduckt näherte ich mich dem Eingang zum Gehöft, dabei jederzeit bereit, Schutz suchend in die Böschung neben dem schlammigen Ackerweg zu flüchten. Jetzt erkannte ich, dass neben der Eingangstüre ein frisches Hirschfell an der Wand hing. Es war dort zum Trocknen und Lüften an einem Holzrahmen aufgehängt worden.

Die Eingangstüre zum Gehöft war immer offen. Nicht so in dieser stürmischen Nacht. Blut tropfte auf den Fußabstreifer vor der Tür, gegen die ich mit Händen und Füßen einschlug. Der eisige Wind fuhr mir über den Rücken, sodass ich am ganzen Körper heftig zu zittern begann. Ich versuchte meinen Pullover und die Jacke zurechtzurücken, um dem peitschenden Wind keine Stelle zu bieten, an der er auf meine Haut vordringen konnte. Doch das gelang nicht, denn Pullover und Jacke suchte ich vergebens. Ich war mit schmutzigen Tüchern und Lappen bekleidet, die wie nasse Säcke an mir herunter hingen und in dem eisigen Wind gegen meinen knochigen, mageren Körper schlugen.

Endlich sah ich durch das Schlüsselloch der Türe einen schwachen Lichtstrahl. Von drinnen hörte ich das Klimpern von Schlüsseln. Die Tür öffnete sich, ich erkannte Paula, die matt und schläfrig vor mir stand.

Sie erschrak bei meinem Anblick, sagte aber kein Wort, sondern nahm mich bei der Hand, stützte mich bis in die Küche, wo ich neben dem gewaltigen Küchentisch ein Lager am brennenden warmen Ofen fand. Das Lager war mir in all den Tagen zuvor noch nie aufgefallen. Ich legte mich auf das warme Tuch des Lagers, neigte den Kopf zurück und sah zu Paula hinüber. Die stellte eine dampfende Wasserschüssel auf einen Hocker neben mir und begann meine Stirn mit einem Lappen abzutupfen. Es war die Schüssel, die Paula noch nachmittags vom Blut gereinigt hatte. Das dampfende Wasser färbte sich hellrot. Seine rote Farbe wurde mit jedem Auswringen von Paulas Lappen dunkler. Paula lächelte fürsorglich, sprach aber keinen Ton mit mir.

Plötzlich hörte ich sehr laute Schritte. Sie näherten sich vom Esszimmer, das direkt in das Arbeitszimmer führte. In der Esszimmertür erschien der Feriengroßvater. Er trug eine Uniform, an deren Revers eine Vielzahl von Orden geheftet waren. Es war die Uniform, die ich von Fotos in dessen Arbeitszimmer kannte. Sie hingen dort an der Wand, neben einem schweren Eichenschreibtisch. Ich hatte den Feriengroßvater in dieser Uniform auf den Fotos gesehen, während er mich am ersten Tag mit knappen Worten in seine Ordnung auf dem Hof eingewiesen hatte.

Jetzt blickte er streng und gehässig zu Paula, die ihr Lächeln sofort aufgab und erschrak. Er schrie sie unverständlich an, blickte dann zu mir, trat einige Schritte auf mich zu, aber sagte nichts. Seine Augen waren hasserfüllt. Anstatt zu sprechen, erhob er seinen Gewehrkolben. Das Gewehr hatte ich bislang noch gar nicht bemerkt. Ich schrie vor Angst, schreckte vom Lager auf, versuchte mich auf die Seite zu Paula zu drehen, die vom Stuhl neben mir aufgestanden war. Da spürte ich den heftigen Schlag des breiten, schweren Holzes. Der Schlag traf mich mitten im Gesicht. Ich spürte, wie meine Nase zermalmt und wie Brei in meinem Gesicht verteilt wurde. Backenknochen krachten, als würden Bretter hinter einer Tür durchbrochen. Mein Kopf fiel zurück auf das Lager. Ich sah Paula vor mir, wie sie versuchte, sich auf den Feriengroßvater zu stürzen, um mich zu schützen. Der aber stieß sie mit einem kräftigen Kolbenschlag von sich, sodass sie mit dem Rücken auf den Küchentisch geschleudert wurde.

In diesem Augenblick spürte ich einen gewaltigen, stechenden Schmerz und ein Pochen, das mein ganzes Gesicht überzog und sich von meinen Augen wie Feuer hinauf in den Kopf brannte, als würde eine klaffende Wunde in die salzige Ostsee gehalten. Meine Augen konnte ich nicht schließen. Trotzdem sah ich aber den Feriengroßvater minutenlang nicht mehr.

Vom Esszimmer hörte ich mehrere Männerstimmen. Sie lachten und redeten mit dem Feriengroßvater. Es waren drei Soldaten. Ich erkannte sie jetzt verschwommen vor mir. Es waren die drei, die auf dem Foto im Arbeitszimmer, rechts vom Eichenschreibtisch lachend neben dem uniformierten Feriengroßvater abgebildet waren. Sie trugen Armbinden mit Hakenkreuzen. Im Foto hielten sie triumphierend Maschinengewehre in die Luft. Es war ein vergrößertes Schwarz-weiß-Foto, in dessen Mitte der Feriengroßvater lachte, während er einem der drei die Hand schüttelte. Jetzt sah ich die Männer verschwommen, aber in Farbe. Ihre Armbinden waren rot. Sie standen mit ihren Gewehren direkt vor dem Küchentisch.

Mein Kopf pochte, da musste eine große Wunde sein. Ich spürte Blut, das über meine zertrümmerten Backenknochen lief und über meine zerfetzten brennenden Lippen in meinen Mund floss. Der Feriengroßvater zeigte mit seinem Gewehrkolben auf Paula auf dem Küchentisch. Die drei Männer lachten wie auf dem Foto. Der Feriengroßvater verschwand in das Esszimmer Richtung seinem Arbeitszimmer. Die Soldaten pressten Paula auf den Küchentisch. Einer riss ihr das Kleid herunter. Ich sah ihn, wie er die Schenkel von Paula auseinander drückte. Paula hörte ich nicht schreien. Ich hörte gar nichts, nur ein Rauschen und einen hohen Ton. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass es ganz still geworden war.

Sie hatte ihre Beine aneinandergepresst. Einer der Soldaten stieß jetzt den anderen von Paula weg. Der fiel zu Boden, denn er stolperte über seine herunter gelassene Hose. Der zweite Soldat stellte sich vor Paula an den Küchentisch. Er schlug Paula mit dem Gewehrkolben zwischen die aneinandergepressten Schenkel. Dann warf er sein Gewehr zu Boden, öffnete die Hose und ließ sie zu Boden fallen.

Ich erhob mich langsam, denn jetzt erkannte ich ein Gewehr direkt neben meinem Lager auf dem Boden. Ich hörte nichts, sah aber das stählerne Gewehr neben mir da unten. Ich setzte mich auf das Lager, bückte mich nach unten, wo ich tatsächlich mit der rechten Hand das Gewehr ergreifen konnte. In diesem Moment spürte ich in meinem Nacken einen sehr kräftigen Druck. Das war kein Schlagen, sondern es würgte mich fest. Ich versuchte mich aufzurichten, doch es gelang nicht. Jetzt wurde ich vom Lager zu Boden auf meine Knie gezwungen. Dort erkannte ich die glänzenden Jägerstiefel des Feriengroßvaters. Aber ich hörte ihn nicht. Ich versuchte zu ihm aufzublicken. Doch ich kam mit meinem Blick nur bis zur Tischkante. Dort erkannte ich das Gesicht von Paula. Sie hatte ihre Augen weit aufgerissen, ihr Gesicht war voll von Tränen. Sie liefen über ihre Wangen, ihr Mund war weit aufgerissen. In ihm steckte der blutige Lappen, mit dem sie zuvor meine Stirn abgetupft hatte.

Auf den Knien schleifte mich der Feriengroßvater am Tisch vorbei zur Küchentür. Zwei der Soldaten packten mich jetzt unter meinen Schultern. Sie schleppten mich aus dem Haus über den Hof zum Kirschbaum.

Der eisige Wind peitschte in mein zerfleischtes Gesicht. Es regnete in Strömen. Ich spürte den Regen in meinem Gesicht, wo er brannte wie Feuer. Mein Kopf war zwischen den beiden Soldaten nach hinten gekippt, sodass ich den Regen schmecken konnte, der mir direkt in meinen aufgerissenen Mund fiel. Sie stellten mich auf eine Kiste, die ich vom Speicher zu kennen glaubte. Ich ging sofort in die Knie und griff in weichen dicken Staub. Ich war schwach, spürte im Gesicht brennende Schmerzen, drohte von der Kiste zu stürzen, wurde aber von einem der beiden Soldaten am Hals ergriffen, um den er mir ein Seil legte. Das schnürte sich sofort fest um meinen Hals. Es richtete mich auf der Kiste auf. Ich stand unter dem Kirschbaum im peitschenden Regen und erkannte jetzt vor mir die hell erleuchteten Fenster des Hauses. Ich sah den Feriengroßvater. Zusammen mit einem Soldaten schleppte er einen Menschen durch den Regen über den Hof.

Es war Paula, die von den beiden auf eine andere Kiste vom Speicher vor meine Füße geworfen wurde. Plötzlich packte mich ein kräftiges Quetschen am Hals, das mich sofort würgen ließ und meinen Kopf nach unten presste. Dort unten sah ich Paula auf der Kiste liegen. Ich sah meine Füße, sie zappelten in der Luft über Paulas Kopf. Ich würgte, versuchte zu erbrechen, zu atmen, den Mund zu öffnen, die Augen zu schließen, nichts ging. Paula verschwamm unter meinen heftig zappelnden Beinen. Jetzt spürte ich einen unerträglich beißenden Schmerz, er kam von meinem Hals. Ich bäumte mich auf und schrie mit aller Kraft.

Die weiße Ballonlampe in dem Zimmer schaukelte an der Decke wie wild hin und her. Das Fenster stand offen. Böiger Wind sorgte draußen für viel Bewegung in den Bäumen. Ich lag schweißgebadet auf dem Bett in meinem Ferienzimmer. Ich stand auf und stellte mich nass und schwitzend an das offene Fenster. Unten im Hof sah ich den Mercedes des Feriengroßvaters vor dem hohen Scheunentor.

7. Die Lehrerin

Sie hatte mir über lange Zeit wöchentlich Nachhilfe im Haus bei Büchtler am Obersalzberg gegeben. Daneben unterrichtete sie mich fast täglich im Schulunterricht. Das Besondere an der Lehrerin war, dass ihr der Spaß der Kinder bei den Aufsätzen im Unterricht wichtig war. Die Lehrerin sorgte dafür, dass wir nicht so lernten, wie das für alle Kinder vorgesehen war. Wir lernten anders. Wir durften uns vor dem Schreiben in kleinen Gruppen zusammensetzen. Jeder durfte den anderen Kindern erzählen, was ihm zu dem Aufsatzthema einfiel.

Das war ein lautes Geschnatter im Klassenzimmer. Mehr als vierzig Kinder saßen in kleinen Gruppen zusammen und quasselten. Die Lehrerin ging von Gruppe zu Gruppe, setzte sich dazu, sprach mit uns. So lief das etwa eine halbe Stunde lang vor jedem Aufsatz. Danach schoben wir die Tische wieder auseinander und jeder schrieb allein an seinem Aufsatz. Das hatte den Vorteil, dass ich ungefähr wusste, was ich schrieb, denn das hatten wir ja zuvor in den kleinen Gruppen besprochen.

Unser Geschnatter hörte sich von außen nach Geschrei von Kindern an. In Wahrheit sprachen wir Kinder in den kleinen Gruppen miteinander. Das ging natürlich in so einem Klassenzimmer nicht leise. Die Gespräche brauchten Übung. Erst nach drei, vier Aufsätzen wussten alle Kinder, dass die Lehrerin das immer so mit uns machte. So manche Blödelei unter uns verschwand mit der Zeit und meine Aufsätze wurden immer besser, denn in den Gesprächen hatte ich vorbereitet, was ich später schrieb. Die Lehrerin brachte mir bei, dass es wichtig war, zuerst über das gestellte Thema nachzudenken und erst dann zu schreiben.

Nachdem wir einen neuen Lehrer bekommen hatten, lief alles wieder anders. Der neue Lehrer machte es genauso wie alle anderen Lehrer an der Schule. Der Schuldirektor kam eines Tages mit dem neuen Lehrer in den Unterricht. Es war morgens um kurz vor acht. Die Schulklasse war schon da, aber unsere Lehrerin kam nicht. Der Direktor erklärte, dass der neue Lehrer von heute an die Arbeit unserer bisherigen Lehrerin übernehmen würde. Es sei ihm wichtig, dass wir Kinder unseren Eltern zu Hause gleich heute Nachmittag davon erzählten. Wir sollten zu Hause erzählen, dass wieder Ruhe eingekehrt sei, weil wir einen neuen Lehrer bekommen hatten. Wegen des neuen Lehrers gäbe es nun keinen Grund mehr für die Eltern, sich bei ihm zu beschweren.

In der Klasse war es ganz ruhig geblieben, als der Direktor den neuen Lehrer vorstellte. Kein Kind sagte oder fragte etwas. Der neue Lehrer war für uns alle eine große Überraschung. Deshalb gab es keinen Laut von uns. Der neue Lehrer begann sofort mit seinem Unterricht, der anders war, als es die Lehrerin gemacht hatte.

Was ich von der Lehrerin gelernt hatte, gab ich wegen des neuen Lehrers nicht auf. Nachdenken war wichtig und das konnte man auch tun, wenn man nicht mit anderen über das Aufsatzthema sprach. Man könne auch mit sich selbst im Kopf sprechen. Das funktionierte ganz gut, aber es machte nicht so viel Spaß, wie mit anderen Kindern zu sprechen.

Zu Hause am Obersalzberg habe ich nachmittags nichts von dem neuen Lehrer erzählt. Ich habe nicht berichtet, dass wir einen Auftrag vom Direktor bekommen hatten. Der Kinderheimleiter, Büchtler, interessierte sich nicht für die Lehrer. Ihn interessierte die Schule nicht. Ihn interessierte nur, dass Ärger, den er wegen der Kinder bekam, schnell beigelegt wurde. Dabei ging es darum, dass ein Ärgernis schnell verschwand, egal ob dabei eine gute oder schlechte Lösung entstand. Büchtler war die schnelle Lösung wichtig.

Büchtler interessierte nicht, dass die Nachhilfelehrerin, die mich und andere Kinder in seinem Haus unterrichtete, nicht mehr in der Schule arbeitete, weil sie die Schule verlassen musste, weil Eltern sich über deren Unterricht beschwert hatten. Das interessierte ihn deshalb nicht, weil er selbst sich nicht beim Direktor über die Lehrerin beschwert hatte, denn Büchtler war es egal, wie wir in der Schule unterrichtet wurden.

Die Lehrerin hatte mich behandelt, wie alle andern Schüler der Klasse, obwohl ich am Obersalzberg im Kinderheim bei Büchtler wohnte. Sie machte keinen Unterschied zu den anderen Kindern, die bei Eltern lebten. Das war neu für mich.

Mein erster Aufsatz schien den neuen Lehrer zu überraschen, denn er schrieb: „Bernado, das ist wirklich eine Überraschung! Weiter so.“ Deshalb bekam ich das Gefühl, dass er nicht glaubte, dass ich grundsätzlich nicht am Unterricht und an der Schule interessiert war. Nach meinem ersten Aufsatz nahm er mich im Unterricht manchmal dran, wenn ich mich meldete.

Vor dem Schreiben meiner Aufsätze dachte ich so wie es die Lehrerin mir beigebracht hatte, über das Thema nach. Ich sah mir das Thema, das der Lehrer an die Tafel geschrieben hatte, fünf, manchmal sogar zehn Minuten lang an, bevor ich zu schreiben begann. Dabei hatte ich hin und wieder die Augen geschlossen. So unterhielt ich mich mit mir selbst in meinem Kopf.

Das letzte Thema des Lehrers vor den Sommerferien für einen Aufsatz fand ich sehr schwer, es lautete:
„Beschreibe den Wert, den die Tugenden Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit, Pflichtbewusstsein und Dankbarkeit für Dich haben. Verwende dazu Beispiele von Erwachsenen, die Vorbilder für Jugendliche sind. Ein Beispiel für ein Vorbild können Deine Eltern sein.“

Im Zimmer, beim Feriengroßvater auf meinem Bett, fiel mir das Aufsatzthema aus der Schule wieder ein. Betraf die Strafe, die ich beim Feriengroßvater bekommen hatte, mein Nachdenken im Zimmerarrest, nicht genau das Aufsatzthema? Ich hatte sehr wichtige Tugenden missachtet, denn ich hatte gespielt, wo ich nicht spielen durfte, ich hatte getan, was ich nicht tun durfte. Ich war nicht ehrlich zum Feriengroßvater und zur Ferienmutter. Ich verstieß gegen deren Regeln.

War das mein Thema? Tugenden, die im letzten Aufsatz vor den Sommerferien schon Thema gewesen waren, mit denen ich mich bereits beschäftigt hatte, hatte ich nun missachtet. Auf mich konnten die Feriengroßeltern sich nicht verlassen. Ich verletzte die wenigen Pflichten, die ich in den Ferien auf dem Hof hatte. Warum? Pflicht und Ehrlichkeit schienen meine Schwachpunkte zu sein. Warum sonst traf ich in der Ferienverschickung schon wieder auf dieses Thema?

Eine Regel des Feriengroßvaters lautete:
„Du darfst nur tun, was besprochen wurde.“

Etwas anderes zu tun, war also verboten. Alles neue das mir oder den neuen Ferienfreunden eingefallen war, fiel unter diese Regel. Es war verboten, neues zu tun, denn Neues konnte zuvor nicht besprochen gewesen sein, sonst wäre es ja nicht neu. Das Versteckspiel auf dem Speicher war neu und deshalb eine Unverschämtheit.

In meinem letzten Aufsatz hatte ich das noch nicht gewusst. Darüber hätte ich geschrieben! Die Pflicht, nur tun zu dürfen, was zuvor mit Erwachsenen vereinbart worden war! Diese Bedeutung von Pflicht, Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit kapierte ich erst im Hausarrest. Das wäre mein Aufsatzthema gewesen! Darüber hätte ich geschrieben. Stattdessen war mir nur mein Vater zu dem Thema des Schulaufsatzes eingefallen. Der Feriengroßvater als Vorbild! Das wäre bestimmt keine Themaverfehlung im letzten Aufsatz geworden.

In der Schulstunde saß ich vor meinem Blatt. Der Aufsatz fiel mir schwer wie lange nicht. Meine inneren Gesprächspartner zur Vorbereitung des Aufsatzes waren Hartwig und Michael aus dem Kinderheim am Obersalzberg. Aber was mir im Gespräch mit beiden einfiel, konnte ich nicht hinschreiben, denn ich fand, es war zu schlecht, um es zu schreiben. In meinem Kopf hatte ich mit Michael zu streiten begonnen. Ich hatte ihn als gierigen Geldsack beschimpft und sogar mit Hartwig stritt ich, weil ich ihn des nächtlichen Diebstahls an einer Mark von meinem Taschengeld aus meinem Geldbeutel in der Hosentasche bezichtigte.

Eine halbe Stunde war verronnen. Das leere weiße Papier lag vor mir. Die Lehrerin hatte mir einmal den Tipp gegeben, ganz langsam und tief durchzuatmen. Den Stift zu nehmen und ganz langsam mit dem Schreiben anzufangen. Besser ganz langsam schreiben als gar nicht. Ich führte also ganz langsam die Hand mit dem Füller zu dem leeren Blatt, auf dem mein Aufsatz entstehen sollte, und begann zu schreiben:

Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit, Pflichtbewusstsein und Dankbarkeit am Beispiel meines Vaters und meines Erziehers Büchtler.

Meinen Vater kannte ich kaum. Seit vielen Jahren lebte ich auf dem Obersalzberg zusammen mit vielen anderen Kindern bei Büchtler. Mein Vater schickte regelmäßige Post ins Haus von Büchtler. Eines Tages hatte er mich plötzlich zu sich nach Hause geholt. Deshalb brauchte er keine Briefe mehr an mich zu schreiben. Er konnte nun täglich mit mir sprechen.

Nun komme ich aber endlich zu dem Thema dieses Aufsatzes: Die Ehrlichkeit, die Pflicht, die Zuverlässigkeit und die Dankbarkeit:
Frühere Briefe meines Vaters handelten von diesem Thema. Der Vater schrieb, dass er sich große Sorgen um mich machte. Er hatte von Büchtler gehört, dass ich ein großer Lügner wäre. Deshalb wäre ungewiss, welche Zukunft ich hätte. Lügen führten stets dazu, dass man irgendwann die Wahrheit nicht mehr erkennen könne. Ich sei bereits so weit, mir meine eigene, verlogene Wahrheit zu bauen.

Was hat das nun mit Ehrlichkeit, Dankbarkeit, Zuverlässigkeit und Pflichtbewusstsein zu tun?:
Immer wenn ich Vaters Briefe las, hatte ich das Gefühl, dass es um mich dramatisch schlimm stehen musste, denn ich wusste nichts von meinen Lügen. „Meine eigene verlogene Wahrheit“ war also bereits so perfekt, dass ich davon, dass ich ständig log, schon nichts mehr merkte.

Büchtler hatte mich oft geschlagen und verprügelt. Zwischen uns herrschte Krieg. Ich versuchte ihm aus dem Weg zu gehen. Das gelang nicht immer. Büchtler schlug mich, weil ich vorlaut war, anderen Kindern erzählte, dass ich ihn hasste, Kinder die neu in sein Haus einzogen warnte ich vor ihm und ich gab Tipps, wie sie seiner strengen Hand und harten Faust ausweichen konnten. Büchtler mochte das nicht. Er spürte, dass ich sein Reden hasste. Er merkte, dass ich seine Wichtigtuerei wegen seines großen, schnellen Autos hasste und seine Art, wie er das Taschengeld verteilte. Ich hasste seine niederträchtigen Sprüche wie: „Na du Armleuchter, hast du es überhaupt verdient, Taschengeld zu kriegen? Irgendwann wirst auch du mal kapieren, wo es lang geht. Hoffentlich noch bevor du die Radieschen von unten siehst!“

In einem Brief schrieb ich dem Vater:
Vielleicht lüge ich wegen Büchtler, der mich erzieht? In seinem letzten Brief, den der Vater daraufhin an mich schrieb, hatte er nicht mehr von meinen Lügen geschrieben, stattdessen schrieb er, dass er seine Pflicht, mich zu erziehen, nun erfüllen wolle.

Der Vater verprügelte mich immer abends. Deshalb begann ich zu lügen. Ich erzählte ihm nicht mehr, dass wir in der Schule eine Klassenarbeit geschrieben hatten. Ich sagte nicht mehr, welche Note der Lehrer in mein Heft geschrieben hatte, obwohl ich dazu verpflichtet war. Aber schon nach einer Woche entdeckte der Vater die Noten in meinen Heften. Da war das Geschrei groß und sein Schlagen war heftig.

Ich begann zu stehlen: Der Vater hatte wenig Geld. Ich hatte deshalb Angst zu Hause zu sagen, dass ich neue Hefte und Bleistifte brauchte. Der Vater erwischte mich beim Stehlen im Dorfladen, die Schläge waren fürchterlich. Ich war ein Dieb und Lügner geworden in nur einem Jahr beim Vater.

Eines Tages ging ich nach der Schule nicht nach Hause. Ich lief in die andere Richtung fort. Das Jugendamt brachte mich zurück zu Büchtler.

Der Vater hatte versucht, seine Pflicht zu erfüllen. Er hatte versucht, mich auf einen ehrlichen Weg zu bringen. Er hatte versucht, Vorbild für Ehrlichkeit und Pflichtbewusstsein zu sein. Ich aber war vor dem Vater davon gelaufen.“

Den Aufsatz hat der Schullehrer mir nicht zurückgegeben. Ich war einige Tage krank, lag mit Fieber im Bett im Haus von Büchtler. In diesen Tagen hatte der Lehrer die benoteten Aufsätze in der Schulklasse verteilt. Ich erfuhr nicht, welche Note ich bekommen habe.

Ich stand am Fenster und blickte in den Himmel: Dort sah ich kreischende Möwen. Ich senkte den Blick nach unten in den Hof, wo der schwere Mercedes des Feriengroßvaters stand. Ich dachte immer noch nicht vernünftig über das Thema des Hausarrestes nach. Stattdessen war mir mein Schulaufsatz wieder eingefallen. War der zu einer Themaverfehlung geworden? Warum sonst hatte ich ihn nicht zurückbekommen? War ich mit meinem Aufsatz schon einmal an dem Thema gescheitert?

Während des Abendessens sprach keiner mit mir. Das gehörte zu meiner Hausarreststrafe. Mit mir zu sprechen, hätte mich von meinem Hausarrest und von dem Thema abgelenkt. Ich sollte keine Unterstützung für das Thema erhalten, denn es war ja allein mein Thema. Der Feriengroßvater berichtete, dass er von dem Fleisch des erlegten Hirschen viel auf dem Markt an einen Metzger verkauft habe. Nach dem Abendessen ging ich wieder in mein Zimmer.

Auf dem Bett war ich kurz eingeschlafen. Es war zehn Uhr geworden. Der Hof lag in der Dämmerung. Es war das gleiche Licht wie an dem Abend, als der Feriengroßvater den Hirsch geschossen hatte. Der Feriengroßvater war zu seinem Hochstand am Rand des Feldes aufgebrochen. Wahrscheinlich war er bereits die Leiter hinaufgestiegen. Er saß oben auf der Sitzbank und beobachtete den Waldrand. Er wartete in aller Ruhe darauf, dass wieder ein Hirsch den Fehler machte, sich genau am Feldrand vor seiner Flinte aufzubauen.

Mein Sitzen im Zimmer, meine Langeweile, interessierte den Feriengroßvater nicht. Für ihn hatte es damit seine Richtigkeit. Ein Regelverstoß musste geahndet werden. Ein Kind musste erzogen werden. Es musste zum Denken darüber erzogen werden, was es falsch gemacht hatte. Dafür brauchte das Kind Zeit und Ruhe. Keine Zeit, um nachzudenken hatte, wer draußen auf den Kirschbaum kletterte, auf dem Surfbrett mit dem Meer kämpfte, mit dem Fahrrad auf den Nachbarhof zu Robert radelte, die Angelrute mit dem gelben Blinker an der Reling des Fischkutters auf und ab bewegte, einen dicken Dorsch fing, um ihn zu töten und zu verkaufen.

Ruhe auf dem Jägerstand wäre geeignet gewesen, um nachzudenken. Dort oben zwischen Wald und Feld herrschte viel Ruhe. Doch das wäre für mich keine Strafe gewesen. Strafe bestand darin, dass ich das Haus nicht verlassen durfte. Wer gerne das Haus verlassen wollte, den strafte ein Hausarrest. Es ging darum, in einer Situation, die mir nicht lieb war, über meine Missetat nachzudenken. Das war eine wirksame Strafe.

Das Thema sollte ich in Ruhe bearbeiten. Weil mir aber die Ruhe des Hausarrestes als Strafe verordnet worden war, fiel mir das Nachdenken sehr schwer. Wenn die Strafe auf dem Hochstand neben dem Feriengroßvater stattgefunden hätte, wäre mir das Nachdenken leichter gefallen. Ihn hätte ich das eine oder Andere gefragt zu meiner Tat. Ich hätte leise mit dem Feriengroßvater darüber gesprochen. Das wäre aber keine Strafe gewesen, denn das hätte ich ja gerne getan. Strafe aber war etwas zu verordnen, was ich nicht wollte. Nicht dumm die Idee. Aber wie sollte dabei das Nachdenken funktionieren? Die Strafe war vermutlich gar nicht so gedacht, dass dabei etwas herauskommen sollte.

Auf der anderen Seite des Hofes sah ich die dicken Äste des riesigen Kirschbaumes. Sie wippten im Wind auf und ab. Der Wagen des Feriengroßvaters war verschwunden. Ich schloss das Fenster und verließ mein Zimmer.

Im Arbeitszimmer an der Wand, neben dem Schreibtisch hingen die alten Fotos. Dort betrachtete ich interessiert den Feriengroßvater in jungen Jahren. Er lachte und steckte in einer Uniform. Ich sah ihn inmitten der anderen lachenden jungen Soldaten. Der Feriengroßvater war im Krieg gewesen. Bei Büchtler am Obersalzberg hatte ich von anderen Kindern gehört, dass im Krieg stets mit dem Tode bestraft werde. Dagegen, so die Jugendlichen, seien Büchtlers Faustschläge und Kopfnüsse harmlos.

Die Arbeitszimmertür ging auf. Ich erschrak. Aber in ihr stand Paula. Sie lächelte mich an und sagte: „Don’t worry, they are all gone by car of your grandfather.“

Ich stieg die knarrende Treppe hinauf und legte mich in meinem Hausarrestzimmer auf das Bett. Dort sah ich jetzt die Dunkelheit. Ich hörte die große Ballonlampe im leichten Wind, der durch das geöffnete Fenster blies. Der Abend in dem Dachzimmer war endlich kühler geworden. Ich hörte ein Knarren. Die alten Dielen des Hauses knarrten ständig, das taten sie bestimmt schon seit vielen Jahren. Ich wusste, dass über meinem Zimmer der Speicher mit vielen Schränken lag. Ich war froh, dass ich den Speicher nie wieder betreten würde. Ich wollte mich verhalten, wie es vereinbart worden war. Ich war froh, dass der Ferienaufenthalt nur noch wenige Tage dauerte.

8. Der Gewinn

Die Rückreise im Wagen der Ferienmutter nach Berchtesgaden war lang und schweigsam. Die Ferien auf dem Gehöft fand ich schön, denn die drei Wochen, bis die Bestrafung mit dem Hausarrest begann, hatten mir Spaß gemacht.

Zurück bei Büchtler, bezahlte ich gleich bei Michael meine Schulden. Die fünf Mark, die ich beim Dorsche fischen verdient hatte, gab ich Michael. Anstandslos gab der mir eine Mark fünfzig zurück. Eine Mark behielt er für vier Wochen Zinsen à fünfundzwanzig Pfennige ein. Er war es nicht gewohnt, noch in den Ferien Rückzahlungen in voller Höhe, einschließlich seines horrenden Zinssatzes, zu erhalten. Meine Schulden waren damit abbezahlt.

Ich nahm mir fest vor, nie wieder bei Michael Schulden zu machen. Am Samstag verteilte Büchtler, nach dem Schwimmen, im Berchtesgadener Hallenbad, das Taschengeld. Dabei rauchte er genüsslich Zigaretten, die er elegant einer weißen Schachtel mit der Aufschrift „Lord Extra“ entnahm. Ich erhielt zwei Mark fünfzig, von denen ich keine Schulden und keine Zinsen mehr zu begleichen hatte. Ich steckte mein Taschengeld in die Hosentasche.

Hartwig Elmne kam im Alphabet vor Bernado Wenigstens. Deshalb hatte Hartwig sein Taschengeld lange vor mir von Büchtler erhalten. Ich beobachtete, wie er sein Geld in die Hosentasche steckte. Er versuchte über den kleinen Vorraum des Hallenbades, in dem sich zwei Automaten mit Colaflaschen befanden, zu entkommen. Mike und Peter, zwei die bei Michael tief in der Kreide standen, positionierten sich am Ausgang. Ich beobachtete, wie beide blitzschnell den kleinwüchsigen Hartwig umstellten und zurück in den Automatenvorraum drängten.

Von Hartwig hörte ich dabei keinen Ton. Wahrscheinlich hatten sie ihm den Mund zugehalten. Beide kamen Minuten später lächelnd aus dem Vorraum. Sie gingen zu Michael, der mit uns am kleinen Tisch stand, wo Büchtler das Taschengeld aus Papierrollen mit dem Aufdruck der Kreissparkasse Berchtesgaden entnahm. Weil Michael ganz in meiner Nähe stand, hörte ich wie Mike in dessen Ohr flüsterte: „Alles klar, wir haben dem Pimpf seine 2 Mark abgenommen“. Mike drückte Michael das Geld in die Hand.

Hartwig kam Minuten später mit gesenktem Kopf aus dem Vorraum, ging langsam zum Ausgang des Hallenbades, blieb aber an einem der riesigen Fenster stehen, wo er sich anlehnte und auf den Parkplatz hinaus schaute. Dort parkten einige Autos, darunter auch der weiße Porsche von Büchtler. Hartwig hatte es nicht mehr eilig weg zu kommen, denn es machte nun keinen Sinn mehr, in den Markt Berchtesgaden hinauf zu laufen, ohne Geld für Süßigkeiten.

Am Montagvormittag kam mein erster Termin in Berchtesgaden, im Haus bei der Lehrerin. Die letzten zwei Ferienwochen, so war es vereinbart worden, sollte ich jeden Tag in ihr Haus kommen, um mich auf die Aufnahmeprüfung für die Realschule vorzubereiten. Die Aufnahmeprüfungen sollten an den beiden letzten Ferientagen stattfinden.

Jeden Morgen lief ich von Büchtlers Haus am Obersalzberg, auf der steilen Bergstraße, hinunter nach Berchtesgaden. Ich lief durch den Ort, um auf der anderen Seite wieder eine steile Bergstraße hinauf, auf den Kälberstein, zu laufen.

Vom Haus der Lehrerin konnte ich den Obersalzberg gut sehen. Den Fußmarsch, von Büchtlers Haus zur Lehrerin, schaffte ich in einer knappen dreiviertel Stunde. Es gab, in der Nähe von Büchtlers Haus am Obersalzberg, die Bushaltestelle Station Erika. Der Bus, hinunter nach Berchtesgaden, fuhr aber nur dreimal täglich. Morgens um sieben, Nachmittags um fünf und abends um sieben. Diese Zeiten waren für mich schlecht. Ich musste jeden Vormittag erst um zehn Uhr bei der Lehrerin sein.

Nachmittags lief ich um fünf Uhr zurück auf den Obersalzberg. Manchmal trieb ich mich noch ein bisschen im Markt herum. Ich hatte mein Taschengeld am Samstag nicht vollständig ausgegeben, denn ich wusste, dass ich jeden Tag, durch den Markt Berchtesgaden, zur Nachhilfe bei der Lehrerin unterwegs war. Ich kaufte mir in einem kleinen Edekaladen, der nahe der Bacheischule, auf dem Weg zur Straße, an der Berchtesgadener Arche, hinauf auf den Obersalzberg, lag, für ein paar Pfennige Lutscher, klebrige Bonbons oder so genannte Plombenzieher. Das waren kleine braune Karamellutscher, die manchmal so an den Zähnen festklebten, dass sie beim Loslösen einen wackeligen Zahn oder eine Amalgamplombe heraus rissen.

Die Lehrerin begrüßte mich an meinem ersten Lerntag freundlich. Sie hatte mir eine kühle Apfelsaftschorle hingestellt. Der Sommer war immer noch warm. Es war fast wärmer als an der Ostsee, denn der Wind der See fehlte. Das Licht in Berchtesgaden war schon herbstlich geworden. Der Ausblick auf die Berge war täglich sehr klar. Richtig schönes Badewetter. Ich wusste, dass jeder sonnige warme Tag ein Glück war, denn in Berchtesgaden brachte das Ende des Sommers, Anfang September, oft ganz schnell eine nasse Kälte, die wochenlang anhalten konnte, bis erst im Oktober wieder ein paar sonnige, aber meist schon sehr kühle Tage kamen. Die Kinder in Büchtlers Haus waren beinahe alle von ihren Ferienverschickungen zurück. Sie gingen jeden Tag gemeinsam ins Freibad. Ich war nicht mit dabei, ich ging jeden Tag zur Lehrerin.

Die Lehrerin versuchte mir den Einstieg in das Lernen in ihrem Haus schmackhaft zu machen. Täglich stellte sie mir eine Apfelsaftschorle und Salzstangen hin. Sie sagte, wenn ich schon in den Ferien so viel büffeln müsste, dann wenigstens mit einer kleinen täglichen Belohnung.

Ich kam vom ersten Tag an gerne zur Nachhilfe ins Haus der Lehrerin. Es war mir egal, dass ich nicht mit den anderen Kindern ins Freibad gehen konnte. Ich wusste, dass das für mich kein Nachteil war. Es war mir sehr recht gewesen, dass ich nach der Ferienverschickung nicht sofort, den ganzen Tag lang, mit den Kindern in Büchtlers Haus zusammen sein musste. Michael erzählte beim Frühstückstisch, dass ich für zwei Wochen ins „Schularbeitslager“ verbannt würde. Er prahlte, dass er und die anderen ihren Spaß im Freibad haben würden, während ich mir den „Arsch wund büffeln“ müsse.

Michael wusste, wie er mich und andere wütend machen konnte. Alle Kinder am Tisch lachten dreckig und laut. Ich ärgerte mich sehr über dessen Sprüche, sagte aber nichts. Am meisten ärgerte es mich, dass auch Hartwig dreckig lachte.

Das gehörte zum Alltag im Kinderheim am Obersalzberg bei Büchtler. Die Kinder hassten sich gegenseitig. Wir nutzten jede Gelegenheit um uns gegenseitig zu ärgern, einen bösen Witz auf Kosten eines anderen zu reißen, uns in der Sprache von Büchtler als „Armleuchter, Pisser“ oder „Sandkastenrocker“ zu beschimpfen oder dem Gegner zu wünschen, dass er bald „abstrapse“. Büchtler tobte seine Lust an eisiger Macht und gewalttätiger Überlegenheit gegenüber Kindern aus. Dessen Gewalt war aber nicht das schlimmste, denn auch mein Vater war gewalttätig. Deshalb war ich von westdeutschen Jugendämtern in Büchtlers Obhut am Obersalzberg gegeben worden. Was Büchtler tat erschien mir normal, denn warum sonst hätte mich ein Jugendamt dort hin geschickt?

Michael kannte, genauso wie der Heimleiter, keiner Gnade. Der Stärkere musste sich ständig beweisen, ertrug keine Widerrede und erst recht keine Niederlage. Er musste stets der Sieger sein. Michael ließ sich von dreckig lachenden Dritten, die immer zahlreich waren, lautstark feiern. Oft ging es dabei um den ständig zu wiederholenden Beweis seiner Kraft und Macht. Er tat das, genauso wie es der Heimleiter tat, mit der Faust.

Vertrauen unter Kindern gab es am Obersalzberg bei Büchtler nicht. Ich brauchte viele Jahre um das alles zu durchblicken. Erst nach vier, fünf Jahren im Haus bei Büchtler, wurde mir klar, wie wichtig es war, mich nicht ständig provozieren zu lassen. Das zu erkennen, war ein großer Gewinn, aber es war keine dauerhafte Gewähr dafür nicht verprügelt zu werden. Es eröffnete jedoch den Hauch einer Chance an Prügel vorbeizukommen.

Michael hatte mich auch dann weiter verprügelt, wenn ich auf seine Provokationen gar nicht reagierte. Eines Tages merkte ich, dass die Stimmungen Michaels und meine Art des „Nichtreagierens“ auf seine Provokationen, vielleicht sogar dessen Lust, mich zu Schlagen erhöhte. Ich verstand, dass allein meine Ruhe für Michael eine Provokation zu sein schien.

Als ich das begriffen hatte, legte ich mir eine neue Strategie zu. Ich begann ihm Ärgerlichkeit vorzuspielen. Ich begann ein kontrolliertes Spiel. Ich spielte Ärger so lange kontrolliert vor, bis ich bei Michael Zufriedenheit und Überlegenheit wahrnahm. Michael glaubte, sein Ziel, mich zu ärgern erreicht zu haben. Das war der wichtigste Effekt meiner neuen Strategie. Das Spiel funktionierte.

Ich provozierte nicht mehr, indem ich Michael beleidigte oder gar hasserfüllt anbrüllte, wenn er mich ärgerte. Sondern ich spielte ihm kontrollierten Ärger darüber vor. Weil meine Strategie funktionierte, baute ich sie im Laufe der Jahre zu meiner perfekten Methode aus. Dass meine Methode erfolgreich war, merkte ich daran, dass Michael und Büchtler immer weniger Anlass fanden mich zu verprügeln.

Nach vielen Jahren am Obersalzberg verstand ich, dass Büchtler sofort zuschlug, wenn er das Gefühl hatte, dass ich ihn nicht ernst nahm. Nicht ernst genommen zu werden, war für den Heimleiter eine große Verletzung der Ehre. Besonders schlimm war es für ihn, wenn ein Kind wie ich, ihn durchschaut hatte und gegenüber anderen Kindern im Sandkasten erklärte, dass man Büchtler unbedingt aus dem Weg gehen sollte. Büchtler war für Kinder unberechenbar und deshalb sehr gefährlich. Er war das brutalste Kind in dessen Haus am Obersalzberg. Ich wusste das, denn ich musste dessen Gewalttätigkeit jahrelang ertragen. Meine Erkenntnisse aus der Gewalt, und Erlebnissen unberechenbarer Brutalität, mit der Büchtler viele Jahre lang Kinder verprügelt hatte, gab ich warnend an neue Kinder weiter. Das war für Büchtler eine Provokation. Jugendämter schickten, in den siebziger Jahren, ständig weitere neue Kinder nach Berchtesgaden in dessen Obhut. Da gab es viel zu warnen, weshalb ich immer in der Gefahr war, von dem unbeherrschten Mann zusammen geschlagen zu werden.

Büchtler fühlte sich auch dann persönlich verletzt, wenn man sich von ihm abwandte, während er lautstark über seinen schnellen Porsche prahlte. Wenn er über sein Rennauto sprach, duldete er keine Unaufmerksamkeit. Büchtler prahlte, über rote Ampeln gerauscht zu sein, und Geschwindigkeitsrekorde, auf seinem täglichem Weg zwischen der Wohnung, nahe Berchtesgaden, und dem Haus, oben am Berg, aufgestellt zu haben.

Angeberei, lässiges Gehabe, aber vor allem die brutalen Faustschläge in den Magen, oder ins Gesicht, durch Büchtler und Michael, regten mich auf. Mein Desinteresse an Büchtlers Prahlerei und meine Ablehnung aber provozierten Büchtler und machten ihn wütend.

Der bevorstehende Herbst kündigte sich mit dem Tageslicht an. Abends wurde es früher dunkel. Mit meinen Hausaufgaben, für die Nachhilfelehrerin, war ich meist gegen halb neun Uhr fertig. Draußen war es dämmrig, wie in der Ferienverschickung auf dem Gehöft an der Ostsee, nachts um halb zwölf. Vom Zimmerfenster sah ich die gegenüber liegenden Gebirgsketten. Von unten, aus dem Aufenthaltsraum, hörte ich die Kinder in Büchtlers Haus vor dem Fernsehapparat lachen. Am liebsten sahen wir die Fernsehshows mit Illia Richter, oder Rudi Carell, welche die großen musikalischen Stars der Zeit ankündigten. Das waren Sänger wie Karrell Gott, Peter Alexander, Heintje, Mirel Matieu, oder Heino. Ich hasste deren Gesang, den ich als eine Art Gesäusel empfand, das mir deshalb nicht gefiel, weil mir das erschien, wie von einem fremden Stern, auf dem das Leben ganz anders sein musste, als meines bei Büchtler auf dem Obersalzberg. Ich hatte nach den Hausaufgaben keine Lust mehr runter zu gehen und mir das anzusehen.

Stattdessen blickte ich durch das Zimmerfenster auf die, in der Dunkelheit liegenden, schwarzen Gebirgsketten. Dabei versuchte ich, in meinem Kopf, das Gelernte noch einmal durchzugehen. Die Lehrerin hatte mir eine Methode erklärt, wie ich mir das, was sie mit uns aus dem Schulstoff, für die Aufnahmeprüfung wiederholte, am besten einprägen könnte. Das wichtigste sei, dass ich ihr genau zuhörte und Dinge die ich las, sofort darauf überprüfte, ob ich sie verstand. Danach sollte ich diese Dinge im Kopf immer wieder wiederholen, um sie mir einzuprägen. Das könnte ich jederzeit machen. Das Wiederholen konnte abends im Bett geschehen, es konnte während des Küchendienstes, im Haus von Büchtler geschehen, es konnte auf dem Fußweg, von Büchtler zu ihrem Haus geschehen, es konnte immer dann geschehen, wenn ich nicht gerade mit jemand sprach oder meine Aufmerksamkeit auf erneutes Lernen gerichtet war. Die Methode übte ich jeden Abend, nach den Hausaufgaben, während ich zum Fenster hinaus sah. Danach putzte ich mir die Zähne und ging ins Bett.

Hartwig kam meist gegen viertel vor zehn. Er dachte, dass ich schon schliefe. Das tat ich aber nie. Ich wiederholte im Kopf etwas, von den Dingen, die ich bei der Lehrerin gelernt hatte. Dabei hörte ich Hartwig, wie er sich auszog, ins Bad zum Zähne putzen ging, zurück kam, das Licht ausmachte und ins Bett ging.

