Zweifel

Zweifel – Erzählung von Bernd Thümmel

Bernado kehrt im Alter von 10 Jahren im Jahr 1974 seinem Kinderheim am Obersalzberg den Rücken. Doch sein neues Zuhause bei seinem Vater ist herausfordernd und verlangt schließlich eine Entscheidung.

I. Durch das Dorf

1. Früh morgens

Es ist feucht draußen. Der Gartenweg ist dunkel, die Steinplatten glänzen. Grüne Blätter von einem Rosenstrauch glitzern nass. Ein Tropfen geht zu Boden. Meine Hand liegt auf dem schmiedeeisernen Türgriff. Ich drücke ihn hinunter. Langsam, kein Geräusch dabei. Ich spüre die Kälte an meiner Handfläche. Die Gartentür ist nicht verschlossen. Mir genügt ein schmaler Spalt. Ich bin dünn und klein. Jetzt stehe ich auf dem schmalen Bürgersteig. Von hier ziehe ich das Gartentürchen langsam zu. Ein Topfen rollt von einem Rosenstrauchblatt. Meine Augen lösen sich von dem Blatt. Ich sehe nicht, wie der Tropfen zu Boden geht.

Der große Rosenstrauch am Gartenzaun, der kurze Steinplattenweg, das Unkraut rechts und links davon, die Tulpen im Garten meiner Stiefmutter, das alte Bauernhaus meines Vaters, die schiefen Fenster, die braunen Fensterläden, der bröckelnde Putz an der schrägen Hauswand, das alte Schindeldach auf dem Haus, die niedrige Haustür, die graue Blechmülltonne. Vielleicht sehe ich das alles nie wieder.

Es ist früher Morgen. Weil er heute so früh für mich beginnt, ist alles anders. Ich höre keine Geräusche von Autos, von Motorrädern, von Mofas, von Traktoren. Ich höre keine Kuhglocken, nicht die Glöckchen einer Schafherde, nicht den Schäferhund, nicht die gackernden Hühner oder den krähenden Hahn vom Bauernhof neben unserem Haus. Alle Geräusche, die ich vor unserem Haus kenne, fehlen heute Morgen. Ich stehe nur wenige Sekunden auf dem feuchten Bürgersteig vor dem Gartentürchen. Ich höre die feuchten Blätter am Rosenstrauch. Sie rascheln im schwachen Wind.

Das erste Ziel ist jetzt erreicht. Ich stehe auf dem Gehsteig vor unserem Haus. Die schwere Haustür und das Gartentürchen sind überwunden. Mein Herz pocht schnell, die Schnürsenkel in meinen Schuhen sind offen, meine dünne Strickjacke liegt auf meinem rechten Arm.

Vor wenigen Minuten habe ich unser Zimmer verlassen. Meine beiden Brüder Christian und Matthias schlafen auch jetzt noch fest. Leise war ich zur Zimmertür getapst. Die Dielen knarrten, die Zimmertür hatte laut gequietscht. Matthias stöhnte tief und drehte sich um. Christian rührte sich nicht. Im finsteren Korridor war es kalt. Vorsichtig tapste ich weiter über die knarrenden Dielen vorbei an Küche und Esszimmer.

Dieser Morgen hatte in meinen Gedanken schon sehr oft stattgefunden. Vor Monaten hatte ich, in meinem erst zehn Jahre alten Kopf, begonnen drei Bilder von diesem heutigen Morgen zu malen.

Viele schlaflose Abende in meinem Bett neben Matthias und Christian dachte ich, dass der Vater mich windelweich prügeln wird, wenn ich es am heutigen Tag nicht schaffe. In unserem dunklen, kalten Kinderzimmer war ich in den vergangenen Monaten oft bis weit über die Mitternacht hinaus wach gelegen. Unter meiner dicken Bettdecke hatte ich gedacht, dass mein Plan sehr genau durchdacht und der Zeitpunkt gut sein muss, damit er heute gelingen kann. Stundenlang hatte ich viele Nächte mit meiner Angst davor gekämpft, dass der Vater schlagen wird, wie noch nie, wenn mein Plan Fehler hat und heute nicht gelingt. Deshalb mussten meine Bilder in meinem Kopf von diesem Morgen sehr genau und vor allem fertig werden. Ich hatte entschieden, so lange an den Bildern in meinem Kopf zu malen, bis jeder Pinselstrich seinen Platz gefunden hat. In meinem Kopf durfte kein Pinselstrich sein, wo er nicht hingehört.

Nachts in meinem warmen Bett waren nach vielen Monaten schließlich diese drei Bilder vom heutigen Morgen entstanden. Das erste Bild zeigt mich heute früh morgens in unserem Haus. Auf dem zweiten Bild nehme ich in der morgendlichen Kälte den Weg durch unseren kleinen Garten. Das dritte Bild zeigt mich auf dem Bürgersteig vor unserem Garten. Genau so, wie ich das monatelang in meinem Kopf gemalt hatte, geschah alles vor wenigen Minuten.