Morgens standen wir um acht Uhr auf. Noch bevor die Kinder sich, nach dem Frühstück, um halb zehn im Hof sammelten, um zusammen in Richtung Freibad zu gehen, verließ ich gegen viertel nach neun allein das Haus, um mich auf den Weg nach Berchtesgaden zur Lehrerin zu machen. Morgens am Frühstückstisch hatte Michael eine neue Bemerkung auf Lager. Einmal war es das „Lern-KZ“, in das ich heute unterwegs sei, dann war ich das „Streber-Kalb auf dem Weg zur Streber-Kuh“ oder ich war der „Musterschüler der einem raus geschmissenen Leerkörper hinterherrannte“. Mir war das alles egal. Ich spielte mein Spiel, gab mich beleidigt und verärgert. Solange Michael nicht drohte und zuschlug, interessierte mich selbst das fiese Lachen der Kinder am Tisch immer weniger. Michael konnte mich in dieser Zeit ohnehin nur morgens und abends provozieren. Den Rest des Tages sahen wir uns nicht.

Ich war entschlossen die Aufnahmeprüfung zu bestehen. Ich hatte nicht das Ziel, einen besseren Schulabschluss zu bekommen. Soweit dachte ich nicht. Einziger Grund war, dass ich nicht weiter auf die Bacheischule in Berchtesgaden gehen wollte, welche die meisten Kinder aus Büchtlers Haus besuchten, so auch Michael.

Die Lehrerin hatte in der Schule dafür gesorgt, dass sich die Situation in meiner Klasse ganz schnell verbessert hatte. Kinder, in deren Klasse, unterhielten sich viel mehr miteinander. Das lernten wir in den lauten Gesprächsrunden vor den Aufsätzen. Weil wir gelernt hatten, zu sprechen und zu diskutieren, prügelten wir uns viel weniger. Seitdem die Lehrerin, wegen ihrer abweichenden Methoden, von den Eltern und vom Direktor aus der Schule vertrieben worden war, hatten die Kinder begonnen, sich in der Schulpause wieder mehr zu prügeln und weniger zu reden.

Mit unserem neuen Klassenlehrer war der Direktor der Bacheischule sehr zufrieden. Die Eltern beschwerten sich nicht mehr darüber, dass die Kinder immer so laut miteinander diskutierten, anstatt zu lernen. Tatsächlich war es in meiner Schulklasse, ohne die Lehrerin, viel leiser geworden. Wir diskutierten nicht mehr in kleinen Gruppen, sondern ein Kind sprach nur, wenn es sich gemeldet hatte und vom Lehrer aufgefordert worden war, zu antworten. Das erinnerte mich an den Feriengroßvater.

Für mich war es in der Bacheischule immer schwieriger geworden. Zwar hatte ich von der Lehrerin gelernt, mit meinem eigenen Denken zu beginnen, doch das nützte mir bei dem neuen Lehrer nicht mehr viel, denn ich war in der Schulklasse ein Außenseiter, was der Lehrer mich spüren ließ. Ich konzentrierte mich darauf, möglichst wenig aufzufallen, um so wenig wie möglich zum Gespött der Mitschüler in der Klasse zu werden.

Bessere Noten, die ich wegen meinem eigenen Denken und Mitarbeiten zuvor erreicht hatte, zogen, beim neuen Lehrer, Neid und Spott der Mitschüler auf mich. In den Pausen wurden Hass und Aggression gegen mich frei. Im Vorbeigehen erhielt ich von Mitschülern, die bei der Lehrerin noch mit mir diskutiert hatten, plötzlich gemeine Kopfnüsse. Mir wurden Türen vor der Nase zu geschlagen. Dass ich bei der Lehrerin, wegen meinem Mitdenken bessere Noten gehabt hatte, als die meisten anderen, machte mich nun zum Außenseiter. Bei dem neuen Lehrer war ich wieder zu dem dummen Jungen geworden. Ich konnte mich kaum mehr auf den Unterricht konzentrieren, weil ich damit beschäftigt war, keinen Anlass zu geben mir in der Pause Schläge, Tritte oder Kopfnüsse zu verpassen.

In der Klasse sprach keiner mehr mit mir. In der Pause gingen mir die Kinder aus dem Weg. Im Schulbus, vom Obersalzberg hinunter in die Bacheischule nach Berchtesgaden, stand ich allein. Keiner bot mir einen freien Platz neben sich an. Ich stieg immer als letzter ein. Ich spürte, dass ich von niemandem erwünscht war. Hass und Hetze von Mitschülern nahmen zu, sie waren zur meiner Normalität geworden. Doch selbst daran gewöhnte ich mich. Ich ging allen aus dem Weg. Am Ende des Schuljahres gab es niemanden mehr, der mit mir sprach: Ich wurde von niemandem angesprochen. Ich sprach niemanden an.

Einzig die Lehrerin blieb mir. Sie hatte mir gesagt, ich sollte die Prüfung machen. Es gäbe eine neue Schule, ganz oben auf dem Obersalzberg, weit höher als Büchtlers Haus lag. Dorthin könnte ich es schaffen. Es sei eine Realschule. Dort gäbe es Aufnahmeprüfungen für Hauptschüler. Ich könnte es schaffen, wenn ich noch viel lernte. Dass könnte ich in zwei Wochen meiner Ferien, in denen die Lehrerin mich und drei andere Kinder, aus dem Nachbarort, unterrichtete.

Sie gab jedem Kind ein Buch. Das hatte sie speziell für unsere Prüfungsvorbereitung zusammengestellt. Sie hatte es bei einem Buchbinder binden lassen. Es war ein dünnes Buch mit insgesamt fünfzig Seiten. Sie sagte, dass wir jeden Tag fünf Seiten durcharbeiten würden. Der gesamte Stoff in diesem Buch sei es, den wir zusammen mit unserem Wissen, aus der letzten Hauptschulklasse, brauchten, um gut vorbereitet in die Prüfung zu gehen.

Als ich zur Lehrerin in den Nachhilfeunterricht kam, hatte ich meine einzige Jeans angezogen. Ich wusste, dass noch drei andere Kinder zu ihr kommen würden. Deshalb hatte ich die Jeans im Urlaub, auf der Ferienverschickung, nur an einem einzigen Tag getragen. Sie sollte nicht schmutzig werden. Ich wollte nicht, dass sie bei Büchtler gewaschen werden musste und in einem riesigen Wäscheberg verschwand. Ich wollte nicht in der alten Kordhose, wie in der Schule, auch im Nachhilfeunterricht, bei der Lehrerin, vor den drei anderen Kindern erscheinen.

Kleidung für Kinder im Haus von Büchtler kam von Spenden, die Erwachsene hin und wieder vorbeigebracht hatten. Da waren niemals Jeans dabei. Denn Jeans wurden so lange getragen, bis sie für eine Spende nicht weiter geeignet waren. Fast alle Kinder in der Schulklasse trugen Jeans. Ich trug eine grüne Kordhose, denn ich hatte keine Jeans.

Zur Eröffnung eines neuen, großen Ladens fand eine Eröffnungsfeier mit Tombola und Losverkauf statt. Nach dem Schwimmen und der Taschengeldausgabe im Hallenbad, war ich am Samstag dort hin gelaufen. Das war Wochen vor den Sommerferien. Mein Taschengeld hatte ich an Michael bezahlt. Die meisten Kinder liefen in den Ort hinauf, um dort ihr Taschengeld zu verjubeln. Zusammen mit zwei weiteren Burschen, hatte ich mich, entlang der Berchtesgadener Arche, vom Hallenbad in Richtung zur Bergstraße, die zu Büchtlers Haus auf den Obersalzberg führte, gemacht.

Auf diesem Weg kamen wir an dem großen neuen Kaufhaus vorbei. Wir kannten das neue Einkaufszentrum schon, wussten aber nichts von der Eröffnungsfeier. Draußen hingen bunte Luftballons und kleine Fähnchen. Von drinnen tönte solche Musik, die wir Kinder damals gerne im Radio hörten oder begeistert im Fernsehen verfolgten.

Wir drei betraten neugierig den großen Laden. Am Eingang lief ein Verkäufer mit einem Eimer voller Losen und einem Mikrophon hin und her. Er pries tolle Gewinne seiner Lose an. Alles war in einem großen Regal aufgebaut. Darunter waren so tolle Preise wie ein Fahrrad und ein kleiner Fernsehapparat.

Wir beobachteten eine Zeit lang das Treiben rund um den Losverkäufer. Ein Los kostete eine Mark. Das war wahnsinnig teuer. Auch wenn wir das Geld gehabt hätten, das hätten wir nicht ausgegeben. Wir begannen die weggeworfenen Lose vom Fußboden aufzusammeln, um zu überprüfen, ob das wirklich alles Nieten waren. Es waren Nieten. Trotzdem gab ich die Hoffnung nicht auf. Wir sammelten alle Lose auf, die dort hingeworfen wurden und wir warfen die Nieten alle in einen Mülleimer. Vom Losverkäufer und von einigen Gästen wurden wir dabei kritisch beäugt. Die Gäste saßen an den Tischen rund um das Rad, welches der Verkäufer immer wieder an stieß und Werbesprüche in ein dickes Mikrophon plärrte.

Als Kind, aus dem Haus von Büchtler am Obersalzberg, war ich in Berchtesgaden oft kritischen Blicken ausgesetzt. Das hatte Gründe. Kinder aus dem Kinderheim am Obersalzberg fielen auf. Beim Aufsammeln der Lose vom Fußboden, fielen wir auf, denn außer uns tat das keiner. Uns war egal, dass wir in der Öffentlichkeit taten, was niemand tat, denn darüber machten wir uns gar keine Gedanken. Die Achtung derentwegen man sich in der Öffentlichkeit nicht traute, den Dreck anderer vom Fußboden aufzuheben, hatten wir nicht zu verlieren. Wir besaßen sie gar nicht. Kinder, aus Büchtlers Haus am Obersalzberg, wurden von Erwachsenen in Berchtesgaden, damals oft nicht geachtet. Das hieß nicht, dass man uns nicht beachtete.

Mir war es nicht peinlich, wenn ich von Klassenkameraden, beim Lose aufsammeln vom Fußboden, beobachtet wurde. Ich dachte darüber gar nicht nach, denn ich wusste, dass ich in deren Gemeinschaft keinen Eingang finden würden, weil ich im Heim am Obersalzberg bei Büchtler lebte. Lose aufsammeln schadete mir nicht.

An einem Tisch beobachtete ich einen Mann beim Kaffee trinken. Ein Dackel wühlte in der Tasche des Mannes, die am Stuhlbein lehnte. Der Dackel war dunkelbraun und hatte einen pfiffigen Schwanz, der lustig hin und her wedelte. Der Mann setzte dem ein Ende, indem er die Tasche mit dem Reißverschluss zu zog. Dabei fiel etwas kleines heraus, was der Mann nicht merkte, aber der Hund. Der kaute eine Zeit lang darauf herum und ließ es schließlich, wenige Meter vom Tisch entfernt, zu Boden fallen. Meine Augen folgten weiter dem Dackel, der sich mit seinen kleinen Zähnchen nun dem Hosenbein zu wandte, bis der Mann den Hund weg schob. Jetzt wanderten meine Augen vom Dackel weg zum Stuhlbein und von da zurück auf den Fußboden beim Tisch.

Es war ein Los! Jetzt sah ich wieder die Schnauze des Dackels. Er schnupperte am Los, stupste es, so dass es an das Tischbein rollte, wo es liegen blieb. Der Hund interessierte sich nun aber nicht mehr dafür, denn er hatte am Nachbartisch einen Kumpel entdeckt. Auch ein Dackel. Die beiden kannten sich offenbar, denn sie neckten sich und kläfften herum. Ich ließ das Tischbein und das Los nicht mehr aus den Augen. Sekunden später erhob sich der Mann. Er stieg mit dem rechten Schuh auf das Los. Zusammen mit zwei kläffenden Dackeln, gingen er und ein anderer Mann, am Losverkäufer vorbei, um den Laden zu verlassen.

Das war meine Chance. Ich ging zu dem Tisch und setzte mich. Dann ließ ich meine Jacke zu Boden fallen, bückte mich nach ihr und nahm das Los zusammen mit meiner Jacke auf. Ich erhob mich, ging langsam weg von dem Tisch. Mein Herz raste, mein Atem war kurz und schnell. Erst hinter der Toilettentür öffnete ich das Los.

Ich las: Gewinn Nr. 33! Ich spürte meine Hände zittern, ließ das Los fallen, beinahe wäre es in die Kloschüssel gefallen. Es war wie Weihnachten und Geburtstag zusammen. Nein es war noch mehr!

Bei Büchtler gab es an Weihnachten oder Geburtstag immer eine festgelegte Summe Geld vom Jugendamt. Was davon gekauft wurde, wussten wir schon bevor wir das Geschenk auspacken durften. In dem neuen Kaufhaus hatte ich etwas gewonnen, wovon ich nicht wusste, was es würde! Ich blieb länger in der Toilette als eigentlich nötig. Ich wartete. Es dauerte Minuten bis ich ruhiger wurde und wieder normal atmen konnte. Erst mit der Ruhe begann ich nachzudenken.

Ich brauchte Zeugen. Kinder aus Büchtlers Haus mussten bezeugen, dass der Gewinn ein wirklicher Gewinn war. Es musste klar sein, dass ich den Gewinn nicht gestohlen hatte. Denn das würde es sein, was Büchtler dachte. Ein Diebstahl hätte mir viel Prügel eingebracht.

Ich hoffte, dass es ein Fahrrad war, das ich gewonnen hatte. Mit einem schönen neuen Fahrrad täglich vom Obersalzberg hinunter in den Ort zu fahren, das wäre toll gewesen. Oder der kleine Fernseher! Das wäre natürlich ein traumhafter Gewinn gewesen. Ich hätte mir und Hartwig einen Fernseher ins Zimmer gestellt. So etwas hatte im Haus von Büchtler kein Kind gehabt. Es war wichtig meine beiden Zeugen für das gefundene Los nicht aus den Augen zu verlieren.

Kinder die neu bei Büchtler eingezogen waren, wurden sehr schnell von anderen Kindern bestohlen. Musikkassetten wechselten den Besitzer. Dabei stellte sich jedes Kind unterschiedlich geschickt oder dumm an. Musikkassetten waren eigentlich ungeeignet für einen Diebstahl. Trotzdem wurden sie immer wieder gestohlen. Der Nachweis darüber, dass eine Kassette einem anderen Kind gehörte, war einfach. Schwieriger war das bei Batterien für den Kassettenrecorder, Geld oder Süßigkeiten.

Manche Kinder stahlen samstags nach dem wöchentlichen Hallenbadbesuch in den Läden in Berchtesgaden. Das ging immer schief. Entweder wurden sie gleich im Laden erwischt, oder es fiel im Haus von Büchtler auf. Zu teuer als vom Taschengeld bezahlbar. Büchtler verprügelte solche Kinder besonders heftig. Danach regelte er den Diebstahl. Das Kind, das gestohlen hatte, bekam so lange kein Taschengeld bis die Ware abbezahlt war. War die Ware sehr teuer, wurden auch Geburtstags- und Weihnachtsgeld einbehalten.

Ich verließ die Toilette, ging zurück zum Losverkäufer. Dort traf ich auf meine beiden Begleiter, die weiterhin Lose vom Boden aufsammelten. Auch ich sammelte vor den Augen meiner Begleiter einige Lose vom Fußboden auf. Dann ging ich zu einem der beiden und zeigte ihm begeistert mein Los. Der andere kam sofort dazu. Meine Anspannung, wegen des zu erwartenden Gewinns, übertrug sich sogleich auf die beiden.

Zu dritt bedrängten wir nun den Verkäufer. Der betrachtete uns misstrauisch. Er glaubte nicht daran, dass wir ein einziges Los finden würden, das keine Niete war. Kritisch überprüfte er mein Los. Er sagte nichts, sondern nickte nur und holte einen Kollegen herbei. Der nickte ebenfalls. Er bedeutete mir, dass er meinen Gewinn holen würde. Er verschwand hinter einer weißen Tür. Nur Sekunden später erschien er wieder. Er fragte mich welche Hosengröße ich hatte.

Ich hatte mit dem Los eine Jeans gewonnen. Davon war ich überhaupt nicht begeistert. Meine Hosengröße wusste ich nicht. Der Mann musterte mich kurz und sagte: „Alles klar, komme gleich zurück.“ Er kam mit drei Jeans zurück, die ich in einer Umkleidekabine anprobierte. Eine davon passte mir. Das Fahrrad hätte mir besser gefallen.

9. Erste Prüfung

Am ersten Tag bei der Lehrerin fand ich in meiner Hosentasche ein zerknülltes Papier. Ich zog es kurz heraus, erkannte aber nicht was das war. Ich steckte es schnell zurück in die Hosentasche. Ich stopfte mein Taschentuch, das ich in der anderen Hosentasche gefunden hatte, in die Tasche mit dem zerknüllten Papier. Taschentuch und das zerknüllte Papier stammten aus der Ferienverschickung. Ich trug die Jeans dort ein einziges Mal an dem Tag, als ich mit Robert, Micha und Martin auf dem Speicher gespielt hatte.

Abends, im Zimmer bei Büchtler am Obersalzberg, begann ich das Buch von der Lehrerin mit schönem dunkelblauem Packpapier einzubinden. Das Papier hatte mir die Lehrerin mitgegeben. Sie sagte ihren Nachhilfekindern, dass wir das Buch damit einbinden sollten, denn wir würden es noch oft brauchen. Vor allem bräuchten wir das Buch auch dann noch, wenn wir die Prüfung bestünden. Denn in den folgenden Schuljahren fänden wir immer wieder Stoff darin, der uns weiterhelfen könnte.

Ich saß in Hartwigs und meinem Zimmer und schnitt das Packpapier zurecht. Ich faltete es sauber um das Buch. Absichtlich schnitt ich das Papier etwas größer, denn ich wusste, dass eine Korrektur eines zu großen Papiers möglich war, während ein zu klein geschnittenes endgültig ruiniert war. Es juckte mich in der Nase so sehr, dass ich mein Taschentuch aus meiner Hosentasche zog. An dem Taschentuch hing das zerknüllte Stück Papier. Es fiel auf das halb eingepackte blaue Buch. Noch Nachmittags hatte ich mir vorgenommen abends zu sehen worum es sich bei dem zerknüllten Fetzen handelte und hatte es nun doch vergessen. Ich nahm das zerknüllte Stück und strich mit der Hand auf der Tischplatte darüber um es zu glätten.

Das Papier war grau und alt. Es war sehr leicht und dünn. Es war kleiner als mein kleinstes Schulheft. Es war sehr seltsam beschriftet. Eine geschwungene Handschrift, aber doch irgendwie krakelig. Die Schrift konnte ich unmöglich lesen, sie war mir fremd. Vielleicht war das ein ausländisches Papier mit ausländischer Schrift.

Ich betastete das Papier. Es schien eigenartig verfärbt. Mein weißes Schreib- und Rechenpapier in den Schulheften hatte nichts mit diesem seltsamen, beinahe grauen Fetzen zu tun. Ich hob das Stück gegen das abendliche Fensterlicht. Da erkannte ich auf der Rückseite eine Beschriftung. Sie war kurz. Ungefähr in der Mitte waren das drei kurze, gut erkennbare Zeilen, für mich aber nicht lesbar. Ich drehte das Papierstück um. Neben vielen Knicken sah ich da nichts außer der fremden Schrift mit der es vollständig beschrieben war.

Ich betastete das Papier erneut mit beiden Händen. Ich hielt es weiterhin gegen das Fensterlicht, stütze dabei beide Ellenbogen auf Hartwigs und meinen Arbeitstisch. Ich raschelte und tastete an dem Papier herum. Mit beiden Daumen und Zeigefingern rieb ich daran, als hätte ich einen wertvollen Tausendmarkschein in Händen. Das Papier verleitete mich zu dieser Abtasterei. Erst nach Minuten des Tastens und Reibens zwischen meinen Fingern merkte ich, dass sich zwei Seiten des sehr dünnen Papiers gegeneinander bewegten. Die Seite mit den drei kurzen Zeilen verschob sich gegen die Rückseite. Das machte ich ein paar Mal und hörte dabei auf das leise Rascheln. Erst nach fünf, sechs Mal Rascheln begriff ich, was das bedeutete. Dieses dünne, leichte kleine Blättchen war ein doppeltes Papier. Ich tastete, raschelte und wendete es minutenlang im Licht vor dem Fenster.

Ich legte das Papier auf den Tisch und strich es wieder glatt. Ich hielt es nochmal gegen das Fenster und betrachtete es genau. So erkannte ich, dass es wirklich ein doppeltes Papier war. An einem der beiden längeren Ränder war ein feiner Falz. Ich hielt es jetzt gegen das Licht der Zimmerlampe. Endlich wurde mir klar, was ich hier hatte. Es war ein Brief der in sich selbst noch zwei Seiten hatte. Die drei Zeilen auf der Rückseite mussten eine Adresse sein. Das Papier war hauchdünn, die Schrift darauf war verblasst, aber noch sehr gut zu erkennen.

Es war ein uralter Brief, den ich vom Dachboden beim Feriengroßvater in meine Hosentasche gestopft hatte. Erst jetzt hatte ich das Papier wieder gefunden. Der Brief war für mich nicht zu entziffern. Ich nahm mein Taschenmesser aus meinem Schrank. Erst Tags zuvor hatte ich dessen Klinge an einem handgroßen Stein geschärft, den ich aus dem Wald am Obersalzberg mitgenommen und in meinem Schrank auf dem Fußboden deponiert hatte. Mit der scharfen Klinge ritzte ich den Falz des Briefes langsam und sehr vorsichtig auf. Die beiden Innenseiten des kleinen, leichten Papiers waren vollständig mit der gleichen Schrift beschrieben, wie eine Außenseite.

Vielleicht war es doch eine deutsche Handschrift? Ich meinte ein Zeichen in der Schrift aus einem Schulbuch zu kennen. Ich hatte einmal in einem Geschichtsbuch eine ähnliche Abbildung gesehen. Ein älterer Junge hatte beim Hausaufgabenmachen, Nachmittags unten im Speisesaal von Büchtler, ein Buch mit schwarzweiß Fotos vom Krieg. Darin war ein Bild mit einer ähnlichen Schrift.

Ich faltete den zerknitterten Brief wieder zusammen. Dann faltete ich ihn noch mal vorsichtig auseinander. Ich hatte beim Falten geglaubt, etwas in der Schrift zu erkennen. Ich wollte noch einmal genauer darauf schauen. Es waren die ersten Worte des Briefs. Sie waren vom Rest leicht abgesetzt. War das eine Überschrift? Was ich sah wirkte wie ein M, ein A? Marta oder Mara. Daneben eine Zahl. Ein Datum? Die Zahl war es. Sie hatte ich erkannt. Es war eine Zahl. Wenn es ein Brief war, war es ein Datum. Zehn, dreizehn, fünf, Vier. Vielleicht war das eine Jahreszahl? Die Dreizehn vielleicht der Tag, keine Ahnung.

Der Feriengroßvater hatte in der Kiste im Schrank auf dem Dachboden alte Schreiben gesammelt. Eines davon hatte ich mitgenommen. Ich hatte ihm tatsächlich etwas gestohlen. Ein uraltes Schreiben, vielleicht einen Brief, vielleicht von einem dreizehnten, vielleicht von einem fünften, vielleicht von vierzig, vielleicht auch von fünfundvierzig. Jedenfalls mit einigen Zahlen, die ein Datum sein könnten.

Der Hausarrest beim Feriengroßvater war vollkommen berechtigt gewesen. Die Annahme des Feriengroßvaters, dass ich den Dachboden betreten hatte, um von dort etwas zu stehlen, hatte sich bewahrheitet. Ich hatte ein uraltes Schreiben einfach eingesteckt. Erst nach Rückkehr am Obersalzberg in Büchtlers Haus bemerkte ich was ich gestohlen hatte. Ich hatte etwas gestohlen, wofür ich mich beinahe eine ganze Woche lang nicht mehr interessierte. Mein Kopf war voll von neu gelerntem. Die Lehrerin hatte dafür gesorgt. Der Ferienhof und der Feriengroßvater waren weit entfernt. Seither war aber erst eine Woche vergangen. Der Hausarrest war erst eine Woche her. Mir kam das vor wie viele Jahre! Jetzt war er wieder da.

Es war keineswegs nur ein Papierfetzen in meiner Hosentasche. Es war nichts belangloses. Was ich da hinein gestopft hatte, war gestohlen. Das war nicht belanglos. Meine Tat war deshalb nicht abgeschlossen, auch wenn die Strafe verbüßt war. Nichts entlastete mich. Ich hatte mir angeeignet, was mir nicht gehörte. Auf dem Dachboden steckte ich das Schreiben sofort ein, um so Spuren zu verwischen. In einer alten Kiste, auch wenn sie nur voll von Schreiben war, hatte ich nichts zu suchen. Das Schreiben hatte ich deshalb beinahe reflexartig in meine Hosentasche gestopft. Ich hatte Routine darin Spuren zu vernichten. Ich neigte zu Diebstahl und vielleicht noch mehr, weil ich aus dem Haus von Büchtler am Obersalzberg stammte. Der Feriengroßvater hatte also Recht. Ich war bestraft worden, weil ich bestraft werden musste. Es gab einen Grund.

Das zerknitterte Schreiben lag vor mir. Daneben das Büchlein der Lehrerin, frisch eingebunden in dunkelblaues Packpapier. Der Brief bewies, was der Feriengroßvater wusste. Ich log nicht nur, ich stahl auch. Der Beweis lag vor mir auf dem Tisch. Er musste verschwinden. Der Feriengroßvater könnte herausgefunden haben, dass ich auf dem Dachboden die Kiste mit seinen alten Schreiben geöffnet hatte. Es wäre möglich, dass er nach meiner Abreise inzwischen festgestellt hatte, dass dort genau dieses Schreiben fehlte. Die dicke Staubschicht könnte mich verraten. Vielleicht hatte genau dieses alte Schreiben, wegen dessen Alter, eine große Bedeutung für den Feriengroßvater. Dass er solche alten Schreiben so lange Zeit aufhob, bis auf ihnen eine dicke Staubschicht entstand, musste etwas bedeuten. Die vielen Papiere und Schreiben in der Kiste waren wichtig. Warum sonst wurden sie so lange Zeit aufgehoben?

Früher oder später könnte der Feriengroßvater bei Büchtler wegen des Schreibens anrufen. Ich hatte ihn bestohlen. Der Feriengroßvater könnte das erst Tage, Wochen, Monate oder Jahre nach meiner Abreise von seinem Hof entdecken. Der Staub auf dem Kistendeckel, der Staub in der Kiste würde es deutlich zeigen. Hier war einer am Werk gewesen. Der hatte den Deckel geöffnet und dabei die dicke Staubschicht durcheinander gebracht. Überall auf dem schweren Holzkistendeckel würde man deutliche Spuren meiner Hände in der dicken Staubschicht sehen.

Das Schreiben musste schnell verschwinden. Für mich war klar, dass meine Tat vom Feriengroßvater auch im weit von seinem Gehöft entfernten Haus von Büchtler geahndet werden konnte. Ein Anruf von der Ostsee hätte Büchtler ausgereicht. Das würde eine Durchsuchung in meinem mit Hartwig genutzten Zimmer bringen. Ein Diebstahl in der Ferienverschickung, der Gipfel! Eindeutig beweisbar mit diesem Schreiben. Das musste vertuscht werden.

Ich öffnete das im blauen Packband eingebundene Buch. Auf der Innenseite löste ich den frischen Klebestreifen. Vorsichtig hob ich das Packpapier an. Das Schreiben schob ich zwischen Buchrücken und Packpapier. Ich faltete das blaue Papier erneut und klebte es wieder fest. Ich kontrollierte das Buch. Ich betastete es, hielt es gegen das Licht. Zufrieden stellte ich fest, dass von dem dünnen Brief im Buchrücken nichts zu erkennen war.

Es gab keine Zimmerdurchsuchung, es gab keinen Anruf vom Feriengroßvater. Auch die Ferienmutter meldete sich nicht. Das blaue Buch nahm ich täglich mit zur Lehrerin. Dort arbeiteten wir Kapitel für Kapitel durch. Ich benutzte das Buch jeden Tag bei meinen Hausaufgaben und der Vorbereitungen auf die Realschulprüfung.

Nach einer Woche bei der Lehrerin dachte ich nicht mehr an das Schreiben. Mein Kopf war voll von mathematischen Formeln und Aufsatzthemen, welche die Lehrerin als mögliche Themen für die Prüfung nannte. Ich dachte an Grammatik und Rechtschreibregeln und an englische Vokabeln, die ich abends beim Einschlafen im Bett im Kopf wiederholte. Da war kein Platz, um an das Schreiben im blauen Buchrücken zu denken.

Anfang der zweiten Woche bei der Lehrerin stand ein großer Lastwagen vor deren Haustür. Der Lastwagen wurde im Laufe des Tages mit Mobiliar aus dem Haus beladen. Alles, außer der Küche und dem großen Tisch, an dem wir mit der Lehrerin saßen und arbeiteten, verschwand im Laufe der Woche im Lastwagen. Die Lehrerin erklärte, dass sie am Wochenende vor unserem Ferienende und vor unserer Prüfung nach Norddeutschland umziehen werde. Sie hatte dort in einer privaten Schule eine neue Anstellung erhalten.

Berchtesgaden wolle sie eigentlich nicht verlassen. Sie könne aber nicht anders. Der Direktor der Bacheischule hatte ihr gesagt, dass sie dort keine Klasse mehr unterrichten werde. Ihr Unterricht unterscheide sich zu stark vom Unterricht aller anderen Lehrer. Ihr Stil passte deshalb nicht gut zusammen mit dem Stil der anderen Lehrer. Sie setzte den täglichen Unterricht mit uns zur Vorbereitung auf die Prüfung wie vereinbart bis zum Schluss fort. Die zweite Woche in ihrem Haus war aber sehr seltsam. Das Haus wirkte täglich größer. Am Freitag war es fast leer.

An den letzten zwei Ferientagen verschlechterte sich das Wetter. Es wurde kalt und es regnete viel. Der Herbst war gekommen. Der Abschied von der Lehrerin am Freitagnachmittag fiel mir sehr schwer. Ich ließ mir das aber nicht anmerken. Die Lehrerin bedauerte es sehr, dass sie nun nicht mitverfolgen konnte, ob wir unsere Prüfungen schaffen. Sie war fest davon überzeugt, dass wir die Prüfungen alle erfolgreich ablegen.

Die Prüfungen fanden an den ersten Schultagen in einem Physiksaal in der neuen Schule statt. Sie lag weit oben auf dem Obersalzberg, viel weiter oben als das Haus von Büchtler. Der Schulbus fuhr an der gleichen Bushaltestelle, Station Erika an der Bergstraße auf den Obersalzberg, von der ich Jahre lang in die Bacheischule nach unten nach Berchtesgaden gefahren war. Nun wartete ich an der Station Erika auf der anderen Straßenseite und fuhr von dort anstatt hinunter, hinauf auf den Obersalzberg.

Das Prüfungsergebnis wurde am Ende der ersten Schulwoche bekannt gegeben. Am Freitagnachmittag wurde es mir von einer Erzieherin im Haus von Büchtler mitgeteilt. Ich erhielt von der Erzieherin eine Liste auf der die Anzahl von Heften, deren Größen, und die Farben der Umschläge standen, die ich in der neuen Schule benötigte. Ich holte alles aus einem Lager neben dem Büro von Büchtler. Ich hatte es geschafft!

Von meiner alten Schulklasse verabschiedete ich mich nicht. Am Montagmorgen bestieg ich den Schulbus und fuhr nach oben. Es gab niemanden in dem Bus, der mir einen Sitzplatz anbot, aber auch niemanden, der ihn mir verwehrte. Ich setzte mich einfach. Das war neu. Die Fahrt hinauf begann. Wir alle hatten es geschafft. Die Lehrerin hatte recht behalten. Der Direktor gratulierte jedem Kind persönlich und sprach ein paar begrüßende Worte. Er brachte uns in unsere neue Schulklasse.

10. Die neue Schule

Die Schulklasse war neu zusammengewürfelt worden. Nur wenige Jugendliche in der neuen Klasse kannten sich aus früheren Schulen. Fast alle hatten wie ich eine Prüfung abgelegt um die neue Schule besuchen zu können. Vom ersten Tag an hatte ich auf der Schulbank das Gefühl einer erfolgreich gemeisterten, besonderen Anstrengung. Lehrerinnen und Lehrer vermittelten den Unterrichtsstoff anders. Was sie sagten wirkte intensiver als ich das von meinem Lehrer in der Bacheischule kannte. Nach Wochen verstand ich warum: Lehrer und Mitschüler nahmen mich ernst.

Lernen war hier genauso wenig wirklicher Spaß für mich wie auf meiner alten Schule. Aber es bedeutete etwas ganz anderes. Es ging um Zukunft und nicht darum Ärger auszuweichen. Nicht erledigte Aufgaben bedeuteten, dass ich eine Chance verpasst hatte. Als das der Direktor erklärte, verstand ich etwas ganz neues: Wenn ich eine Hausaufgabe nicht erledigte, hatte ich es verpasst etwas dazuzulernen! Das hatte ich zuvor noch nie gehört, aber es stimmte, denn ich hatte die Prüfung bestanden weil ich bei der Lehrerin neues gelernt hatte und damit eine Chance nutzte. Ich konnte die Schule nur deshalb besuchen, weil ich bereit war, neues zu lernen. Ich hatte die Chance was neues zu erreichen! Ich wollte nicht zurück in die Bacheischule, wo Michael Kopfnüsse verteilte. Ich wollte die neue Schule schaffen.

Die Schule war schwer. Sie vermittelte Dinge, deren Gebrauch in meinem Alltag weit entfernt schienen. Vieles paukte ich stur in mich hinein, ohne es richtig zu verstehen oder den Funken einer Idee zu haben, für welches praktische Gebiet das Wissen gedacht war. Trotzdem blieb es mein klares Ziel die Schule zu schaffen. Diese Schule gut abzuschließen war für mich die Eintrittskarte in meine Zukunft.

Die Lehrer forderten mich heraus. Wenn Aufsätze geschrieben wurden oder Themen bearbeitet wurden, merkten sie, dass ich Hintergrund und Zielrichtung schnell begriff. Im Unterricht kam ich deshalb mehr und mehr zu Wort. Es gelang mir sogar nicht der verhasste Streber zu sein. Bald stand ich gegenüber Klassenkameraden als einer da, der sein gelerntes Wissen und die Ergebnisse aus begriffenen Zusammenhängen gerne weitergab.

Auf der Schulbusfahrt nach oben auf den Obersalzberg schrieben sie aus meinen Hausaufgaben ab. Manche schätzten mich sehr und andere weniger. Es gab keine gehässigen Bemerkungen und Kopfnüsse auf dem Schulhof. Mit der Zeit lernte ich immer schneller. Zu Hause bei Büchtler musste ich immer weniger wiederholen, denn ich wiederholte und erklärte ständig im Schulbus gegenüber den fragenden Mitschülern.

Die Lehrer erkannten, dass etwas in mir steckte, sie bemühten sich darum es herauszuholen. Der Schuldirektor unterrichtete mich in den Fächern Deutsch, Religion und Geschichte. Er bemühte sich besonders stark und anhaltend. Ich spürte, dass er mich und die anderen Schüler ernst nahm. Das funktionierte indem er einfach zuhörte. Ich merkte, dass er von uns etwas hören wollte. Meine Beteiligung am Geschehen in der Schule und im Unterricht nahm zu. Ich meldete mich, fand Gehör und hatte das Gefühl, mehr und mehr zu wissen.

Mein Wissen war an vielen Stellen viel geringer, als das von manchem Mitschüler, denn ich hatte zuvor in der Bacheischule vieles nicht gelernt. Meine Stärke lag aber darin, schnell zu erkennen, worauf ein Lehrer hinaus wollte. Das hatte ich im Haus von Büchtler gelernt. Dort durchschaute ich worum es ging. Ich wusste, welche Absichten verfolgt wurden und fand Wege, dessen Schlägen und Anfeindungen aus dem Weg zu gehen. Das machte ich mir an der neuen Schule zu nutze.

In den Unterrichtsstunden versuchte der Direktor mit Gespräch und Diskussion die Themen zu bearbeiten. Den Mitschülern war die Methode neu. Ich erinnerte mich an die Lehrerin. Das Reden fiel mir zunehmend leichter. Mehr und mehr Mitschüler beteiligten sich. Dadurch wurden meine Aufsätze immer besser. Themen, über die zuvor in der Klasse mit dem Direktor diskutiert wurde, konnte ich besser behalten und im Aufsatz argumentieren. Der Direktor besprach die Themen ernsthaft mit uns. Er fand ständig Beispiele aus unserem Alltag. Er wollte wissen was wir dachten.

Der Schulunterricht hatte wenig mit meinem Alltag bei Büchtler zu tun. In der Schule spielte eine anderen Welt. Die neue Schule blieb für mich wie eine Schublade, die ich morgens öffnete und Nachmittags wieder schloss. Mit den Hausaufgaben flackerten Themen aus der Schule kurz in mein Leben am Obersalzberg ins Haus von Büchtler. Sie spielten dort aber keine größere Rolle.

Ich durfte meine Hausaufgaben an dem kleinen Tisch in Hartwigs und meinem Zimmer erledigen. Das war ein Privileg. Ich saß nicht mehr in dem lauten Hausaufgabenraum mit allen anderen Kindern. Am Ende der täglichen Hausaufgabenzeit ging ich in das Hausaufgabenzimmer und ließ meine Arbeiten dort von einer Erzieherin kontrollieren. Dieses Privileg hatte ich, weil ich eine andere Schule besuchte. Auf meiner Schule musste ich mehr leisten, deshalb wurde mir für die Hausaufgaben mehr Ruhe zugestanden, deshalb erhielt ich eine Sonderbehandlung. Das brachte mir im Haus von Büchtler keine neuen Freunde.
Mit meiner neuen Rolle in in der neuen Schule hatte für mich eine neue Zeitrechnung begonnen. Meine Zukunft trat in meinen Blick, sie schien nicht aussichtslos zu sein.

11. Das Mädchen

Die Zwölfjährige trug ein wunderschönes helles Sommerkleid. Die Tante hatte es ihr aus luftig leichten Stoffresten genäht. Das Mädchen wirkte darin wie eine Prinzessin im Sommerwind. Sie hüpfte auf den Fußabstreifer, rannte über die Türschwelle, während der warme Sommerwind ihr so in das Kleid blies, dass sie aussah wie ein großer Luftballon, der über die Türschwelle des Gehöftes getragen wurde.

„Tante, Tante! Gibt es heute wieder so leckere Klöpse und als Nachtisch Birnenkompott so wie gestern?“
Das Mädchen warf sich auf den Stuhl vor dem riesigen Küchentisch, so dass der laut auf dem harten Steinboden schabend einige Zentimeter nach hinten rutschte, dabei ein fürchterlich kratzendes Geräusch von sich gab, wie die Kreide an der Tafel, weshalb die Tante einen bösen Blick zu dem lachenden Mädchen warf.

„Heute gibt es Kartoffelpuffer mit Apfelkompott aus der frischen Ernte! Kannst du mir bitte aus der Speisekammer ein kleines Einwegglas Apfelmus holen?“
„Lecke, lecker!“, rief das Mädchen, sprang vom Stuhl der laut kratzend vom Tisch abrückte. Sie stürmte mit fliehendem, wehendem Kleid um den Tisch herum, rannte in die auf nördlicher Seite der großen Küche liegende Speisekammer, wo sie abrupt vor einem decken hohen Regal stoppte. Da reihten sich hunderte von Einweckgläsern.

Die Gartenernte aus dem Vorjahr hatte die Tante mit Hilfe des Mädchens den ganzen Sommer über, bis tief in den Herbst hinein, eingekocht. Alle Gläser waren mit handgeschriebenen Etiketten versehen. Die waren im Jahr zuvor vorsichtig in Wasser gelöst worden. Sie wurden auf einem Handtuch an der Fensterbank getrocknet, um Tags darauf in der rechten Schublade des Küchenbuffets zu verschwinden. Dort warteten sie auf ihre erneute Verwendung.

Die Tante suchte für jedes neu eingemachte Glas aus dem Stapel in der Schublade das passende Etikett. Das wurde dünn mit Zuckerwasser befeuchtet und an das neue Glas geklebt. Klebstoff gab es nur für viel Geld und war für diesen Zweck auch nicht notwendig. Denn der Zuckerkleber schmeckte dem Mädchen wunderbar. Sie half besonders gerne beim Kleben. Ihre feuchte Zunge war ein süßer Befeuchter. Jedes Etikett wurde von ihr säuberlich wie eine Briefmarke abgeschleckt. Mit feinem Zucker bestreut, war es eine Aufgabe, die dem Mädchen ein genießendes Lachen in ihr rundes Gesicht zauberte.

Sie half der Tante täglich beim Kochen in der großen Küche. Sie lernte die Tante bei allen anfallenden Aufgaben zu unterstützen. Besonders lieb aber war es ihr geworden, bei Arbeiten zu helfen, die anschließend eine süße Belohnung bereithielten. Das Einkochen war immer süß. Selbst Gemüse aus dem Garten, Salate, Gurken und alles andere wurde beim Einkochen zum leckeren süßen Vergnügen, wegen der zu klebenden Etiketten.

Das Mädchen lernte auf dem Hof von Tante und Onkel alles was für die Haushaltsführung notwendig war. Nach den täglichen Hausaufgaben am Küchentisch hielt die Tante eine Aufgabe bereit, für die sie die Hilfe des Mädchens benötigte. Jeden Tag ging es um das Vorkochen und Vorbereiten des Abendessens zu dem der Onkel etwas deftiges erwartete, weil er in seine tägliche Arbeit immer nur eine Dose mit zwei kleinen Broten, einer Karotte und einem Apfel mitnahm.

Das Putzen der Böden, der Waschbecken, des Badezimmers und der Toiletten lernte das Mädchen. Sie wusste wie die Wäsche in dem Waschkessel eingeweicht wurde und wie das im Feuer unter dem Kessel erhitzte Wasser möglichst gut für die unterschiedlichen Wäschegänge genutzt wurde. Sie lernte sogar den Ofen im Winter ein zu heizen und das vom Onkel klein geschlagene Holz im Schuppen noch kleiner zu spalten.

Die Tante brachte das Mädchen über die Jahre dazu, sich für die Haushaltsführung mit viel Bereitschaft und Spaß zu interessieren. Später wurde das Kochen an festgelegten Abenden zur alleinigen Aufgabe des Mädchens. Sie briet die Kartoffeln in der Pfanne, kochte die Suppe, dünstete das Gemüse und lernte von der Tante einen Braten zu Festtagen zuzubereiten. Der Ekel vor dem Rupfen der im Stall über einem Eimer ausgebluteten Hühner und Gänse war bald vorbei. Die Tante hatte eine Art damit umzugehen, die normal war wie das Sitzen am Küchentisch vor einem großen Topf zu pellender Kartoffeln. Das Mädchen lernte punktgenau einen dampfenden Wildbraten mit Kraut, Beilagen und Soße auf den Tisch zu stellen, so dass der Onkel sich abends nach der schweren Arbeit zufrieden am Esstisch auf seinem Stuhl zurück lehnte.

12. Wohnen bei der Ferienmutter

In dem Augenblick, als ich unten auf der schmalen Straße den schweren Mercedes vorfahren sah, klingelte die Eieruhr.

„Da kommen sie!“, rief ich zur Ferienmutter von der Terrasse im ersten Stock in die Küche.
„Wunderbar!“, hörte ich die Ferienmutter aus der Küche rufen.
„Der Braten ist gerade fertig!“

Die Begrüßung zwischen der Ferienmutter und ihren Eltern war herzlich. Sie reichte beiden die Hand und umarmte sie. Wir setzten uns an den edel gedeckten Tisch. Die Ferienmutter hatte mir aufgetragen, die goldenen Serviettenringe mit einem Lappen und einer hellen Paste zu putzen. Ich bemühte mich, doch ich schaffte es nicht den Ringen zu dem erwarteten Glanz zu verhelfen. Schließlich hatte sie selbst diese Aufgabe übernommen, während sie mich vom kalten Terrassentisch, an dem sie das Silber putzte, anwies wie der Tisch zu decken war. Ich hatte meine Mühe damit. Weder Tischordnung, noch Gedecke richtig zu legen waren mir jemals beigebracht worden. Im Haus bei Büchtler wurde der Teller hingestellt, das Besteck daneben gelegt und fertig. Das war bei der Ferienmutter ganz anders.

Ich war in deren Haushalt eingezogen und begann neben der Schule, in der fast alles für mich neu gewesen war, nun auch dort alles neu zu erlernen. Sie hatte klare Vorstellungen davon wie Haushalt und Küche zu organisieren waren. In der Küche gab es eindeutige Strukturen und Zeitpläne, die exakt eingehalten wurden. Das hatte ihr die Tante nach dem Krieg Jahre lang auf dem Gehöft ihrer Eltern beigebracht. Der Esstisch war stets nach der gleichen Ordnung zu decken. Die Ordnung wurde noch penibler geprüft, wenn hoher Besuch angemeldet war. Die Eltern der Ferienmutter waren allerhöchster Besuch.

Tischdecken, Gläser, Besteck, Serviettenringe, alles hatte in exakter Ordnung seinen Platz auf dem Tisch und es hatte sauber zu blitzen. Die Ferienmutter bemühte sich darum mich in diese Ordnung einzuführen. Sie ließ keinen Zweifel daran, dass die Ordnung auch wenn ich sie nach zwei Jahren in ihrem gut geführten Haushalt immer noch nicht richtig gelernt hatte, unverzichtbar in einen zivilisierten Haushalt gehörte. Dass ich das wohl nicht mehr lernen würde, offenbarte sich von Jahr zu Jahr stärker. Das war für sie aber kein Grund, ihre Bemühungen um mich einzustellen. Im Gegenteil: Ich wurde immer wieder aufs Neue eingewiesen.

Wenn der Feriengroßvater von der weiten Ostsee zu Besuch kam, dann verdiente er es einen Teil des Regimentes im Haushalt der Ferienmutter zu übernehmen. Das Tischgebet, sonst von der Ferienmutter gesprochen, war Angelegenheit des Feriengroßvaters. Sein Dank für die Speisen auf dem Tisch galt Gott allein. Den machte er ausführlich für alle Gaben verantwortlich von denen ein guter Mensch in schlechter aber vor allem guter Zeit profitierte.

Der Feriengroßvater sprach am Tisch nicht mit mir. Er unterhielt sich mit seiner Tochter über mich. Es sei ein bewundernswert löblicher Zug einen Menschen der offensichtlich dringend Hilfe benötigte aufzunehmen. Er und die Feriengroßmutter, die lächelnd zustimmte, sahen ein breites Lernfeld das ich unbedingt benötigte. Die Feriengroßmutter sagte wenig. Sie vertrat größtenteils schweigend die gute Meinung ihres Mannes. Einzig als der Dank an Gott besprochen wurde, sagte sie, dass es der Tochter sicher sei, eines Tages in den Himmel zu kommen, weil sie letztlich meiner Aufnahme nicht nur zugestimmt habe, sondern sich sehr aktiv bei Büchtler dafür eingesetzt hatte.

Das Wildmenü schmeckte den beiden vorzüglich. Dunkles Fleisch so zart zuzubereiten, dass es beinahe auf der Zunge zergehe, sei eine hohe Kunst. Der Feriengroßvater berichtete ausschweifend von der letzten Jagd, die leider erfolglos verlaufen war, nachdem sein sicher geglaubter Treffer sich beim Annähern an das Reh als Streifschuss erwies. Das Tier war vor seinen Augen verletzt in den Wald geflüchtet, noch bevor er seine Büchse erneut auf es anlegen konnte.

Abends auf dem Gehöft genoss der Onkel das feine Birnenkompott. Am Abendbrottisch berichtete er, dass in der Arbeit ein neues Räumkommando und ein Räumungsplan für die kommende Woche beschlossen worden war. Das wäre endlich die lange erwartete Freigabe für den riesigen Kartoffelacker am Waldrand hinter dem Gehöft. Wenn alles gut ginge und keine Blindgängerbombe den breiten Acker in einen tiefen Krater zersprenge, dann könne der Gemüseanbau schon in der übernächsten Woche beginnen.

Die Tante war von dieser Nachricht begeistert. Sie freute sich darauf das riesige Feld bald zu bewirtschaften. Die Versorgungslage war katastrophal. Zwar hatten alle Menschen auf den umliegenden Höfen wegen ihrer kleinen Gemüsegärten genug zu essen, doch im Ort gab es noch viele Menschen die nach wie vor hungerten. Nächtliche Einbrüche in den Höfen, vor allem in deren Speisekammern, waren häufig. Erst in der Vorwoche wurde ein junger Mann beinahe zu Tode geprügelt, weil er auf dem Nachbarhof beim Eierdiebstahl erwischt worden war. Seine schwer kranke Mutter hatte ihn beauftragt auf dem Markt einzukaufen, doch die Preise waren so gestiegen, dass der Speiseplan unmöglich zu bezahlen war.

Das Mädchen hörte den Gesprächen von Tante und Onkel am Tisch jeden Abend aufmerksam zu. Sie freute sich, wenn der Onkel eine Geschichte aus der Arbeit mitbrachte, die die Tante lächeln ließ. Solche Geschichte gab es selten.

Der Räumungsplan, um eventuelle Blindgänger aus den Feldern und Wäldern aufzuspüren und zu entfernen, war so eine Geschichte. Die ganze Umgebung des Hofes war für das Mädchen und für die Arbeiterinnen auf dem Feld tabu. Täglich las die Tante in der Zeitung von Unfällen auf Grund von Explosionen. Bauern die keine Geduld aufbrachten, die Räumungspläne mit ihren Kommandos abzuwarten, fuhren mit ihren schweren Traktoren und Pflügen, manchmal auch nur mit einem Handpflug oder Pferdekarren auf Blindgänger auf.

Den unsäglich vielen sinnlosen Toten des Krieges, so sagte der Onkel am Abendbrottisch, folgten noch unsäglich viele Unvernünftige nach. Das waren solche die entweder selbst Hunger litten, nicht selten aber auch welche die Hungernden ihre Lebensmittel auf dem Markt für viel Geld verkaufen wollten. Einen Bauern aus der Nachbarschaft zählte der Onkel dazu. Er hatte Wochen zuvor seinen Sohn verloren, weil er ihn auf ein Feld geschickt hatte. Dort zerfetzte die Bombe den Sohn so, dass der unauffindbar in einem Krater unter gesprengten Erdmassen verschluckt von braunen Steinen und Lehm begraben worden war.

Manchmal erschrak das Mädchen wegen solcher Geschichten. Aber der Onkel sagte, dass es wichtig sei das zu hören und zu wissen. Denn solange nicht geräumt und freigegeben war lauerten tödliche Gefahren auf den Feldern und in den Wäldern. Das Mädchen bewegte sich Nachmittags nicht weg vom Hof. Vormittags zur Schule ging sie stets auf dem befestigten Weg der vom Hof hinunter zum Deich an die Ostsee führte.

Der Onkel wurde von den Besatzern als Experte für Logistik, Strategie und für die Planung der Räumung eingesetzt. Seine Erfahrung als anfänglich hoher Befehlshaber im zurückliegenden Krieg hatte ihn dazu befähigt. Er galt den Besatzern als jemand, der seine Karriere aus Überzeugung nicht weitergeführt hatte. Sie gewannen ihn als Partner für die Aufgabe.

Im Krieg war er von seinen Ämtern nicht suspendiert worden, sondern er wurde schlicht nicht weiter eingesetzt. Er hatte sich in seinem Amt so weit zurückgezogen, dass andere an seiner Stelle in militärische Würden versetzt wurden. Zuletzt war er straf versetzt worden und so trotz seines hohen militärischen Ranges endgültig in militärische Bedeutungslosigkeit geraten.

Einzig sein Bruder hatte ihn weiterhin in seinem militärischen Rang gesehen. Noch zu Kriegsende hatte ihn der Bruder am Mittagstisch in strengem Ton als verantwortungslosen General beschimpft. Die Sache des Führers und Sieges, so der Bruder, sei noch lange nicht verloren. Verrat werde letztlich jeden sträflich treffen der sich aus Verantwortung und Pflicht am Volke ohne Not entbunden habe.

„Was willst Du damit behaupten?“, schrie der Onkel seinen Bruder an.
Es war eines der letzten Gespräche auf dem Gehöft zwischen beiden, kurz vor dem Kriegsende. Die Tante erschrak so, dass sie kurz die Augen schloss, sich aber gleich wieder fand. Sie stand vom Tisch auf um in der Speisekammer nach einer Glasschüssel mit Kompott vom Vortag zu sehen.

„Damit sage ich Dir, dass wir diesen Krieg dem Endsieg entgegen führen werden und nicht Ruhe geben bis erreicht ist wozu wir uns dem Führer verpflichtet haben: Den Bolschewisten endgültig auszurotten um uns und den Führer in die Freiheit von diesem Teufelsjoch zu führen!“
Der Bruder hatte geschrien, als habe er einen Verurteilten vor sich, dem er die letzten belehrenden Worte eines Urteils um die Ohren warf.
„Und das mit Millionen Toten und nichts als Rauch und brennender Landschaft in ganz Europa?“
Der Onkel hatte das sehr ruhig gefragt und seinem Bruder dabei fest in die Augen gesehen. Der aber bebte vor Wut. Er erhob sich vom Tisch, riss die Tischdecke ein Stück mit sich, packte seine Frau bei der Hand, die sich daraufhin sofort mit ihm vom Mittagstisch erhob.
„Komm wir gehen! Wir haben im Haus eines Deserteurs, der sich immer noch General schimpft, aber in Wahrheit ein feiger Fahnenflüchtling ist, endgültig nichts weiter verloren!“

Der Onkel blieb wortlos am Tisch sitzen, während der Bruder zusammen mit seiner Frau eilig stampfend die Wohnung verließ. Das war die letzte Begegnung zwischen beiden Brüdern vor Kriegsende gewesen. Der Bruder und Vater des Mädchens verschwand wenig später in einem Gefangenenlager. Sein Schicksal blieb jahrelang ungewiss.

Nach Kriegsende sah sich die Mutter des Mädchens nicht in der Lage das Kind alleine zu erziehen. Sie war über die Kriegsgefangenschaft ihres Mannes schwer krank geworden. Deshalb bat sie die Tante und den Onkel um Hilfe. Beide zogen auf das Gehöft, wo sie sofort bereit waren das Kind aufzunehmen. Die verbitterte Mutter lebte jahrelang in einer Wohnung im Ort, wo sie die Rückkehr ihres Mannes aus der Kriegsgefangenschaft abwartete. Als der viele Jahre nach Kriegsende zurückkehrte, bezogen beide wieder das Wohnhaus auf dem Gehöft.

„Ist es richtig, dass Du Deine besten Jahre jetzt für die Erziehung dieses Buben aus einem Kinderheim opferst?“
Auf seine Frage bei Tisch erwartete der Feriengroßvater von der Ferienmutter keine Antwort. Die reichte ihm die Schüssel mit der Nachspeise.
„Ob sich Dein Opfer lohnt, das werden wir wohl erst in Jahren erfahren. Wie ich höre macht der Junge aber schon deutliche Fortschritte?“
Nun erwartete er eine Antwort. Die Ferienmutter sagte:
„In der Schule hat er es zu wirklich guten Noten gebracht, binnen nur eines Jahres stehen da heute nur noch Zweien im Zeugnis.“
Die Ferienmutter sah mich ermunternd an, während sie dem Feriengroßvater weiter antwortete:
„Es ist halt mühsam das Lernen jeden Nachmittag. Aber die Mühe zahlt sich mehr und mehr aus.“

Ich nickte und lächelte. Tatsächlich waren meine Noten, seitdem ich in den Haushalt zur Ferienmutter gezogen war, viel besser geworden. In der Schulklasse war ich zu einem der besten Schüler geworden. Jeden Nachmittag saß ich zusammen mit der Ferienmutter über meinen Schularbeiten. Sie erzog mich zu regelmäßigem, stundenlangem Lernen in meinem kleinen Zimmer. Dort hatte ich einen kleinen Schreibtisch und jeden Nachmittag viel Ruhe. Täglich erhielt ich ab Punkt vier Uhr Nachmittags ihre Unterstützung. Sie fragte mich Vokabeln ab und sie korrigierte mit mir gemeinsam meine vielen Fehler in den Schulheften. Die Fehler wurden immer weniger.

„Dann wird ja hoffentlich ein ordentlicher Junge aus dir.“
Jetzt sah der Feriengroßvater mich an. Er hatte mich angesprochen. Ich nickte und lächelte, antwortete aber nicht.
„Es ist schlimm genug, was in diesem Land mit jungen Menschen geschieht. Da ist jeder der vor dem Abgrund gerettet wird wichtig. Denn man kann sich heute ja kaum mehr hinaus auf die Straße trauen. Das junge Gesindel, das überall bedrohlich zunimmt, weiß nichts mit sich anzufangen! Das ist erschreckend und es ist eine große Gefahr. Aggression gegen Alte, die ihr Leben lang gearbeitet haben, ist da nicht weit!“
„Das wollen wir bei dir mal nicht hoffen“, sagte jetzt überraschend die Feriengroßmutter. Sie hatte das Mittagessen hindurch geschwiegen.
Sofort übernahm der Feriengroßvater wieder das Wort.
„Genau solche Gefahr: Das unnütze herum Gammeln der Jugend habe ich hier im Ort schon oft gesehen. Deshalb ist es wirklich Pflicht dem Buben zu helfen, damit etwas aus ihm wird!“

Die Räumung der Felder um das Gehöft brachte es mit sich, dass eine Vielzahl von Fahrzeugen, schwerem Gerät und ein großer Räumtrupp tagelang auf dem Gehöft und in dessen Ställen einquartiert wurde. Die Tante und das Mädchen hatten eine Woche lang für mehr als zwanzig Menschen zu kochen.

Vor Beginn der Unterbringung und der Arbeiten des Räumtrupps mussten im Haus alle Spuren der Kriegsvergangenheit des Vaters des Mädchens, der in Kriegsgefangenschaft war, beseitigt werden. Der Onkel fürchtete nämlich, dass der Räumtrupp die Spuren im Haus fälschlicher Weise ihm zuordnen könnte. Das hätte die Zusammenarbeit mit dem Räumtrupp behindert, weil es ihn unnötig in Erklärungsnot gebracht hätte.

Vor dem Eintreffen des Räumtrupps wurden ein ganzes Wochenende lang Uniformen, Kleidung, alte Fotos, kistenweise Schriftstücke und eine Vielzahl militärischer Dinge wie Helme, aber auch Orden hinauf auf den Speicher gebracht. Im Wohnhaus wurden Schränke abgebaut und auf dem riesigen Speicher wieder aufgestellt. Darin wurde alles verstaut, was zuvor aus Schränken und Zimmern in Erdgeschoss und erstem Stock des Hauses zusammengetragen worden war.

Der große Speicher lag versteckt hinter einer Tür im ersten Stock. Der Onkel ließ die Holzverkleidung im Treppenhaus und die Speichertüre von der Tante frisch streichen. Der Speicher wurde vom Onkel gut verschlossen. Nichts im Haus sollte an seinen Bruder und dessen Überzeugung erinnern. Die Aufklärungen nach dem Krieg waren bei weitem nicht abgeschlossen. Der Onkel wollte auf keinen Fall, dass ein Verdacht, der im Grunde seinem Bruder zuzuordnen war, auf ihn gelenkt wurde. Er war überzeugt von der Wichtigkeit seiner Arbeit. Ihm war es wichtig gewesen, möglichst schnell die Räumung gefährlicher Blindgänger zu organisieren, weil davon der normale Lebensalltag der Menschen in der Gegend und deren Versorgung abhängig waren. Ein falsches Gerücht, wegen alter Kriegsgegenstände im Haus, hätte die Zusammenarbeit mit dem Räumtrupp gefährdet.

Ein Prozess der dem Bruder in Kriegsgefangenschaft galt, hatte kurz vor Beginn der Räumungsarbeiten begonnen. Der Onkel musste mehrfach in die Stadt fahren um sich dort verhören zu lassen. Er wurde als Zeuge vernommen.

Dem Bruder und drei Soldaten die unter dessen Kommando standen, wurde vorgeworfen, kurz vor Kriegsende zwei junge Burschen nicht vor deren sicheren Tod bewahrt zu haben. Der Vorwurf lautete, dass die Burschen wegen Feigheit von den drei Soldaten erschossen worden seinen, was wiederum der kommandierende Bruder angeordnet habe. Nichts ungewöhnliches im Krieg. Entscheidend in dem Prozess war aber, dass zu dem Zeitpunkt, als der Bruder den Tod der zwei Burschen anordnete, der Krieg schon vorbei gewesen war. Hauptklärungsfrage in dem Prozess war gewesen, ob der befehlshabende Bruder, oder die befehlsausführenden Soldaten wussten, dass der Krieg beendet war. Zu dieser Klärung konnte der Onkel keinen Beitrag leisten.

Abends am Tisch erzählte der Onkel von den Belastungen aus dem Prozess. Das Mädchen hörte aufmerksam zu. Der Onkel betonte, dass sein Bruder und Vater des Mädchens formal kein Unrecht getan habe. Außer Pflichterfüllung sei ihm nichts vorzuwerfen. Der Onkel berichtete dem Gericht zwar von unterschiedlichen Meinungen, die hin und wieder in Gesprächen zwischen den Brüdern aufgetaucht seien, das sei aber normal zwischen Geschwistern. Politisch seien die Auseinandersetzungen zwischen den Brüdern während des Krieges nie gewesen. Grundsätzlich glaubte er nie und nimmer, dass seinem Bruder das vorgeworfene Verhalten ernst gemeint zur Last gelegt werden dürfe. In seinen Augen sei er kein Überzeugungstäter gewesen, sondern gehorsamer Befehlsempfänger. Folglich sei es wohl sehr unwahrscheinlich, dass der Bruder, wenn dem bekannt war, dass der Krieg vorbei war, noch Befehle zur Erschießung Fahnenflüchtiger erteilt habe.

Das Räumen der Felder war mühsam aber lohnend. Es wurden drei Blindgänger gefunden die vor Ort entschärft werden konnten, weil ihre Lage in der Erde so gut war, dass sie zum Entschärfen nicht bewegt werden mussten. Es gab keine Sprengung. Der Wald, der Tümpel, die Felder und die gesperrten Feldwege wurden allesamt nach einer Woche freigegeben. Sofort begann der Onkel unterstützt durch Nachbarn mit dem Anbau auf den Feldern. Die Arbeit erledigten die Bauern aus der Nachbarschaft, während der Onkel weiter die Räumungen in anderen Gebieten plante. Die Versorgungslage in der Gegend wurde von Jahr zu Jahr besser. Mehr und mehr Bauern konnten ihre Felder und Höfe wieder bewirtschaften.

Das Mädchen war bei Onkel und Tante erwachsen geworden. Sie half nach Kräften in der Landwirtschaft. Daneben besuchte sie die Schule und machte schließlich Abitur. Die spätere Rückkehr ihres Vaters aus der Kriegsgefangenschaft brachte der Familie nicht nur Freude. Sofort brachen zwischen dem Onkel und dem Bruder alte Streitigkeiten auf. Der Bruder war überzeugt, dass der Krieg moralisch rechtens gewesen war und der sichere Sieg nur von feigen Fahnenflüchtlingen und Kollaborateuren des Feindes vereitelt worden war. Er schimpfte über das Unrecht das er in Gefangenschaft erlebt hatte.

Onkel und Tante mussten wegen der vielen Streitigkeiten mit dem Bruder schließlich aus dem Gehöft ausziehen. Das Mädchen wohnte zu dem Zeitpunkt schon ein Jahr lang in der Stadt, wo sie mit einem Studium begonnen hatte. Viele Jahre später stieß sie auf mich, den Bedürftigen aus Büchtlers Haus am Obersalzberg, um zunächst meine Ferienmutter beim sommerlichen Besuch ihrer Eltern auf dem Gehöft an der Ostsee zu sein, und um mich wenig später für einige Jahre bis zu meinem Volljährigkeitsalter in ihr Haus aufzunehmen.

13. Wohngemeinschaft

Am ersten Schultag in der Fachoberschule spürte ich den Wunsch in Berchtesgaden geblieben zu sein. Dort hatte ich Sicherheit gehabt. Sie bedeutete Routine und Gespräche. Manchmal war das dumpfe bayerische Geplapper und Geplärre der Mitschüler, das ich seit Jahren kannte, nervig aber es war alltäglich. Das fehlte nun völlig denn ich kannte in der neuen Schule niemanden. Mir blieb deshalb Zurückhaltung und Beobachtung.

Richard war ein Blondschopf. Er trug leicht gewellte helle Haare, hatte lange Arme mit riesigen Händen und eine laute tiefe Stimme. Er begann einfach mit den Leuten um sich herum zu sprechen. Eine Gruppe von etwa dreißig Schülern in einem grauen Neonlicht beleuchteten Flur vor verschlossenen Klassenzimmern. Ich stand beobachtend etwas abseits von wo ich Richard hörte:

„In welchem Club sind wir denn hier gelandet?“
Ein kleinerer Typ mit runder John-Lennon-Nickelbrille antwortete Richard, wohl weil er direkt neben ihm stand:
„Das wird doch nicht der Club der grauen Betonköppe sein, so wie die Bude hier aussieht?“
Richard daraufhin:
„Na, na, na, sind wir mal froh, dass die uns hier überhaupt rein lassen. Hast Du auch so eine dämliche Absage bekommen mit Nummer und Option auf einen Platz in dieser Schule?“

Das war mir passiert. Weil ich nicht aus München stammte und das Angebot an Schulplätzen begrenzt gewesen war, hatte ich zunächst eine Absage erhalten. Erst eine Woche vor Schuljahresbeginn fand ich die Zusage im Briefkasten.

Der Typ mit der Nickelbrille hieß Thomas. Er ärgerte sich über den Bau und den finsteren Flur in dem wir warten mussten. Zum Gespräch der beiden, das ich als pauschale Lästerei über das Gebäude, die Schule und die Schulverwaltung erkannte, gesellten sich nun zwei junge Mädchen. Annette und Sofia. Annette wirkte aufgedonnert, ihr blondiertes Haar stand ihr zu Berge. Ein Anfang der achtziger Jahre üblicher Stil zwischen Punk und New Wave. Sie war groß, sprach laut und lachte laut. Ich fand etwas zu laut. Das wirkte herablassend beinahe gehässig. Vielleicht waren ihre Worte sarkastisch? Ich hörte leider nicht was sie Thomas und Richard zu sagen hatte, denn ich stand noch zu weit entfernt. Sofia war klein, schwarz haarig, sie trug sackartige Kleider, die in bunten Farben leuchteten. Sie sprach viel leiser als Annette. Von ihr hörte ich nicht einmal ihr Lachen, während das von Annette unkontrolliert durch den grauen Gang schallte.

Die Gruppe der vier interessierte mich. Sie waren die einzigen unter den neuen Klassenkameraden, die sich an dem Morgen in einem Gespräch näher kamen. Darin sah ich eine Chance. Ich wollte endlich der gespenstischen Ruhe, die sich seit meinem Umzug nach München in mir breit gemacht hatte, entkommen. Ich sagte mir: Du bist nun dran! Ich näherte mich der gesprächigen Gruppe. Jetzt hörte ich was gesprochen wurde. Es war Ärger darüber, dass wir so lange vor der Klassenzimmertür warten mussten.

Auch ich hatte hier zu warten. Ich mischte mich ein. Ich schloss mich dem Schimpfen der vier an. Ich erfand Beispiele dafür, was ich in dem Augenblick besseres zu tun hätte, wenn ich nicht gezwungen wäre vor der Türe in dem grauen Betonflur zu waren. Ich hatte nichts zu tun. Es gab an dem Tag nichts für mich was sinnvoller gewesen wäre. Trotzdem ärgerte ich mich zusammen mit den Viren über die sinnlose Warterei. Der Inhalt unseres Gespräches war Nebensache, er war belangloses Gequatsche. Ich hatte es geschafft. Ich sprach mit den ersten neuen Freunden in meiner neuen Stadt.

Vor meiner Wohngemeinschaft hatte ich ein altes Auto stehen. Darüber sprach ich, denn ich wollte diese alte Karre reparieren, hatte aber keine Ahnung, wie ich das anstellen könnte. Das Auto hatte ich nahe Berchtesgaden bei einem Schrotthändler gekauft. Die technische Überprüfung war jetzt fällig geworden. An der Rostlaube gab es jede Menge Reparaturbedarf.

„Ruft da mal bei Mikes Ersatzteilrampe an“, hörte ich von Thomas.
„Mike schlachtet die Dinger aus und verkauft gebrauchte Teile für jeden Typ. Ein Käfer ist überhaupt kein Problem, dafür hat Mike alles da. Die Telefonnummer kann ich dir aufschreiben.“
Das Auto zu reparieren, war die einzige Beschäftigung, die mir einfiel, die für mich gerade an stand. Ich wollte den Wagen wieder fit machen und verkaufen.
„Wir könnten deine Rostmühle mal zusammen anschauen, wenn du willst. Habe schon einige derartige Schrottlauben repariert.“
Das war ein Angebot. Ich nickte Thomas zu und erklärte ihm wo meine Wohngemeinschaft lag.

Im Klassenzimmer standen die Tische in U-Eisenform. Das ermöglichte es, dass fünf Personen in gesprächiger Nähe zueinander Sitzplätze fanden. Wir setzten uns an eine Ecke dieses U-Eisens so dass Blickkontakt möglich war. Am Ende des ersten Schultages saß ich zusammen mit den vier neuen Klassenkameraden in einer Kneipe. Annette hatte die Kneipe vorgeschlagen. Es war ihr Arbeitsplatz, an dem sie täglich ab siebzehn Uhr anzutreten hatte. Sie bediente dort jede Nacht bis ein Uhr früh. Erst in der Kneipe wurde mir bewusst, dass es tatsächlich ernst zu nehmende Alternativen gab, Zeit zu verbringen. Annettes Alternative war es, die halbe Stunde des sinnlosen Wartens am Morgen vor dem Klassenzimmer einfach länger zu schlafen. Sie war permanent sehr müde wegen des Kneipenjobs. Für mich war die sinnlose halbe Stunde gut. Jetzt hatte ich Kontakt.

In der Kneipe war ich damit beschäftigt meine Verunsicherung zu überspielen. Arbeit diente der Sicherung des Lebensunterhaltes. Annette hatte ihren Job bitter nötig. Sie lebte von dem Geld das sie damit verdiente. Nur mit dieser Arbeit, von Nachmittags bis spät in die Nacht hinein, konnte sie die Miete für ihr Zimmer in ihrer Wohngemeinschaft und Lebensmittel bezahlen. Annette wollte in zwei Jahren den Abschluss an der Fachoberschule schaffen, um dann zu studieren. Ich staunte innerlich, denn sie war in meinem Alter. Ich aber hatte noch nie richtig gearbeitet.

Logik die Annette hinter ihrem Schulbesuch sah, das Ziel, die Klarheit, mit der sie wegen des Geldes für ihren Lebensunterhalt ihren Kneipenjob erledigte, all das war mir fremd. Ihre Eltern hatten sie in der Luft hängen gelassen. Von denen erzählte sie, war für sie nichts mehr zu erwarten. Sie lebte schon seit knapp drei Jahren in einer Wohngemeinschaft mit drei Studenten. Alles was sie täglich benötigte verdiente sie selbst. Von den Eltern komme sie nichts, weil die für sich selbst kaum genügend Geld hätten.

Ich hatte in München ein Zimmer in einer kleinen Wohngemeinschaft gefunden. Es war eine sogenannte Zweckwohngemeinschaft. Davon sprach man, wenn die Bewohner außer dem Zweck des Zusammenwohnens keine weiteren Absichten miteinander verfolgten. Man könnte auch sagen, dass die Bewohner nicht miteinander befreundet waren.

Christian, ein Bekannter aus Berchtesgaden war wie ich nach München gezogen. Er hatte mich wegen der Zweck-WG angesprochen. Er habe eine kleine Dreizimmerwohnung an der Hand. In diese wolle er mit einer Bekannten einziehen. Es würde aber noch ein Mitbewohner fehlen um die Miete zu berappen. Für mich war das Angebot ideal. Ich brauchte mich um nichts weiter als meinen Umzug zu kümmern. Weil ich in München noch niemanden gekannt hatte fand ich Christians Angebot gut. Was eine Zweck-WG war lernte ich erst im Laufe der Zeit.

Ich fuhr meinen kleinen Hausstand in dem schrottreifen Käfer von Berchtesgaden nach München. Die Zweck-WG lag am südöstlichen Stadtrand, direkt an der Autobahn. Vor meinem Fenster im ersten Stock rasten Autos und LKW auf sechs Autobahnspuren Tag und Nacht dahin. Das machte mir nichts aus. Auch Christian störte der Verkehrslärm nicht. Er fiel nach der Arbeit kaputt in sein Bett.

Christian arbeitete abends in einem Fitnesscenter und besuchte tagsüber eine Berufsoberschule. Die tägliche Arbeit neben der Schule war kein Spaß. Das begriff ich wegen Annette und Christian. Ich konnte mir nicht vorstellen beides unter einen Hut zu bringen. Christian arbeitete genauso wie Annette jeden Tag bis tief in die Nacht.

Ich stellte mir einfach vor, beide hätten mit ihrer Arbeit neben dem Schulbesuch einen Weg eingeschlagen, der die Flucht sowohl in das eine als auch das Andere ermöglichte. Wenn es in der Arbeit nicht gut lief, konnte die Schule ein Grund dafür sein, lief die Schule schlecht, war Grund dafür die Arbeit. So dachte ich darüber. Ich suchte nach Gründen die rechtfertigten, dass ich neben der Schule nicht arbeitete.

Arbeit war kein Zeitvertreib, genauso wenig wie die Schule. Damals fragte ich mich nämlich oft, wo denn der rechte Sinn meines Schulbesuchs lag? Ich sah darin überwiegend den Zeitvertreib. Was sonst sollte ich tun? Ich hatte Büchtlers Haus am Obersalzberg hinter mich gebracht, ich war der Bacheischule in Berchtesgaden entkommen und hatte auf dem Obersalzberg die Realschule geschafft. Annette und Christian hatten ganz andere Motive zu arbeiten und die Schule zu besuchen. Sie hatten ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Diese Wahrheit war für mich neu.

Ich stellte mich in der neuen Schule zu einer Gruppe und stieg in die gesprächige Runde um Richard, Thomas, Sofia und Annette ein. War mir die Lust danach, klinkte ich mich wieder aus. Ich ließ mich von Christian in die Zweck-WG aufnehmen und lebte dort neben der Autobahn dahin. Warum ich dort lebte, dass ich nicht arbeitete um die Schule zu besuchen, warum ich den Lärm neben der Autobahn nicht hörte, das wusste ich nicht. Ich sah mich um und hörte zu. Ich stellte mich dazu und beobachtete das Leben und Geschehen um mich herum.

14. München

Die Stadt tobte um mich herum. Ich kannte das nicht. Sie bedeutete eine riesengroße Umstellung. Berchtesgaden mit seinen Bergketten war ein abgelaufener Film. Er war weg wie eine Vision die nach einem Filmabend im Kopf noch kurz weiterlebt. Er war weg wie auch das Gefühl nach dem Kino weggeht in eine andere Welt getaucht zu sein.

Die Stadt war gewöhnungsbedürftig. Sie forderte mich. Nicht weil es in ihr stank und lärmte, auch weil sie voll war von Menschen und weil sie über den Haufen warf, woran ich zuvor naiv geglaubt hatte. Geld und Kommerz waren wichtig in der Stadt. Einkaufen gehörte zu den Hauptbeschäftigungen von Christian und seiner Bekannten.

Die Bekannte sah ich kaum. Sie schien ihr Zimmer in der Zweck-WG als Kleiderlager zu nutzen. Dort stapelte sie im Laufe der Woche einen Berg Kleidung. Christian erzählte mir, dass sie einen Freund habe bei dem sie wohne. In der Zweck-WG erschien sie meist kurz vor sieben Uhr abends um sich umzuziehen. Am Wochenende kam sie samstags mit großen Einkaufstüten, in denen sich neu eingekaufte Kleidung befand. Die sortierte sie in ihre Schränke. Sie verstaute in ihren Einkaufstüten die im Laufe der Vorwoche gestapelte schmutzige Wäsche und verschwand. Montags ging das Spiel von neuem los. Sie erschien um neunzehn Uhr, zog sich in ihrem Zimmer um und verschwand wieder.

Das Leben in der Stadt schien mit meinem Leben zuvor nichts zu tun zu haben. Was die Bekannte von Christian tagsüber machte, warum sie in der Zweck-WG ein Zimmer gemietet hatte, warum sie ständig neue Kleidung kaufte und täglich kam um sich umzuziehen? Keine Ahnung, das musste mit dem Leben in der Stadt zusammenhängen. In der Stadt ging es anonym zu. Da konnte man wohnen, ohne dass jemand nach dem Zweck des Wohnens fragte. Wichtig war vor allem, dass die Bekannte von Christian dafür bezahlte.

Christian interessierte sich nicht dafür was seine Bekannte tat. Er wusste weder wo ihr Freund lebte, noch ob seine Bekannte tagsüber einer Arbeit nachging, zur Schule ging oder nichts dergleichen tat. Das war ihm völlig egal solange sie die Miete für ihr Zimmer regelmäßig an den Vermieter seiner Zweck-WG überwies. Im Gegenteil, nach einigen Wochen des Zusammenlebens hatte ich das Gefühl, dass Christian es gut fand, seine Bekannte in der Wohnung so selten zu sehen.

Christians Hauptbeschäftigung am Wochenende war das Einkaufen. Dafür nahm er sich viel Zeit. Während der Woche hatte er wegen seines Schulbesuchs und seiner Arbeit dafür keine Zeit. Er kam täglich mittags gegen vierzehn Uhr von der Schule kurz nach Hause, zog sich um und verschwand schon um fünfzehn Uhr wieder. Er erledigte Hausaufgaben und Lernen für die Berufsoberschule offenbar irgendwie neben seiner täglichen Arbeit im Fitnesscenter. In der Zweck-WG erschien er abends nach der Arbeit gegen dreiundzwanzig Uhr.

Samstags fuhr er gegen neun Uhr morgens los, um genügend Zeit für das Einkaufen zu haben. Die Stunden bis um vierzehn Uhr die Geschäfte schlossen, graste er alle möglichen größeren und kleineren Möbelmärkte rund um die Stadt ab. Das tat er zusammen mit seiner Freundin die jedes Wochenende am Freitagabend in die Zweck-WG einzog. Jeden Samstag nahmen sich die beiden ein neues Gewerbegebiet irgendwo am Stadtrand vor.

Genauso wie Christian war dessen Freundin begeisterte Einkäuferin. Es ging ihr hauptsächlich um Kleinigkeiten, die aber wohl entscheidend waren. Ein kleines Deckchen hier, ein Kissen dort, ein Farbtupfer auf dem Fernsehgerät, ein hübsches, dekoratives Stückchen auf dem Fensterbrett. Das alles war reine Geschmackssache. Es bewies ihren Stil. Wegen Kleinigkeiten lohnte es sich, am Samstag immer weiter wegzufahren, um in einem neuen Möbelmarkt hübsche Dinge, die sie Accessoires nannte, einzukaufen. Daran konnte sie sich mit Christian zusammen freuen. Das war deren Lohn der Arbeit.

Ich sah die beiden wenig miteinander lachen. Ich hatte oft den Eindruck sie ärgerten sich über ihren Einkauf. Die Qualität der Waren gefiel meist nicht. Das Objekt war oft doch nicht der erhoffte Schlager, weil die Farbkomposition auf dem Fensterbrett an der Autobahn nicht ganz mit dem Ton des Vorhangs harmonierte. Der Verkäufer hatte meist falsch beraten. Er hatte vom ursprünglich angedachten Objekt abgeraten, was sich in der Zweck-WG an der Autobahn stets als „Geschmacks-Katastrophe“ erwies. Das Resultat: Der eigene Geschmack ist doch am verlässlichsten! Die Beratung im Geschäft war mal wieder ein großer Reinfall! Das Objekt wird nächstes Wochenende umgetauscht!

Wohnen in der Stadt war nicht wohnen weil man halt ein Zimmer oder eine Wohnung brauchte in der man wohnte, von der aus man lebte. Es schien eher eine Stilfrage zu sein. Es ging darum die Anonymität der Stadt zu nutzen. Es schien darum zu gehen sich selbst zu zeigen, dass man konnte wie man wollte. Zu können wie man wollte bedeutete frei zu sein. Geld das er verdiente konnte er ausgeben wie er das wollte. Das war seine Freiheit. „Tinnef“, den er zusammen mit seiner Freundin einkaufte war beider Glück. Deren Glück wurde getrübt, wenn beide sich nach jedem Einkauf konsequent über die erworbenen Stücke und die Verkäufer ärgerten. Das wiederum gehörte zu der Art, wie beide Freiheit definierten. Einkaufen und über das Eingekaufte meckern. Das war der Kick! Freiheit war, wenn Waren durch Umtausch am folgenden Wochenende gekrönt wurden.

Dagegen war mein Alltag in der Stadt sehr einfach: Ich fuhr täglich zur Schule. Zuerst fuhr ich mit einem Stadtbus, stieg danach in die U-Bahn um und nahm anschließend noch einen Bus. Ich saß bis dreizehn Uhr im Unterricht und kam täglich um halb drei Uhr zurück in die Zweck-WG. Dort traf ich manchmal auf Christian der um diese Zeit das Haus verließ um zur Arbeit zu fahren. Nachmittags saß ich im kleinen Wohnzimmer. Dort lernte ich und erledigte Aufgaben für die Schule. Am Wochenende besichtigte ich die neuesten Einkäufe und hörte den Einkaufsgesprächen zwischen Christian und seiner Freundin zu. Das war ’s.

15. Umzug

Nach einem halben Jahr in der Zweck-WG tauchte eine weitere Bekannte aus Berchtesgaden auf. Ich traf sie eines Abends in einer Studentenkneipe. Sie erzählte, dass sie in der ehemaligen Wohnung ihrer Eltern eine Wohngemeinschaft mit ihren drei Geschwistern starten wollte. Es sei ein altes villenartiges Haus am Stadtrand. Ihre Eltern hatten sich in Berchtesgaden endgültig niedergelassen und das Haus in der Stadt aufgegeben. Die alte Familienvilla würden sie nun für die nächsten Jahre den Kindern überlassen so lange diese noch studierten.

Die Bekannte bot an mir das Ganze zu zeigen. Im zweiten Stock in der Villa sei noch ein kleines Zimmer frei. Ich war begeistert. Ihr unverbindliches Angebot machte ich sofort zu etwas Verbindlichem. Ich vereinbarte einen Termin gleich für den nächsten Abend. Ich traf pünktlich in der Villa ein. Dort traf ich auf die Geschwister der alten Bekannten. Ich kannte sie alle aus Berchtesgaden.

Mein Zimmer war winzig. Es war eine gemütliche, kleine Dachkammer. Dachschräge, Fenster, ein in die Dachschräge hinein gebauter Schreibtisch und sogar eine winzige Nebenkammer. Das war ein begehbarer Schrank unter dem Dach. Die Miete war traumhaft niedrig. Es ging nur um die Kosten für Heizung, Strom und anfallende Nebenkosten. Diese wurden anteilig nach der jeweiligen Zimmergröße berechnet. Ein Topangebot. Ich sagte sofort zu.

Die Villen-WG war interessanter als die Zweck-WG. Ob es auch eine Zweckwohngemeinschaft sein würde, wusste ich noch nicht. Zeitweise wohnten dort zehn Leute. Es waren Studenten die unterschiedlichste Fächer studierten und unterschiedlicher nicht sein konnten. Einkaufen als Freizeitbeschäftigung gab es nicht. Einkaufen war lästige Pflichtübung die zum Alltag gehörte. Es gab eine WG-Kasse in die jeder einzuzahlen hatte. Die Einkaufsrechnungen wurden daraus beglichen. Die Einkaufsmengen waren gigantisch. Die WG hatte ein Auto das ihr die Eltern und Hauseigentümer überlassen hatten. Ein Traum. Mit dem Wagen, einem großen Kombi, ging es am Samstag in einen Einkaufsmarkt wo alles besorgt wurde was sich im Laufe der Woche auf einer langen Einkaufsliste am Küchenschrank angesammelt hatte.

Die Freizeitbeschäftigungen der WG-Bewohner waren unterschiedlich. Im Gegensatz zur Zweck-WG an der Autobahn wurden teilweise am Wochenende auch gemeinsame Dinge unternommen. Das ging von Wandertouren in die Berge über Schwimmbad, Kino usw. bis zu gemeinsamen Campingurlauben in den Semesterferien. Je nach Interessen setzten sich die Personen für solche Unternehmungen zusammen.

Bei vielen Dingen mischte ich mit, andere ließ ich. Es machte mir Spaß in dem großen Garten zu arbeiten, den Rasen zu mähen, Laub zu rechen. Das wollten andere gar nicht. Ich hielt mich dafür beim Kochen zurück. Das Ganze war für studentische Verhältnisse luxuriös. Mein kleines Dachzimmer war ein Glücksfall.

In die Villen-WG konnte ich Schulkameraden einladen. Es gab dort nämlich genügend Platz in einem riesigen Wohnzimmer und dem großen Garten mit breiter Terrasse. Es war ein sehr altes Haus. Die Mitschüler Richard, Thomas, Annette und Sofia lud ich nach wenigen Wochen ein. Wir gründeten eine so genannte Lerngruppe für die Schule. Die traf sich in der Folge ausschließlich bei mir in der Villen-WG. Der Platz war wegen der großzügigen Atmosphäre sehr gut. Unsere gemeinsame Lernarbeit dagegen war oft nicht sonderlich effektiv. Die Treffen endeten meist spät abends. Dabei kam es zu Alkoholkonsum, begleitet von lauter Musik aus dem Plattenspieler. Der Spaß schob sich mit jedem Treffen weiter in den Vordergrund. Trotzdem brachten diese Treffs auch etwas für die Schule. Gerade vor wichtigeren Tests und Prüfungen gab es Absprachen in der Lerngruppe, wodurch wir besser vorbereitet waren.

Richard fand oft heraus was zur Prüfung an stand und von wo Informationen zu den Prüfungsfragen zu bekommen waren. Er nutzte einen Kontakt in die Staatsbibliothek. Dort kannte er eine Sekretärin. Über die beschaffte er manchen Text den sich Lehrer für die Englischprüfung oder den Test in Deutsch von dort holten.

Meine Beiträge für die Lerngruppe waren dünn. Mein Wissen war eher auf mein Bemühen beschränkt. Meine Kontakte in der Stadt waren gleich Null. Interessant war, dass manche mir fehlende Wissensgrundlage auch Thomas, Richard, Sofia oder Annette fehlten.

Beim Grübeln über ein mathematisches Grundsatzproblem erinnerte ich mich an die Lehrerin. Ich erinnerte mich daran, dass die mathematische Problemlage bereits von der Lehrerin in ihrem Büchlein behandelt worden war. Also erklärte ich der Lerngruppe, dass ich eine Idee hätte unser Problem zu lösen. Ich suchte nach dem Büchlein, fand es aber nicht und verschob deshalb die Problemlösung bis zum nächsten Treffen.

Die nächste Lerngruppe fand drei Tage später statt. Zu dem vereinbarten Termin war aber nur Richard gekommen. Das zu lösende Problem hatte Richard bereits untersucht und uns in der Schule auf sein Ergebnis aufmerksam gemacht. Ich hatte das Büchlein in einer alten Schuhschachtel verwahrt. Die hatte ich in meiner winzigen Dachkammer in dem kleinen begehbaren Kleiderschrank auf einem Regal in der hintersten Ecke verstaut. Richard wollte wissen was ich da für ein Büchlein hatte. Ich hatte das Problem und dessen Lösung in dem Büchlein zuvor tatsächlich gefunden. Ich wollte die Lösung präsentieren, doch Richard interessierten stattdessen schon Detailfragen. Ich blätterte im Büchlein, suchte nach der Seite auf der das Problem geschildert wurde. Richard war ungeduldig. Ich las und versuchte zu erklären. Für Richard war die Lösung längst klar. Ich las etwas von Pythagoras, Richard gähnte und sagte er wollte sich das selbst mal ansehen.

Er griff nach dem Büchlein. Ich wollte es ihm nicht sofort geben, denn in dem Augenblick glaubte ich das entscheidende Detail gefunden zu haben. Richard hatte den Buchdeckel erfasst und zog. So riss das uralte blaue Packpapier auf. Richard entschuldigte sich. Ich klappte das Büchlein zu, legte es auf den Tisch, versuchte den Einband zu glätten. Das ging nicht, denn das Packpapier war so alt, dass es mehr und mehr riss.

„Das macht gar nichts, ich entferne es einfach komplett.“

Ich zog das Packpapier vom Buch. Übrig blieb auf der Buchrückseite ein Stück Papier. Es war das Schreiben. Graues, vergilbtes, sehr dünnes Papier. Es war am Buchrücken fest geklebt.

„Was ist denn das?“, fragte Richard und zeigte auf das Stück Papier.
„Das ist doch absolut uralt!“
Richard nahm mir das Buch ab, hielt den Buchrücken an das helle Fenster, blies seitlich an den Buchrücken, so dass das Papierstück leicht flatterte. „Ist das ein alter Brief?“
„Ich weiß es nicht, es ist ein uraltes Schreiben.“
„Woher stammt das und warum klebt es an diesem Buch?“
„Ich habe es vor fast acht Jahren im Urlaub auf einem alten Dachboden gefunden.“
„Aha und deshalb klebt es auf dem Buchrücken dieses mit uraltem Papier eingewickelten Schlaubergerschulbüchleins? Hast du eine feine Pinzette und ein glattes Stück sauberes, weißes Papier?“
„Was willst du denn damit?“
„Ich will das fein säuberlich ablösen, ohne dein Schreiben zu ruinieren.“
Richard sah mich neugierig an.
„Ich interessiere mich für solche uralten Sachen, von alten Dachböden.“
„Das sollten wir uns wirklich vorsichtig anschauen. Das Schreiben muss uralt sein. Ich weiß das noch von damals, als ich es das letzte Mal gesehen habe und in dem Packpapier auf dem Buchrücken versteckt habe.“

Ich ging ins Bad und sah mich dort nach einer Pinzette um. Die fand ich im Waschbeutel einer WG-Mitbewohnerin. Richard hob mit der Pinzette vorsichtig eine Ecke des gefalteten Papiers an und schob eine Seite glattes, weißes Schreibmaschinenpapier zwischen Ecke und Buchrücken. Mit dem weißen Bogen löste er langsam das Papier vom Buchrücken.

„So das hätten wir. Aber das Entfalten wird schwierig.“
„Wieso?“, fragte ich.
„Weil das Ding offenbar irgendwie zusammenklebt. Wenn wir das einfach so auseinander ziehen, reißen wir wahrscheinlich auch die Schrift mit ab, und wenns ganz schlecht läuft, reißen wir sogar das Papier ein.“ Ich sah Richard fragend an. „Ich habe einen Onkel der sich mit alten Geldnoten beschäftigt und alte Bücher über Geldnoten sammelt. Der kennt sich aus mit altem Papier. Der hat Erfahrung und Werkzeuge und eine kleine Papierwerkstatt. Da flickt er auch alte Geldnoten wieder zusammen. Vielleicht könnte der das Papier so öffnen, dass der Text erhalten bleibt. Außerdem können wir mit dem Text eh nichts anfangen. Der scheint so alt zu sein, dass wir die Schrift wohl gar nicht entziffern können.“
„Du meinst, dein Onkel könnte das vorsichtig öffnen und vielleicht sogar die Schrift für uns entziffern?„
„Glaub schon, dass der das drauf hat.“
„Wann und wo?“

16. Ein alter Onkel

Richards Onkel hatte in einem finsteren Hinterhof in der Innenstadt ein kleines Büro. Über ein paar Außenstiegen ging es hinauf und durch eine schwere Holztür in einen schummrigen Raum. Das Büro war nur wenig größer als meine winzige Dachkammer. Es war voll mit Regalen, in denen sich Bücher stapelten. In transparenten Plastikhüllen steckten alte Geldnoten. Sie lagen stapelweise auf einem kleinen Tisch. Es roch wie auf einem alten Speicher. Ich erinnerte mich an den Geruch, der mir aus der alten Kiste entgegen gekommen war. Altes bedrucktes, verstaubtes Papier.

Der Onkel saß auf einem hohen Hocker hinter einem dunklen schweren Tresen. Dort stand eine beleuchtete große Lupe. Von einer Schnur an der Decke hing ein Lampenschirm. Auf dem Tresen lagen verschiedene Kleinwerkzeuge. Auch hier stapelten sich transparente kleine Plastikhüllen mit alten Geldnoten.

Er blickte freundlich wie ein Zirkusdirektor. Sein Sprechen erinnerte mich an einen früheren Deutschlehrer in Berchtesgaden. Er trug eine Nickelbrille und hatte einen zwirbeligen Schnurrbart.
„Na, da habt ihr mir ja was Hübsches gebracht!“
Wir setzten uns auf zwei Hocker vor dem dunkelbraunen Holztresen. Neugierig sahen wir den Onkel an. Den Brief hatte er in eine größere Plastikhülle gesteckt die auf dem Tresen lag. Daneben hatte er eine Kopie gelegt.
„Ich hab euch das Ganze mal kopiert.“
Er tippte mit einem Zeigefinger auf die Kopie.
„Der Brief ist genau das, woran ich sofort dachte, als Richard dieses gefaltete Papier hier im Büro aus dem Umschlag gezogen hatte. Wehrmachtspost. Ich kenne das selbst noch von früher. Habe damals auch solche Briefe geschrieben. An meine Mama. Genau so ein Brief ist das! Wo hab ihr den denn her?“

Der Onkel fixierte mich, denn Richard hatte ihm natürlich gesagt wer hinter der Sache steckte. Ich wurde sofort rot. Das passierte mir leider oft. Vor allem passierte es wenn eine vernünftige Antwort von mir erwartet wurde.
„Ich habe ihn vor Jahren auf einem Speicher in einer alten Kiste gefunden.“
Die Worte brachte ich kaum raus, verfiel in ein Stammeln, begann zu husten und musste mir von Richards Onkel ein Glas Wasser geben lassen, um den trockenen Hals zu spülen.
„Alles halb so wild“, versuchte der Onkel mich zu beruhigen.
„Das ist ja kein Verhör hier, interessiert mich halt einfach, weil ich damals selbst solche Post geschrieben habe. Der Brief ist vierzig Jahre alt. Genauer gesagt wurde er wohl am dreizehnten Achten fünfundvierzig geschrieben.“
Der Onkel hob die Kopie hoch und deutete auf das dort geschriebene Datum.
„Der Brief muss also kurz vor der Kapitulation und damit dem Kriegsende geschrieben worden sein.“
Richard und ich blickten den Onkel gespannt an.
Anstatt weiter zu berichten, fragte der Onkel mich:
„Also weiter! Woher hast du den Brief und wieso kommt ihr zwei erst jetzt damit zu mir?“
Ich sah Richard an. Der sagte aber nichts, sondern nickte nur. Damit meinte er, ich sollte erzählen was Sachlage ist.
„Ich habe den Brief über etwa acht Jahre im Buchrücken eines Lehrbuches, das ich mit blauem Packpapier eingebunden hatte, vergessen.“ Der Onkel sah mich befremdet an.
„Du hast den Brief also versteckt und behauptest nun ihn vergessen zu haben, verstehe ich das richtig?“
„Ja, so ungefähr.“
Ich trank aus dem Glas Wasser um nicht noch mal zu husten oder gar meine Stimme zu verlieren. Richard nickte seinem Onkel zu.
„Dass der Brief offenbar vergessen war, hab ich mitgekriegt, der flog aus dem Buch wieder raus, weil ich das Packpapier versehentlich abgefetzt habe. War alt und morsch das Zeug, aber der Brief ist dabei zum Glück nicht zerlegt worden.“
„Ok, ok, aber warum hast Du den Brief überhaupt versteckt?“
„Naja, damals war ich erst vierzehn, als ich den gefunden hatte. Ich hatte eben Schiss. Weil ich den Brief auf dem Speicher aus einer Kiste mitgenommen habe, in der ich nichts zu suchen hatte.“
„Was für eine Kiste? Was für ein Speicher? Gibt ’s da noch mehr Briefe?“

Richards Onkel sah mich kritisch an und füllte das Wasserglas nochmal auf.
„Keine Ahnung, das ist schon ewig her. Es war eigentlich ein Versteckspiel. Ich hatte Angst vor dem Feriengroßvater, weil wir auf diesem Speicher eigentlich nicht spielen durften.“
Richard und der Onkel tauschten sich per Blick aus. Beide schauten ungläubig drein.
„Was erzählst Du hier für eine dubiose Kindergartengeschichte? Soll ich die wirklich glauben?„
„Was anderes kann ich dazu nicht sagen. Ich erinnere mich genau. Der Feriengroßvater hatte uns auf dem Speicher beim Versteckspiel erwischt, ich hatte gerade diesen Kistendeckel geöffnet und ihn dann vor Schreck fallen lassen. Dabei flog wohl der Brief heraus, den ich aufhob, zusammenknüllte und in meine Hosentasche stopfte.“
Der Onkel und Richard blickten sich fragend an. Beide nickten sich zu.
„Aha!“
„Wieso Aha? Da gibts nicht mehr dazu zu sagen. Schon damals hatte ich den Fetzen vergessen. Erst nachdem die Sommerferien vorbei waren, tauchte er zu Hause am Obersalzberg wieder aus meiner Hosentasche auf. Er fiel heraus und ich hatte mich daran erinnert, dass ich einen Diebstahl begangen hatte. Vorsichtshalber versteckte ich ihn deshalb im Buchrücken. Das wars.“
Der Onkel sah mich ungläubig an. Richard sah den Onkel ungläubig an. Ich trank aus dem Wasserglas.

„Na gut!“
Der Onkel zog ein Taschentuch aus der Hosentasche und rotzte schnaubend hinein. Das Taschentuch stopfte er zurück in die Hosentasche.
„Jedenfalls schreibt in dem Brief ein junger Mensch, der dürfte damals etwa so alt wie ihr es heute seid, gewesen sein. Es ist mehr oder weniger ein Abschiedsbrief.“
Richard sah seinen Onkel neugierig an. Ich versuchte unbeteiligt zu blicken, denn ich war froh meine Geschichte überhaupt herausgebracht zu haben ohne eine neue Hustenattacke zu bekommen.
„Ich glaube hier verabschiedet sich ein junger Mensch von seiner Mama. Der hat den Brief geschrieben und war sich nicht sicher ob er das, was damals vor ihm stand, überleben würde. Deshalb verabschiedete er sich.“
Richard und ich blickten uns an, dann wandten wir unseren Blick zum Onkel.
„Übrigens der Brief ist echt, da bin ich sicher. Sogar die Adresse der Mutter hat der Knabe im Brief nochmal notiert. Da, schaut: Hier am Ende steht sie. Das scheint irgendwo in Norddeutschland zu sein. Hört sich jedenfalls so an, der Name von diesem Kaff.„
Der Onkel hielt uns den Brief hin und zeigte auf eine Zeile am Ende des Schreibens.
„Der wollte wahrscheinlich sicher sein, dass sein Brief auch zugestellt wird.“

17. Die zweite Prüfung

Die Abschlussprüfungen fanden nach den Osterferien statt. In der Lerngruppe hatten wir vereinbart einen gemeinsamen „Lernurlaub“ zu machen. Die Idee stammte von Richard, auch das Ziel stammte von ihm. Mit dem Villen-WG-Kombi fuhren wir nach Südfrankreich.

Richard war ein begeisterter Starkwindsurfer. In Südfrankreich kannte er einen Campingplatz an einem windigen See. Dorthin verschleppte er uns. Ich erzählte Richard, dass ich das Windsurfen gelernt hatte. Jahre nach dem Ostseeaufenthalt hatte ich einen Kurs belegt und die Technik erlernt. Ich war aber kein begeisterter Starkwindsurfer wie Richard geworden. Mir reichte mittelmäßiger Wind und schönes Wetter. Richard hatte mich mit dem Surfen für den Urlaub geködert. Thomas, Sofia und Annette waren von der Idee „Lernurlaub“ in Südfrankreich sofort begeistert. Also war die Sache klar. Richard hatte ein schrottreifes Kleinfahrzeug, das wir für diesen Urlaub gegen den Kombi der Villen-WG eintauschten. Thomas fuhr mit einem Kumpel in seinem R4.

Zu der Urlaubsgruppe hatten sich noch mir unbekannte Freunde von Annette und Sofia angemeldet. So waren wir insgesamt zehn Personen geworden. Es gab einige Absprachen über die Autos in denen wir das Ziel ansteuerten, den Campingplatz und ein großes Zelt, das Annette aufgetrieben hatte. Sie hatte über ihre Arbeit in der Kneipe einen Menschen kennen gelernt, der bei einem Zeltverleih arbeitete. Von dort lieh sie kostenlos ein riesiges Zelt, das für Partys verliehen wurde. Die unbekannten Freunde von Annette und Sofia fuhren in einem metallic lackierten, getunten VW-Käfer. Dass ein Käfer so aussehen konnte war mir neu. Ich hatte meinen Schrottkäfer ein letztes mal durch den TÜV gefahren und verkauft. Ich finanzierte den Urlaub aus dem Erlös.

Obwohl das geliehene Auto aus der WG stammte in der ich wohnte, ergriff Richard Besitz von dem Wagen. Dass die WG meine WG war und ich das WG-Auto von den Geschwistern geliehen hatte, interessierte Richard nicht. Er hatte eine selbstverständliche Art das Auto zu vereinnahmen und eine noch selbstverständlichere Art seine Insassen in Richtung Südfrankreich zu steuern. Richard prügelte den Peugeot-Kombi dorthin. Wir fuhren nachts und nur auf Landstraßen weil Richard die Autobahnmaut nicht bezahlen wollten. Eine Nacht und einem Tag später erreichten wir unser Ziel nahe Montpellier. Thomas, der das Zelt von Annette transportierte, kam erst fünf Stunden später in der Dunkelheit dort an.

Unter dem Einfluss der Freunde von Annette und Sofia war in Frankreich keine Rede mehr davon, dass wir irgendetwas für die bevorstehenden Prüfungen lernen wollten. Stattdessen ging es darum, möglichst cool durch Tag und Nacht zu stolpern. Die Sache wurde anstrengend und feucht. Das Wetter war kühl und stürmisch. Der Campingplatz verwandelte sich eines Nachts bei Sturm in ein Schlammloch. Das einzige Zelt das den heftigen Sturm überstand war unseres. Grund dafür war, dass es schwer und massiv dastand und dass ein Schlammbach quer durch das Zelt verlief jedoch genau so, dass die Verankerungen nicht unter spült wurden. Dafür hatte Richard beim Aufbau gesorgt. Er hatte den Stellplatz für unser Zelt offenbar nach den Kriterien Starkwind, Bodenneigung und Wasserverlauf bei Regen ausgesucht.

Er hatte in der Gegend schon manchen Sturm erlebt. Ihm war klar gewesen, dass zu dieser Jahreszeit mindestens ein heftiger Sturm kam. So plante Richard ohne mit uns darüber zu sprechen. Richard sorgte dafür, dass wir das Zelt in der Dunkelheit, nachdem auch Thomas mit seinem R4 eingetroffen war, so aufbauten, dass man in den großen Zelteingang von einem geteerten Weg mit dem Auto hineinfahren konnte. Genau dies tat Richard während der Sturm tobte. So konnten wir alles trocken in den Wagen laden. Wir zogen für den Rest der stürmischen Nacht in einen Bungalow im oberen Teil des Zeltplatzes. Am Tag nach dem nächtlichen Sturm schien die Sonne wieder. Es wurde langsam wärmer. Schon Nachmittags konnten wir wieder in das getrocknete große Zelt einziehen.

Ich lernte Richard besser kennen als in den zurückliegenden zwei Schuljahren. Er war ein Macher. Er war ein sehr unruhiger und getriebener Zeitgenosse. Sein Starkwindsurfen war wie sein Autofahrstil. Schnell, ein bisschen riskant und ein bisschen besessen. Richard war immer sehr direkt. Er stieg nur dann auf sein Surfbrett, wenn dunkle Wolken ein Gewitter ankündigten und deshalb ein gutes Erlebnis sicher war. Er setzte stets seinen Kopf durch. Kritische Rückfragen kamen erst dann auf, wenn die betreffende Situation bereits erledigt war und deshalb nicht mehr der Rede wert schien.

Dass er auf der Reise die ganze Nacht und den folgenden Tag am Steuer saß und den Kombi über die Landstraßen jagte, wurde von seinen Begleitern nicht in Frage gestellt. Auf welche Weise das Ziel erreicht wurde, welches eigentlich Richards Ziel war, bestimmte er ohne lange darüber zu diskutieren. Ich dachte nicht daran mich einzumischen.

Abends fuhr Richard in jeweils andere Orte, wo wir bis Mitternacht in Kneipen saßen. Dort unterhielt ich mich jeden Abend mit Thomas, dessen Kumpel Mike und Richard. Annette und Sofia waren jeden Abend mit ihren Freunden unterwegs. Tags darauf wurde im Café auf dem Campingplatz darüber gesprochen was man abends zuvor gemacht hatte. Es war stets das Gleiche. Sofia und Annette erzählten, dass sie mit ihren Freunden in irgendeinem Ort in der Kneipe herum gesessen hatten. Wir berichteten in welchen Kneipen wir herum gesessen hatten.

So vergingen die Tage des Urlaubs zwischen See, Campingplatz, Café und Kneipe. Ein, zwei Mal unternahmen wir kleine Spaziergänge. Einmal fuhren wir nach Montpellier. Hin und wieder versuchte ich mich auf Richards Surfbrett. Der Wind war mir aber insgesamt zu stark, so dass ich es nach dem vierten oder fünften Versuch ganz aufgab. Auf der Heimreise prügelte Richard den Kombi über die Autobahn. Die Bremsen des Wagens waren schwer angeschlagen. Der Bremsbelag war soweit abgefahren, dass bei jedem Bremsmanöver das Schaben von Metall auf Metall zu hören war.

Zurück in der Villen-WG wurde es schließlich mein Job, das Fahrzeug von außen und innen zu reinigen und neue Bremsbeläge zu montieren. Richard hatte damit nichts zu tun. Er übernahm wieder seinen schrottreifen Kleinwagen. Annette brachte das Zelt zurück zu ihrem Partyzeltverleih. Thomas transportierte in seinem R4 eine riesige Batterie Weinflaschen aus Südfrankreich in die Villen-WG. Die hatte ihm Richard in Frankreich unbemerkt in den R4 geladen. Richard hatte den Wein unter der Zeltplane im Auto verstaut. Im Hof vor der Villen-WG lud Richard seinen Wein in seinen Kleinwagen um und verschwand. Der Urlaub ging so belanglos vorbei, wie er begonnen hatte. Die Freunde von Annette und Sofia verschwanden unbekannt, so wie sie zu der Reisegruppe gekommen waren. Ich sah sie nie wieder. Die Reise der Lerngruppe entsprach dem Stil, wie ich die Zeit Mitte der Achtziger Jahre erlebte: Unverbindlich und belanglos. Menschen trafen sich und trennten sich.

Kurz vor den Abschlussprüfungen wurde in der Schule das neue Schwimmbad eröffnet. Das Schulgebäude war ein Neubau der ein dreiviertel Jahr zuvor bezogen worden war. Die Fertigstellung des Schwimmbades hatte sich verzögert. An einem regnerischen Tag hatten sich Richard, Thomas und ich in einer Unterrichtspause in dem neuen Schwimmbad auf einer Sitzbank am Beckenrand niedergelassen.

Der Zugang dorthin war offen, jedoch war es wohl nicht erlaubt, sich da einfach hinzusetzen. Das Wasser war am Tag zuvor eingelassen worden. Wir saßen auf der Bank und unterhielten uns. Nach wenigen Minuten erschien der Hausmeister der Schule. Zu Recht wies er darauf hin, dass das Schwimmbad nicht betreten werden dürfe, schon gar nicht mit Straßenschuhen. Deshalb erhoben wir uns und machten Anstalten, das Schwimmbad Richtung Eingang wieder zu verlassen. Dort aber stellte er sich uns in den Weg.

“Solches Studenten- und Schülerpack wäre früher längst vergast worden!”
„Das meinen sie doch nicht wirklich?“
„Ihr seid ’s doch solche Deppen, da hätten ‘s früher längst kurzen Prozess gemacht.“
Richard wurde rot vor Wut. Er schrie den Hausmeister an:
„Wie bitte?“
„Euch hättens früher nicht alt werden lassen, des sag ich Euch!“
Richard schnaubte vor Wut.
„Das kann doch wohl nicht sein!“
Thomas und ich waren am Hausmeister durch den Eingang der Schwimmhalle schon vorbeigegangen, Richtung Aula der Schule. Richard aber war direkt vor dem Hausmeister stehen geblieben. Fassungslos stand er vor ihm. Er stemmte die Arme in die Hüften. Er sah dabei aus, als würde er am ganzen Körper zittern. Er bebte vor Wut.
„Das können Sie unmöglich ernst meinen!“
Der Hausmeister schob Richard jetzt an der rechten Schulter weg. Er versuchte ihn so in unsere Richtung zu bewegen. Richard schlug die Hand des Hausmeisters von seiner Schulter und versuchte den Mann von sich weg zu stoßen.
„Lang mich nicht an, du Sau-Bub du damischer!“
„Ich habe Sie nicht als erster angefasst!“
So schrie Richard den Mann nun an. „Dich hätten ‘s als ersten erschossen, du Hunds-Krüppel, du depperter!“
So schrie der Hausmeister Richard an.
Richard drehte sich um, so dass er dem Hausmeister nun erneut direkt gegenüber stand. Er war wütend. Sein Gesicht war rot geworden. Er sah den Mann an, sagte aber nichts. Der Hausmeister packte Richard jetzt an der Schulter. Er versuchte ihn zur Eingangstür zu schubsen. Richard schmetterte jetzt dessen Hand von sich. Er schubste den Hausmeister kraftvoll an den Schultern von sich. Das tat er eins, zwei, drei Mal. Der Hausmeister wich zurück, ein, zwei drei Schritte. Vielleicht waren es fünf, sechs Meter. Jedenfalls reichte das bis zum Beckenrand. Da stand er nun und blickte Richard in die Augen:
„Das tust du nicht, du mieser Sau-Hund!“
Richard verpasste dem Hausmeister einen letzten leichten Schubs mit der rechten Hand. Platsch! Der Mann stürzte ins Wasser. Er ruderte im Wasser hin und her und schrie Richard zu:
„Das hat Konsequenzen, ihr Sau-Pack!“ Richard drehte sich um. Er kam zu uns in die Aula. Zusammen gingen wir zurück in unser Klassenzimmer im Obergeschoss.

Noch in der gleichen Woche wurde Richard von der Schule suspendiert. An der Abschlussprüfung konnte er nicht teilnehmen. Er hatte sich in einem Disziplinarverfahren und einem Strafverfahren wegen Körperverletzung zu verantworten. Nach seiner Entlassung aus der Schule habe ich ihn nur ein einziges Mal wiedergesehen. Es war in einem Gerichtsverfahren, in dem Thomas und ich als Zeugen über den Vorfall aussagen mussten. Richard wurde zu einer Geldbuße verurteilt. Er meldete sich bei mir nie wieder. Auch Thomas und die anderen Freunde hörten nichts mehr von ihm. Er war wie vom Erdboden verschluckt.

Die Prüfungszeit war schnell gekommen. Ich hatte mich zuvor noch vier, fünf Mal mit Thomas getroffen. Er konnte mir wichtige Tipps in Sachen Mathematik geben. Mit seiner Hilfe habe ich mich erfolgreich durch die Prüfung gekämpft. Ich machte das ganz schematisch. Bei jeder Aufgabe arbeitete ich soweit ich konnte genau nach einem Schema das Thomas mir beigebracht hatte. Das funktionierte zumindest soweit, dass ich die Prüfung bestehen konnte. Die Logik die sich hinter der tatsächlichen Lösung der Aufgaben verbarg, hatte ich bis zum Abschluss der Schule nicht wirklich verstanden. Ende Juni hielt ich ein mittelmäßiges Abschlusszeugnis in Händen. Ich hatte es gerade noch geschafft!

18. Studium

Es war ein Glücksfall. Viel zu viele Bewerber hatten sich für einen Studienplatz beworben. Die zentrale Vergabestelle hatte mich unter Tausenden ausgewählt für einen Studienplatz in der Stadt. Das Schreiben der zentralen Vergabestelle hätte andere Menschen in Begeisterung versetzt. Bei mir war es anders. Ich hatte nicht recht gewusst was ich eigentlich studieren sollte mit meinem mäßigen Abschlusszeugnis. Nicht nur deshalb, sondern auch wegen meiner mangelnden Interessen wusste ich das nicht. Ich hatte keine Ahnung wo meine wahren Interessen eigentlich lagen.

Nach dem Schulabschluss hatte ich mir einen Job als Nachtwächter besorgt. Nächtelang saß ich an der Pforte einer großen Fabrik herum. Dort sinnierte ich über mein Leben und meine Zukunft. Dabei entstand außer der Idee mich für diesen Studienplatz zu bewerben, allerdings nichts. Ich war froh, dass ich den Job an der Pforte gefunden hatte. Er brachte mir wegen der Nachtschichtzulagen durchaus eine hübsche Summe Geld ein. Aber er entfernte mich von den Mitbewohnern in der Wohngemeinschaft, denn tagsüber schlief ich.

Die Freunde aus der Schule waren nach einem rauschenden Schulabschlussfest schnell von der Bildfläche verschwunden. Ich hatte innerhalb eines knappen viertel Jahres von Juli bis Studienbeginn im Oktober keine neuen Freunde kennengelernt und hatte das Gefühl, alle bisherigen Freunde verloren zu haben. Die einzigen die blieben waren die Mitbewohner zu denen ich wegen der Nachtarbeit aber kaum mehr Kontakt hatte.

Der Studienbeginn brachte mich vom ersten Tag an zurück in die reale Welt. Plötzlich tummelte ich mich täglich in lauten, aufgewühlten Massen von Erstsemestern. Tagelang fühlte ich mich wie geschockt in dieser Menge junger Menschen die sich in Einschreibungs-Schlangen vor Hörsälen und Seminaren drängten. Nach einer Woche stellte ich fest: Ich kenne niemanden. Wo waren meine früheren Mitschüler geblieben? Keinen traf ich im ersten Semester wieder. Zwei Wochen lang bewegte ich mich wie traumatisiert durch die Seminare und Vorlesungen. Ich fühlte mich wie nach einem Jet-lag. Die Umstellung von Nachtbetrieb an der Pforte auf Tagesarbeit als Student kostete mich die ersten zwei Studienwochen.

Ich verstrickte mich schließlich in Zweifel ob so ein Studium für mich überhaupt richtig wäre. Ich dachte darüber nach das Ganze schnell wieder hinzuschmeißen. Ich telefonierte mit der Fabrik und fragte im Personalbüro an ob der Nachtwächterjob, den ich wegen dem Studium aufgegeben hatte, noch frei wäre. Der war aber bereits besetzt.

Die Sekretärin fragte mich verdutzt ob ich denn nun doch nicht mit dem Studium begonnen hätte. Ich erklärte, dass ich mir daneben die Mitarbeit in der Pforte der Fabrik weiterhin vorstellen könnte vor allem auch aus finanziellen Gründen. Sie versprach mir einen Bewerbungsbogen zu schicken.

Tage verbrachte ich in meinem Wohngemeinschaftszimmer unter der Dachschräge. Ich hörte laute Musik und gammelte vor mich hin. Die unbekannten Menschen im Studium hatten mich verunsichert. Die Dozenten wirkten wie Experten von einem anderen Stern die unbekanntes, nicht nur in unbekannter Sprache, sondern auf bis dato vollkommen unbekannte Art und Weise in einer mir fremden Form der Artikulation wiedergaben.

Auf dem Bett in meinem WG-Zimmer hörte ich den Sound von Bands wie Little-Feat und sinnierte darüber, dass ich versuchen sollte den Nachtwächterjob wieder zu bekommen. Ich sah es als Fehler an den Vertrag nur befristet bis zum Studienbeginn geschlossen zu haben und träumte von der Vorstellung, dass dieser Job für mich meine Zukunft bedeuten könnte. Ich überlegte welche Chancen ich hätte die Sekretärin zu überreden den Personalchef dahin zu beeinflussen den neuen Mitarbeiter zu entlassen und mich wieder zu nehmen. Ich schmiedete an einem Argumentationsplan der schlüssig darstellen sollte wie es dazu kam, dass ich den Job mit dem Studienbeginn vereinbarungsgemäß beendet hatte und nun aber wieder einsteigen wollte.

Nach drei Tagen auf dem Bett mit Musik in meinem sonst stillen WG-Dach-Zimmer wunderten sich meine Mitbewohner darüber, dass ich morgens nicht mehr zum Frühstück erschien. Bei der abendlichen Skat-Runde fragten sie mich schließlich wie es denn mit dem neuen Studium so laufe. Da blieb mir nichts anderes als zu behaupten, dass ich ein geistiges Bedenkpäuslein eingelegt hätte. Daraufhin erhielt ich eine Unzahl von gut gemeinten Tipps und Ratschlägen. Die Skat-Runde wurde meinetwegen sogar für diesen Abend ausgesetzt. Ich war darüber nicht traurig, denn mein Skatspiel war trotz häufigen Übens mit den WG-Mitbewohnern auf niedrigstem Interesse für diese Leidenschaft hängen geblieben.

Mit mir wurde nun diskutiert. Es wurden studentische Meinungen zu Engagement und Studienbegeisterung, zu didaktischen Dozentenqualitäten und der Hochschulausstattung, zu studentischer Mitverwaltung, aber vor allem Mitverantwortung für den teuer zu erwerbenden Abschluss besprochen. Zum Schluss der Lehrstunde wurde mir bewusst, dass ich die zurückliegenden drei Tage auf Staatskosten in meinem Bett zu lauter Hippiemusik vor mich hin meditiert hatte. Tagelang hatte ich die einmalige Gelegenheit ignoriert mich in einem gebührenfreien Bildungsbaukasten zu bedienen. Mein Hirn hatte ich der Gefahr ausgesetzt frühzeitig zu vergreisen, indem ich ihm die feil gebotene, zum Gourmetmenü aufbereitete, Nahrung verweigerte. Der Bildungsgourmetbetrieb, aus welchem ich meine Birne nähren könnte, so lernte ich an dem skatspielfreien Abend in der Wohngemeinschaft, sei heute ein qualitativ hochwertiges Produkt unserer Zeit. Ein WG-Mitbewohner verstieg sich zu der Vermutung, dass unsere Bildungszeit von nachfolgenden Generationen vermutlich als „goldene Achtzigerjahre der kostenlosen Bildung“ gelobt werde. Deshalb gäbe es, wenn ein Mensch wie ich den Zugang zum Bildungssystem gefunden hätte, keinen vernünftigen Umstand die goldene Eintrittskarte grundlos zu verspielen!

Das Wohngemeinschaftstribunal befand nach stundenlanger Anhörung, dass ich keinerlei glaubwürdige Argumentation vorzuweisen hatte, die nachvollziehbar begründen könnte, dass ich mein WG-Zimmer auch tagsüber während Studienveranstaltungen frequentierte. Vor allem nicht um mich unnützer Träumereien jedweder Art hinzugeben.

Das war meine Wohngemeinschaft! Von ihr hatte ich ein viertel Jahr lang nichts mehr gespürt weil ich meine Schule abgeschlossen hatte, das Studium noch nicht begonnen hatte, ich mir die Nächte mit dem Job als Nachtwächter um die Ohren geschlagen hatte, um die Tage zu verschlafen.

19. Zusammenspiel

Im juristischen Seminar wurden wir von einem zugeknöpften hundertprozentigen Juristen unterrichtet. Das Rechtsseminar galt als Studienbrecher Nummer eins. Ihm fielen die meisten Studenten zum Opfer. Das hing wohl damit zusammen, dass zur Zwischenprüfung das juristische Material aus vier Semestern zur Prüfung an stand. Ich hatte den Eindruck, schuld daran könnte auch der unterrichtende Jurist haben, gegenüber dem sich automatisch eine gewisse Abwehrhaltung breit machte. Diese wiederum könnte zu einer Lernhemmung bei den Studenten führen. Das blieb meine Hypothese.

Der Mann bereitete das ohnehin trockene Material buchstabengetreu gemäß den zu unterrichtenden Gesetzen auf. Der Praxisbezug, der in dem Studiengang in anderen Fächern durchaus Relevanz hatte, schien im juristischen Seminar, wenn überhaupt, nur nebenbei hin und wieder von Wichtigkeit. Selbst die der Juristerei innewohnende Logik, anhand derer ein Lernender sich einen Zugang zu diesem Gebiet verschaffen könnte, schien dem Dozenten eher im Weg zu stehen. Er nutzte die Fülle der Gesetzestexte um sie umfangreich so zu zitieren, so als unterrichte er in einem philosophischen Seminar. Das war durchaus beeindruckend, denn letztlich stellte sich heraus, dass der Mann manches Gesetzbuch auswendig rezitieren konnte.

In der zehnten juristischen Vorlesung dieser Art fanden sich einige neue Studenten ein, während andere nicht mehr erschienen. Das war ganz normal, denn zu Beginn des Studiums war es noch unklar, wer in dem Studium bereits richtig gelandet war. Andere wiederum hatten ihren Weg in das Studium deshalb noch nicht gefunden, weil sie als Nachrücker auf irgend einer Liste von der zentralen Vergabestelle einen Studienplatz an der Uni der Stadt erhielten.

An dem Tag nahm ich im Seminarraum an einen Tisch Platz der ansonsten noch völlig leer war. Neben mir, vor mir und hinter mir gab es weitere freie Plätze. Das Seminar war insgesamt schwach besucht. Minuten vor Beginn der Vorlesung stand eine Studentin in der Türschwelle die ich bis dahin nicht gesehen hatte. Sie musterte kurz den gesamten Raum. Schließlich bewegte sie sich zielstrebig in meine Richtung. Sie setzte sich neben mich. Nicht nur das, sie lächelte mich an, reichte mir die Hand und sagte:
„Hallo, ich bin Regina.“
Da war ich platt und antwortete:
„Hallo, ich bin Bernado.“
Mehr hatte ich dazu nicht zu sagen.

An diesem Tag verstand ich den Juristen immer weniger. Ich versuchte konzentriert und interessiert zu wirken, beschäftigte mich aber vor allem mit der Frage was es bedeuten könnte, dass sich eine Regina ausgerechnet neben mir niederließ, obwohl doch der halbe Raum leer gewesen war.

In den folgenden Seminaren wiederholte sich das. Sie setzte sich einfach auf den Platz neben mir. Das entwickelte sich zur Normalität. Sie saß neben mir. Bald sah das so aus, als sei es unsere Normalität. Keiner in den Seminaren wusste, dass wir uns vor der zehnten juristischen Vorlesung noch nie begegnet waren. Ich musste nichts tun, es ergab sich stets, dass sie neben mir im Seminar saß.

Sie war von Anfang an interessant. Ich hatte sie in der Türschwelle gesehen und dachte mir genau das: Interessant. Später erkannte ich, dass es Gründe dafür gab wie sie wirkte. Sie war intelligent und stellte oft genau die richtigen Fragen an richtiger Stelle. Sie hatte wohl ein starkes Selbstbewusstsein. Sie interessierte sich für mich, das war klar. Sie ging nicht nur auf mich zu, nein da war noch viel mehr. Sie hatte sich mich ausgesucht. In dem Seminarraum wären genug andere Studenten gewesen, trotz der vielen freien Plätze. Sie hatte sich für mich entschieden.

Nach diesem Erlebnis war der Jet-lag vom Studienbeginn für mich endgültig Vergangenheit. Ich war hellwach geworden. Die Nachtschicht in der Fabrik, die ich auf den Tag im Studium verlegt hatte, war vorüber. Ich hatte eine intelligente Regina kennen gelernt. Nein, sie hatte mich genommen um mich kennen zu lernen. Ich musste ab diesem Zeitpunkt zeigen wer ich war denn ich wurde von ihr täglich gesehen. Das war das Ende meiner Tagträume. Es ging nun darum Regina zu beweisen, dass ich ihr in Sachen Intelligenz nicht all zu weit nach stand, dass sie eine Wahl getroffen hatte, die ihrem geistigen Level entsprach.

Die Sache zwischen uns entwickelte sich rasant. Sie wurde für mich zu einer guten Freundin und später zu einer Partnerin. Noch im ersten Semester entwickelte sich eine Freundschaft die schnell an Intensität gewann, von der ich bald den Eindruck gewann, dass wir beide uns seit langer Zeit kannten, so dass wir jederzeit zusammen Pferde stehlen könnten weil wir ein gut aufeinander eingespieltes Team waren.

Der hundertprozentige Jurist hatte zum Abschluss von einem seiner vier Rechtsseminare ein mündlich zu absolvierendes Kolloquium als Prüfung angesetzt. Bei der Einschreibung für die Prüfung fiel uns beiden auf, dass der Prüfungstermin rechtlich gesehen gar nicht zulässig war, weil er außerhalb der in der Studienordnung vorgesehenen Prüfungszeiträume lag. Wir wunderten uns darüber nicht lange, sondern begannen gleich danach zu forschen, welchen Grund der zugeknöpfte Jurist dafür wohl haben könnte.

Außer uns beiden schien diese Ungereimtheit niemandem aufzufallen oder zu interessieren. Regina ermittelte dank ihres Charmes die Gründe bei einem Sekretär im Vorzimmer des Dekans. Der Volljurist plante in der offiziell angesetzten Prüfungszeit einen umfangreichen Vortragsmarathon an einer Schwesteruniversität im deutschsprachigen Ausland. Deshalb hatte er das Prüfungs-Kolloquium einfach außerhalb der Prüfungszeit angesetzt. Ein klarer Verstoß gegen die Prüfungsordnung. Für einen Juristen eine erstaunlich freie Rechtsauffassung aber vor allem eigennützig und daher markant menschlich meinte Regina.

Wir beide meldeten uns am Semesterende zu einem der ausgeschriebenen Themen bei dem Juristen zur Kolloquiums-Prüfung an. Allerdings wählten wir ein Thema das wir auf dem Prüfungsplan fanden, von dem wir noch nie etwas gehört hatten. Das schien uns außergewöhnlich reizvoll. Dass wir das Thema nicht kannten war spannend und deshalb für unser Vorhaben sehr gut.

Regina fragte mich:
„Wie konnte dieses Thema in die Prüfung geraten? Plant der Mann tatsächlich etwas zu prüfen das im Semester niemals Erwähnung gefunden hatte?“

Wir ließen den Prüfungstag mit dem Kolloquium auf uns zukommen ohne uns auf das Thema vorzubereiten. Unsere Absicht war klar. Wir wollten Pferde stehlen. Kurz vor der Prüfung bekamen wir aber ein wenig Angst. Regina fragte mich ob wir das Ding jetzt wirklich einfach durch ziehen sollten.
Ich nickte und sagte:
„Jetzt ist „ab und durch“ angesagt weil ‘s eh schon zu spät ist.“

Im Prüfungsraum saßen wir beide dem Professor gegenüber der sofort begann einen Gesetzestext zu zitieren. Nach drei Minuten fragte er wie der Text im Kontext des gewählten Prüfungsthemas nun juristisch einzuschätzen sei. Wir saßen vor dem Mann und schwiegen. Das taten wir etwa zwanzig Sekunden lang.
Schließlich sagte ich:
„Wir sind heute gekommen um mit Ihnen zu verhandeln.“
Darauf antwortete der Jurist:
„Aha! Das ist ein interessanter Einstieg in diese Materie!“
Regina:
„Wir haben Ihnen etwas wirklich interessantes anzubieten.“
Der Jurist:
„Ah ja, ich weiß schon worauf Sie hinaus wollen und das trifft die momentane, aber vor allem wohl künftige, Debatte rund um diese juristische Thematik wohl schon ziemlich genau.„
Ich:
„Wir haben uns auf diese Verhandlung selbstverständlich sehr gut vorbereitet. Wir erlauben uns frei heraus alles zu gestehen. Zu dem Thema selbst können und wollen wir aber nichts weiter sagen. Wir haben Ihnen ein Handelsangebot in beiderseitigem Interesse zu unterbreiten.“
Der Jurist:
„Genau das trifft die Sache! Solches gibt das Strafrecht heutzutage nun wirklich nicht her! Es wird aber mehr und mehr, und das ist erschreckend, selbst von eingefleischten Juristen in höchsten Ministerien gefordert.“
Regina:
„Der Handel den wir für Sie mitgebracht haben basiert auf unserem reuevollen Geständnis: Wir haben uns nur auf das Verhandeln mit ihnen vorbereitet nicht aber auf das eigentliche Thema. Ein konsensfähiger Deal zwischen uns beiden dient letztlich unserem beiderseitigen Gewinn!“
Jetzt holte der Jurist voll aus:
„Damit haben Sie das Thema im Kern erfasst! Das deutsche Strafrecht schließt genau dieses aus. Das Gericht verhandelt mit dem Angeklagten nicht! Es verurteilt nach einer souverän geführten, geordneten Beweisaufnahme gemäß den Buchstaben des Gesetzes. Es wird nicht verhandelt, es ist im Sinne geltender Gesetze zu verurteilen! Das meint der „Inbegriff der Verhandlung“ im Sinne der Strafprozessordnung, dass eine Verurteilung nicht auf dem Einverständnis des Verurteilten beruht, sondern auf Wahrheit und Gerechtigkeit!“

Der Jurist blickte uns beide angestrengt an. Er erwartete keine Antwort. Er setzte die Brille ab. Atmete dabei tief ein, womit er wohl seinen drei letzten Worten zu schwerem Gewicht verhelfen wollte. Einige schweigende Sekunden später setzte er die Brille wieder auf als wollte er in einen Text lesen. Er fixierte uns seine beiden Prüflinge und fuhr nach erneutem tiefem Einatmen mit harter Stimme fort:

„Die Wahrheit wird das Gericht aber durch einen Deal nicht herausfinden! Eine Verurteilung, ohne dass sich die Schuld des Verurteilten zu einer gewachsenen Überzeugung des Strafgerichtes stabilisiert, verbietet sich vor dem Hintergrund des strafrechtlichen Verfassungsrechtes. Demnach sind wir keine Verhandlungspartner! Sie die Angeklagten sind mit allen Instrumenten der Strafjustiz zu belehren, zu beraten, zu verteidigen und schließlich zu verurteilen. Alles andere entspringt letztlich einer fatalen Fehlentwicklung von Rechtsstaatlichkeit die das deutsche strafrechtliche Verfassungsrecht keinesfalls zulässt. Ihr Deal ist dorthin zu verbannen wo er hingehört: Auf den Jahrmarkt!“

Regina und ich saßen schweigend vor dem Juristen. Der hatte sich offenbar in einen Richter verwandelt. Unser Schweigen dauerte Sekunden. Es waren Sekunden die sich wie Minuten anfühlten. Mein Kopf war leer. Ich glaubte, dass wir beide mit unserer Nummer vom Pferde stehlen in einen völlig falschen Film hineingeraten waren. Wir hatten uns in ein unkontrollierbares abseits manövriert. Die Ausführungen des dozierenden Juristen waren fünfmal so umfangreich wie der Beitrag von uns beiden. Angesichts eines Prüfungs-Kolloquiums schien mir der von uns wiedergegebene Textbeitrag zum Thema extrem kurz geraten. Wohin hatten wir uns verstiegen? Mit wem hatten wir uns hier angelegt? Wie soll das nun weitergehen? Keine Ahnung. Das war alles was mein Hirn dazu zu sagen hatte.

Regina brach das Schweigen. Sie sagte:

„Sie sprechen noch kein Urteil über uns! Wir ziehen unseren Vorschlag zurück. Nichts haben wir Ihnen anzubieten, denn wir sind keine Handelspartner von Ihnen. Diese Rolle steht uns nicht zu, denn es gibt sie gar nicht. Wir fügen uns, denn wir wissen wohl, dass der Richter am deutschen Gericht kein Schiedsrichter ist. Das Gerichtsurteil ist als wahr in der von Ihnen getroffenen Feststellung und als gerecht betreffend des vom Gericht verhängten Strafmaßes letztlich nur von Ihnen Herr Richter allein zu verantworten! „

Volltreffer! Der Jurist war von unserer Show schwer beeindruckt. Er war überzeugt, dass wir das von ihm gestellte Thema aufgelockert und ungewöhnlich präsentieren wollten. Wir mussten unsere eigentliche Absicht Pferde zu stehlen gar nicht in die Tat umsetzen. Wir brauchten dem Mann nicht damit zu drohen, ihn mit seiner außerhalb der Prüfungszeit angesetzten Prüfung auffliegen zu lassen. Wir mussten mit ihm nicht über das verhandeln, was er uns für unser Schweigen anzubieten hatte, weil er uns für unsere Show ohnehin eine gute Note gab. In dessen Augen hatten wir den Kern des Prüfungsthemas getroffen.

Regina hatte sofort begriffen worum es ging. Mit Ihren Schlussworten hatte sie den zugeknöpften Juristen schwer beeindruckt. Für Studenten im ersten Semester schien ihre Show dem Thema zu begegnen perfekt inszeniert. Der Zugeknöpfte war hoch zufrieden damit zwei Erstsemester-Prüflinge vor sich zu haben, die seine Prüfung in eine Art Schauspiel verwandelten. Dass der Jurist den Hauptbeitrag dazu selbst geliefert hatte, spielte keine Rolle. Ich glaube er war einfach sehr begeistert davon, dass er in dem Rollenspiel den Richter spielen durfte.

Regina hatte nicht nur den Juristen, sondern auch mich schwer beeindruckt. Ich hatte zum Schluss geschwiegen, weil mir schlicht nichts eingefallen war. Ich wusste nicht wie wir aus dieser Szene wieder herauskommen. Regina aber hatte durchschaut worum es ging. Sie hatte die Sekunden unseres Schweigens genutzt, um ihre Sätze im Kopf zu sortieren. Sie ließ sich nicht beirren. Schon gar nicht versetzte sie sich selbst, so wie ich es getan hatte, in einer Art geistige starre. Sondern sie nutzte die Sekunden um eine souveräne, geordnete und überzeugende Antwortet zu geben. Ich fand in meinem Kopf nur Leere. Ich fand tiefes Unverständnis darüber was nun zu sagen war. Ich fand sogar Angst darüber wohin was wir angerichtet hatten führen könnte. Deshalb verlor ich in dem Gespräch die Fähigkeit zu führen. Regina führte uns.

20. Gemeinsames Studieren

In den ersten Semesterferien fuhren wir zusammen in einen wochenlangen Urlaub nach Griechenland. Wir reisten mit Rucksäcken und fuhren per Bahn, Bus und per Anhalter. Regina hatte es geschafft. Sie hatte erreicht was sie wollte. Wir waren ein Paar geworden. Sie war richtig glücklich. Monatelang war ich überrascht wie sich das entwickelt hatte und wie schnell das alles gegangen war. Meine Überraschung aber verflog mehr und mehr. Regina entwickelte sich zu meiner Realität. Ich ließ mich darauf ein.

Sie hatte zwei befreundete Paare aufgetrieben mit denen wir gemeinsam die Reise antraten. Die beiden anderen Paare entpuppten sich als erstaunlich lockere Personen. Ich hatte nämlich zunächst Bedenken, denn ich wollte nicht, dass der Urlaub ein Stresspotential in Richtung Gruppendynamik entwickelte. Außerdem dachte ich, ist das ja immer so eine Sache mit Paaren im Urlaub. Was ich damit genau meinte wusste ich aber nicht, denn so einen Urlaub hatte ich noch nie erlebt. Regina war die erste Partnerin mit der ich so einen Urlaub plante.

Regina setzte sich durch. Tatsächlich gab es keinen Stress. Man einigte sich über die Etappenziele und Aufenthaltsorte. Alles verlief äußerst harmonisch und es kam zu keinerlei Streit. Jedes Paar verfolgte die eigenen Interessen soweit das möglich war. Die gemeinsamen Interessen kamen nicht zu kurz. Der Urlaub wurde zu einem gemeinsamen Ereignis das uns beide enger zusammenbrachte.

Im zweiten Semester war es Alltagsnormalität geworden, in Begleitung von Regina das Studium zu durchlaufen. Es war völlig normal, dass wir uns ständig sahen, miteinander arbeiteten und uns liebten. Ich schöpfte aus dem Kontakt sehr viel Energie die ich am Anfang des Studiums nicht gehabt hatte. Regina war eine tolle Frau an meiner Seite. Das lag vor allem daran, dass sie es perfekt beherrschte in jeglicher Hinsicht eine ungewöhnliche Souveränität auszustrahlen. Diese Souveränität, gepaart mir ihrer Intelligenz, beeindruckte mich. Ihre Unauffälligkeit bestand in ihrer Klarheit, in ihrer deutlichen Sprache, ihrer Gewandtheit sich an richtiger Stelle zum richtigen Zeitpunkt genau passend einzubringen. Sie hatte es in keinem Studienfach nötig sich in den Vordergrund zu spielen. Sie hatte es nicht nötig Aufmerksamkeit zu erregen, sie bekam sie. Dass ich auf ihrer Seite war weil sie mich ausgewählt hatte, schien ihr außerordentlich wichtig zu sein. Sie ließ daran keinen Zweifel. Mir schien ich gehörte in das Bild das sie von sich hatte.

Ich fühlte mich dabei sehr wohl. Es war nach dem gemeinsamen Urlaub mit den zwei befreundeten Paaren so, als gehörte ich schon immer zu ihr. Ich konnte mir keine andere Lebenssituation mehr vorstellen. Was ich zuvor getan hatte, wie ich gelebt hatte ohne sie, das war unvorstellbar für mich geworden. Ich verschwendete keine Gedanken daran, denn ich hatte das Gefühl in meinem Leben mit ihr zusammen angekommen zu sein in dem ich glücklich geworden war, so wie ich das niemals zuvor erlebt hatte. Wie das entstanden war, warum es sich entwickelt hatte oder wie das überhaupt gelingen konnte, diese Fragen stellte ich nicht. Es gab sie nicht denn sie waren unnötig. Es war mit Regina einfach so geworden wie es war und das war gut so.

Nach dem Urlaub schenkte mir Regina ein wunderschönes Foto von sich. Es war ein Schwarzweißfoto das sie vergrößern ließ und mir in einem hübschen Bilderrahmen überreichte. „Damit kannst du deine Studenten-WG-Bude etwas schmücken“, sagte sie lächelnd zu mir. Tatsächlich sah es in meinem winzigen Wohngemeinschaftszimmer nicht gerade edel aus. Das hübsche Bild platzierte ich an verschiedenen Stellen in dem kleinen Raum. Es wollte sich aber nicht gleich der richtige Platz dafür finden. Wegen der Dachschrägen wirkte das Zimmer kleiner als es ohnehin war. Ich wusste einfach nicht wohin mit dem Bild. Also räumte ich es in die Schreibtischschublade.

Ich legte mich auf das Bett und dachte nach. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich eine richtige Partnerin die mir nun auch noch ein hübsches Bild von sich geschenkt hatte. War das ein Traum oder die Wahrheit? Ich versenkte das Bild in der Schublade? Das ging gar nicht! Ich stand auf, setzte mich an den Schreibtisch und öffnete die Schublade. Da lag sie drin. Regina lächelte mir entgegen. Ich nahm das Bild wieder heraus.

Jetzt fand ich das Schreiben, den Brief, den Richards Onkel vor dem Schulabschluss im Jahr zuvor untersucht hatte. Seit dem Nachmittag im Laden von Richards Onkel lag es zwischen Papieren in meiner kleinen Schreibtischschublade. Ich hatte mich nicht weiter darum gekümmert. Es hing auf der Unterseite von Reginas Bild. Es hatte sich hinten am Bilderrahmen an einer Ecke eingekeilt.

Ich legte das Schreiben vorsichtig neben Reginas Bild auf den Schreibtisch. Ich saß und überlegte. Der Bilderrahmen war ein Standardrahmen mit Halterung für die Wand und ausklappbarem Fuß damit man es auf einen Tisch stellen konnte. Mit meinem Taschenmesser öffnete ich vorsichtig den Rahmen. Ich nahm die Vorderseite heraus. Auf die Rückseite des Fotos legte ich das Schreiben. Ich setzte den Bilderrücken wieder ein. Das Bild hängte ich an die Wand an einen Haken neben dem Bett. Vom Bett aus konnte ich es so gut sehen. Das schien mir ein sehr guter Platz für Reginas Foto.

Das Studium entwickelte sich mit Regina zusammen sehr gut weiter. Meine anfänglichen Konzentrationsschwächen wegen der Frau an meiner Seite waren im zweiten Semester endgültig verschwunden. Ich konnte wieder voll mithalten. Wir unterstützten und ergänzten uns gegenseitig. Was ich nicht wusste, wusste sie und manchmal auch umgekehrt. Weil wir ähnliche Interessen hatten konnten wir uns in der Fachauswahl bestens ergänzen.

Der Freundeskreis von Regina entwickelte sich wie selbstverständlich auch zu meinem. Das fing bei den beiden Pärchen aus dem Urlaub an und baute sich rapide weiter aus, so dass ich in Windeseile massenhaft neue Bekannte gefunden hatte. Reginas Stammkneipe war das Café Notfall in Haidhausen. Ich kannte die Kneipe aus früheren Zeiten, als ich noch die Schule besucht hatte. Deshalb wunderte ich mich darüber, dass ich Regina dort damals nie getroffen hatte. Das klärte sich auf. Regina hatte das Café Notfall erst mit Studienbeginn zu ihrer Stammkneipe erklärt. Wir trafen uns dort mehrmals wöchentlich mit all ihren und meinen neuen Freunden. Von meinen früheren Bekannten aus der Schule traf ich in der Kneipe erstaunlicher Weise niemanden mehr. Sie waren alle wie Richard wie vom Erdboden verschluckt.

Im Café Notfall hatten wir jahrelang sehr viel Spaß miteinander. Wir feierten stets, obwohl es eigentlich nie richtig was zum Feiern gab. Das Café entwickelte sich zu einem kultischen Treffpunkt, in dem wir beide bald bekannt waren wie bunte Hunde. Mit beinahe jedem Gast hatten wir mindestens einmal gesprochen. Es entwickelte sich zu einem zweiten Zuhause. Es wurde unser Kneipenzuhause. Wir wussten dort stets Kontakt zu finden. Das musste zuvor nicht telefonisch organisiert werden. Es war eine Wohltat nicht jeden Abend mit Freunden telefonisch die Kneipe vereinbaren zu müssen. Wir trafen uns automatisch im Café Notfall. So etwas hatte ich bis dahin in der Stadt noch nicht erlebt. Es war überaus angenehm und einfach.

Meine Mitbewohner aus der Wohngemeinschaft spielten letztlich auch wegen Regina wieder eine größere Rolle für mich. Regina besuchte mich oft. Sie war eine die sich abends in der WG mit an den Tisch setzte. Die Skatrunden spielte sie bis tief in die Nacht hinein enthusiastisch mit. Das war begeisternd. Denn meine Fähigkeiten beim Skat waren lange Zeit wahrlich begrenzt. Ich hatte damals meist ab elf Uhr Nachts einen schläfrigen, glasigen Blick in den Augen. Um zwölf Uhr nachts war es mir stets wichtig nach jeweils vier Runden für ein Minuten langes Nickerchen auszusetzen. Gegen ein Uhr Nachts konnte ich nur noch verlieren. Beim Ramsch war ich für die Mitspieler das optimale Verlierer-Opfer.

Das war mit Regina in den Skatrunden schnell vorbei. Ich konnte mich nicht weiterhin einfach so gehen lassen. Ich hatte mitzuhalten und ich konnte mithalten. Das war nicht nur für mich persönlich überraschend. Es wirkte sich auf die Mitspieler aus. Den ausgemachten Verlierer gab es nicht mehr. Nachts um drei saß ich am Skattisch und kannte die Blätter in den Händen der Mitspieler. Ich rechnete mit, als habe ich deren Blätter in meiner Hand. Keiner, am wenigsten ich selbst, hatte damit gerechnet. Die Skatrunde endete nachts nicht mehr vor drei Uhr. Ich war nicht mehr müde. Regina und ich waren spät nachts stets die letzten die immer noch weiterspielen wollten. Aber es gab in der Villen-WG keinen dritten Spielpartner der mit uns mithalten konnte.

21. Arbeiten

Mein Studentenleben finanzierte ich mit verschiedenen Jobs. In der Wohngemeinschaft gab es eine Doppelgarage mit einem großen Vorplatz. Dort reparierte ich Autos von Freunden und Bekannten. Seit ich nach dem Urlaub mit Richard die Bremsbeläge gewechselt hatte, merkte ich, dass mir die Bastelei an Autos lag. Das sprach sich schnell herum, so dass ständig mindestens ein Reparaturfahrzeug vor der Garage stand.

Nachmittags bastelte ich bis in den frühen Abend beinahe täglich an zu reparierenden Auspuffanlagen, schweißte an Löchern in Bodenblechen herum, baute defekte Lichtmaschinen aus, schraubte Zündkerzen rein und raus, zerlegte defekte Wasserpumpen oder reinigte Vergaser und ersetzte Filter. Die Mitbewohner der Wohngemeinschaft sorgten dafür, dass ich mir ein regelrechtes Kundenbüchlein anlegen musste, denn wöchentlich kam mindestens ein neuer Anruf von irgendeinem Studenten, der mir seine Rostlaube vorbei bringen wollte. Dass die Garage und der Parkplatz von mir binnen Monaten zu einer Werkstatt mit Schweißanlage, Auffahrrampe und jeder Menge Werkzeug verwandelt wurden, störte niemanden.

Die Bastelei an den Autos war ein traumhafter Ausgleich zum Studium. Aber ich verdiente dabei kaum Geld. Denn ich lernte, dass ich kein guter Verkäufer war. Meine Kunden hatten wie ich nur wenig Geld. Deshalb verkalkulierte ich mich beinahe bei jedem zu reparierenden Wagen. Ich war nicht in der Lage, die Preise nach oben zu verhandeln. Die Zeit die ich investierte, das Werkzeug das ich kaufte und die Ersatzteile die ich benötigte, fraßen beinahe immer die Zahlungen der Kunden komplett auf. Ich investierte viel Zeit. Ich war ja kein gelernter Mechaniker. Also war beinahe jedes Problem Neuland. Ich hatte mich stets neu einzuarbeiten. Das kostete Zeit und brauchte viel Geduld. Beides nahm ich mir. Für mich stand im Vordergrund selbst bestimmt, genau, aber nicht unbedingt schnell zu arbeiten. Ich arbeitete nach meinem Rhythmus. Das war ein Rhythmus der die Tüftelei, das Lösen eines Problems, wie etwa der Reparatur einer defekten Radnabe ohne Fachwerkzeug beizukommen war, in den Mittelpunkt stellte. Ich widmete mich den Herausforderungen der Schrottlauben der Studenten akribisch wie ein Forscher dem ständig neue Probleme begegneten.

Für manche Klapperkiste, an der ich viele Nachmittage herum schraubte, wäre es wesentlich effizienter gewesen einen Schrottplatz zur Endlagerung anzusteuern. Stattdessen ließ ich mich herausfordern den TÜV davon zu überzeugen, dass hoffnungslos durchgerostete Türschweller, Radläufe und sogar Achsaufhängungen so zusammengeschweißt werden konnten, dass sie höchstens optisch aber nicht technisch zu bemängeln waren.

Bei den Freunden wurde ich schnell bekannt als einer dem zu fast allen Problemen am Auto immer eine Idee einfiel und der mit viel Geduld keinen Aufwand scheute, wenn es darum ging den letzten Müllhaufen von Fahrzeug wieder in einen technisch ordentlichen, fahrbaren Untersatz zu verwandeln. Ich war für viele Studenten die ideale Werkstatt. Eigentlich konnten sich die wenigsten meiner Kunden ein Auto wirklich leisten. Deshalb brauchten sie eine Werkstatt wie mich.

Geld verdiente ich mit einem anderen Job. Den Nachtwächterjob hatte ich mit dem Bewerbungsbogen, den mir die Sekretärin geschickt hatte, erfolgreich in einen Wochenendjob, den ich samstags und sonntags tagsüber erledigen konnte, verwandelt. Die Fabrik war mit meiner Bewerbung einverstanden. Ich hatte mich zufällig unmittelbar nach dem Tod eines zuverlässigen Rentners der das bis zu seinem Ende gemacht hatte, für den Wochenenddienst interessiert.

Dort fand ich viel Ruhe um intensiv zu lernen. Die Tag-Schicht der Arbeiter fand am Wochenende in der Fabrik reduziert statt, der Bürobetrieb der Verwaltung fand gar nicht statt. Unfälle die in der Nachtschicht durchaus regelmäßig den Nachtwächter an der Pforte beschäftigten, gab es praktisch nicht. So konnte ich mit diesem Job nebenher jedes Wochenende alles aufarbeiten was ich während der Studienwoche nicht verstanden hatte.

Regina war zuerst nicht sehr begeistert davon, dass ich jedes Wochenende samstags und sonntags in der Pforte der Fabrik arbeitete. Das hinderte uns an gemeinsamen Wochenendausflügen und Unternehmungen mit Freunden. Ich verstand das gut, konnte mir jedoch keinen anderen Job vorstellen. Denn ich wusste genau, dass ich diese ruhige, regelmäßige Zeit benötigte um mir die Studieninhalte zu vergegenwärtigen. Meine Chancen, die regelmäßigen Semesterprüfungen zu bewältigen oder gar die Vorprüfungen zu meistern, wären ohne den Pförtnerjob am Wochenende rapide gesunken. Ich hätte mich niemals regelmäßig abends oder am Wochenende in der Wohngemeinschaft in meinem stillen Kämmerlein an den Schreibtisch gesetzt. Die Zeitstruktur des regelmäßigen Wochenendjobs war fix festgelegt. Das war für mich optimal um wirklich was zu lernen. Eine feste Zeitstruktur zum Lernen selbstständig festzulegen, hatte ich niemals gelernt.

Regina lernte ganz anders als ich. Sie hatte es nicht nötig in ihrer Studentenwohngemeinschaft in der Innenstadt zu sitzen um zu lernen. Sie lernte schon in der Vorlesung viel mehr und schneller als ich. Sie konzentrierte sich offenbar ganz anders. Das hatte mir unser erstes gemeinsames Prüfungserlebnis in dem mündlichen Kolloquium bewiesen. Während ich noch über irgendetwas sinnierte, hatte sie bereits klare eigene Sätze zum Thema im Kopf. Bis ich begriffen hatte worum es ging, war sie dazu übergegangen das Thema in eigenen Worten perfekt zu bearbeiten.

Regina finanzierte ihr Studium wie ich durch Arbeit. Auch sie erhielt zeitweise ein bisschen Studenten-BaföG, nahm das aber nicht weiter in Anspruch. Der Grund war einfach. Wir waren in eine Gesetzesreform der damaligen Regierung geraten. Die hatte es genau in unserer Studienzeit als geeignete Maßnahme der Bildungsförderung definiert, die BaföG-Förderung auf Volldarlehen umzustellen. Weil das aber bedeutete, dass jeder der diese Art Förderung in Anspruch nahm, nach dem Studium einen gewaltigen Schuldenberg vorfand, verzichteten wir beide darauf. Wir entschieden deshalb das Studium in die Länge zu ziehen und nebenher zu arbeiten um es zu finanzieren.

Regina startete im zweiten Semester eine lukrative und hoch interessante Aufgabe. Sie begann gemeinsam mit einigen Dozenten an der Hochschule bei der Umsetzung von deren Buchprojekten mitzuarbeiten. Für mich war das eine unvorstellbare Aufgabe. Wie konnte es ihr gelingen schon im zweiten Semester an so ein Projekt zu kommen? Noch im ersten Semester hatten wir gemeinsam den zugeknöpften Juristen eher zufällig, oder besser durch einen Glücksfall gerade noch so über den Tisch gezogen, da traf sie sich im zweiten Semester bereits mit Dozenten um an der Veröffentlichung von deren Buchprojekten mitzuwirken?

Hätte ich sie zu diesem Zeitpunkt nach dem ersten gemeinsamen Urlaub nicht schon sehr gut gekannt, ich hätte mich wahrscheinlich aus einer diffusen Angst heraus mit irgendeiner fadenscheinigen Begründung von ihr getrennt. Sie war eine die voll durchstartete. Nur weil ich wusste, dass sie mich wollte und weil ich spürte, dass sie mich liebte, konnte ich neben ihr so leben als sei alles was sie tat für mich völlig normal. Sie aber war auf ganz anderem Niveau als ich unterwegs. Ihr Weg verlief senkrecht nach oben.

Sie hatte das gesamte zweite Semester hindurch zusammen mit fünf Dozenten an der Gründung eines eigenen kleinen Verlages gearbeitet. Der wurde schließlich mit finanziellen Mitteln der Dozenten zum Semesterende gegründet. Es ging um die Idee eine praxisorientierte Buchreihe herauszubringen. Weil sich für diese Absicht auf dem Markt aber kein Verlag fand, gründeten die fünf zusammen mit Regina ihren eigenen kleinen Verlag.

Einer der beteiligten Dozenten war der zugeknöpfte Jurist. Letztlich war er wegen ihres Auftritts in dem Erstsemester-Kolloquium auf sie aufmerksam geworden. Regina hatte den Mann von sich überzeugt. Sie hatte nach Ansicht des Mannes das Zeug, Theorie und Praxis zu verbinden. Sie war in der Lage Texte auf ihre Schlüssigkeit und damit auch Praxistauglichkeit zu prüfen und bei Bedarf gar verständlicher zu formulieren als der Jurist.

In dessen Augen verfügte Regina über bessere Fähigkeiten praktikable Übersetzungen juristischer und anderer Texte zu liefern, als jeder Dozent. Woher der Mann diese Erkenntnis bezog, blieb mir unbekannt. Regina hatte, genauso wie ich, noch nie in der Praxis gestanden. Aber auch ich fand, dass sie wunderbar schnell in der Lage war, neue Dinge, Themen, Daten und Fakten zu erfassen und aufzubereiten. Sie erkannte die Absichten eines Autors oder Vortragenden manchmal schneller als dieser lesen oder vortragen konnte. Regina war in der Lage schnell ein schlüssig formuliertes Konzept zu einem Thema zu zaubern. Ihre Konzepte hörten sich innovativ und immer irgendwie neu an. Was sie vorlegte war immer logisch aufgebaut, frei von Brüchen und verständlich formuliert. Ihre Texte überzeugten.

Regina wusste, dass ich vollkommen anders gestrickt war. Sie respektierte meinen Wochenendjob nicht nur, sondern sie besuchte mich dort beinahe jeden Samstag und Sonntag. Das tat sie anfangs um mich dort bei meinem Lernen zu unterstützen. Außerdem besorgte sie immer ein kleines Mittagessen das wir gemeinsam in einer winzigen Teeküche neben dem Pförtnerbüro zubereiteten.

Dass wir unterschiedliche Jobs, mit weit auseinander klaffendem Niveau hatten interessierte sie nicht. Es war wie selbstverständlich, dass ich Nachmittags Autos zusammen schweißte, während Sie sich mit Dozenten traf, sich mit der Verlagsgründung beschäftigte und erste zu veröffentlichende Bücher redigierte. Es war kein Thema zwischen uns, dass sie mir samstags in der Pforte der Fabrik, den einen oder anderen juristischen Vortrag einer Vorlesung aus der Vorwoche anhand praktischer Beispiele erläuterte. Für sie war es klar mich zu unterstützen. Für mich war klar, dass ich ihre Unterstützung benötigte um das Studium überhaupt bewältigen zu können.

Die Prüfungen am Ende des zweiten Semesters wären ohne sie für mich nicht zu schaffen gewesen. Ich hätte vermutlich das Studium abgebrochen. Solche Idee stellte sich ihretwegen nicht. Ich schrieb die Prüfungen bei weitem nicht so gut wie sie. Aber Dank ihr hatte ich den nötigen Durchblick um es zu schaffen.

22. Familie

Im dritten Semester schlug Regina einen gemeinsamen Besuch bei ihren Eltern vor. Sie hatte ihnen von mir erzählt. Ich war von ihrem Vorschlag überrascht. Wir hatten so gut wie nie miteinander über unsere Familien gesprochen. Das kam mir wegen meiner familiären Situation sehr entgegen.

Durch den Vorschlag von Regina wurde mir klar, dass sie ahnte oder gar wusste, warum ich das Thema bislang umschifft hatte. Sie war mir entgegengekommen indem sie mich damit nie behelligt hatte. Meine familiäre Geschichte war kein Thema zwischen uns beiden. Sie hatte sich darauf eingestellt, dass ich keine Eltern zu bieten hatte. Wir hatten höchstens zwei bis drei Mal über meine Familie gesprochen. Sie wusste, dass ich meine Kindheit bei Büchtler am Obersalzberg zugebracht hatte.

Ich sah uns beide in unserer Studienausbildung, sah unser beider Freunde im Café Notfall und unsere jeweilige Arbeit. Darin bestand unser gemeinsames Leben. Das war für mich alles. Dass aber die Eltern gefehlt hatten die man sich in einer Beziehung wie wir sie zu dem Zeitpunkt pflegten wohl irgendwann einmal gegenseitig vorstellte, zu denen man Kontakt hatte, die folglich wussten, dass die Tochter sich in einer Partnerbeziehung befand, daran hatte ich nie gedacht.

Eltern relevante Termine, wie Weihnachten oder Geburtstage hinderten mich nicht daran, das Thema weiterhin auszublenden. Ich hatte schon vor Studienbeginn als ich noch auf die Schule gegangen war die Weihnachtstage alleine oder in der Wohngemeinschaft mit anderen Gestrandeten verbracht. Ich dachte nicht daran, dass diese Zeit im durchschnittlichen deutschen Haushalt gemeinsam mit Eltern zugebracht wurde. Ich fand es immer äußerst angenehm, dass in dieser Zeit so gut wie nichts los gewesen war. Keine Anrufe, keine unerwarteten Besuche, keine Autoreparaturaufträge, aber vor allem mal insgesamt Ruhe und keine Hektik auf den Straßen und Plätzen der Stadt. Die Hektik unserer von Stress geplagten Gesellschaft brach jedes Jahr in den Weihnachtstagen einfach in sich zusammen. Das fand ich sehr schön. Wo man sonst jemanden traf, z.B. im Café Notfall oder rund um die Uni war plötzlich beinahe niemand mehr. Ich fand das richtig toll. Ich glaubte jahrelang, dass es allen Menschen wie mir ging oder zumindest ganz ähnlich. Der Alltag war einfach mal abgeschaltet.

Dass es aber die Zeit von Eltern und Familie war, dass Paare sich in dieser Zeit bei Ihren Eltern einfanden, dass in dieser Zeit regelrechte Familientribunale bei Braten und Alkohol abgehalten wurden, dass Paare ihre persönliche und wirtschaftliche Familienbilanz in diese Zeit bei ihren Eltern abzuliefern hatten, dass Unausgesprochenes zwischen Kindern und ihren Eltern in dieser Zeit besonders oft ausgesprochen wurde, weil man das ganze Jahr über nie mit so viel familiärem Erfolgsdruck im Genick auf seine Eltern traf, dass Eltern überhaupt erwarteten, dass die Kinder sich in dieser Zeit bei ihnen blicken ließen, all das war mir über viele Jahre einfach unbekannt geblieben.

Das alles war von mir so weit weg wie die Vogelkundestunde im Sachkundeunterricht der zweiten Grundschulklasse. Es war quasi so, dass dieser mir eigentlich bekannte Vogel „Familientermin: Weihnachten oder Geburtstag“, jedes Jahr aufs Neue zu Weihnachten aus seinem Sommerrevier herein geflogen kam. Er setzte sich jedes Mal irgendwo auf ein Fensterbrett. Dort begann er mit seinem ruhigen Gesang. Ich sah diesen Vogel jedes Jahr und dachte mir: Der kommt mir irgendwie bekannt vor, der singt ja ganz angenehm beruhigend vor sich hin, da kann man ja richtig zur Ruhe kommen. Das war Weihnachten, das war für mich mein Geburtstag. Steckte unter dem hübschen Gefieder dieses Vogels nicht noch mehr? Da steckten doch noch Familiengeschichten und Familiendramen? Alles über den Vogel was ich in der Vogelkundestunde vor vielen Jahren mal darüber gelernt hatte, interessierte mich nicht mehr. Weihnachten und Geburtstage hatten nichts mit Eltern oder Familie zu tun.

Ich blendete das genauso aus wie die Idee mit Regina zusammen zu ziehen. Für mich und für sie war es niemals Thema, dass wir anstatt in unseren getrennten Wohngemeinschaften zu wohnen, auch zusammen in eine Wohnung ziehen könnten. Das war eher für unsere Freunde ein wunderbares Thema. Es war ein Punkt an dem wir beide nach außen erkennbar nicht perfekt im Mainstream unterwegs gewesen waren.

Wir verbrachten unsere Ausbildungen miteinander. Die Zeit meines Jobs verbrachten wir jedes Wochenende in der Pforte der Fabrik miteinander. Abends sah man uns zusammen im Café Notfall. In den Semesterferien fuhren wir zwei, wie beim ersten Urlaub, gemeinsam mit befreundeten Paaren nach Italien, nach Spanien, nach Griechenland, nach Frankreich, nach Sardinien, nach Korsika. Wir lebten zusammengeklebt wie ein altes Paar, das seit vielen Jahren miteinander auskam. Aber wir wohnten nicht zusammen.

„Klar!“, sagte ich, „dass können wir gerne machen!“
Reginas Eltern waren sehr ruhige, gelassene Menschen. Sie arbeiteten täglich in einem Bekleidungsgeschäft in der Innenstadt. Sie waren die Eigentümer des Ladens. Sie begrüßten mich nicht überschwänglich, aber herzlich. Beim Essen erzählten sie abwechslungsreiche Geschichten und die eine oder andere Anekdote aus ihrem Alltag im Laden. Dort verkauften Sie solide Herrenbekleidung an Geschäftsleute und Menschen die sich teure italienische Anzüge leisten mussten oder einfach leisten wollten. Sie wirkten auf mich wie ihre Tochter: Ruhig und intelligent. Ihre Geschichten aus dem Laden erzählten sie nicht wichtig, sondern alltäglich.

Ich war in solchen Situationen immer unsicher. Das war ich, obwohl mich Regina sehr gut vorbereitet hatte. Das Thema Bekleidung war etwas worauf ich noch nie in meinem Leben ein Augenmerk gesetzt hatte. Ich versuchte mich stets unauffällig zu kleiden. Dabei hatte ich immer mein sehr begrenztes Budget im Blick. Der Automechanikerjob brachte es manchmal mit sich, dass ich auf dem Weg zur Uni schnell noch ein Schräubchen hier und eine Mutter da anzuziehen hatte, was manchmal auch auf noch neueren Hosen zu unschönen Ölflecken führte.

23. Gespräche an der Oberfläche

Fast jeden Abend trafen wir im Café Notfall auf viele Freunde. Dort besprachen wir alle möglichen Themen die uns im Laufe eines Studentenlebens beeindruckten. Unsere Kommunikation wirkte intellektuell, war es aber nicht. Was ich sah und hörte war was ich in den achtziger Jahren über das Café Notfall und ähnliche Kneipen der Stadt in den Szeneblättern nachlesen konnte. Ich wusste nicht recht ob die Menschen im Café Notfall so waren weil das so in den Szeneblättchen geschrieben stand oder ob das was in den Blättchen geschrieben stand, tatsächlich von irgend jemandem beobachtet worden war bevor es geschrieben wurde.

Es gab dort offene Menschen, es gab Intellektuelle, es gab eine ganze Anzahl von Blendern, es gab sehr viele Redner, es gab eine Gruppe gestrandeter Journalisten, es gab Musiker, Künstler, Lebenskünstler, echte Künstler, Kunstliebhaber und es gab uns beide. Mein Gefühl war, dass Regina perfekt hineinpasste. Über mich selbst dachte ich, dass ich in diese Szene mit ihr irgendwie hinein gerutscht war.

Hin und wieder dachte ich daran, dass ich im Café Notfall in Haidhausen früher ganz andere Menschen getroffen hatte. Als ich neu in die Stadt gezogen war, um meine Schule zu besuchen, hatte ich doch neue Freunde kennengelernt: Wo waren die geblieben? Wo waren Sofia, Annette, Richard und Thomas geblieben? In der Stadt war es meine Realität geworden ständig neue Freunde zu gewinnen und zu verlieren.

Individuell und intellektuell zu wirken war die angesagte Linie. Das war der Trend im Café Notfall und der Szene. Darüber berichteten die Szeneblätter. Alle Beteiligten fühlten sich gut dabei. Jeder war begeistert und überzeugt, dass hier wichtiges stattfand. Die Zeit wurde hier gestaltet. Die Szene wurde hier entwickelt. Mein Eindruck war, dass die meisten Gäste im Café Notfall nicht sagen konnten was auch immer das bedeuten sollte. Darüber sprach man nicht. Darüber schrieben die Blättchen, in denen im Prinzip immer das gleiche belanglose Zeug zu lesen war.

Meine neuen Freunde im Café Notfall waren und blieben Reginas Freunde und Bekannte. Ich lief dort unter Reginas Namen irgendwie mit. Trotzdem fühlte ich mich irgendwann im Café Notfall wohl. Das Bild von mir zusammen mit Regina in dieser Kneipe gefiel mir immer besser. Eines Tages war mir das alles richtig angenehm geworden. Ich profitierte von ihrer Präsenz, ihrer Ausstrahlung und ihrem Niveau.

Niemals hätte Regina einen Hauch von Macht über mich, oder das Ansinnen ihre intellektuelle Überlegenheit mir gegenüber auszuspielen erkennen lassen. Das erleichterte alles. Ich liebte sie nicht nur, sondern wegen ihrer Souveränität verehrte ich sie. Ich war ein Abhängiger geworden. Den Freunden im Café Notfall war nicht entgangen, dass ich ihr im Grunde nicht das Wasser reichen konnte. Aber keiner der Freunde konnte das Ungleichgewicht nutzen um eine Störung in unserer Beziehung zu verursachen.

Es gab sehr viele die sich für Regina interessiert hatten. Niemals aber habe ich es erlebt, dass Regina auf deren Signale entgegenkommend reagiert hätte. Sie nahm die Signale wahr. Doch sie hatte sich ihren Partner bereits ausgesucht. Ihre Wahl hatte sie gezielt getroffen und dazu stand sie. Wir haben nie darüber gesprochen wie das bei ihr gewesen war an dem Tag als sie die Türschwelle zu dem Seminarraum überschritten hatte, um auf mich zuzugehen.

Im Café Notfall interessierte mich die Gruppe der gestrandeten Journalisten. Das waren drei Leute die allesamt an der deutschen Journalistenschule in München gescheitert waren. Trotzdem, so behaupteten alle drei von sich selbst, hatten sie den Beruf ergriffen und seien nun aktive unabhängige Journalisten geworden. Das fand ich interessant. Mich beeindruckte deren selbstbewusste überzeugende Art, die Fähigkeit das Abgewiesen werden in Kräfte zu verwandeln, die Ziele die sie aus der Abweisung durch sogenannte Profis entwickelten und wie sie darüber im Café Notfall sprachen. Ich fand es schier unglaublich, dass drei sich Journalisten schimpften, aber die Aufnahmeprüfung an der deutschen Journalistenschule nicht geschafft hatten. Sie hatten sich vorgenommen Journalisten zu werden und zogen dieses Ding durch. Das passte ins Café Notfall. Die Szene dort war voll von Machern und selbsternannten geistigen Höhenfliegern.

Die gestrandeten Journalisten hatten stets irgendwelche angeblich wichtigen Aufträge von Blättern für die sie in der Stadt recherchierten. Regina und ich waren für die drei deshalb interessant, weil wir nach deren Ansicht so unterschiedlich wie die Welt waren. Keiner von den Dreien konnte mir erklären was damit gemeint war. Nach vielen langen und Alkohol getränkten Gesprächen an deren Tisch begriff ich, dass sie als Grundlage in ihrem Job vor allem die genaue Recherche sahen. Danach erst kam der Artikel der im Grunde die geringste Arbeit darstellte.

Erst jetzt verstand ich, dass sich Regina mit ihrem Dozenten-Buch-Verlag-Job eine optimale Tätigkeit gesucht hatte. Denn die Recherche, das gesamte Material, alle Themen lieferten ihr die Dozenten fein säuberlich geordnet an. Sie musste daraus nur noch neue vor allem nach Innovation riechende Konzepte zusammen zimmern. Die baute Regina schlüssig auf. Das beste daran war wohl, dass die Konzepte nicht von ihr oder den Dozenten umzusetzen waren, sondern von den Praktikern die sich die Bücher kauften weil die genau solche Konzepte erwarteten. Ob die Konzepte wirklich umsetzbar waren oder funktionierten schien dabei nicht wirklich von sehr hohem Interesse zu sein. Wirklich wichtig aber war, dass die Texte das Funktionieren glaubwürdig und schlüssig wiedergaben.

Regina bemächtigte sich eines Teils der Kompetenz der Gestrandeten. Gegen ein Honorar das ein Bruchteil ihrer Vergütung durch die Dozenten im Buchverlag darstellte, vergab sie an die drei freien Journalisten befristete Rechercheaufträge zu Themen die sie für den Dozenten-Buch-Verlag bearbeitete. Das zeigte mir neben all ihren Fähigkeiten, dass sie zudem auch noch geschäftstüchtig war. Eine Kompetenz die mit völlig fremd war, was meine wirtschaftlich erfolglosen Autobasteleien bewiesen.

Regina traf sich über mehrere Semester immer wider mit den Gestrandeten. Irgendwann war von den Dreien nur einer übrig geblieben. Die anderen beiden hatten sich erneut an der deutschen Journalistenschule beworben und waren erfolgreich. Sie verschwanden aus der Szene und aus dem Café Notfall und versanken der Ausbildung.

Übrig geblieben war Holger. Er übernahm regelmäßig Aufträge von Regina. Daneben arbeitete er angeblich bei einem der Szeneblätter der Stadt. Ich sah das mit Zweifeln, denn ich kaufte mehrfach das Blatt über das er sprach, fand darin aber nie einen Artikel von Holger.

Regina erklärte mir den Zweck ihrer Aufträge an Holger immer genau. Es ging meist darum, und das fand ich am Anfang dieser Aufträge unglaublich, dass sie sich auf Grundlage einer neutralen Recherche der Richtigkeit bestimmter Inhalte der Bücher des Verlages vergewissern wollte. Ihr Wirken an den Büchern brachte es nämlich mit sich, dass auch sie namentlich in deren Autorenverzeichnis aufgenommen wurde. Sie wiederum erkannte bei aller Freude darüber, dass sie bei weitem nicht die Kompetenz besaß wirklich zu beurteilen ob alle Inhalte die sie auf Grundlagen der Dozentenvorgaben formulierte, auch stimmig waren. Also nutze sie die journalistischen Fähigkeiten von Holger um bestimmte Fragen und Themen abklären zu lassen.

Regina hatte mit Holgers Hilfe eine Versicherung installiert. Sie wollte der Gefahr begegnen, dass in irgendeinem der Bücher definitiv falsche Inhalte von ihr aufbereitet wurden. Für mich war das schier Unglaubliche, dass sie im Grunde daran arbeitete ihre spätere Karriere nicht durch derartige Fehler in den veröffentlichten Praxisbüchern zu gefährden oder zumindest schon frühzeitig zu beschädigen. Ihr Vertrauen in das Wissen ihrer fünf Dozenten im Buchverlag sah Regina durch den Sicherheitstrick nicht gefährdet.

Tatsächlich lieferte Holger hin und wieder wertvolle Erkenntnisse bei ihr ab. Auch da hatte Regina eine Sicherheitsschraube eingebaut. Holger war von ihr mit einem Honorarvertrag ausgestattet worden, den sie zuvor in juristischen Seminaren gleich von mehreren Professoren auf Aktualität und Wasserdichte hatte prüfen lassen. Es gab keine Möglichkeit für Holger aus den Aufträgen von Regina, während der Recherche oder danach, noch weiteren Profit herauszuschlagen. Er war hundertprozentig an seinen Auftrag gebunden. Sein Beitrag spielte für die Buchveröffentlichungen keine Rolle. Selbst wenn er einen Skandal gefunden und aufgedeckt hätte, wäre nicht er derjenige gewesen der aufdeckte, sondern seine Auftraggeberin. Anderes Verhalten wäre Holger sehr teuer zu stehen gekommen.

Holger fand nie einen Skandal. Was er fand waren Daten und Fakten, die in manchen Büchern an einigen Stellen zu Korrekturen führten, weil sonst Themen und Bereiche unzulässig miteinander verschränkt worden wären. Er trug so dazu bei, dass die trockene Materie der Theorie und deren Grundlage ab und an von Regina berichtigt werden musste. Seine Arbeit hatte aber auf keines der Praxiskonzepte wirklich eine Auswirkung.

Holger arbeitete immer sauber, zuverlässig und fristgerecht. Alle Verträge erfüllte er stets korrekt. Deshalb hielt Regina bis zum letzten Semester an der Zusammenarbeit mit Holger fest. Am Ende des Studiums veröffentlichte Regina ihre Magisterarbeit in einem Buch des Verlages. Selbst für diesen eigenen Auftrag hatte sie noch Holger eingesetzt.

24. Die dritte Prüfung

Die Jahre des Studierens liefen perfekt organisiert beinahe wie selbstverständlich vor sich hin. Wir hatten unser Leben ideal aufeinander abgestimmt. Regina und ich arbeiteten während der Semester jedes Wochenende in der Pforte der Fabrik miteinander an den Themen der anstehenden Semesterprüfungen, schrieben an Seminararbeiten und besprachen die Inhalte der zurückliegenden Studienwochen. Das konnten wir dort beinahe ungestört tun. Keiner der Mitarbeiter der Fabrik störte sich daran, dass die Pforte am Wochenende stets von uns beiden besetzt war. Die Firmenleitung, von der meist sonntags mehrere Vertreter in den Büros zur Arbeit erschienen, fand es sogar gut, dass wir die Zeit in der Pforte gemeinsam sinnvoll nutzten, anstatt sie totzuschlagen.

Dass Regina in der Fabrik gar nicht angestellt war, interessierte die Chefs nicht. Der oberste Chef selbst ließ für uns zwei ausgemusterte Computer in das Pförtnerbüro stellen, an denen wir am Wochenende an unseren Hausarbeiten schrieben und Regina ihre Texte redigierte. Unsere Daten sicherten wir damals auf Disketten und nahmen sie wieder mit nach Hause. Der Chef fühlte sich durch uns an seine eigene Studienzeit erinnert. Er meinte, dass die Arbeit in der Pforte wohl optimal sei, neben einem Studium und dass er alles dafür tun wollte, dass wir möglichst an der Sache dran blieben. Damit meinte er sowohl das Studium aber auch den Job am Wochenende in der Pforte in seiner Fabrik. Wir sollten uns bei ihm melden wenn wir eine Idee hätten wie er die Verbindung des Studierens mit dem Pförtnerjob noch verbessern könnte.

Regina entwickelte im Laufe der Jahre einige Ideen. Der Chef ging darauf so weit ein, dass schließlich regelmäßig Studierende verschiedener Fachrichtungen in unterschiedlichen Bereichen der Fabrik, von der Personalabteilung über das Controlling bis zum Maschinenbau, ihr studienbegleitendes Praktikum dort absolvierten. Die alten Computer der Firma wurden nicht weiterverkauft, sondern an Studenten über einen Service, den Regina zusammen mit Holger organisierte, zur Erarbeitung von Diplom- und Magisterarbeiten verliehen. Das war bis Mitte der zweiten Hälfte der Achtziger Jahre ein attraktives Angebot, weil die Preise dieser Geräte für die meisten Studenten unbezahlbar waren. Studentische Arbeiten wurden bis Ende der Achtziger Jahre überwiegend auf Schreibmaschinen, gelegentlich auf so genannten Schreibcomputern geschrieben. Der Computerverleih war deshalb der Renner. Der Chef war begeistert von Reginas Ideen und Tatendrang.

Meine eigentliche Arbeit in der Pforte bestand darin, alle drei Stunden einen zwanzig Minuten langen Rundgang durch die Firma zu absolvieren. Im Falle eines von mir auf dem Rundgang entdeckten Schadens hätte ich gemäß einem Alarmplan die Einsatzkräfte zu alarmieren gehabt. Dazu kam es nie. In der Fabrik wurde auch am Wochenende mit einer reduzierten Schicht von Arbeitern rund um die Uhr produziert. Deshalb wurden Schäden und andere Vorkommnisse immer durch den dienst habenden Vorarbeiter direkt gemeldet und geregelt. Die mit mir besetzte Pforte und meine Rundgänge durch die Fabrik hatten im Grunde eine reine Alibifunktion. Es ging darum, dass einige für die Fabrik bestehende Versicherungen die rund um die Uhr besetzte Pforte und die Rundgänge erforderten.

Regina erledigte beinahe ihre gesamte Arbeit für den Buchverlag samstags und sonntags in der Pforte. Sie hatte, genauso wie ich, in ihrer Wohngemeinschaft keinen Computer. Diese Geräte waren auch für uns beide unerschwinglich. In der Uni gab es sie natürlich, dort konnten wir sie regelmäßig benutzen. Unsere Disketten bearbeiteten wir nach den Seminaren in der Uni weiter. Regina war ihren Dozenten technisch gesehen weit voraus. Keiner von ihnen konnte seine Texte mit einem Computer bearbeiten.

Regina nutzte die an der Uni frisch installierten Computer und Scanner, um von studentischen Hilfskräften sämtliche Texte einlesen zu lassen. Diese wiederum bearbeitete sie am Wochenende in der Pforte und während der Woche in der Uni. Sie organisierte eine studentische Hilfskraft, die alle Fehler die der Scanner und seine mangelhafte Software produzierten, zunächst grob korrigierte. Diese Fassungen bearbeitete Regina danach weiter. Sie fand für den Buchverlag eine Druckerei die aus den unformatierten Texten die Druckvorlagen fertigte. Das war damals ein neues, sehr effektives und unglaublich modernes Vorgehen.

Regina baute das zu einem regelrechten Produktionsverfahren aus. Das Verfahren erklärte sie schnell, nachvollziehbar und überzeugend den Dozenten. Regina sammelte mit dem Verfahren wichtige Punkte, denn damit bewies sie ihre Geschäftstüchtigkeit. Das Erscheinen des ersten Buches bestätigte Reginas Arbeit nicht nur durch dessen aufbereiteten Inhalt, sondern auch durch hohe Qualität und im Vergleich sehr günstige Produktionskosten.

Der Verkauf verlief dank einer Werbekampagne die Holger gestaltete und organisierte so gut, dass die zweite Auflage schon nach einem halben Jahr produziert werden konnte. Das Projekt insgesamt war mehr als nur kosten deckend. Die Rückmeldungen waren teils begeistert, teils überschwänglich. Das Wichtigste waren respektvolle Erwähnungen in einigen Fachzeitschriften. Das Buch und die Idee dahinter eine Verknüpfung mit der Praxis zu erreichen, waren erfolgreich. Bis zum Studienende begleitete Regina vier weitere derartige Projekte. Sie liefen alle nach dem gleichen Erfolgskonzept ab und wurden durchgängig rentabel produziert. Alle fanden, wie das erste Buch, ihren Platz in den entsprechenden Fachzeitschriften.

Die Art und Weise wie wir zusammenlebten und zusammenarbeiteten zog sich das gesamte Studium hindurch. Deshalb waren für mich die Abschlussprüfungen einschließlich der Magisterarbeit im Grunde keine wirklich erwähnenswerten Herausforderungen. Alle vorherigen Prüfungen waren für mich stets mit Grenzerfahrungen verbunden gewesen. Aufregung die früher immer da gewesen war fehlte bei der Prüfung völlig. Ich hatte alles was ich wissen musste im Kopf. Erreicht hatte ich das durch disziplinierte Kontinuität mit der ich über Jahre hinweg jedes Wochenende gemeinsam mit Regina in der Pforte der Fabrik zusammengearbeitet hatte. Die Sicherheit mit der ich zum Schluss das Studium meisterte und beendete war zu einem einmaligen Ereignis geworden. Was da geschah hatte es für mich zuvor nie gegeben und es wiederholte sich danach nie mehr. Über Jahre hatte ich kontinuierlich das Wissen welches mir im Studium geboten wurde in mich aufgesogen und am Wochenende regelmäßig mit Regina weiterverarbeitet. Deshalb musste ich mich auf Semesterprüfungen immer weniger vorbereiten. Vorbereitung fand permanent statt. Eine Prüfung war nicht mehr im bisherigen Sinne eine Prüfung, sondern sie war ein Routinecheck an dem alles wiedergegeben und erneut verarbeitet wurde, was bekannt war. Prüfung war zur Alltäglichkeit geworden. Das war Nerven schonend und befreiend.

Am Ende des Studiums gab es eine rauschende Feier. Mit dem ASTA zusammen organisierten wir eine Riesenparty die vom frühen Abend bis in den späten Vormittag des nächsten Tages hineinreichte. Das Fest wurde von den Dozenten des Buchverlages reich unterstützt. Selbst der Chef aus der Fabrik ließ es sich nicht nehmen auf dem Fest zu erscheinen. Von Regina war eingefädelt worden, dass er dem Dekan einen Spendenscheck seiner Fabrik für die Anschaffung neuester Computertechnologie für die Uni überreichte. Holger hatte einen riesigen Presserummel organisiert, der die Scheckübergabe und das Fest erscheinen ließ, als sei es kein Studienabschlussfest, sondern ein Uni-Fest zur Millionenspende der Fabrik, obwohl es nur zehntausend Mark gewesen waren.

25. Abschied

Am Tag nach dem Abschlussfest besuchte ich Regina in ihrer Wohngemeinschaft. Es war ein sehr kühler, verregneter Sommertag. Deshalb kochte Regina Tee. Ich ließ mich auf dem Sofa in ihrem Zimmer nieder und blickte durch den Raum der bei dem Regenwetter beinahe wie im Herbst wirkte. Ich sah mir alles genau an. Ich ließ meine Augen vom Fenster über das Bett zum Schreibtisch über den Schrank, die Kommode zu den Bildern an der Wand gleiten. Ich saß sehr ruhig da, sehr gelassen, atmete langsam aber tief durch, entspannte mich bei dem ersten Schluck Tee. Ich sagte lange nichts. Ich saß einfach in ihrem Zimmer auf ihrem Sofa.

Dort hatten wir beide gemeinsam über die Jahre schon oft gesessen, denn wir trafen uns meist bei Regina, bevor wir ins Café Notfall gingen. Das Café lag nur wenige Straßenzüge von ihrer Wohngemeinschaft entfernt. Auf dem Sofa neben mir sitzend, hatte mir Regina so manchen Plan und manches Vorhaben erläutert über dem sie gerade mit ihren Buchprojekten brütete. Manchmal konnte ich ihr den ein oder anderen nützlichen Tipp oder eine gute Anregung geben. Oft habe ich in diesem Zimmer bei ihr übernachtet. Wir liebten uns immer nur dort, denn mein Wohngemeinschaftszimmer, vor allem aber mein Bett war viel zu klein. Seit Wochen hatte ich nicht mehr bei ihr übernachtet.

Regina setzte sich mit ihrer Teetasse auf die Bettkante gegenüber dem Sofa. Das war ganz anders als sonst. Wir beide hatten uns in diesem Zimmer nie gegenüber gesessen. Wir saßen immer dicht beieinander auf dem Sofa. Sie schwieg. Ich blickte jetzt langsam durch den Dampf meiner Teetasse, die ich mit beiden Händen hielt, zu ihr hinüber an das Bett.

Da sah ich sie wieder, die Frau die strahlend durch die Tür des Seminarraumes in der zehnten juristischen Vorlesung trat, sich umsah und schließlich gezielt auf mich zu kam. Ich sah sie wie sie das erste Mal Samstagmittags bei mir in der Pforte der Fabrik erschien, mit ihrem Fahrrad war sie dorthin gefahren. Aus ihrem Fahrradkorb nahm sie einen kleinen Picknickkorb mit dessen Inhalt sie in der winzigen Teeküche ein Mittagessen zubereitete. Ich sah sie wie sie zum ersten Mal mit dem Chef in der Fabrik sprach, der daraufhin zwei alte Computer für uns beide in die Pforte schaffen ließ. Ich sah sie wie sie im Urlaub trampend allein am Straßenrand stand und wie sie dem verdutzten Fahrer in perfektem Englisch versicherte, dass auch ich, ihr „Husband“ mitfahren würde.

„Wie lange läuft das schon?“
Ich fragte das sehr leise und blickte sie dabei an. „Seit einem dreiviertel Jahr.“ Sie sah mich nicht an. Sie blickte vor sich auf den Teppichboden. Sie wirkte dabei wie erstarrt. So hatte ich sie noch nie zuvor gesehen.

Ich wandte meinen Blick von ihr ab. Sah hinüber zum Fenster. Dort beobachtete ich sekundenlang die Wasserperlen wie sie sich langsam in Bewegung setzten, sich mit darunter liegenden Perlen vereinten, um schließlich so schwer zu werden, dass sie in schnellem Tempo nach unten rollten. Ich wandte mich jetzt wieder in ihre Richtung. Unsere Blicke trafen sich in Höhe ihres Schreibtisches.

„Wie machen wir jetzt weiter Regina?“

Ich spürte, dass meine Stimme an Ruhe verloren hatte. Ich bemerkte in ihr ein leichtes, sehr verunsicherndes Beben. Die innere Ruhe die in meinem Körper zuerst aufkam als ich mich sehr langsam auf das Sofa gesetzt hatte, war verschwunden. Der Tee stand neben mir auf dem Tisch. Er würde mich beruhigen. Doch ich traute mich jetzt nicht zur Tasse zu greifen weil ich fürchtete so sehr an den Händen zu zittern, dass ich den heißen Tee verschütten könnte.

Sie hatte mich nie belogen. Sie hatte alles in unserem Leben zu steuern gewusst, ohne dabei zu lügen. Sie brauchte nicht zu lügen, denn sie regelte alles auch das Komplizierteste und Widersprüchlichste. Sie war in meine Falle getappt. Ich hatte wieder gefragt was ich schon wusste. Das hatte ich seit sehr langer Zeit nicht mehr getan.

Schweigen von Regina hatte mir stets gesagt, dass ich meine Frage selbst beantworten konnte. Beim Lernen mit Regina in der Fabrikpforte hatte sie immer geschwiegen, wenn ich ein Thema ansprach und dazu eine Frage stellte, von der sie meinte, dass ich die Antwort selbst wusste. Sie musste nur lange genug schweigen. Tatsächlich kam die Antwort meist binnen weniger Minuten aus mir heraus. Das war ihre wunderbare Methode, die es mir ermöglichte alles aus mir herauszuholen was ich wusste. Durch ihre Methode merkte ich, dass ich fast alles bereits wusste, wonach ich sie fragte.

Gleiches bedeutete ihr Schweigen jetzt. Deshalb fragte ich mich in der Ruhe unseres Schweigens, was ich alles wusste. Ich wusste was ich gerade gefragt hatte selbst. Ich wusste, dass es nicht weiter gehen würde mit uns beiden. Als ich dieses Zimmer betrat wusste ich, dass es heute das letzte Mal sein würde. Ich wusste, dass wir beide uns nie mehr an die Hand nehmen würden, dass wir uns nie mehr küssen würden, dass wir uns nie mehr lieben würden. Ich wusste, dass wir nie mehr miteinander lernen würden, in der Pforte der Fabrik arbeiten würden und dass wir keinen Urlaub mehr miteinander verbringen würden.

Ich saß auf dem Sofa schloss meine Augen und spürte, dass da Tränen waren die raus wollten. Ich versuchte sie aufzuhalten, das gelang mir aber nicht. Deshalb nahm ich jetzt die Taschentücher vom Tisch neben dem Tee. Dabei bemerkte ich, dass meine Hände wieder ruhig geworden waren. Deshalb nahm ich die Teetasse in beide Hände und trank einige Schluck.

„Warum Holger?“

Meine Stimme zitterte wieder, obwohl ich sie mit dem Tee geölt hatte. Ich brachte die beiden Worte meiner Frage kaum heraus. Ich dachte daran weiter zu fragen. Ich wollte einfach nach den Dingen fragen, welche in solcher Situation, die für mich neu und deshalb ungeübt war, vielleicht üblich waren. Mir fielen die Fragen „warum gerade er?“, und „was hat er, was ich nicht habe?“, ein. Doch ich fragte nicht weiter. Ich saß und schwieg. Ich wusste, dass ich auch das bereits wusste. Ich nahm mir vor nicht mehr nach den Dingen zu fragen, die ich bereits wusste.

Holger war attraktiv, intelligent, selbstbewusst und sehr aktiv. Er war ein hoch agiler, in meinen Augen manchmal beinahe hyperaktiver Intellektueller. Was er organisierte hatte Hand und Fuß. Wo er auftrat scharten sich interessierte Menschen. Interesse der Menschen weckte er, indem er letztlich durch gezielte Propaganda für deren Interesse sorgte. In meinen Augen schaffte es Holger, dass die Menschen nicht merkten, dass deren vermeintliches Interesse an Themen die Holger propagandistisch bearbeitet hatte, in Wahrheit dessen Interesse war. Er war ein Demagoge. Ihm verfielen alle, denn er konnte gar nicht anders, als alle von sich zu überzeugen.

„Warum gerade er?“

Ich blickte sie bei dieser Frage die ich eigentlich nicht stellen wollte wieder an. Sie wich meinem Blick aus. Sie wandte ihren Blick zum Fenster, wo inzwischen alle Perlen verschwunden waren weil der Regen so stark geworden war, dass die Tropfen wie kleine Bächlein an der Scheibe hinunter liefen ohne dass sich zuvor Perlen bilden konnten.

Holger hatte schon seit langer Zeit mit ihr geschlafen. Das ging schon seit Jahren. Ich wusste das seit der ersten Begegnung mit den gestrandeten Journalisten im Café Notfall. Ich sah sie auf der Bettkante mir gegenüber sitzen, wie sie sich von mir abwandte und zum Fenster hinüber blickte.

Sie saß im Café Notfall am Tisch und sog die Signale von Holger aus der Gruppe der drei Gestrandeten auf. Holger war nicht zufällig der übrig gebliebene aus der Gruppe. Es war kein Zufall, dass er nicht genauso verschwand wie seine beiden Freunde. Seine Bewerbung an der deutschen Journalistenschule, sein Erfolg den er dort in Wahrheit hatte, war für ihn nicht, wie bei den beiden anderen, Anlass gewesen von der Bildfläche im Café Notfall zu verschwinden. Holgers Behauptung, er schreibe für das Szeneblättchen in dem ich seinen Namen nie fand, seine Ansage er gehöre zu den drei Gestrandeten und sei an der deutschen Journalistenschule gescheitert, gehörte zu Holgers Strategie. Holger nahm mich von Beginn an nicht ernst, er spielte sein Spiel, dessen Wahrheit ich mich nicht zu lüften traute, denn ich war ein Abhängiger.

„Was hat er, was ich nicht habe?“

Regina blickte zu Boden auf den Teppich vor dem Bett. Ich sah am Fenster, dass die einzelnen Bahnen des Regens verschwunden waren. Es war draußen dunkel geworden, weil ein schweres Gewitter über München lag. Der Regen schlug gegen die Scheibe, so dass keine Bahnen mehr zu sehen waren, sondern die Scheibe sah aus wie eine einzige Wasserbahn über die in einem glatten Bach der Regen hinunter lief.

Es war das was ich nicht hatte. Es war das was Regina über viele Jahre von mir nicht bekommen hatte. Dessentwegen war ich jahrelang im Anschluss an das Café Notfall, morgens um drei Uhr, nach Hause in meine Villen-WG gefahren. Holger war der über den wir beide nie sprachen. Seit der ersten Begegnung im Café Notfall war er immer präsent geblieben.

„Warum?“

Auch meine letzte Frage konnte ich selbst beantworten.

Draußen auf der Scheibe war jetzt eine Veränderung eingetreten. Der Regen hatte an Schärfe verloren. Es schlugen wieder einzelne Tropfen gegen die Scheibe. Jetzt sah ich die Perlen endlich wieder. Das Schauspiel begann erneut. Perlen liefen langsam hinunter, sie verbanden sich mit weiteren Perlen, so dass ihr Gewicht sie schnell nach unten trieb. Unten auf dem Fensterbrett zerplatzten sie.

Hinweis von Bernd Thümmel:

Auf meinem Album “calling back” aus dem Jahre 2016 habe ich den Song “noises” veröffentlicht. Ich finde der Song beschreibt die innere Stimmung an dieser Stelle in meinem Buch.

26. Urlaubsplanung

Die Villen-WG war mein neues altes Zuhause geworden. Dort verkroch ich mich tagelang. Ich lag auf dem Bett, hörte laute Musik und sinnierte wie früher über mich und mein Leben.

Am Samstag und am Sonntag schlug ich zum ersten Mal in der Pforte der Fabrik die Zeit tot. Ich saß am Tisch vor den beiden ausgeschalteten Computern und erlebte den Raum um mich herum völlig verändert. Es war eine Stille eingetreten die mich mit den Stunden mehr und mehr in eine fremde Welt zu ziehen drohte. Obwohl ich die Welt um mich herum bestens kannte, weil sie mir seit Jahren vertraut geworden war, traf ich in ihr jetzt unbekanntes, Befremdendes. Das verunsicherte mich. Die neue Fremde in vertrauter Umgebung machte mir Angst.

Das weckte in mir keine Neugierde. Es ging nicht darum entdeckt zu werden. Was ich in der Pforte nun empfand weckte keine Impulse in mir, ich wollte es nicht erforschen. Gefühle die gar nicht erforscht werden wollten, die nicht gefunden werden wollten, die am liebsten nicht vorhanden sein wollten. Wenn es nach mir ginge, so dachte ich nach Stunden an meinem Arbeitsplatz in der Fabrik, dann wünschte ich, dass alles wieder so wäre wie es noch vor zwei Wochen gewesen war.

Kein Anruf von Dozenten die mit Regina über den Verlauf ihrer Arbeit an einem Text sprechen wollten. Keine studentische Hilfskraft die eine Diskette mit korrigierten Texten vorbei bringen wollte. Kein Student aus dem ASTA-Büro der ein organisatorisches Detail wegen des Abschlussfestes klären wollte. Niemand wollte sich in die Warteliste des Studentischen Computerverleihs eintragen lassen. Nichts geschah, einfach nichts. Schließlich vermisste ich sogar den Anruf von Holger der Regina begeistert davon berichtete, wie vielen Presse- und Medienleuten er schon definitive Zusagen für das Abschlussfest an der Uni entlockt hatte, und vorschlug eine Lounge auf dem Fest für Redakteure und Journalisten einzurichten.

Ich schaltete beide Computer in der Pforte ein um deren Surren zu hören. Endlich ein vertrautes Geräusch in diesem Raum. Das Surren von zwei Lüftern der Computer. Jetzt brauchte ich es, um ein winziges Detail wieder herzustellen. Ich brauchte es, um ein weniges an meiner Situation, an meinem mir jetzt endlos lang scheinenden Arbeitstag richtig zu stellen. Aber schon nach Minuten fehlte mir das Geräusch des Tippens auf der Tastatur. Es fehlte das vertraute schnelle Tippen von ihr, die Leichtigkeit mit der sie die Tastatur bearbeitete um ihr einen Text zum Thema eines Buchkapitels zu entlocken den sie mir später als ersten Leser bekannt machte.

Mittags kochte ich zum ersten Mal nur das wofür die winzige Küche eigentlich vorgesehen war. Ich machte mir Tee, obwohl draußen längst wieder die sommerliche Sonne schien. Ich spürte trotzdem eine Kälte in mir die ich glaubte mit Tee vertreiben zu könnten. In der Küche stieß ich auf unsere Gewürze in der oberen rechten Ecke eines Hängeschrankes. Ich lehnte mich an die Wand der Küche vor dem offenen Gewürzschrank, schloss die Augen und hörte das Gurgeln des Wassers im Wasserkessel auf dem Herd. Ich sog den Geruch des Wasserdampfes und der Gewürze aus dem offenen Regal ein. Da sah ich sie wie sie in der engen Küche vor dem Herd stand. Sie rührte in einem Topf und einer Pfanne und erzählte von einem wunderbaren Rezept das sie heute einfach einmal ausprobieren wollte. Es ginge ganz schnell und benötige nur Topf und Pfanne, man könnte das tatsächlich in dieser Puppenküche machen. Ich sah sie wie sie mir von der Seite vor dem Herd zulächelte und mir schließlich einen leichten Kuss auf die Wange gab. Ich roch sie ganz nah bei mir und glaubte schließlich ihren Atem neben meinem linken Ohr zu hören und zu spüren.

Es klingelte ein Telefon. Das läutete schon länger. Ich nahm den Wasserkessel vom Herd und ging mit ihm und meiner Teetasse in das Pförtnerbüro. Ich stellte alles auf den Untersetzer auf den hohen Thekenschrank, setzte mich an den Pförtnerschreibtisch und hob den Hörer ab.

Der Chef meldete, dass er dieses Wochenende nicht ins Büro kommen werde, weil er in der Schweiz auf Geschäftsreise sei. Er bedankte sich für die große organisatorische Leistung des Universitätsfestes, vor allem aber für die feierliche Atmosphäre und die Dankesreden mit denen er bei der Scheckübergabe an den Dekan bedacht worden war. Er wollte mit Regina persönlich sprechen, denn ihm sei klar, dass die pompöse Ausrichtung des Festes und die dabei herausragende Scheckübergabe letztlich wohl ihr zu verdanken sei. Ich enttäuschte den Chef, sagte ihm lapidar, dass Regina heute leider verhindert sei. Er trug mir auf seinen Dank weiterzugeben. Schließlich dankte er auch mir und wünschte uns beiden einen wunderschönen und erholsamen Urlaub. Den hätten wir uns nach den Anstrengungen der Prüfungen, der schriftlichen Arbeiten und der gigantischen Organisation des Abschlussfestes ja redlich verdient. Ich bedankte mich für seine Wünsche und verabschiedete mich für die kommenden sechs Wochen.

Meine Urlaubsvertretung an den kommenden Wochenenden wurde von einer Firma organisiert die auch für die Nachtschichten an der Pforte zuständig war. Regina und ich hatten einen sechswöchigen Urlaub nach Griechenland geplant. Wir wollten eine Reise antreten die eine ganz ähnliche Route haben sollte wie unsere erste gemeinsame Reise mit den beiden befreundeten Paaren. Wir hatten uns vorgenommen die interessantesten Stationen von damals noch mal aufzusuchen. Wir wollten sehen was sich seitdem dort verändert hatte und wir wollten versuchen auf Leute zu treffen, die wir damals getroffen hatten. Regina erzählte mir sogar, dass sie sich vorstellen könnte darüber ein kleines Buch zu machen. Veränderungen die nach Jahren an einem Ort eingetreten sind, Menschen wieder zu begegnen die man vor Jahren getroffen hatte, das sei doch interessant für eine winzige Studie. Gemeinsam studierten wir vor Monaten noch Landkarten um die grobe Route abzustecken.

Mehr Reisevorbereitungen hatten wir nicht getroffen. Einzig die Urlaubsvertretung für die Fabrikpforte hatte ich organisiert. Im Vordergrund standen die Abgabe unserer Abschlussarbeiten und die Organisation des Abschlussfestes. Die Frage wie es mit dem Job an der Pforte für mich weitergehen sollte, nachdem das Studium beendet war, spielte gar keine Rolle. Ich hatte keinerlei Perspektive für mich entwickelt. Der Urlaub war in meinem Kopf verschwunden aber trotzdem anvisiert.

An meiner Abschlussarbeit hatte ich in den letzten Wochen auf Hochtouren getippt. Wir beide nutzten den frühest möglichen Abgabetermin. Die Prüfungen schrieben wir zum frühest möglichen Termin. Unsere Studienzeit hatten wir wegen unserer Jobs nicht in die Länge gezogen. Regina wäre eine Zeitverkürzung am liebsten gewesen. Das gab die Studienordnung aber nicht her.

Ich saß am Pförtnerschreibtisch, die Teetasse in beiden Händen, die Ellenbogen auf den Schreibtisch gestützt. So lauschte ich dem regelmäßigen Surren der beiden Computer am Tisch hinter mir. Durch das große Fenster das ich gekippt hatte, strömte warme Sommerluft herein. Draußen blies ein leichter Sommerwind. Die Sonne beleuchtete die in ihr glänzenden grünen Blätter riesiger Buchen auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Ich sah ein sattes, kräftiges Grün in den Bäumen und dahinter eine von Blumen bewachsene hohe Wiese. Die war mir in all den Jahren gar nicht aufgefallen. Ihre Gräser und bunten Sommerblumen bewegten sich im leichten Wind. Ich hörte trotz des gekippten offenen Fensters wegen dem Surren der Lüfter in den Computern aber nichts von diesem Wind. Die Äste der Bäume und die Gräser bogen und legten sich in dessen Richtung.

Ich ging zu den Computern und zog deren Stecker aus der Steckdose. Jetzt stellte alle Pflanzen mit ihren Töpfen vom Fensterbrett weg auf den hohen Tresen. Ich öffnete das große Fenster beim Pförtnerschreibtisch und setzte mich wieder an den Schreibtisch und blickte nach draußen. Der Wind sorgte für ein leichtes Rascheln in den Blättern der riesigen Buchen. Das wurde nur manchmal vom Lärm vorbeifahrender Autos unterbrochen. Der Wind roch nach Sommer. Es war der Duft einer Welt die direkt vor mir lag.

Zum ersten Mal in diesem Sommer sah ich draußen zwischen den Gräsern surrende Bienen nach Nektar suchen und dabei den Blütenstaub von Blüte zu Blüte verteilen. Das erinnerte mich daran, dass dies die Lehrerin früher im Unterricht ausführlich erklärt hatte. Es hatte mich aber nie wirklich interessiert. Ich wollte gar nicht wissen, dass es wahr war, dass es tatsächlich geschah und in der Natur beobachtet werden konnte. Stattdessen war das zu einem Lernstoff für mich geworden, den ich damals an richtiger Stelle wiedergekäut ausspuckte.

Ich verließ die Pforte und setzte mich mitten in die Blumenwiese hinter der gegenüber liegenden Straßenseite. Dort erlebte ich minutenlang was vor sich ging. Es waren massenhaft Insekten unterwegs die ihrer alltäglichen natürlichen Beschäftigung nachgingen.

Was war meine Beschäftigung? Ich hatte keine Beschäftigung mehr, denn ich hatte sie in den Wochen zuvor erfolgreich abgeschlossen. Die Prüfungen waren geschafft, alle Arbeiten waren geschrieben. Auch wenn das Ergebnis der Abschlussarbeit noch aus stand, war sicher, dass ich es geschafft hatte. Was war meine Aufgabe? Ich erhob mich aus dem surrenden Leben in der Blumenwiese. Am Schreibtisch mit Blick auf das Leben überlegte ich und dachte an mich und an das was mein Leben inzwischen geworden war.

Abends lag ich mit offenen Augen auf meinem Bett in meinem kleinen Zimmer unter den Dachschrägen. Nachmittags hatte ich keine Antwort auf meine Frage gefunden. Ich war noch mehrmals über die Blumenwiese gestreift, hatte sie zweimal umrundet, hatte verschiedene Käfer, Ameisen und anderes kleines Getier gesehen.

Das Licht in meinem Zimmer schimmerte wie immer in einem matten gelblichen Ton. Von der Lampe auf dem Nachttisch wurde es über die schräge Decke an die Wand neben dem Bett geworfen. Dort warf es einen runden Schatten von der Ballondeckenleuchte die im leichten Sommerwind, der durch das offene Fenster blies, hin und her schwankte. Rechts von dem bewegten Schatten warf das Licht der Nachttischlampe eine beinahe rechteckige, erstaunlich hell erleuchtete Fläche an die Wand. In Mitten dieser Fläche sah ich Regina. Sie lächelte mich an. Ihre dunklen großen Augen blickten in linke Richtung genau zu mir. Ich richtete mich auf und sah ihr in die Augen. Sie hatte ein Lächeln auf den Lippen das ich seit vielen Jahren kannte. Ihre Augen waren klar, so wie sie es immer gewesen waren. Ihr Blick sagte zu mir, dass ich jetzt nichts sagen sollte. Ich sollte sie nichts fragen denn die Antwort kannte ich bereits. Ich sollte schweigen und nachdenken dann komme die Antwort von selbst. Das war alles.

Am Sonntag saß ich mit einer Straßenkarte von Deutschland die ich auf dem Weg zur Fabrik an einer Tankstelle gekauft hatte, mit dem Bilderrahmen aus dem Regina blickte, den ich von meiner Wand im Dachzimmer der Villen-WG genommen hatte und mit meinem Taschenmesser am Schreibtisch in der Fabrikpforte. Ich legte alles säuberlich auf die Schreibtischplatte. Mein Taschenmesser hatte ich in der hintersten Ecke meiner Schreibtischschublade nach langem Suchen gefunden.

Ich stützte beide Ellenbogen auf die Schreibtischplatte und versuchte vorsichtig die Klinge des Taschenmessers zu öffnen. Die saß hoffnungslos fest. In der Küche badete ich das Messer in heißem Wasser. Das brachte nichts. Das Messer wollte sich nicht öffnen. Also ging ich an unser Gewürzfach. Dort fand ich Olivenöl, das ich in das Messer träufelte. Ich legte es auf den Rücken damit das Öl in die Klinge und vor allem in die Mechanik des Messers laufen konnte. Ich ließ es minutenlang einwirken. Ich lehnte mich wieder an der Wand an. Jetzt roch ich unsere Gewürze aus dem offenen Fach. Ich sah dort alles stehen was Regina hier regelmäßig zum Kochen benutzt hatte. Ich öffnete den Mülleimer unter der Spüle, nahm ihn aus der Halterung und stellte ihn auf die Arbeitsplatte unterhalb unseres Schrankfaches. Die Gewürze schob ich klirrend und scheppernd in den Mülleimer.

Das Taschenmesser ließ sich wieder öffnen. Ich spülte es noch einmal heiß ab, bewegte die Klinge mehrfach hin und her. Ich wollte dass diese Übung dem Messer zeigte, dass mir dessen Funktion jetzt wieder wichtig geworden war. Vorsichtig schob ich die Klinge des Messers seitlich in den Bilderrahmen, drehte sie langsam hin und her um so die Rückwand des Rahmens möglichst unbeschadet von der kleinen Glasplatte mit dem Foto zu lösen. Zwischen der Rückwand und dem Foto fand ich das Schreiben genauso wie ich es vor Jahren dort hineingesteckt hatte. Ich legte es auf den Tisch neben die Landkarte. Das Foto von Regina ließ ich auf der Glasscheibe und schloss den Rahmen wieder.

Im Gang zum Büro des Chefs stand ein Fotokopierer. Den warf ich an und kopierte das Schreiben dreimal. Ich zog aus der Schreibtischschublade im Pförtnerbüro eine Klarsichthülle in die ich das Original des Schreibens vorsichtig hinein schob. Danach legte ich Hülle und Kopien in einen grauen Aktendeckel den ich zusammen mit Reginas Foto in meinem Rucksack verstaute.

27. Abreise

Morgens war die Sonne wie Feuer aus einem fernen Vulkan empor gestiegen. Am Horizont, an dessen Ende die Autobahn verschwand, sah ich einen Wolkenstreifen der sich nach oben wie dichter dunkler Rauch in der Atmosphäre verteilte. In der Mitte des Rauchs strahlten dunkelrote und gelbe Linien hinauf in den Himmel. Nach Minuten stieg ein Feuerkegel aus der weit entfernten Rauchwand empor, der den gesamten Qualm in ein rot-gelbes und orangefarbenes Meer verwandelte. Rechts sah ich plötzlich ein riesiges blaues Schild das mit dem entfernten Vulkan nichts gemein hatte. Ich blinkte und fuhr in dessen Richtung ab. Sein Pfeil führte mich auf eine leichte Anhöhe. Ein Parkplatz der sich einfach „Alp“ nannte.

Minutenlang saß ich in dem Wagen, einem geliehen VW-Käfer, orangefarben wie das Sonnenfeuer auf der Anhöhe dieses Parkplatzes. Ich starrte durch die Windschutzscheibe hinaus. Ich gähnte laut und intensiv vor mich hin. Das störte niemanden, denn ich saß allein im Käfer. Den hatte ich von Ulli, einem Villen-WG-Mitbewohner geliehen. Der plante die gesamten Semesterferien auf Reisen zu sein. Mit seiner Freundin zog es ihn nach Nordamerika, nach Mittelamerika, nach Südamerika und nach Patagonien. Ich versprach Ulli mich sehr gut um sein Auto zu kümmern.

Während es Ulli irgendwohin in die Weltgeschichte trieb gehörte sein Wagen mir. Ich dürfe damit herum fahren oder verreisen wenn die Kiste im Oktober zu Semesterbeginn repariert und fahr tüchtig wieder vor der Villen-WG stünde. Das garantierte ich. Es waren kleinere Reparaturen nötig die ich dem Käfer am Wochenanfang angedeihen ließ. Neuer Keilriemen, Ölwechsel, neue Zündkerzen, ein neuer Verteilerfinger, ein kleines Loch zu schweißen im linken Schweller. Der Experte vom TÜV war zufrieden. Der Wagen lief einwandfrei. Selbst die Heizung die sich beim Käfer üblicherweise im Sommer nicht abschalten ließ, konnte ich abschalten.

„Fast zwanzig Jahre alt die Kiste, x-mal über lackiert, aber technisch einwandfrei!“
Das meinte der Mann vom TÜV und klebte die ersehnte Plakette auf das Nummernschild. Ulli konnte zufrieden sein.

Nachts schlief ich nur kurz ein. Um drei Uhr morgens war ich aufgewacht. Ich wollte schnell auf die Toilette und danach wider einschlafen. Damit war aber nichts. Ich lag wach und schwitzte in der warmen Dachkammer. Ich schaltete das Nachttischlicht ein. Im hellen Schimmer an der Wand sah ich sie wieder. Sie strahlte mich von dort aus an, wie seit Jahren. Ich richtete mich an der Bettkante auf, nahm das Bild von Regina vom Haken, sah es noch einmal an und versenkte es in der Ecke meiner Schreibtischschublade, dort wo ich Tage zuvor mein Taschenmesser gefunden hatte.

Ich wollte mich von den Villen-WG-Mitbewohnern, die nicht wie Ulli in den Urlaub verreist waren, morgens noch verabschieden. Aber ich war viel zu früh dran. Am Abend zuvor hatte ich das Auto mit meinem Schlafsack und meiner Isomatte bepackt und vorne unter die Haube eine halbe Autowerkstatt eingeladen. Morgens steckte ich noch die Zahnbürste und einige Kleinigkeiten in meinen Rucksack. Den Rucksack und eine Tüte mit Proviant warf ich in der Dunkelheit in Ullis Käfer. Dann schmiss ich den Motor an und fuhr los.

Gähnend genoss ich den Blick über die schwäbische Alp hinüber auf die immer heller werdenden feurig roten Wolkenmauern am fernen Horizont. Die Luft auf der Anhöhe war klar und erfrischend. Ich rannte einige Runden wie ein Getriebener auf dem Grünstreifen am Parkplatz auf und ab. Danach setzte ich mich in den Käfer und kramte aus der Provianttüte eine Thermoskanne hervor.

Morgens hatte ich nicht darauf verzichtet in der Küche der Villen-WG so leise wie möglich meinen Kaffee zu kochen. Ich wusste, dass ich Stunden später unweigerlich darauf angewiesen sein würde. Die Thermoskanne hatte ich zusammen mit dem Proviant in einem riesigen Supermarkt einer großen Kette gekauft. Ich hatte die Kanne zufällig im Vorbeigehen gesehen. Weil man auf die Kanne direkt einen Kaffeefilter aufsetzten konnte, erschien mir das für meine Reise sehr praktisch. Also hatte ich den Filter einschließlich Filterbeutel und Kaffee gleich mitgenommen. Das alles hatte ich in die Gepäckablage hinter der Rücksitzbank geworfen.

Der Kaffee war meine Rettung. Ohne ihn wäre mein Weiterkommen nicht möglich gewesen. Ich warf den Motor an und setze meine Fahrt fort. Es war egal in welchem Reisetempo ich mich fortbewegte. Ich war deshalb auf höchstens einhundert Stundenkilometer fixiert. Der Kilometerstand auf dem Tacho des Käfers zeigte hundertachtundneunzigtausend an. Der Motor machte auf mich nicht den Eindruck, dass er das wirklich schon auf dem Buckel hatte. Ganz sicher war ich jedoch nicht, denn die fünf Vorbesitzer, die in den Papieren eingetragen waren, könnten deutsche Autopfleger gewesen sein. Regelmäßige Motorwäsche bewirkt viel. Deshalb wollte ich dem Motor auf keinen Fall zu viel zumuten. Ohnehin bedingte mein Fahrtziel ganz eindeutig, dass der Kilometerzähler irgendwann während dieser Reise Zweihunderttausend überschreiten würde. Das wäre für einen Vierunddreißig-PS-Käfermotor schon einiges.

Mein Fahrtziel war die ferne Ostseeküste. Auf der Straßenkarte hatte ich mir die schnellste Route mit einem roten Stift markiert. In den finsteren Stunden seit der Abreise war ich aber noch nicht sehr weit gekommen. Ich hatte die schlechte Beleuchtung des Autos unterschätzt. Der neue Keilriemen war dringend notwendig gewesen. Ich hatte aber nicht begriffen, dass er nicht das primäre Problem gewesen war. Das waren eher die Kohlenkontakte in der Lichtmaschine. Die hätte ich besser ausgewechselt. Die Beleuchtung war so schummrig schwach, dass sie eigentlich vom TÜV hätte bemängelt werden müssen. Da die Scheinwerfereinstellungen aber perfekt gewesen waren und alle Leuchten einwandfrei funktioniert hatten, war da nichts bemängelt worden. Ich war bislang mit dem Auto nie bei Stockfinsternis unterwegs gewesen. In der Stadt auf meinem Weg zur Fabrik am Wochenende, wofür mir Ulli das Auto manchmal geliehen hatte, war mir die schwache Beleuchtung nie aufgefallen.

In meinen Werkzeugkisten unter der Haube vermutete ich noch ein paar gebrauchte, aber nicht abgeriebene Kontaktkohlen von einer alten Käfer-Lichtmaschine die ich vor Jahren mal komplett erneuert hatte. Die alte Lichtmaschine war völlig durch geschmort und schließlich komplett abgeraucht. Ich musste sie wegwerfen. Zuvor hatte ich alle noch brauchbaren Teile abgebaut. Die Lichtmaschine stand als erste kleine Reparatur an Ullis Käfer auf meinem Reise-Reparaturplan. Die Fahrt bei Tageslicht verlief viel angenehmer als bei Dunkelheit. Tagsüber war ich mit dem Käfer kein Verkehrshindernis mehr.

Das Radio brachte leider nur rauschende knackende Sender hervor. Die Verkabelung schien keine korrekte Entstörung zu haben, denn ich hörte das Getöse des Motors deutlich im Radio. Das war ein surrendes an-und-ab schwellendes Brummen. Es würde die zweite Kleinreparatur an Ullis Käfer werden. Auf Dauer wurde etwas das bei kurzen Fahrten zwischen Villen-WG und Fabrik kein Problem gewesen war, zur nervigen Begleiterscheinung. Auf der langen Fahrt war ein Autoradio fast über-lebensnotwendig um nicht an einer tödlichen Dosis Langeweile oder an tief schürfender Gedankenpflege einen langsamen Lenkradtod zu sterben. Kurz nach Werneck Richtung Petersberg, Bad Hersfeld und Kassel fuhr ich an einem großen Parkplatz raus. Im Auto war es heiß geworden.

Auf dem Parkplatz öffne ich die Motorhaube und ließ sie offen stehen. Ich erhoffte mir von den letzten Kaffeetropfen, dass sie mir die Augen weit öffneten und mich wieder fit machten. Es gab leider keinen Grünstreifen auf dem ich auf und ab laufen konnte. Die Hitze hätte mir das wahrscheinlich auch kräftig verleidet. Ich zog zwei trockene Brotscheiben aus der Provianttüte, dazu gab es geschmolzenen Käse. Das schmeckte etwas eigenwillig war mir aber egal denn ich hatte richtig Hunger bekommen.

In der Raststätte kaufte ich teuren Süßkram den ich mir während der Fahrt einverleiben wollte. Zwei Flaschen Wasser kosteten mich unglaubliche drei Mark neunzig. Die mangelhafte Planung meiner Provianteinkäufe im neuen Einkaufsmarkt in der Nähe der Villen-WG kostete mich nun bares Geld. Wie selbstverständlich fiel mir bei diesen Gedanken im Laden der Autobahnraststätte Regina ein. Ihr wäre so etwas nicht passiert. Mit ihr wäre ein perfekter Einkauf vor der Abreise garantiert gewesen. Der Mist den ich in meiner Provianttüte dabei hatte, wäre ihr niemals zu kaufen eingefallen. Der billige Käse und dazu dieses trockene Brot: Mit Regina unmöglich.

Martin trug ein dunkelgraues Baseballkäppie. An der Kasse in der Raststätte war er mir aufgefallen. Ich hatte ihn dabei beobachtet wie er eine rot-weiße Schachtel Zigaretten in seinen ausladenden Hemdsärmeln verschwinden ließ. Er trug ein orange braun gesteiftes, sehr weites Hemd, dessen lange Ärmel er nicht nach oben gekrempelt hatte. Das fiel auf, denn die Hitze des Tages verleitete die Menschen dazu, sich von möglichst vielen Kleidungsstücken zu befreien oder zumindest die von denen man sich nicht befreien konnte oder wollte, möglichst hoch zu krempeln.

Der Diebstahl wurde von der Kassiererin nicht bemerkt. Ich beobachtete ihn von hinten aus der wartenden Schlange an der Kasse. Das hatte er nicht sonderlich geschickt gemacht. Außer mir warteten noch weitere Kunden an der Kasse mit Blick auf Martin, die nach meiner Meinung Selbiges beobachtet haben mussten. Keiner der Kunden einschließlich mir machte die Kassiererin auf Martin und seine Tat aufmerksam. Alle die vor mir in der Kassenschlange warteten, verließen den Laden ohne ihre Beobachtung der Kassiererin anzuzeigen.

Draußen sah ich Martin wieder. Er stand hinter Ullis Käfer und begutachtete rauchend den geöffneten Motor.
„Luftkühlung?“, fragte er und blies mir dabei lässig den Qualm seiner Kippe von der Seite ins Gesicht.
Ich wedelte das beiseite während ich nickte. Ich stellte die Wasserflaschen auf dem heißen Autodach ab, schloss die Beifahrertür auf und warf den gekauften Süßkram ins Handschuhfach.
„Ich bin Martin und hätte da mal so ne Frage.“
Er reichte mir die Hand, die ich ergriff und schüttelte.
„Schieß los Martin, mit deiner Frage.“

Zusammen mit Martin fuhr ich den immer heißer werdenden Nachmittag lang im Käfer auf der Autobahn Richtung Kassel. Er hatte beim Einsteigen nicht nur die Ärmel seines Hemdes hoch gekrempelt, sondern er zog das Ding gleich ganz aus und warf es zusammen mit seinem, wie das Hemd, orange-braun gestreiften Rucksack auf die Rücksitzbank. Sein Ziel lag in einem Ort nördlich von Kassel. Er war von Stuttgart kommend an der Raststätte abgeladen worden. Sein „Lift“, wie er das nannte, konnte ihn wegen eines anderen Fahrtziels nicht weiter im Wagen behalten. Er hatte sich mit dem Fahrer beratschlagt und die Raststätte als guten Umsteigepunkt gewählt. drei Stunden lang hatte er nach einem weiteren „Lift“ Richtung Kassel Ausschau gehalten.

Die Einzigen die bereit gewesen wären ihn mitzunehmen, seien einige „Ossis in ihren Klitschen“ gewesen, die ja seit letztem Jahr „rübergemacht“ hätten und die nun die Raststätten überrannten, weil sie offenbar nur noch auf Reisen wären. In so eine „Schaukel“ wollte er aber nicht einsteigen.

Warum er das nicht wollte konnte mir Martin nicht sagen. Martin äußerte handfeste Vorurteile. Die richteten sich gegen „die Ossis“, weil die ihm wohl an dem Tag auf der Raststätte besonders aufgefallen waren. Die Wiedervereinigung war für Martin ein unverständliches Drama, mit dem er niemals gerechnet hatte. Natürlich hätten die Menschen gleiche Rechte wie wir, doch warum so fragte Martin, musste deshalb die Mauer fallen und die Grenze geöffnet werden? Jetzt könnte er nicht mehr so schön mit seiner Schwester hinüber fahren und seiner Tante östlich von Berlin, die leckeren Schokoladen mitbringen, über die sie sich jahrelang immer so gefreut habe. Die Schokolade könnte sich die Tante jetzt selbst kaufen.

„Warum das alles?“

Das war eine schöne Frage von Martin, auf die ich mich aber nicht einließ. Das war auch gar nicht nötig, denn er erwartete von mir keine Antwort. Er sprach die Frage aus wie eine Erkenntnis, die er aus seinem Inneren hervorgehoben hatte. Er formulierte sie als Frage, meinte das wohl aber eher rhetorisch. Seine Frage war eigentlich eine schlichte Mitteilung. Sie war eine nebensächliche Erwähnung in einem längeren Bericht, im Grunde einem Redeschwall ohne Punkt und Komma.

Dass ich diesen Menschen von der Raststätte mitgenommen hatte brachte mir zunächst als einzigen Vorteil, dass er mich wach hielt, weil er unentwegt sprach, über sich selbst laut lachte und auf seine Fragen offenbar grundsätzlich keine Antworten erwartete. Diese Art der Unterhaltung mit Martin auf der Autobahn kam mir, bei allem Unsinn den der von sich gab, sehr entgegen. Ich war auch mit den Rauchpausen die wir jede halbe Stunde einlegten sehr zufrieden, denn die Hitze des Nachmittags war in dem Käfer fast unerträglich geworden.

Martin hatte erstaunlicherweise gar nicht vor in dem Käfer zu qualmen. Er sprach von einer Sache des Anstands gegenüber dem Chauffeur. Er wollte mir aber eine „gute Offerte“ unterbreiten. Es sei ihm sehr daran gelegen um regelmäßige Pausen zu bitten, damit er seinen „Nikotinbedarf“ decken, aber mich vom Rauchen im Auto verschonen könnte. Für mich war das Angebot das mir mein Fahrgast unterbreitete eine gut anzunehmende „Offerte“.

Anfangs war ich von Martins gewählter Ausdrucksweise überrascht. Die passte so gar nicht zu seinem Auftreten an der Kasse in der Raststätte, zu seiner Kleidung und zu seinen anfänglichen Sprüchen über die Menschen aus Ostdeutschland. Im Laufe der Fahrt mit ihren qualmenden Pausen merkte ich aber, dass Martin mit seiner Sprache eine Art Lebensgefühl ausdrückte. Ich verstand das als eine Art alltägliches Theaterspiel das Martin permanent betrieb, das in seiner Sprache ihren Ausdruck fand. Damit lockerte er den heißen Nachmittag im Käfer auf.

Mein Kopf kochte vor Hitze. Schweiß lief mir den Rücken runter. Länger als eine halbe Stunde den Wagen zu steuern war unmenschlich geworden. In meinem Genick spürte ich eine schmerzliche Versteifung die wahrscheinlich mit den geöffneten Fenstern zu tun hatte. Bei geschlossenen Fenstern wäre die Fahrt aber unmöglich gewesen. Schon deshalb waren die halbstündigen Pausen für mich wichtig, um mich am Nacken ein wenig zu massieren und dem Zug des Fahrtwindes zumindest kurzzeitig zu entgehen.

Meinen Geldbeutel hatte ich mir in die Hosentasche gesteckt, was beim Sitzen eher unangenehm war. Doch ich musste mich davor schützen, dass Martin sich daran vergriff, während ich auf die Toilette ging. Den Wagen konnte ich unmöglich absperren, die Türen mussten auf dem Parkplatz offen stehen. Die Hitze hätte sich darin so gestaut, dass die Weiterfahrt ein sicheres Hitzeschlagprogramm geworden wäre. Ich rekapitulierte welche Wertsachen ich in meinem Rucksack im Wagen hatte. Mir fiel aber nichts wirklich wertvolles ein so dass ich dass Risiko, dass Martin einen Blick in meinen Rucksack werfen konnte, einfach einging.

Stunden und Massen von Schweißperlen später passierten wir Kassel. Die Sonne stand schon recht tief, glühte aber immer noch. Martin war mit seinem Unterhaltungsprogramm am Ziel seiner Reise angekommen. Seine zauberhafte Schwester habe zu einer „tollen Geburtstagsfete“ in ihre „Datscha“ geladen. Der Ort nördlich von Kassel sei ein verschlafenes Kaff in das es ihn nur einmal im Jahr, eben zu Schwesters Geburtstag ziehe. Dieses Jahr gäbe es eine außerordentliche Veranstaltung, weil die Schwester zweiundzwanzig Jahre alt werde. Das sei ja wohl ein Grund zum runden Feiern!

Ich verstand nicht ganz was Martin an dieser Zahl rund fand. Aber das war wohl er. Für ihn war rund was groß angekündigt war. Martin sprach von mindestens einhundert Leuten die zur Fete am heutigen Abend geladen seien. Ich fand es etwas eigenartig für Donnerstagabend eine rauschende Geburtstagsfeier anzusetzen wo doch der Freitag hierzulande schon immer ein Arbeitstag gewesen war. Ich rechnete den Kalender durch, fand aber keinen Feiertag der auf den morgigen Freitag fiel. Dann begann ich mit der Rechnerei von neuem, weil ich mir plötzlich unsicher geworden war ob nicht doch schon Freitag war. Aber ich kam zu dem Ergebnis, dass ich mir genau drei Tage Zeit genommen hatte, um Ullis Käfer fit zu machen. In der Zeit hatte ich noch einen anderen Wagen, einen Golf, für einen ehemaligen Kommilitonen mit einer neuen Auspuffanlage ausgerüstet. Ich war mir ganz sicher, dass Donnerstag sein musste. Warum donnerstags groß feiern, wenn freitags kein Feiertag war um auszuschlafen?

Martin war jetzt soweit gekommen mir den genauen Weg zum Kaff seiner Schwester zu erklären. Es sei wirklich nicht weit dorthin. Wenn ich ihn dort hin bringen würde könnte ich sogar die Nacht über bleiben und mich ein bisschen an deren „coolen Pool“ entspannen. Da horchte ich gebannt auf. Meine Frage ob denn der Wochentag stimmte, hatte ich nicht gestellt. Martins Worte klangen in meinem überhitzten Kopf richtig gut. Denn ich klebte am ganzen Körper vor Schweiß. Jetzt antwortete ich Martin das erste Mal seitdem wir zusammen diese Reise im Käfer fortsetzten. Es war erstmals möglich auf ihn zu reagieren, weil ich an dieser Stelle den Raum einer Pause in Martins Redeschwall fand. Er war ruhig geworden. Martin schwieg sekundenlang.

„Ist das wirklich möglich? Ich schwitzte nämlich wie ein Elch!“
Die Frage und mein Spruch waren für Martin genau richtig. Ob Elche schwitzen wusste ich nicht, den Spruch hatte ich aber schon öfter an heißen Tagen von Kommilitonen an der Uni gehört.
„Na klar, das ist gar kein Problem!“
Martin rief das mehr zum Fenster hinaus als in meine Richtung. Danach setze er seinen Redeschwall, den er für diese Klärung unterbrochen hatte, fort. O.k. dachte ich mir. Bei dieser Hitze die am späten Nachmittag ihren Höhepunkt erreicht hatte, war ein kühler Gartenpool genau das was ich brauchte!

Die Strecke über die Landstraße zog sich. Erst mit Einbruch der Dunkelheit erreichten wir schließlich das Kaff von Martins Schwester. Die spärliche Beleuchtung am Käfer, die sich mir bei der Durchfahrt des beinahe unbeleuchteten Dorfes in Erinnerung rief, deutete an, dass ich mich wohl vor Tagesanbruch aus dem Kaff nicht mehr wegbewegen würde. Beim Aussteigen vor einem schmucken Einfamilienhaus spürte ich meine Klamotten an meinem Körper. Wie von einem Eimer heißen Wassers übergossen klebten sie an mir. Mein Kopf glühte von der Hitze. Ich hatte Kopfschmerzen und fühlte mich wegen des langen, heißen Tages und des dröhnenden Käfermotors wie benommen.

Für eine riesige Fete die hier von Martin angesagt worden war, lag das Haus erstaunlich ruhig, beinahe finster da. Auch der Gehsteig vor dem Haus war leer, wo ich doch auf Kilometer von parkenden Fahrzeugen gefasst war. Hinter einer dunklen hohen Hecke erkannte ich auf dem Grundstück das Wichtigste. Dezent beleuchtet lag er da, der versprochene Swimmingpool. Martin schien die Ruhe rund ums Haus und die fehlenden parkenden Autos der Gäste nicht zu stören. Er schlenderte in seinem weiten, offenen Hemd, seinen gleichfarbigen Rucksack auf dem Rücken, zielstrebig zur Haustür. Dort läutete er meiner Meinung nach etwas zu enthusiastisch, schien dabei aber die Ruhe selbst zu bleiben. Nach nur wenigen Sekunden wiederholte er sein Läuten. In dem erkannte ich nun die exakte rhythmische Wiederholung des Ersteren: „Ba baba bapp“.

Jetzt wurde die gewellte Milchglashaustür von einer schwarz haarigen jungen Frau geöffnet, die Martin und auch mich um zwei Köpfe überragte.
„Ja kommt ihr denn heute schon?“
Das rief die Frau Martin entgegen, während sie ihm sogleich um den Hals viel.
„Wir sind doch erst für morgen zum Feiern verabredet!“
Martins Schwester begrüßte auch mich. Sie fragte ob Martin unterwegs irgendwelche Dummheiten angestellt hätte. Der warf einen skeptischen Blick zu mir. Ich schüttelte überzeugend den Kopf.

Hinweis von Bernd Thümmel:

Dass auf der Reise dieser Martin auftaucht, erinnert mich an meinen Song „summer“ in meinem Album “the wrong song”. In diesem Song spreche ich von vergangener Zeit an einem schönen Ort und davon dass die guten Zeiten vorbei seien. Aber ich finde mein Song kling auch ein wenig so, als könne jeder Zeit wieder was gutes auftauchen, etwas wie dieser Martin, der einen völlig anderen Wind mitbringt als der Wind der bisher blies.

28. Reisetempo

Die Schwester entpuppte sich als gesprächige Person wie Martin. Sie schien ihrem Bruder allerdings in jeglicher Hinsicht überlegen zu sein. Nach einer ausgiebigen, eiskalten Dusche servierte sie uns beiden ein reichhaltiges Abendessen mit einer Vielzahl von frischen Salaten, die sie für ihren Geburtstag am nächsten Tag vorbereitet hatte. Sie erwartete nicht ihren zweiundzwanzigsten Geburtstag, sondern es war der siebenundzwanzigste. Eine Zahl die noch weniger rund war. Das interessierte Martin aber gar nicht. Für ihn stand am nächsten Tag ein Runder an.

Wir saßen bis tief in die Nacht im Garten vor dem Pool am Abendbrottisch. Um zwölf Uhr stießen wir mit der Schwester auf ihren Geburtstag an. Wir ließen uns von Martin unterhalten dem eine lustige Geschichte nach der anderen aus seiner Wohngemeinschaft einfiel. Er wohnte seit Jahren nahe bei Stuttgart. In Martins Geschichten tauchte irgendwann auch der Tag unserer heutigen gemeinsamen Autofahrt auf. Er habe auf der Autobahnraststätte mal einen coolen Typen kennen gelernt, der ihn in dessen „Mobil“ stundenlang bei glühender Hitze durch die Landschaft gekarrt habe. Den habe er schließlich nach Hause zu seiner Schwester gelotst, obwohl der eigentlich wo anders hin wollte. Er habe ihn den halben Tag lang im Auto voll gequatscht, wurde von dem deshalb aber nicht raus geschmissen, so wie zuvor von anderen, die ihn mitgenommen hatten. Er durfte sogar jede halbe Stunde eine lässige Zigarette in Pausen auf dem Parkplatz rauchen. Das wäre richtig cool gewesen.
„Was ist denn daran so cool gewesen?“, fragte ich Martin.
„Bist einfach ‘n cooler Typ“, antwortete der darauf. Er lachte mich jetzt nicht nur an, wie er es Nachmittags im Auto die ganze Fahrt über immer wieder getan hatte, sondern er fiel mir jetzt regelrecht um den Hals.
„Mit dir könnte ich ne Weltreise machen, in deinem super Bluesmobil!“
„Ich will aber nur bis zur Ostseeküste.“
„Macht gar nichts, ist ja auch ein großes Meer. Ich liebe das Meer!“
Martin lachte und fiel mir nochmal um den Hals.
Die Schwester sagte:
„Lass mal Martin, lass den Mann mal in Ruhe sein Bierchen trinken.“
„Ist kein Problem. Das tue ich ja schon den ganzen Abend lang.“
„Ich liebe das Meer, ist echt cool der blaue weite Teich! Das ist toll da wo du hin willst.“

Mit Martins Schwester kam ich am frühen Morgen gegen zwei Uhr ein wenig ins Gespräch. Martin hatte sich auf eine Liege vor dem Pool gelegt, wo er eingeschlafen war.
“Er ist wirklich ein lustiger, aber manchmal gibt ’s auch Probleme. Vor allem dann, wenn er in seinen Geschichten zu maßlos übertreibt und er damit dubiose Leute anlockt. Aber er ist echt o.k.”

Ich nickte bestätigend denn der heiße Nachmittag im Wagen mit Martin war insgesamt völlig unproblematisch. Von seinen Geschichten hatte ich profitiert weil ich es nur durch sie so lange in der Hitze hinterm Lenkrad ausgehalten hatte und nun sogar eine frische Dusche, ein herrliches Abendessen und kühle Getränke in einem Garten am Pool genießen konnte.
„Bleiben Sie morgen noch hier?“
„Bitte nicht schon wieder „Sie“, ich bin Bernado, das hatten wir doch schon geklärt.“
Christine erzählte, dass sie am nächsten Tag etwa zwanzig Leute erwarte und dass mittags auch ihr Mann endlich wieder nach Hause komme. Der sei viel auf Reisen. Er verkaufe weltweit komplizierte Elektronikbauteile für Produktionsanlagen.
„Ich weiß noch nicht recht.“
„Martin würde sich echt freuen. Der hat Sie, äh Dich, glaube ich irgendwie lieb gewonnen.“
„Tja das glaube ich auch. Obwohl ich bislang kaum zu Wort gekommen bin.“
„Das gehört zu Martin, der quatscht am Anfang jeden voll. Das ist seine Art der Kontaktaufnahme. Aber man merkt, dass Du bei ihm gelandet bist. Sonst würde er ganz anders reden. So wie über die anderen Autofahrer die ihn rausgeworfen haben.“
„Hmm, kann schon sein.”
Ich nickte, denn ich kannte ihren Bruder ja erst einen knappen Tag lang.
„Wenn Martin jemanden schätzt, lässt er sich von dem auch mal etwas sagen. Manchmal geht er nämlich ein bisschen zu weit, dann muss man ihn bremsen. Ich glaube Sie hätten da gute Chancen.“
“Ich musste ihn bisher aber noch nicht bremsen.“

„Ich kenne meinen Bruder seit siebenundzwanzig Jahren. Ich habe immer für ihn gesorgt. Seitdem er in dieser Wohngemeinschaft lebt, geht es ihm viel besser als früher, denn da kann er so leben wie er möchte. Zuvor verbrachte er einige Jahre in einem größeren Heim, das war nichts für ihn, denn von da kam er kaum mehr raus. Deshalb habe ich für ihn diese Wohngemeinschaft gesucht. Das funktioniert viel besser. Manchmal übertreibt er es, so wie heute. Er hätte eigentlich erst morgen kommen sollen und er hätte mit dem Zug fahren sollen. Weil er aber das Autofahren so cool findet, hat er sich mal wieder an die Autobahnauffahrt gestellt. Deshalb ist er auch schon so früh losgefahren, denn manchmal nimmt ihn keiner mit. Dann hätte er eventuell meinen Geburtstag morgen verpasst und er hätte dafür gesorgt, dass wir anstatt zu feiern eine Vermisstenanzeige aufgeben und eine Suchaktion nach ihm hätten starten müssen!“

„Dann hat er mir ja während der Fahrt absichtlich was schönes auf die Nase gebunden.“
„Was denn?“
„Er hat erzählt, dass der Geburtstag heute wäre, dass es ein runder wäre und dass eine riesige Fete mit hundert Gästen steigt.“
Sie lachte jetzt schallend.
„Genau das ist Martin! Er weiß was er zu erzählen hat damit er erreicht was er erreichen will. Er wollte mit Dir hier auftauchen. Das war sein Ziel. Da war es für ihn kein Problem Dir das vorzugaukeln.”
“Das hat ja sehr gut geklappt. Immerhin seine Werbung mit dem kühlenden Pool war richtig.“
„Übrigens hätte er das nicht mit jedem gemacht. Du hast bei ihm schon irgendeinen Stein im Brett, er findet Dich wirklich cool. Warum weiß nur er und er wird es dir ganz bestimmt nicht sagen. Aber er weiß auch, dass du mitkriegen wirst, was mit ihm los ist, weil er Dich mit hierher gebracht hat und Du jetzt mit mir sprichst. Das erlaubt Martin nur coolen Leuten.“ „Immerhin ist von dem was er erzählt hat wahr, dass du jetzt tatsächlich Geburtstag hast. Ich glaube ich werde morgen noch bleiben. Ich habe es eigentlich nicht wirklich eilig. An die Ostsee komme ich auf jeden Fall.“
Wir reichten uns die Gläser zum prost.
„Das findet Martin bestimmt richtig cool.“

Am nächsten Tag wachte ich auf einem Bettsofa das Martins Schwester für mich bezogen hatte im Zimmer von Martin auf. Martin röchelte auf dem Rücken liegend in seinem Bett. Da hinein hatte er sich früh morgens, als wir zu Bett gingen, mit letzter Kraft von seiner Pritsche am Pool geschleppt. Durch das Fenster zum Garten sah ich einige Sonnenstrahlen herein blitzen die den feinen Staub im Zimmer in klaren Streifen in die Luft malten. Auf meiner Armbanduhr erkannte ich, dass der Mittag schon weit voran geschritten war. Es war halb vier Uhr Nachmittags geworden. Ich hatte geschlafen wie ein Stein. Das Zimmer war bis jetzt kühl geblieben. Es lag auf der Nordwestseite des Hauses, beschattet von hohen Bäumen durch die offenbar erst Nachmittags einige Sonnenstrahlen ihren Weg in den Raum fanden.

Das Geburtstagsfest wurde nicht zuletzt wegen Martin sehr lustig. Er unterhielt sich mit allen Gästen, hatte für jeden einen heiteren Spruch auf den Lippen, tobte sich im Pool aus und peitschte abends als Diskjockey hinter dem Plattenteller die Stimmung nach oben. Christines Mann war ein ruhiger Typ der sich hinter dem Gartengrill platzierte und den Gästen jeden Grillwunsch erfüllte. Spät nachts, als die letzten Gäste sich verabschiedet hatten, saßen wir zu viert am Tisch neben dem Pool.

„Irgendwann ist auch das schönste Fest zu Ende.“
„Tja leider!“, meinte Martin und zog sekundenlang eine aufgesetzte Trauermimik.
„Fährst du denn Morgen wirklich an die Ostsee?“
„Klar! Das ist mein Reiseziel.“
„Wann willst Du denn losfahren?“
„Schätze mal etwa so um zehn Uhr.“

Am nächsten Morgen weckte mich meine Armbanduhr um viertel nach neun Uhr auf. Im Zimmer von Martin war es wegen des Schattens der Bäume noch relativ finster. Ich drehte mich auf den Rücken und versuchte mich auf Martins Röcheln zu konzentrieren. Aber es war nicht da. Ich richtete mich auf und sah, dass Martin gar nicht in seinem Bett lag.

Unten am Frühstückstisch saßen Christine und ihr Mann. Sie boten mir Kaffee an, den ich dankend nahm.
„War ja eine ziemlich kurze Nacht, da brauche ich dringend einen starken Kaffee, hab ja eine weite Reise vor mir heute.“
Ich setzte mich und begann mir ein Butterbrötchen zu schmieren.
„Wo ist denn eigentlich Martin geblieben?“
„Der sitzt seit halb Neun bei Dir im Auto.“
„Wie bitte?“
„Der hat sich da rein gesetzt mit Schlafsack, Isomatte, Rucksack und bockt.“
„Was will er denn da?“
„Der will an die See. Er will mitkommen mit Dir.“
„Oje das ist ja was!“
„Der lässt sich nicht davon abbringen. Er hat keine Lust heute oder morgen mit dem Zug nach Stuttgart zurück zu fahren. Er will mit dir zusammen in den Urlaub an die See weil er jetzt sowieso Ferien hat und meint das wäre die ideale Gelegenheit endlich ans Meer zu kommen.“
„Was machen wir denn da?“
„Keine Ahnung. Wenn der eine Idee im Kopf hat, kann ‘s echt schwierig werden.
„Dann brauchen wir gute Argumente dagegen.“
„Puhh. Welche könnten denn das sein?“

Ich nahm einen tiefen Schluck aus der Kaffeetasse der wirklich gut war. Ich spürte meine Müdigkeit langsam schwinden. Ich merkte, dass mein Hirn jetzt langsam begann in Schwung zu kommen.
„Ich habe oben an der Ostsee nichts gebucht, ich habe dort keine Unterkunft, ich weiß nicht genau wohin mich meine Reise an die See führen wird. Sind das gute Argumente?“
Kopfschütteln bei Christine und ihrem Mann.
„Ich brauche Ruhe und Luft an der Ostsee, ich will die frische See genießen.“
Erneutes Kopfschütteln.
„Ich wollte eigentlich alleine reisen. Ich bin ein Einzelgänger, ein Individualist und mein Auto ist klein und eng.“
Wieder Kopfschütteln.
„Ich kenne Martin eigentlich gar nicht, zumindest hatte ich ihn vorgestern noch nicht gekannt.“
„Kein Grund ihn jetzt nicht richtig kennenzulernen.“
Das sagte der Mann von Christine unvermittelt. Die sah ihren Mann überrascht an und schüttelte den Kopf.
„Warum eigentlich nicht?“, fragte ich.

Nach einer halben Stunde Fahrt auf der Autobahn steuerten wir den ersten Parkplatz an. Martin lehnte lässig am Wagen und paffte eine lange Zigarette, die er aus seiner rot-weißen Schachtel gepult hatte.
„Hab’ ein cooles Tape dabei. Ist mein Lieblings-Tape! Können wir das nachher mal einwerfen?“
„Äh, ich hab’ keine Ahnung ob das Ding überhaupt funktioniert. Das Auto gehört nicht mir, hab es von einem Kumpel geliehen der Ulli heißt. Das Radio läuft das hab ich schon getestet. Aber der Kassettenrecorder? Das weiß ich nicht. Hast du denn mehr Kassetten als nur deine Lieblingskassette dabei?“
„Ja! Vier Stück, alle toll und cool, von meiner lässigen Lieblingsband!“
„O.k. Martin. Aber wir sollten sicherheitshalber erst den Kassettenrecorder mit einer schlechten Kassette testen. Denn wenn das Ding kaputt ist, dann frisst die Maschine vielleicht eine deiner Lieblingskassetten und macht aus dem Band Knittersalat. Die Kassette wäre dann wohl futsch und das wäre echt schade oder?“
„Alles klar das will ich nicht! Dann testen wir das Ding erst mal! Hast ‘e so eine miese Kassette zum Ausprobieren dabei, mit der wir das testen könnten?“
„Nein ich hab gar keine dabei. Wir fahren am besten beim nächsten Ort raus und kaufen in einem Supermarkt irgendwo eine billige, leere Kassette. Damit testen wir das Gerät.“
„Bisschen kompliziert, oder?“
„Nö, wieso? Damit gehen wir auf Nummer sicher, dass der Rekorder in Ullis Autoradio deine Kassetten nicht ruiniert.“
„Alles klar hab schon kapiert! Wenn meine Kassetten kaputt gehen kriegt dein Ulli satten Ärger mit mir!“

Der nächste Ort lag dreißig Kilometer entfernt. Dort steuerten wir einen großen Supermarkt am Ortsrand an. Auf dem Parkplatz meinte Martin, dass er jetzt dringend auf die Toilette müsste. Weil es die dort nicht gab, verschwand er seitlich von einem breiten Grünstreifen in ein kleines Wäldchen.

Ich nutzte die Zeit um mir die Lichtmaschine im Motorraum von Ullis Käfer mal genauer anzusehen. Mir war eingefallen, dass die Stromversorgung während der Fahrt gefährdet sein könnte, wenn wir Ullis Autokassettenrecorder in Gang setzten. Ich öffnete zunächst den Kofferraum vorne und fand nach minutenlangem Suchen tatsächlich die nur leicht abgeriebenen Kontaktkohlen der alten Lichtmaschine in einem meiner Werkzeugkästen. Dann begann ich, hinten im Motorraum an der eingebauten Lichtmaschine herum zu fummeln. Es war ein Leichtes den alten Kontakt herauszunehmen und den gebrauchten, neuen einzusetzen. Während ich die Gehäuseschrauben an der Lichtmaschine wieder anzog, ertönte plötzlich ein schallend lauter Sound. Das war ein bekannter, aber meiner Meinung nach sehr schlechter Schlager. Irgend ein Spinner übertrieb es wohl mit der Lautstärke seines Autoradios. Das Getöse war ohrenbetäubend laut. Ich erschrak davon so sehr, dass ich hektisch den Kopf nach oben riss und mir an der Kante des Motorraumdeckels den Hinterkopf anschlug.

Jetzt sah ich, dass Martin schon wieder im Wagen saß. Genau von dort hörte ich den miesen Schlager aus meinem Auto dröhnen. Ich sprang in den Wagen, schlug die Tür zu, drückte auf den Off-Knopf des Kassettenrekorders und brüllte Martin ins Gesicht:
„Spinnst Du denn jetzt völlig?“
Der erschrak davon so, dass er einen Arm vor sein Gesicht riss als würde ich ihn schlagen wollen. Er nahm den Arm nicht weg sondern begann leise zu weinen.
„Ist schon gut Martin. Hör mal auf zu weinen. Ich wollte dich nicht anbrüllen. Ist nur so raus gerutscht weil ich nicht damit gerechnet habe, dass du im Auto sitzt und dass du schon eine Kassette eingelegt hast.“
„Ich mag nicht wenn mir einer so laut ins Gesicht schreit! Da krieg ich Angst und später werde ich böse.“
„War keine Absicht Martin. War nur mein Schrecken. Hab mir vor Schreck den Kopf angehauen. Hör schon auf zu heulen.“
„O.k., sind wir wieder quitt?“
Martin hielt mir die platte Hand zum Zusammenschlagen hin.
„Na klar sind wir das!„
„Alles o.k. Kumpel, dann lass uns mal einschlagen.“
Patsch.
Ich öffnete die Autotüre und kurbelte die Scheibe herunter. Die Hitze begann wie auf der Fahrt vor zwei Tagen stechend von oben herunter zu glühen.
„Warum hast Du denn das Tape jetzt schon eingeworfen?“
Martin lachte mich schlitzohrig an.
„Ist nicht Deine Lieblingsmusik oder?“

Ich hoffte inständig darauf und schwor demütiges, dankbares Abbitten, wenn Martin diese Frage bejahte. Denn diese Musik war der sichere geistige Tod. Sie würde auf der langen Autofahrt nichts menschliches in meinem Gehirn übrig lassen. Ich würde wohl zum Gorilla mutieren, wenn ich bis zur Ostseeküste damit gefoltert würde.

Martin brüllte jetzt vor Lachen. Aber er sagte nichts sondern hielt sich die rechte Hand vor den Mund. Mit der linken Hand deutete er durch das Beifahrertürfenster nach draußen. Dort stand eine Reihe geparkter Autos. Etwa in der Mitte dieser Reihe sah ich ein großes Cabriolet.

Ich sah Martin an.
Der sah mich an.
Wir beide nickten.
Jetzt versuchte ich eine Mimik, als wollte ich ihn wieder anschreien.
Darauf zuckte er zurück. Ich flüsterte, versuchte dabei aber auszusehen als schrie ich wie zuvor:
„Spinnst Du denn jetzt völlig?“
Martin lächelte und nickte.
„O.k.“, sagte ich.
„Wir sollten zusehen, dass wir schnell von hier verschwinden. Wir können doch hier nicht mit diesem Ohren-Terror den Parkplatz bedröhnen. Vor allem nicht, wenn jederzeit der Eigentümer der Kassette zu seinem dicken Cabriolet zurückkommen kann. Der hört diesen Krach doch!“
Martin verstand und nickte.

Ich räumte das Werkzeug vorne wieder auf, schloss hinten die Motorhaube und fuhr auf der Autobahn bis zum nächsten Parkplatz. Dort warfen wir den Kassettenrecorder mit dem Test-Tape an. Die Lautstärke hatte Martin beim Einschalten versehentlich auf volle Lautstärke verstellt. Sie ließ sich zum Glück einwandfrei regulieren. Die Kassette war fürchterlich. Das lag aber an der Musik und nicht am Rekorder Alles funktionierte, selbst das Hin- und Herspulen der Kassette.
„Alles klar!“
Ich warf die Kassette aus und gab sie Martin.
„Hier Dein Lieblingsband!“
Martin nahm das Ding und schlenderte damit in seinem offenen orange-braun gestreiften Hemd mit einer Kippe im Mundwinkel zu einem kleinen, grünen Mülleimer. Dort ließ er die Kassette hinein plumpsen.
„Jetzt aber mal Abfahrt!“, rief ich „wir wollen doch noch an die Ostsee.“
Martin steckte eine seiner vier Lieblingskassetten in den Rekorder und drückte die Rückspultaste. Fünf Minuten später, so langsam spulte der Kassettenrecorder von Ulli, klickte es. Dann ertönte der satte Bluessound mit den fetten Bläsersätzen der Bluesbrothers.

Jetzt wurde mir klar warum Martin Ullis Käfer gestern „Mobil“ genannt hatte und einmal das Wort „Bluesmobil“ benutzte. Jetzt wusste ich auch warum er so gerne Auto fuhr. Er liebte die Bluesbrothers.

Eine halbe Stunde später, kurz vor der Ausfahrt zur nächsten Raststätte steckte sich Martin die übliche Kippe in den Mund. Aus den Boxen schallte der Song „she caught the katy“. Martin griff zum Zigarettenanzünder. Der funktionierte aber offenbar nicht. Bevor ich mich versah, hatte er ihn schon durch das offene Fenster hinausgeworfen.

Ich schrie diesmal wieder richtig laut. Allerdings nicht in Martins Richtung, sondern aus meinem offenen Fenster hinaus. Wegen des Lärms ging mein Geschrei im Fahrtwind und dem Krach der Musik unter.
„Ja spinnst Du denn jetzt endgültig? Das ist kein Bluesmobil! Die Karre gehört meinem Kumpel Ulli! Der Anzünder gehörte auch ihm!“
Martin blickte mich lächelnd von der Seite an und fragte ruhig und langsam:
„Ulli ist kein cooler Typ so wie du einer bist oder?“

29. Ankunft

Vier jeweils neunzig Minuten lange Bluesbrotherskassetten und zwölf Zigarettenpausen später erreichten wir in der Dämmerung unser Ziel. Die Ostsee lag im Licht des abnehmenden Mondes spiegelnd und glatt vor uns. Oberhalb der Dünen hatte ich an einem weiten Strand mitten in der Flensburger Bucht einen kleinen Parkplatz gefunden. Martin und ich saßen im Wagen auf dem Parkplatz und überblickten unten einen weitläufigen, im Mondlicht hell schimmernden, breiten Sandstrand. Auf ihm verteilten sich hunderte verstreuter kleiner schwarzer Punkte. Das waren Strandkörbe die tagsüber von Badegästen bevölkert wurden die bei der Hitze in diesen Wochen bestimmt die kühle Ostsee zu schätzen wussten. Martin war begeistert. Er schrie neben dem Auto stehend zum Strand:

„Ich liebe das Meer!“

Wir liefen in der Dunkelheit am Wasser einige hundert Meter auf und ab. Martin hüpfte wie ein riesiges Kind zwischen Wasser und Strand hin und her. Dabei juchzte er vergnügt und sang immer wieder lauthals „I’m a soulman – baa, baba, bapp“! Als ich Martin so in der Dämmerung des Mondscheins am Meer herum springen sah und ihn dabei diesen rhythmischen Song trällern hörte, erkannte ich, dass er sich den Rhythmus von „Soulman“ und den Beat des Bläsersatzes in dem Lied als Tür-Klingel-Rhythmus zu eigen gemacht hatte. Während der Ankunft bei seiner Schwester hatte er vorgestern nämlich genau zweimal hintereinander exakt in diesem Rhythmus an deren Haustüre geläutet.

Jetzt versuchte Martin am Strand ein Rad zu schlagen. Ich traute meinen Augen nicht. Denn schließlich wog er mindestens achtzig, vielleicht sogar neunzig Kilo. Aber er schaffte es. Schließlich sprang er auf mich zu. Er überschlug sich dabei dreimal und kam genau vor mir zum Stehen. Das wirkte akrobatisch und einstudiert. Als er genau vor mir zum Stehen kam, kurz bevor er mir um den Hals fiel und vor Freude weinte, wurde mir klar woher er diese Akrobatik übernommen hatte. Es war das Springen aus dem Bluesbrothersfilm. Jake und Ellwood brachten in ihrer Musikshow in dem Film genau solche nach vorne gewandten springenden Überschläge auf die Bühne.

„Hey Martin, jetzt beruhige dich mal wieder. Wir sind nur an der Ostsee!“
„Ja, ich bin ja ganz ruhig. Bin völlig entspannt. Ist echt cool hier am riesigen Teich!“

Am Strand aßen wir ein paar Brötchen und Salate, die uns Martins Schwester vom Fest eingepackt hatte. Die waren wegen der Hitze des Tages bedenklich in sich zusammengefallen, was man in der Dunkelheit aber gut übersehen konnte. Geschmacklich waren sie noch einwandfrei. Wir tranken jeder zwei Flaschen warmes Bier und legten uns schließlich in zwei nebeneinander stehende Strandkörbe. Hinter uns rauschte leise das Meer und über uns strahlte der Mond. Ideale Bedingungen um schnell in unseren Schlafsäcken einzuschlafen.

Morgens war das Geschrei groß:
„Was seid ihr denn für zwei freche Lüdden?“
Da stand eine große Frau. Beide Arme in die Hüften gestemmt, musterte sie uns, die wir verschlafen aus unseren Schlafsäcken zu ihr auf glotzten.
Martin fragte mich:
„Was sind den solche zwei frechen Lütten?“
Ich fragte in Richtung der Frau:
„Entschuldigen Sie bitte! Aber wüssten Sie vielleicht eine schöne, preiswerte Pension für zwei Lüdden?“
„Da kann ich Euch zween schon weiterhelfen!“
„Du weißt, was das ist, so ein Lüttchen?“, so fragte mich Martin und gähnte dabei lauthals, ohne auch nur den Ansatz zu unternehmen sich die Hand vor den aufgerissenen Mund zu halten.
„Wir sind das!“
„Wir sind freche Lüttchen?“
„Lüdden!“, rief jetzt die Frau.
„Ihr seid wohl kaum von hier oder?“
„Nein wir sind weit gereist, gestern mit unserem Bluesmobil das dem Ulli gehört der aber nicht so cool ist wie der hier.“
Martin zeigte jetzt mit dem Zeigefinder auf mich.
„Lass das jetzt mal Martin! Wir müssen sehen, dass wir hier wegkommen glaube ich. Sonst könnte es vielleicht Ärger geben.“
„Das glaubste nicht nur meen Jung, das ist so! Der Korb ist nämlich Privatbesitz, auch wenn er nicht verschlossen ist!“
Wir beide standen auf, warfen uns die Schlafsäcke über die Schultern und suchten nach unseren Schuhen.
„Ne Müllkippe ist das hier erst recht nicht!“
„Klar! Wir nehmen alles wieder mit.“
„Ganz logisch werte Madam!“
Das rief jetzt Martin.
„Da sind wir ihnen einiges schuldig. Und deswegen sind wir auch ganz Gentleman. Darf ich mich vorstellen? Martin mein Name. Was sind wir Ihnen schuldig? Wir lassen es uns selbstverständlich nicht nehmen unseren geschuldeten Obolus für die klare Nacht an dieser herrlichen weiten See ihres wunderschönen Landes in ihrem gemütlichen Strandkorb zu entrichten.„
So reichte er der Frau die Hand und neigte den Kopf ehrfurchtsvoll nach vorne, während er mit der anderen Hand an seine Gesäßtasche griff und seinen Geldbeutel hervorholte.
„Wie war gleich Ihr werter Name?“
Mit dieser Frage blätterte er in seiner geöffneten Geldbörse, die er der Frau unter die Nase hielt.
„Ich geb Dir gleich was! Macht Euch mal lieber hurtig in den Wind ihr zwee!“
Martin sah die Frau verständnislos an. Jetzt drehte er sich um, schob die Geldbörse wieder in die Gesäßtasche und blickte auf das Meer.
„Ich liebe das Meer! Soweit sind wir gereist in Ullis Blues-Klitsche! Kein Weg war uns zu lang, bis wir dich spät nachts endlich hier finden konnten!“
Und zur Frau gewandt: „Das ist doch wirklich wie ein Traum hier! Oder werte Madame?“
„Jetzt aber mal hoplahopp!“
Ich schlug Martin leicht auf die Schulter.
„Komm Martin, wir müssen. Haste dein Zeug alles beisammen?“
„Ernas Blickfang fiele mir da ein.“
„Was ist das?“, fragte ich die Frau.
„Eine kleine Pension. Gleich da oben auf der Düne.“
Die Frau deutete in die Richtung.
„Ist echt nett die Erna. Sind von hier ungefähr fünfhundert Meter.“
„Aha! O.k. das wäre vielleicht was für uns oder Martin?“
„Erna? Hört sich echt cool an.„
Martin wandte sich der Frau zu:
„Madame! Es war uns eine Ehre! Wir stehen in Ihrer Schuld. Bis auf bald!“
Er verneigte sich noch mal leicht und trat zwei Schritte zu Seite, als würde er von einer Bühne abtreten.
Die Frau schüttelte den Kopf während sie ihre Badetasche auf die Fußablage des Strandkorbes stellte und ihr Handtuch im Korb ausbreitete.

Ernas Blickfang war ein wunderschönes mit Holz verkleidetes Haus das direkt über dem Strand zwischen den Dünen auf einer schönen kleinen Aussichtsanhöhe stand. Das Haus war ein wirklich hübscher Blickfang. Die Aussicht vom Haus aufs Meer aber war berauschend.

Martin schien bei unserer Ankunft dort wieder kurz vor einem Freudentaumel zu sein. Deshalb fragte ich ihn ganz offen, ob er nicht noch schnell, bevor wir versuchen in Ernas Blickfang einzuchecken, ein paar Freuden-Purzelbäume hinter den Büschen unterhalb der Düne schlagen wollte.

„Spinnst Du denn jetzt endgültig?“
Das fragte mich Martin. Dabei äffte er mich in Stimme und Gestik nach, so wie ich ihn im Auto auf dem Parkplatz, nach der Sache mit dem Cabriolet, angebrüllt hatte. Dann trat er an die Haustür und läutete:
„Baa, baba, bapp!“

„Alles klar, ist echt spitze, wirklich cool!“
So rief Martin und schüttelte Erna die Hand. Wir standen mit der Pensionswirtin in einem herrlichen Doppelzimmer. Draußen vor dem breiten Zimmerfenster sah man die weite Ostsee, die hellen Dünen und den riesigen Strand auf dem wir übernachtet hatten. Das Zimmer war preiswert und sehr sauber. Ernas Pension war von guter Hand geführt. Ein Gast hatte seine Reservierung Tags zuvor wegen Erkrankung zurückgezogen. Wir waren also ein Glücksfall. Auch für Erna, denn sie sagte:
„Das trifft sich hervorragend, dass Sie beide heute hier auftauchen. Ich hab da für ne Woche noch ein Zimmer frei. Wie der Zufall es will, ist es gestern frei geworden und ab heute beziehbar!“
Martin fiel der Frau um den Hals. Ich musste ihn von ihr wegziehen.
„Ist schon gut Martin. Du kennst die Frau doch noch gar nicht.“
Das gefiel Erna. Sie lächelte Martin an und sagte dabei:
„Rauchen ist hier drin und auf meinem Grundstück strengstens verboten! Wegen Gestank und Brandgefahr in der Düne.“
„Alles klar Madame!“

Wir bezogen das Zimmer, bekamen ein leckeres Mittagessen und machten es uns nachmittags am Strand gemütlich. Martin tobte im Meer wie ein großes Kind.

30. Suchen

Am nächsten Morgen hatte Erna ein wunderbares Frühstück mit Rührei und Speck zubereitet. Martin und ich erschienen erst zum Frühstück als die letzten Gäste bereits Richtung Strandkörbe unterwegs waren. Erna setzte sich zu uns an den Tisch.

„Bisschen spät geworden gestern?“
„Ich liebe das Meer! Deshalb konnte ich mich da gestern kaum loseisen. Die halbe Nacht war ich am Strand gelegen. So was tolles gibt ’s bei uns gar nicht was Sie hier haben, liebe Frau Erna! Ihr Frühstück sieht ja super aus. Ich mag Rührei mit Speck!“

Martin zauberte mit seiner Begeisterung einen Hauch von Lächeln in das Gesicht von Erna. Ich war mir nicht sicher ob sie sich aus Interesse zu uns gesetzt hatte, oder ob sie vorgehabt hatte, uns darauf hinzuweisen, dass die Frühstückzeit um halb elf Uhr Vormittags eigentlich längst beendet war. Martin jedenfalls sorgte dafür, dass diese Regel für uns Beide außer Kraft gesetzt blieb. Erna fragte nach den Gründen unserer Anwesenheit an der Ostsee am Strand in ihrer beschaulichen Pension.

„Ich liebe das Meer! Meer und Urlaub, deshalb sind wir hier“, meinte Martin.

Ich hielt mich zurück. Martin erzählte von der langen Autofahrt und davon, dass er die Reise nur ausgehalten habe, weil er seine Lieblingsmusik aus Ullis Autokassettenrecorder hören durfte. Die Hitze vertrage er nämlich ganz schlecht. Deshalb sei er auch unendlich froh gewesen, als die Ostsee vor seinen Augen erschienen war und dass er sich in ihr jetzt täglich abkühlen könne. Ob Erna einmal seine Lieblingsmusik hören wollte, fragte Martin unvermittelt.

Erna antwortete, dass sie eigentlich nicht besonders viel Musik höre. Sie sei einmal in der Woche Freitags am Abend drüben im Ort im Altenheim. Dort finde eine Tanzveranstaltung mit Musik für die alten Leute statt. Da könne man zu Musik tanzen. Das sei eigentlich alles was sie mit Musik zu tun habe.
„Das ist aber schade! Musik ist wichtig im Leben, da kommt Spaß auf. Musik muss man oft haben, damit man Spaß haben kann!“
Erna nickte Martin verständnisvoll an. In ihren Augen glaubte ich die Frage zu sehen, die Martin sogleich beantwortete.
„Ich höre besonders gerne Bluesmusik. Die Bluesbrothers gefallen mir besonders gut! Da sind viele Bläser mit riesigen Trompeten und Saxophonen dabei und die tanzen auch ganz toll dazu. Vielleicht so wie sie in ihrem Altenheim? Kennen sie die Bluesbrothers?“
Erna schüttelte lächelnd den Kopf.
„Das ist schade. Die muss ich Ihnen unbedingt mal vorspielen. Echt toll der Sound.“
Martin verschlang das Rührei mit riesigem Appetit. Das wirkte als habe er drei Tage nichts gegessen. Erna sah Martin begeistert beim Essen zu. Sie verschwand kurz in der Küche, um mit einer weiteren Pfanne zurückzukommen.
„Das ist schön ihren großen Appetit zu sehen.“
Zu mir gewandt sagte sie:
„Da sollten Sie sich mal ein Beispiel dran nehmen, junger Mann!“
Ich fragte Erna:
„Kennen Sie hier in der Nähe ein größeres Gehöft? So mit Ställen und großem Innenhof?“
„Hier gibt ’s viele solcher Höfe. Alles Bauernhöfe. Es gibt hier viele Landwirtschaften. Die ganze Gegend lebt vom Ackerbau, vom Fischfang, vor allem vom Dorsch und einige Wenige wie ich, leben von Euch, den Touristen.“
Martin nickte:
„Wir sind auf Urlaub und bringen Geld. Das hat meine Schwester auch gesagt, dass das teuer wird! Deshalb hat sie mir was in die Geldbörse rein getan.“
Martin stand auf und zog die Geldbörse aus der Gesäßtasche hervor.
„Lass das mal Martin. Wir zahlen erst bei unserer Abreise.“

Erna fragte freundlich:
„Was ist das für ein Gehöft, das Sie suchen?“
Das weiß ich selbst nicht ganz genau. Ich war da mal vor etwa zwölf Jahren. Ich habe dort damals ein paar Urlaubswochen verbracht. Es war ein altes Ehepaar. Ich glaube der Feriengroßvater war irgendwie wichtig im Krieg gewesen. Jedenfalls erinnere ich mich daran, dass in seinem Arbeitszimmer viele alte Fotos hingen auf denen es um das Militär ging.“
Erna sah mich jetzt skeptisch an.
„Und da wollen sie jetzt irgendwie drin herum stochern?“
„Nein, ich hab da was von damals, das ich zurückbringen will.“

Martin gähnte jetzt ausführlich. Er schien genug Rührei gegessen zu haben, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und trank Orangensaft aus einem großen Glas.

„Hmm“, stöhnte Erna und blickte zum Fenster hinaus.
„Ein wichtiger Mann aus dem Krieg ist vor Jahren gestorben. Der wurde drüben im Ort auf dem Friedhof beigesetzt. Er hatte einen Hof, vielleicht fünfzehn Kilometer entfernt von hier. Ich glaube seine Frau wohnt noch dort. Aber ob der das ist, den sie meinen?“
„Könnten Sie mir den Weg zu dem Hof beschreiben?“
„Na klar, da finden sie schnell hin. Ob die Frau Telefon hat weiß ich nicht, glaube es aber nicht. Seit ihr Mann gestorben ist hat die sich ziemlich zurückgezogen. Ich sehe sie nie im Ort und auch zu den Tanzabenden Freitags ins Altenheim kommt sie nie.“
Martin wurde bei dem Stichwort wieder aufmerksam.
„Dürfen wir mitkommen zum Tanzabend?“
Ich hoffte inständig, dass Erna ein klares Nein für diese Frage hatte. Denn ich war der Meinung, dass wir uns auf keinen Fall in so einen Schunkelabend im Altenheim einmischen sollten.
„Na klar junger Mann! Der Abend ist offen für den ganzen Ort. Da sind auch junge Leute gern gesehen! Die kommen nur nie.“
„Prima, wir kommen gerne!“
Martin sah mich von der Seite an und nickte begeistert.
„Musik und Tanzen! Das wird toll!“

Die Strecke zum Gehöft führte über eine schmale Schotterpiste die zwischen hoch stehenden Rapsfeldern hindurch verlief. Kurz vor dem Gehöft sah ich links hohe Bäume. Dort war eine breite Blumenwiese. Dahinter lag ein grüner Weiher. Das musste der kleine von hohen Bäumen bewachsene Tümpel sein, an dem ich damals abends mit Robert, Martin und Mischa saß. Wir tranken dort heimlich aus Bierflaschen die Robert von Einnahmen aus dem Dorschverkauf spendiert hatte. Der Schotterweg war damals ein im Sommer mit Gras bewachsener Feldweg. Jetzt war er richtig mit Schotter befestigt. Mir schien aber, dass er nicht häufig befahren wurde, denn das Unkraut wucherte an einigen Stellen hoch aus dem Schotter, es verschwand unter der HaubeAm nächsten Morgen hatte Erna ein wunderbares Frühstück mit Rührei und Speck zubereitet. Martin und ich erschienen erst zum Frühstück als die letzten Gäste bereits Richtung Strandkörbe unterwegs waren. Erna setzte sich zu uns an den Tisch.

„Bisschen spät geworden gestern?“
„Ich liebe das Meer! Deshalb konnte ich mich da gestern kaum loseisen. Die halbe Nacht war ich am Strand gelegen. So was tolles gibt ’s bei uns gar nicht was Sie hier haben, liebe Frau Erna! Ihr Frühstück sieht ja super aus. Ich mag Rührei mit Speck!“

Martin zauberte mit seiner Begeisterung einen Hauch von Lächeln in das Gesicht von Erna. Ich war mir nicht sicher ob sie sich aus Interesse zu uns gesetzt hatte, oder ob sie vorgehabt hatte, uns darauf hinzuweisen, dass die Frühstückzeit um halb elf Uhr Vormittags eigentlich längst beendet war. Martin jedenfalls sorgte dafür, dass diese Regel für uns beide außer Kraft gesetzt blieb. Erna fragte nach den Gründen unserer Anwesenheit an der Ostsee am Strand in ihrer beschaulichen Pension.

„Ich liebe das Meer! Meer und Urlaub, deshalb sind wir hier“, meinte Martin.

Ich hielt mich zurück. Martin erzählte von der langen Autofahrt und davon, dass er die Reise nur ausgehalten habe, weil er seine Lieblingsmusik aus Ullis Autokassettenrecorder hören durfte. Die Hitze vertrage er nämlich ganz schlecht. Deshalb sei er auch unendlich froh gewesen, als die Ostsee vor seinen Augen erschienen war und dass er sich in ihr jetzt täglich abkühlen könne. Ob Erna einmal seine Lieblingsmusik hören wollte, fragte Martin unvermittelt.

Erna antwortete, dass sie eigentlich nicht besonders viel Musik höre. Sie sei einmal in der Woche Freitags am Abend drüben im Ort im Altenheim. Dort finde eine Tanzveranstaltung mit Musik für die alten Leute statt. Da könne man zu Musik tanzen. Das sei eigentlich alles was sie mit Musik zu tun habe.
„Das ist aber schade! Musik ist wichtig im Leben, da kommt Spaß auf. Musik muss man oft haben, damit man Spaß haben kann!“
Erna nickte Martin verständnisvoll an. In ihren Augen glaubte ich die Frage zu sehen, die Martin sogleich beantwortete.
„Ich höre besonders gerne Bluesmusik. Die Bluesbrothers gefallen mir besonders gut! Da sind viele Bläser mit riesigen Trompeten und Saxophonen dabei und die tanzen auch ganz toll dazu. Vielleicht so wie sie in ihrem Altenheim? Kennen sie die Bluesbrothers?“
Erna schüttelte lächelnd den Kopf.
„Das ist schade. Die muss ich Ihnen unbedingt mal vorspielen. Echt toll der Sound.“
Martin verschlang das Rührei mit riesigem Appetit. Das wirkte als habe er drei Tage nichts gegessen. Erna sah Martin begeistert beim Essen zu. Sie verschwand kurz in der Küche, um mit einer weiteren Pfanne zurückzukommen.
„Das ist schön ihren großen Appetit zu sehen.“
Zu mir gewandt sagte sie:
„Da sollten Sie sich mal ein Beispiel dran nehmen, junger Mann!“
Ich fragte Erna:
„Kennen Sie hier in der Nähe ein größeres Gehöft? So mit Ställen und großem Innenhof?“
„Hier gibt ’s viele solcher Höfe. Alles Bauernhöfe. Es gibt hier viele Landwirtschaften. Die ganze Gegend lebt vom Ackerbau, vom Fischfang, vor allem vom Dorsch und einige Wenige wie ich, leben von Euch, den Touristen.“
Martin nickte:
„Wir sind auf Urlaub und bringen Geld. Das hat meine Schwester auch gesagt, dass das teuer wird! Deshalb hat sie mir was in die Geldbörse rein getan.“
Martin stand auf und zog die Geldbörse aus der Gesäßtasche hervor.
„Lass das mal Martin. Wir zahlen erst bei unserer Abreise.“

Erna fragte freundlich:
„Was ist das für ein Gehöft, das Sie suchen?“
„Das kann ich nicht ganz genau sagen. Ich war da mal vor etwa zwölf Jahren. Ich habe dort damals ein paar Urlaubswochen verbracht. Es war ein altes Ehepaar. Ich glaube der Feriengroßvater war irgendwie wichtig im Krieg gewesen. Jedenfalls erinnere ich mich daran, dass in seinem Arbeitszimmer viele alte Fotos hingen auf denen es um das Militär ging.“
Erna sah mich skeptisch an.
„Und da wollen sie jetzt irgendwie drin herum stochern?“
„Nein, ich hab da was von damals, das ich zurückbringen will.“
Martin gähnte ausführlich. Er schien genug Rührei gegessen zu haben, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und trank Orangensaft aus einem großen Glas.
„Hmm“, stöhnte Erna und blickte zum Fenster hinaus.
„Ein wichtiger Mann aus dem Krieg ist vor Jahren gestorben. Der wurde drüben im Ort auf dem Friedhof beigesetzt. Er hatte einen Hof, vielleicht fünfzehn Kilometer entfernt von hier. Ich glaube seine Frau wohnt noch dort. Aber ob der das ist, den sie meinen?“
„Können Sie mir den Weg zu dem Hof beschreiben?“
„Na klar, da finden sie schnell hin. Ob die Frau Telefon hat weiß ich nicht, glaube es aber nicht. Seit ihr Mann gestorben ist, hat die sich ziemlich zurückgezogen. Ich sehe sie nie im Ort und auch zu den Tanzabenden freitags ins Altenheim kommt sie nie.“
Martin wurde bei dem Stichwort wieder aufmerksam.
„Dürfen wir mitkommen zum Tanzabend?“
Ich hoffte inständig, dass Erna ein klares Nein für diese Frage hatte. Denn ich war der Meinung, dass wir uns auf keinen Fall in einen Schunkelabend im Altenheim einmischen sollten.
„Na klar junger Mann! Der Abend ist offen für den ganzen Ort. Da sind auch junge Leute gern gesehen! Die kommen nur nie.“
„Prima! Wir kommen gerne!“
Martin sah mich von der Seite an und nickte begeistert.
„Musik und Tanzen! Das wird toll!“

Die Strecke zum Gehöft führte über eine schmale Schotterpiste die zwischen hoch stehenden Rapsfeldern hindurch verlief. Kurz vor dem Gehöft sah ich links hohe Bäume. Dort war eine breite Blumenwiese. Dahinter lag ein grüner Weiher. Das musste der kleine, von hohen Bäumen bewachsene, Tümpel sein, an dem ich damals abends mit Robert, Martin und Mischa saß. Wir tranken dort heimlich aus Bierflaschen die Robert von Einnahmen aus dem Dorschverkauf spendiert hatte. Der Schotterweg war damals ein im Sommer mit Gras bewachsener Feldweg. Jetzt war er richtig mit Schotter befestigt. Mir schien aber, dass er nicht häufig befahren wurde, denn das Unkraut wucherte an einigen Stellen hoch aus dem Schotter, es verschwand unter der Haube des Käfers und stellte sich nach dem Drüberfahren hinter dem Wagen wieder auf.

Ich fuhr langsam eine Steigung hinauf, die mich daran erinnerte wie anstrengend es damals gewesen war, den Handwagen mit dem riesigen Surfbrett hoch zu ziehen. Deshalb war ich froh gewesen, dass ich das Brett in den letzten Tagen vor dem Hausarrest unten am Meer in einer Scheune nahe dem Deich auf einem anderen Hof abstellen durfte. Ich fuhr sehr langsam am Eingang des Haupthauses vorüber. Ich sah durch die Seitenscheibe an Martin vorbei genau zur Eingangstür. Es war die gleiche schwere Tür. Neben der Tür hing aber kein trocknendes dunkles Hirschfell.

Martin fragte mich besorgt:
„Ist dir schlecht geworden? Du siehst plötzlich so bleich aus.“
„Nein, es ist nichts. Ich bin nur ein bisschen aufgeregt, denn ich war hier nur einmal im Leben und weiß jetzt gar nicht so genau ob das richtig ist hier wieder her zu kommen.“

Ich fuhr den Käfer auf den leeren Hof. Alles war von Unkraut überwuchert. Aus den Ritzen der groben Pflastersteine sprießten Gräser und Löwenzahn. Ich lenkte das Auto bis vor das hohe, braun gestrichene Scheunentor. Dort stellte ich den Motor ab. Ich sah mir durch die Windschutzscheibe das Tor an. Die braune Farbe war schwer verwittert. Sie blätterte an vielen Stellen ab. Sie sah aus, als habe sie seit damals keinen neuen Anstrich mehr erlebt. Ich erinnerte mich der kurzen, scharfen Stimme des Feriengroßvaters, wie er die zügig voranschreitende Arbeit des Malermeister Klecksel an dessen Scheunentor lobte.

Noch im Wagen sitzend sagte Martin:
„Tief durchatmen, ganz tief atmen, das ist das beste. Viel Luft braucht der Mensch, wenn ihm schlecht geworden ist. Frische Luft bringt den Kreislauf wieder in Schwung.“
Ich drehte mich zu Martin, lachte ihn an und sagte:
„Geht schon wieder, mit mir ist alles klar.“
„O.k. Kumpel“, sagte Martin, hielt mir die flache rechte Hand hin. Ich klatschte meine Linke darauf.

Wir stiegen aus. Das Haus sah so aus wie ich es in Erinnerung hatte. Es war nur viel kleiner. Aber das Dach, die Fenster, der rankende Wein rund um das Haus, alles war wie damals. Kein Mensch war zu sehen. Wir schlenderten langsam Richtung Eingangstür. Ich musterte die Scheunen, alles sah so aus wie in meiner Erinnerung. An der Tür fand sich derselbe Klingelknopf. Martin drückte drauf: „Baa, baba, bapp!“ Wir warteten, aber es rührte sich nichts. „Baa, baba, bapp!“ Nach fünf Wiederholungen stoppte ich Martin.
„Da scheint niemand zu Hause zu sein.“
„Da wohnt gar niemand“, sagte Martin.
„Wie kommst du denn da drauf?“

Martin lotste mich von der Haustüre zur Terrassentüre, hinter der sich nach meiner Erinnerung das Arbeitszimmer des Feriengroßvaters befand. Neben der Terrassentür zeigte mir Martin ein Fenster. Ich verstand nicht was Martin dort gesehen hatte. Er deutete auf das Fenster. Ich neigte mich nach vorne und sah hinein. Das war das Arbeitszimmer. Aber es war leer. Es war völlig leer geräumt, kein einziges Möbelstück war zu sehen. Die Wände waren kahl, kein einziges Foto hing dort.

Ich nickte Martin zu.
„Du scheinst Recht zu haben. Bewohnt sieht das nicht aus.“

Wir gingen um das Haus und sahen zu vielen Fenstern hinein. In keinem Zimmer standen Möbel. Das Haus schien leer geräumt worden zu sein. Der Obst- und Gemüsegarten war überwuchert von Gräsern und Unkraut. Martin fand trotzdem einige Beeren die er zupfte und genüsslich verschlang.

Je länger wir uns aufhielten desto klarer wurde, dass der Hof wohl seit einiger Zeit unbewohnt war. Ich sah vom Gemüsegarten aus nach oben in den ersten Stock. Auch dort schien sich kein Mobiliar mehr in den Räumen zu befinden. Vorhänge, an die ich mich erinnerte, fehlten. Vom Hof aus sah ich mir die Fenster an der Vorderseite im ersten Stock genau an. Alle waren ohne Vorhänge, auch das winzige Dachfenster des Speichers. War denn da je ein Vorhang? Warum sollte da einer gewesen sein? Das Speicherfenster sah seltsam aus. Es war klar und sauber. Sauberer als alle anderen Fenstergläser. Martin merkte, dass sich meine Aufmerksamkeit auf das winzige Speicherfenster richtete. Auch er sah dort hinauf.

„Keine Glasscheibe mehr drin gell?“
„Scheint so“, antwortete ich, denn das war es was dort anders war. Da spiegelte sich nichts. Das Glas fehlte, oder das Fenster stand einfach offen.

Das riesige Scheunentor ließ sich mit vereinten Kräften öffnen. Drinnen stand der alte Mercedes des Feriengroßvaters. Die Nummernschilder fehlten. Martin öffnete eine Wagentür und erschrak, weil darin viel Leben herrschte. Mehrere Tauben flatterten aufgebracht hinauf bis zur hohen Decke. Oben landeten sie auf Querbalken die von vielen Tauben besetzt waren.

Ich blickte nach oben. Da hing sie auf der Seite an der Wand. Eine riesige Leiter die mir der Feriengroßvater damals gegeben hatte, um das Tor zu streichen. Die Metalleiter war weiß von Taubenkot. Wir schleppten sie zusammen in den Hof hinaus. Dabei verscheuchten wir in der Höhe der Scheune einige Tauben, denn wir schlugen mit der langen Leiter mehrfach gegen die Deckenbalken. In der Scheune herrschte minutenlang helle Aufregung.

Die Leiter war alt aber in Ordnung. Wir lehnten sie an dem Dachfenster an. Martin wollte auf keinen Fall da hoch steigen. Das fand ich sehr gut, denn sein Gewicht hätte der Leiter fast die doppelte Belastung abverlangt wie meines. Ich setzte mir meinen Rucksack auf den Rücken und begann langsam auf der Leiter hinauf zu steigen.

Martin hatte ich zuvor erklärt, dass ich mich da oben nur ein bisschen umsehen und etwas ablegen wollte, was ich vor vielen Jahren von dort gestohlen hatte. Martin hörte mir beim Stichwort „gestohlen“ sehr aufmerksam zu. Ich zeigte ihm das Schreiben in der Plastikhülle aus meinem Rucksack.

Martin sah mich fragend an.

Ich erklärte ihm, dass man irgendwann im Leben auf seine Missetaten zurückgeworfen würde. So sei es zum Beispiel, wenn man etwas gestohlen habe. Das vergesse man meistens nie und irgendwann tauche es dann so stark wieder auf, dass man sich auf den Weg machte. Ich sei hier auf so einem Weg. Ich hoffte darauf, dass ich nicht zu spät dran war. Es sähe zwar nicht gut aus, denn leider wohnten der Feriengroßvater und dessen Frau wohl nicht mehr hier, doch es gäbe noch eine kleine Chance. Wenn oben in diesem Speicher die Kiste noch da sei, würde ich das Schreiben einfach wieder hineinlegen. Die Kiste würde vielleicht eines Tages, genauso wie das Mobiliar von den Erben oder den ehemaligen Hausbewohnern noch abgeholt werden. Damit wäre der Diebstahl zumindest soweit erledigt, dass die Nachfolger des Besitzers das Schreiben wieder zurückbekommen hätten.

Martin fand es seltsam, dass ich überhaupt ein Schreiben geklaut hatte und fragte warum ich das nicht einfach weggeschmissen hätte. Minutenlang dachte ich darüber nach.
Ich antwortete:
„Ich dachte damals, als ich da oben auf dem Speicher in der Kiste wühlte, dass es vielleicht Geld sein könnte. Das konnte ich in der Dunkelheit aber nicht erkennen. Als ich sah, dass es ein Stück Papier war, musste ich es einstecken weil es aus der Kiste heraus auf den Boden gefallen war. Ich hatte Angst, dass der Feriengroßvater es finden und mich als Dieb entlarven würde. Denn wer sonst außer mir hätte es aus der Kiste nehmen sollen? Seitdem habe ich mich nicht getraut das einfach weg zu schmeißen. Obwohl es uralt ist, könnte es wichtig für seinen Besitzer oder dessen Nachfolger sein. Der Brief lag vielleicht Jahre lang hier in diesem Haus auf dem Speicher herum, ohne jemals dort anzukommen wohin er versendet worden war. Vielleicht will der Besitzer ihn jetzt versenden, wenn er ihn hier wieder findet?“

Martin verstand nichts von dieser seltsamen Erklärung.

Das Dachfenster war winzig aber es reichte für mich. Nachdem ich eingestiegen war, winkte ich zu Martin der unten die Leiter hielt. Ich knipste meine Taschenlampe an und leuchtete durch den Speicher. Der war leer. Kein Schrank stand mehr oben an der Holztreppe. Stattdessen war der Speicher voll von Tauben. Schallendes, wildes Geflatter tobte um mich herum. Ich arbeitete mich gebückt vor. Tausende von Tauben schienen über meinen Kopf hinweg zum winzigen Fenster zu fliegen. Gebückt arbeitete ich mich zur Speichertüre weiter. Der Boden war übersät mit Taubenkot. An der Türe angekommen, drückte ich die alte Klinke hinunter. Das schaffte ich nur mit beiden Händen. Also machte ich die Lampe aus. Ich stemmte mich auf die Türklinke, die sich knarren nach unten bewegte. Laut quietschend öffnete sich die Tür. Ich trat in den Gang und warf die Tür hinter mir fest zu.

Im Lichtkegel der Taschenlampe bewegte ich mich den Flur entlang nach links. Dort sah es so aus wie vor zwölf Jahren. Der Boden und die Wände schienen seit damals nicht verändert worden zu sein.

Ich bewegte mich bis zur Kammer in der ich damals gewohnt hatte. Die Türklinke ließ sich viel leichter herunter drücken als die der Speichertüre. Ich öffnete langsam die Tür. Zu meiner Überraschung stand in dem Zimmer noch das Bett auf dem ich damals geschlafen hatte und an der Decke hing immer noch die weiße Ballonleuchte aus Papier. Unter dem Fenster sah ich getrocknete, gelbe Streifen von Wasser, so wie ich sie damals auch schon gesehen hatte. Ich ging zum Fenster und öffnete es vorsichtig. Ich lehnte mich hinaus. Unten sah ich Martin an der Leiter stehen. Ich winke ihm zu und rief hinunter:
„Alles klar Martin, ich komme gleich wieder runter!“

Links sah ich das Speicherfenster aus dem immer noch Tauben heraus flogen. Das Zimmer war abgesehen von Bett und Lampe völlig leer. Ich schloss das Fenster. Ich blieb noch Sekunden in dem Zimmer, sog den Geruch ein. Es roch wie damals.

In diesen Sekunden wurde mir bewusst, dass ich hier völlig unsinniges im Schilde führte. Warum war ich an den Ort zurückgekommen? Ich wollte das Schreiben seinem Besitzer oder seinem Adressaten bringen. Was ich hier tat war anderes. Ich war in ein Haus eingedrungen, in dem ich nichts zu suchen hatte. Was war mit mir geschehen? Wollte ich das Schreiben hier abliefern obwohl die Hausbesitzer gar nicht mehr hier lebten? Was sollte der Unsinn? Warum sollte das Schreiben wieder dort hinkommen, von woher ich es hatte?

Ich verließ das Zimmer. Im Lichtkegel der Taschenlampe ging ich langsam den Gang entlang. Vorsichtig stieg ich durch das verstaubte Treppenhaus hinunter. Unten war ich kurz in Versuchung einen Rundgang durch die Zimmer zu machen. Doch mir wurde erneut bewusst, dass ich in diesem Haus nichts zu suchen hatte. Deshalb ging ich sofort zur Eingangstür. Sie war nicht verschlossen, sondern sie war nur ins Schloss gefallen. Ich trat hinaus und stand in der Durchfahrt zum Hof. Ich zog die Tür hinter mir zu.

Martin war überrascht, dass ich so schnell zurückgekommen war und dass ich dazu nicht mehr die Leiter benutzt hatte.
„Hundertachtundneunzig Stück und das hört immer noch nicht auf!“
Er hatte die Tauben gezählt die aus dem Dachfenster geflogen waren.
„Komm, lass uns die Leiter wieder wegschaffen und verschwinden.“

Wir trugen die Leiter in die Scheune, hängten sie an den Haken, stemmten gemeinsam das Scheunentor wieder zu und fuhren langsam im Käfer auf dem Schotterweg hinunter in Richtung Meer.

Abends nach dem Abendbrot erzählte ich Erna von unserem Besuch auf dem verlassenen Gehöft. Sie hatte inzwischen im Ort ermittelt, dass die ehemalige Feriengroßmutter kurz nach dem Tod ihres Mannes auch gestorben war. Seitdem stehe das Gehöft wohl leer. Angeblich soll es demnächst abgerissen werden um für einen Feriengasthof Platz zu machen. Das könne aber noch dauern, weil sich die Erbengemeinschaft wohl ziemlich uneinig wäre. Erst jetzt fragte mich Erna was ich denn auf dem Hof überhaupt zu suchen hätte. Nach Kriegstrophäensammlern sähen wir beide nämlich nicht aus.

Ich erzählte Erna die Geschichte von dem Schreiben und zeigte ihr eine Kopie davon. Erna konnte die alte Schrift lesen! Die Straße in der Adresse kannte sie im Ort aber nicht. Sie könnte aber ihre Mutter danach fragen, denn es war viel gebaut worden seit dem Krieg. Da könne es gut sein, dass die Straße inzwischen einen anderen Namen bekommen hatte. Sie treffe ihre Mutter morgen.

31. Finden

Den nächsten Vormittag verbrachten wir am Strand in einem Strandkorb. Das herrliche Wetter wollte uns nicht verlassen. An der See blies eine schöne Brise welche die Hitze vertrieben hatte. Mittags fuhren wir zum Hafen. Ich hatte Martin versprochen, dass wir da jede Menge fetter Pötte sehen würden. Leider war das zu viel versprochen, denn ich war kein Seemann und hatte über mein Versprechen nicht eine Sekunde lang nachgedacht. Die Schiffe waren fast alle ausgelaufen. Also setzten wir uns an einen Pier und warteten.

Im Laufe des frühen Nachmittags tat sich dann aber etwas. Ein Schiff nach dem anderen lief in den Hafen ein. Es gab sie also noch. Die Hochseefischerboote welche die Fischer und solche die es gerne geworden wären für eine Tagesfahrt hinaus brachten, um nach Dorsch zu angeln. Ich beobachtete Familien, Kinder und Jugendliche, die wie wir es damals getan hatten, hinaus gefahren waren, um mit langen Angelruten und glänzenden Blinkern in der Ostsee zu fischen. Sie stiegen mit ihren Angelruten, Angelkästen und den Tagesfängen über wacklige Holzbrücken von den Schiffen hinüber zu den Stegen.

Der Fisch wurde offenbar schon am Steg zum Verkauf feil geboten. Das war früher anders gewesen. Wir hätten unseren gefangenen Dorsch nicht schon im Hafen weitergebracht. Dafür mussten wir mühsam mit dem Handwagen durch den Ort von Haus zu Haus laufen und unseren Fang wie saures Bier anbieten. Auf den Stegen sammelten sich Menschentrauben um erfolgreichen Fischern den Fang abzukaufen. Mitten in einer Gruppe vor uns auf dem Steg entdeckte ich auch Erna. Sie lief mit einem Eimer in der Rechten und ihrer Geldbörse in der Linken auf und ab. Minuten später fand sie zwei junge Burschen mit denen sie offenbar schnell handelseinig wurde. Fünf riesige Dorsche verfrachteten die in ihren Eimer. Den schleppte Erna vom Steg in Richtung Hafenparkplatz.

Zum Abendessen servierte Erna frisches Dorschfilet dazu Bratkartoffeln mit frischem Gemüse. Martin juchzte und schlemmte. Erna hatte ihre Mutter wegen meinem Schreiben befragt. Sie setzte sich nach dem Essen an unseren Tisch. Sie könnte für morgen Abend ein Treffen mit ihrer Mutter organisieren. Ob wir da Zeit hätten. Genau das hatten wir in großer Menge.

Am nächsten Tag tobte Martin den ganzen Vormittag im Meer, während ich die ganze Zeit in einem der Strandkörbe von Ernas Blickfang vor mich hin döste. Abends fuhren wir gemeinsam zu Ernas Mutter. Sie lebte in einem Backsteinhaus am Ortsrand. Wir durchschritten einen großen hübschen Obstgarten mit Kirschbäumen, Apfel- und Birnbäumen. Die Kirschernte war wegen der Wärme in diesem Sommer schon gelaufen, so dass nur noch vereinzelte, verdorrte Früchte an einigen Ästen ihr Dasein fristeten. Martin griff nach einem roten Apfel, der ließ aber nicht von seinem Ast, er versuchte es mit Gewalt.

„Momentchen bitte!“, rief da die Mutter von Erna, die uns über einen gepflasterten Weg entgegeneilte. Martin ließ sofort vom Apfel ab. Er streckte der Frau die Hand entgegen.
„Grüße Sie Gott, verehrte Madame! Die rote Farbe war es und der Glanz Ihres Apfels an diesem Baum, da konnte ich einfach nicht widerstehen.“

Ernas Mutter begrüßte uns herzlich. Die Äpfel waren noch lange nicht reif, auch wenn mancher schon rot wurde. Trotzdem würde das noch Wochen dauern. Wir setzten uns vor dem Haus an einen bunt gedeckten Tisch. Was Ernas Mutter nicht wusste war, dass wir am Abend zuvor bereits Dorschfilet von ihrer Tochter genossen hatten. Was wir nicht wussten war, dass wir zum Essen eingeladen waren.

Martin überreichte feierlich einen bunten Blumenstrauß. Den hatte er zuvor auf der Wiese am Waldrand vor dem Gehöft gepflückt. Wir waren deshalb extra nochmal dorthin gefahren. Martin hatte von jeder Blumenart genau fünf Stück ausgesucht. Den Strauß hatte er mit Gräsern nach seiner Vorstellung zurechtgemacht. Im Wagen hielt er den riesig gewordenen Strauß vor sich und steckte noch bis zur letzten Sekunde die Blumen ineinander, bis der Strauß genau seinen Vorstellungen entsprach. Ernas Mutter war begeistert.

Sie stellte den riesigen Strauß in eine große Vase, die auf dem Tisch aber keinen Platz fand. So musste Martin damit Vorlieb nehmen, dass sein toller Strauß auf ein kleines Mäuerchen zum Garten gestellt wurde. Er setzte sich am Tisch so, dass er seinen Blick auf sein Werk und den Garten richten konnte. Dafür machte ich ihm meinen Platz frei. Martin war zufrieden. Das Dorschfilet schmeckte hervorragend. Es langweilte gar nicht, nochmal Fisch zu essen, denn wir beide bekamen sonst ja nie frischen Fisch aus dem Meer.

Martin erzählte begeistert vom Meer und dem tollen Land rund um das Meer in dem Frau Erna und unsere Gastgeberin, deren Mutter lebten. Er steigerte sich von einem Lob für die Gegend aber vor allem für das Meer zum nächsten. Dann kam er zu seiner Wohngemeinschaft bei Stuttgart und seiner Begeisterung für die Tanztheatermusikgruppe, in der er wöchentlich tolle Showtänze übte. Von da ging es weiter zum Neid den er bei seinen Wohngemeinschaftsmitbewohnern heute schon sehe, wenn er beginnen werde, von seinem tollen Urlaub an diesem riesigen Meer zu erzählen. Da würde so Manchem die Kinnlade nicht mehr zugehen. Von dort schweifte Martin weiter zu unserer Reise. Mit dem tollsten Bluesmobil das er sich erträumen könnte, es gehörte Ulli dem „Uncoolen“, wären wir durch die ganze Republik gefahren. In brütender Hitze hätte er alles nur deshalb ausgehalten, weil er wusste wo die Reise hin ging und wegen der coolen Zigarettenpausen.

„Darf ich hier an Ihrem Gartentisch rauchen Madame?“
Martin kam endlich an der Ostsee an, deren Anblick im Mondenschein, nach einer zehrenden Reise, alles übertroffen habe, was seine Träume jemals hergegeben hätten.
Er rief:
„Gigantisch! Madame, wirklich gigantisch!“
Danach kam Martin zum Gehöft. Ich blickte ihn streng an. Dort sei eine herrliche Blumenwiese auf der er diesen großen Strauß, Nachmittags ganz frisch „extra für Sie Madame!“, ernten durfte. Jetzt schwieg Martin. Er war mit seinem Bericht am Ende.

Welches Gehöft das denn sei fragte die Mutter von Erna. Ich erzählte von meinem Aufenthalt dort vor fast zwölf Jahren. Die verstorbenen Feriengroßeltern, so die Mutter von Erna, kannte jeder im Ort. Der Feriengroßvater sei ein sehr angesehener Mann gewesen. Er habe den Hof aber schon sehr lange Zeit nicht mehr bewirtschaftet, denn er konnte nicht mehr arbeiten, weil er unter einer Kriegsverletzung litt.

Die Mutter von Erna kam sehr schnell zu meinem Schreiben. Die Adressatin des Briefes war eine alte Schulfreundin von ihr. Auch sie lebte genauso wie sie selbst schon immer im Ort. Es falle ihr jetzt aber sehr schwer mir zu sagen wer das sei, denn das Schicksal ihrer Freundin sei wirklich hart. Ihr waren alle drei Söhne im Krieg umgekommen. Zum Schluss dann auch noch der Jüngste von dem das Schreiben stammte. Der war ein ganz junger Bursche. Er war in den letzten Kriegstagen aus seiner Schulklasse heraus an die Front geschickt worden von wo er nicht wieder nach Hause zurück gekommen war.

Martin und ich schwiegen. Weil jetzt auch die Mutter von Erna schwieg, fragte ich:
„Ist der Brief dann nicht wichtig für die Mutter?“
„Er ist es vielleicht, vielleicht ist er es auch nicht. Ich weiß es nicht. Ich glaube ich will ihr das nicht zumuten nach so langer Zeit. Post vom toten Sohn der vor siebenundvierzig Jahren gestorben ist. Das ist doch nichts oder?“
Jetzt sagte Martin der ruhig an seiner Zigarette paffte:
„Wir sind im Namen des Herrn unterwegs, Madame!“
Ich sah streng zu Martin.
Die Mutter von Erna fragte:
„Wie bitte?“
„Wir sind von sehr weit gekommen um einen Auftrag von biblischem Gewicht zu erfüllen.“
Ich sah Martin noch strenger an.
„Sind sie beide denn Priester?“
„Nein, nein! Martin ist ein Freund von mir. Wir sind auf Reisen. Martin findet unseren Auftrag wichtig. Ob er so wichtig ist, dass er einer Himmelsbotschaft gleicht, weiß ich aber nicht. Martin sieht gerne Filme. Die Bluesbrothers gefallen ihm besonders gut. Die waren im Namen des Herrn unterwegs. Mit uns beiden ist das aber etwas ganz anderes.“
Jetzt sah mich Martin streng und beleidigt an.
„Unser Auftrag ist wichtig! Sonst wärst Du nicht hierher gekommen!“
„O.k.!“, sagte ich.
„Martin hat vollkommen Recht. Es ist wichtig. Ich will mein Schreiben gerne seiner Adressatin bringen. Ich wollte es dem Feriengroßvater bringen, aber der ist ja nun gestorben.“

Jetzt war der Feriengroßvater im Blickpunkt:
„Wissen Sie eigentlich, wie der damals zu diesem Schreiben kam?“, fragte Ernas Mutter.
„Keine Ahnung“, musste ich da achselzuckend zugeben.
„Er hatte es einfach nicht weiter geschickt damals, Ihr Feriengroßvater! Er hatte es bei sich behalten. Denn er war es gewesen, der den Jungen von zu Hause weg in den Krieg und damit den Tod geschickt hatte.“
Martin und ich schwiegen.
„Deshalb will ich der Mutter des Buben ihr Schreiben nicht zumuten. Sie hatte bisher geglaubt ihr Junge wäre in Gefangenschaft umgekommen. Sie dachte er wäre, wie der Feriengroßvater, drüben in Gefangenschaft gewesen. Ihr Feriengroßvater hatte gesagt, er sei von dem Buben getrennt worden. Er habe nie mehr etwas von dem Kind gehört. Dass der Junge aber in einem Graben zu Tode gekommen sein könnte, wie wir es aus diesem Brief schließen müssen, ob das nach so langer Zeit wirklich sein muss?“

Ich verstand nichts. Martin auch nicht.
„Ich verstehe das nicht ganz. Wieso in einem Graben? Warum denn doch nicht in Gefangenschaft?“
„In seinem Brief schreibt er von einer Stellung, von schlaflosen Nächten und von viel Angst. Er schreibt, dass wenn nicht bald Schluss sei, er selbst Schluss machen werde.“
„Er wollte sich umbringen?“
„Vielleicht wollte er das, vielleicht wollte er auch flüchten um als Fahnenflüchtling erschossen zu werden. Den Brief kann ich mir nur so erklären: Der Feriengroßvater hatte meiner alten Freundin jahrelang eine Lügengeschichte aufgetischt. Er wollte für den Tod des Jungen nicht verantwortlich gemacht werden. Die Jungens hatten ja fürchterliche Angst, Todesangst. Viele von ihnen kamen noch in den letzten Tagen sinnlos um. Sie bewachten nutzlos Gräben, Straßen, Brücken, Lager und so weiter. Der Krieg war zwar noch nicht ganz aus, zumindest aber war er entschieden. Ihr Feriengroßvater aber hielt wohl weiter an Befehlen fest. Er hielt den Brief zurück, denn er ist voll von Angst vor dem nahen Tod. Daraus hätte man damals Rückschlüsse ziehen können. Schließlich hatte er behauptet der Junge sei in Gefangenschaft geraten, so wie er selbst. Der Junge starb aber vielleicht schon im Graben in den ihn Ihr Feriengroßvater damals geschickt hatte. Vielleicht war er fahnenflüchtig erschossen worden oder er erschoss sich selbst vor lauter Angst. Wir wissen das nicht und werden das vielleicht nie erfahren. Das Einzige was Sie hier mitbringen ist ein alter, ängstlicher Abschiedsbrief, der nie abgeschickt worden ist. Und das wollen Sie meiner alten Freundin zumuten?“

Die alte Freundin wohnte im Altenheim im Ort. Sie bewohnte dort ein hübsches Zimmer mit Blick zur See. Ich setzte mich mit Martin zu der alten Freundin an einen runden Tisch am Fenster. Es gab Tee aus gold umrandeten Teetassen und für Martin ein großes Glas Orangensaft.

Martin hatte für den Termin gesorgt. Er hatte gefragt, ob die Frau sehr krank sei. Das überraschte die Mutter von Erna.
„Wieso sehr krank?“, wollte sie wissen.
Weil sie dann, wenn sie gesund sei vor allem wenn sie im Kopf noch fit sei, bestimmt erfahren wolle, dass ihr Sohn noch einen Brief an sie geschrieben hatte. Sie sei die Mutter. Eine Mutter wolle immer wissen was mit dem Sohn war. Das könne gar keine Zumutung sein.
„Was sie nicht zumuten wollen Madame, muss zugemutet werden, sie sind doch selbst Mutter oder?“
Martin war in dem Moment offensichtlich nicht mehr im Namen des Herrn unterwegs sondern in der Realität angekommen. Seine Klarheit überzeugte Ernas Mutter. Die selbst hatte Söhne im Krieg gehabt die zum Glück alle überlebten.

Beim Tee gab Martin der alten Frau einen kurzen Überblick zu unserer Anreise. Er schmückte einige Details ganz neu aus. So übernachteten wir plötzlich in unserer ersten Nacht am Strand nicht im Strandkorb, sondern direkt am Wasser. Das kühle Ostseewasser an den Füßen zu spüren, bei dieser brütenden Hitze, sei wunderbarer als jede Kneippkur.

„Wir sollten einen gemeinsamen Spaziergang am Stand machen. Wären sie dazu vielleicht zu späterer Stunde noch bereit Madame?“

Er erzählte nichts vom Gehöft, sondern davon, dass er gekommen sei weil er zwar einen schmerzlichen letzten Brief des Sohnes aus dem Krieg überbringen müsse, aber er wisse, dass sie sich guter Gesundheit erfreue. Das sei das höchste Gut, auch wenn das Leben unendliche Schmerzen bereitet hatte. Trotzdem sei sie in einer Lage des Glücks weil sie so einen herrlichen Ort wie dieses Meer und die Natur genießen durfte.

Martins Ausschweifungen zauberten ein Lächeln auf das Gesicht der alten Frau. Ich erahnte darin ihre Schönheit, die sie in jungen Jahren gehabt hatte. Sie unterbrach Martin, als der in einer Redepause nach Luft schnappte:
„Ein Spaziergang am Stand? Das wäre mir schon recht junger Mann!“
Eine dreiviertel Stunde später bugsierte Martin den sperrigen Rollstuhl vom Gehsteig vor dem Altenheim auf meine drei Werkzeugkisten im Kofferraum des Käfers.
„Das geht nicht, der Mist muss da raus!“

Meine Werkzeugkisten und verschiedene Autoersatzteile schleppten wir in den Garten des Altenheimes. Dort schlichteten wir alles auf einen Haufen. Der Rollstuhl passte genau in den Kofferraum. Aber er ging nicht mehr richtig zu. Also band ich ihn mit einer Schnur fest. Zum Strand war es nicht weit. Martin hatte Bärenkräfte die wir jetzt brauchten. Die alte Dame im Rollstuhl brachten wir mit seiner Kraft über den Strand zum Wasser. Dort ging es leichter mit dem Rollstuhl. Martin schob. Ich lief nebenher. Die alte Frau war jahrelang nicht mehr so dicht an der Ostsee gewesen. Sie strahlte.

32. Noch bleiben

Am Freitag gab es im Altenheim den versprochenen Tanzabend. Martin fieberte den ganzen Tag lang auf diesen Abend zu. Am Strand schlug er Räder und vollführte wilde Tänze im kühlen Wasser. Erna kam zusammen mit ihrer Mutter und deren Freundin im Rollstuhl. Im Speisesaal waren Tische für die Tanzfläche beiseite geräumt worden.

Hinter einer kleinen Tischreihe stand ein adretter Herr mit Nickelbrille. Er bediente dort einen Plattenspieler. Zu jedem Stück, das er zum besten gab, forderte er die „jungen Damen und Herrn“ dazu auf, sich bitte doch einen für das nachfolgende Lied geeigneten Tanzpartner zu suchen. Durchs Mikrofon beschrieb er vorab das folgende Tanzstück.

Da waren musikalische Frühlingsblüten, ernüchternde Herbstträume, spannungsgeladene Tango-Rhythmen und romantisch seichte Tränenschmetterer dabei. Der Herr beschrieb zur jeweiligen Gemütsverfassung eines Tanzstückes das er ankündigte, ein kurzes Erlebnis aus seinem reichen Leben. Da wurde an Chancen erinnert, die zu ergreifen gewesen waren und vom musikalischen Rhythmus des Bossanova untermauert wurden. Es gab Tränen die nutzlos verflossen, während der Swing langsam dahin plätscherte. Es gab die Eifersucht, in der man beim Cha-Cha-Cha in der Tanzschule der vermeintlichen Freundin beim Tanz mit einem Anderen nachweinte und es gab die Schicksalsschläge, denen nur der langsame Rhythmus des Blues in ihrer wirklichen Tiefe gerecht wurde.

Martin war der beliebteste Tanzpartner des Abends. Charmant forderte er alle „jungen Damen“ zum Tanz auf. Ich versuchte mich raus zu halten was mir kräftig misslang. Zu „vorgerückter Stunde“, das war so gegen halb zehn Uhr, wurden die Gäste des Abends deutlich müde. Deshalb sagte der grau melierte Herr hinter dem Plattenteller die letzte Chance für einen jugendlichen Hüftschwung an. Den Abend endgültig beschließend, kündigte er den Hausbewohnern und Gästen, die nun wie in einer Tanzschule alle auf Stühlen rund um die Tanzfläche Platz nahmen, ein „Überraschungsschmankerl“ an.

Das war der Einsatz von Martin. Aus seinem Plattenteller zauberte der Herr nun einen Song der Bluesbrothers der die Zuschauer sofort zum Mitklatschen animierte. Martin erschien in der Mitte der Tanzfläche. Er hatte sich eine schwarze Sonnenbrille aufgesetzt. Jetzt entzückte er die „jungen Damen“ in einem schwarzen Anzug, den er extra für den Abend von Erna hatte bügeln lassen. Dazu trug er ein weißes Hemd. Tatsächlich sah er ein bisschen aus wie Jake von den Bluesbrothers. Er legte einen gefährlich lockeren Stepptanz hin, den er mit ein paar riskant aussehenden Hüftschwüngen garnierte. Die Damen im Publikum hielten ihre helle Begeisterung nicht zurück. Auch die alte Freundin von Ernas Mutter strahlte, wie beim Spaziergang am Meer. Sie klatschte und ich glaubte zu sehen, dass sie sogar sang.

Martin schlug Räder wie er sie schon am Strand geschlagen hatte. Er landete weich in die Hocke gehend und wirbelte die Beine, dabei nun mit den Händen auf dem Boden stehend, in einem Zirkelkreis über die Tanzfläche. Seine Show schloss er mit einem dreifachen Überschlag den er mir am ersten Abend unserer Ankunft am Strand schon vorgeführt hatte. Er verneigte sich vor dem begeisterten Publikum und dankte tausendfach für den wunderbaren Abend so nah am Meer.

Am nächsten Tag besuchten wir noch einmal die alte Dame im Altenheim. Wir saßen mit ihr im Garten. Sie hatte den Brief eingehend studiert. Ihr Sohn hatte geahnt, dass er das nicht überleben würde. Warum der Feriengroßvater den Brief nicht verschicken ließ war ihr unverständlich. Sie hatte mit Erna besprochen, den Brief einem Universitätsprofessor zu schicken, der historische Forschung zu solchen Geschehnissen am Ende des Krieges betrieb. Vielleicht könnte der damit etwas anfangen und vielleicht würde das irgendwann zur Korrektur von irgend einer Zeile in irgendeinem Geschichtsbuch betreffend dem Wirken des Feriengroßvaters im Krieg führen.

Die ungeklärte Frage wo der Leichnam ihres Sohnes geblieben war, war für die alte Dame das schlimmste. Er war nie zurückgekehrt. Die beiden anderen Söhne waren in einer Urne zurückgekommen. Der Brief gab keinen Aufschluss über die Todesumstände des jüngsten Sohnes. Seine Beerdigung neben den Brüdern, das hätte ihr Gewissheit gegeben. So blieb es auf dem Friedhof bei der Gedenktafel für den jüngsten Sohn neben dessen beiden Brüdern.

Ob auf dem Speicher noch mehr Briefe gewesen waren ließ sich nicht mehr ermitteln. Die Erbengemeinschaft hatte das Haus von einer ortsansässigen Firma räumen lassen. Die wiederum hatte alles in der Verbrennungsanlage südlich vom Ort vernichten lassen. Die alte Kiste war damit endgültig verschwunden.

33. Jetzt gehen

Die Abreise stand bevor. Martin war ruhig geworden. Seine Begeisterung für das Meer war abgeebbt. Er war in Abschiedsstimmung. Für mich war der Urlaub aber noch nicht vorbei. Deshalb telefonierte ich abends, so wie Martin das in der Woche zweimal getan hatte, mit dessen Schwester. Christine war von meiner Idee ganz angetan. Ich gab ihr einige Daten durch, so dass sie Geld für Martin per Postanweisung schicken konnte.

Martin war wegen meiner Idee völlig aus dem Häuschen. Dass es bald noch viel mehr Meer zu sehen geben würde, als an der Ostseeküste, ließ ihn mehrere Luftsprünge vor Ernas Pension hinlegen. Zum Abschied hatten wir noch mal die Blumenwiese besucht. Martin pflückte für Erna und die alte Dame zwei riesige Sträuße. Er kaufte zwei leere Kassetten. Darauf nahm er im Altenheim gemeinsam mit dem graumelierten Herren dessen Schallplatte mit der Bluesbrothersmusik auf. Die eine Kassette schenkte er Erna, die andere der Freundin von deren Mutter im Altenheim, dazu gab ‘s noch, für jede der beiden, ein schönes Polaroid-Foto, das ein Pfleger im Altenheim mit seiner Kamera von Martin gemacht hatte. Man sah ihn darauf, wie er auf der Wiese vor dem Altenheim einen Luftsprung hinlegte, genauso wie bei seinem Showtanz den er am Tanzabend vorgeführt hatte.

Der Abschied war herzlich, kurz aber schmerzlich. Für Martin hatte ich drei Packungen Taschentücher besorgt. Die brauchte er auch. Er fiel Erna dutzende Male um den Hals. Er dankte ihr für alles und fand seine Euphorie für das Meer wieder, für das er Erna schließlich auch noch dankte. Wir warfen unsere Taschen in den Käfer, stiegen ein und fuhren los. Erna und einige Pensionsgäste, denen unser Aufenthalt, vor allem der von Martin, nicht verborgen geblieben war, standen winkend vor Ernas Pension Blickfang.

Martin heulte Rotz und Wasser. Ich war nicht sicher ob die drei Päckchen Taschentücher ausreichten. Auf der Autobahn warf ich eine von seinen vier Kassetten an. Es dauerte Minuten bis ihn seine Lieblingsmusik in das Auto und die Welt zurückholte. Nach dreißig Minuten an der ersten Raststätte lehnte Martin wieder lächelnd und paffend am Auto. Ich prüfte den Ölstand, denn das hatte ich die Woche über bei Erna vergessen. Martin kam interessiert zum offenen Motorraum wo er sich cool aufbaute.

„Luft gekühlt?“, fragte er mich im gleichen Tonfall und mit der gleichen Gestik wie bei seiner aller ersten Frage die er auf dem Rastplatz an mich gerichtet hatte. Er trug dasselbe orange-braun gestreifte Hemd und dazu sein graues Baseballkäppie.
Minuten später, auf der Autobahn, zog Martin eine Sonnenbrille aus seiner Hemdtasche.
„Hier, die ist für Dich!“
Ich sah zu ihm hinüber. Es war die gleiche Brille, die er auf der Nase hatte. Er hatte sie auch bei dem Tanzabend getragen.
„Für mich?“, fragte ich verdutzt.
„Hab ich gerade an der Tankstelle für dich gekauft!“
„O.k., vielen Dank!“ Ich setzte die Brille auf.

So saßen wir nebeneinander und fuhren auf der breiten Autobahn, auf der rechten Spur, in unserem Ulli-Käfer, Richtung Westen. Etwa einhundert Zigarettenpausen und fünfunddreißig Blueskassettenlängen später, sah ich Martin dabei zu, wie er begeistert vor den Riesenwellen des Atlantiks am Strand stand. Ich sah ihn, wie er vor Meter hohen Wellen seine Räder am Strand schlug und einen dreifachen Überschlag hinlegte. Ich sah ihn, wie er in seinem orange-braun gestreiften Riesenhemd, im Wind flatternd, hinauf zum Himmel über den Wellen brüllte:

„Ich liebe das Meer!“

Ende

Hinweis von Bernd Thümmel:

Dazu fällt mir mein Song “Sepp” ein. In meinem Album “alles verspielt” aus dem Jahr 2014 habe ich in “Sepp” davon gesungen, dass gerade in dem Augenblick in dem man nicht daran denkt “so ein Sepp daher kommt, der es guat mit dir meint” …