Das erste Bild:

Der dunkle Korridor von unserem Kinderzimmer ins kalte Treppenhaus liegt schon hinter mir. Ich öffne die Toilettentür. Langsam ziehe ich sie auf, denn nur so quietscht sie nicht. Unter meinem rechten Arm klemmen meine Kleider. Unsere Toilette ist schmal, lang, dunkel und kalt. Die Tür ziehe ich hinter mir zu. Die Holzbretter unter dem grauen Linoleumboden knarren. Sieben Schritte sind es bis zur Plumskloschüssel. Meine Kleidung lege ich auf den geschlossenen Klodeckel. Vor der Schüssel ziehe ich meinen Schlafanzug aus. Ich lasse ihn auf den Boden fallen. Unterwäsche, Socken, T-Shirt und Hose ziehe ich an. Die Strickjacke nehme ich als letzte vom Deckel. Sie behalte ich im rechten Arm. Ich pinkle in die Schüssel. Aus der Sickergrube stinkt es fürchterlich. Ich spüle nicht. Ich bücke mich, schließe dabei den Klodeckel, nehme mit der linken Hand den Schlafanzug und lege ihn über meinen rechten Arm auf meine Strickjacke. So gehe ich von der Toilette zurück ins Treppenhaus.

Der Moment zwischen der Klotür und der Treppe hinunter, ist der gefährlichste. Meine Augen fixieren deshalb eine Tür. Es ist die Zimmertür von Vater und Stiefmutter. Sie darf jetzt nicht aufgehen. Keiner der beiden muss jetzt auf die Toilette. Beide schlafen noch, wie meine beiden Brüder. Alle Hausbewohner, auch Paul, der Sohn der Stiefmutter, oben im zweiten Stock, schlafen fest. Jede Treppenstufe knarrt. Den Knauf von Vaters Schlafzimmertür behalte ich so lange im Blick, wie es geht. Er bewegt sich nicht. Die Tür bleibt geschlossen. Ich erreiche den unteren Treppenabsatz. Vaters Zimmertür sehe ich von hier nicht mehr. Alles geht jetzt sehr schnell und geräuschlos. Ich bücke mich und schlüpfe hastig in meine Schuhe. Von oben höre ich nichts. Vaters Zimmertür bleibt geschlossen. Meine Schuhbänder lasse ich offen. Ich ziehe an dem dunklen Haustürgriff. Der Schlüssel klemmt, das macht nichts. Ich kenne das seit bald einem Jahr. Solange wohnen wir in dem alten Haus. Ich drehe am Schlüssel und ziehe die Haustür auf.

Das zweite fertige Bild in meinem Kopf:

Kalte Morgenluft strömt mir entgegen. Draußen ziehe ich einmal kräftig am Haustürgriff. Das Schloss schnappt ein. Rechts neben der Haustür steht die Mülltonne. Der graue Blechdeckel quietscht leise. Ich schiebe etwas Müll beiseite. Meinen Schlafanzug lege ich hinein. Den Müll schiebe ich darüber. Das ist mein Versteck für den Schlafanzug. Wenn ich heute vom Vater erwischt werde, muss ich versuchen den Schlafanzug unbemerkt aus der Tonne zurückzuholen.

Das dritte und letzte Bild vom heutigen Morgen in meinem Kopf:

Noch stehe ich in meinem dritten Bild. Den glitschigen Gartenweg tapste ich vor Minuten behutsam und sehr schnell entlang. Dabei war ich nicht ausgerutscht. Jetzt stehe ich endlich draußen vor unserem alten Haus, auf dem feuchten Gehsteig und werfe einen gehetzten, flüchtigen Blick durch den Vorgarten hinüber auf das alte Gemäuer, meinem zu Hause.

Hoffentlich wird niemand meinen Schlafanzug in der Mülltonne frühzeitig finden. Wenn alles klappt, wird er wahrscheinlich nie wieder auftauchen. Er wird am Mittwoch von den Müllmännern abgeholt werden. Die werden wie immer die Mülltonne in ihren Wagen kippen. Keiner der Müllmänner wird wissen was er da in den Müllwagen kippt und zusammen mit dem anderen Müll auf die Müllkippe fährt. Kein Mensch wird sich für meinen Schlafanzug in der Tonne interessieren. Der Schlafanzug wird irgendwo auf einer Müllkippe liegen, unter Plastiktüten mit Haushaltsabfall, zwischen leeren Blechdosen. Langsam wird er in Mitten des Müllberges vermodern. Vielleicht habe ich heute die letzte Nacht im Haus von Stiefmutter und Vater in diesem Schlafanzug gezittert. Vielleicht werde ich nie wieder in diesem Schlafanzug im Bett liegen und Angst haben, weil ich den heutigen Tag in meinem Kopf male und plane. Niemand wird sich für die Geschichte dieses Schlafanzuges auf einer Müllhalde interessieren. Niemand weiß, warum ich ihn heute im Morgengrauen in unserer Tonne vergrub. Hoffentlich hat der Schlafanzug, obwohl er noch nicht alt und ausgeleiert ist, heute für immer ausgedient. Vielleicht werde ich ihn nie wieder anziehen.

Auf den drei Bildern in meinem Kopf fehlt etwas. Es ist mein leichtes Zittern, mein Schwitzen, mein immer stärker werdendes Zittern und die Kälte die ich dabei spüre. Jetzt vor dem Gartentürchen ist es wieder da. Es ist das, was ich auch unter meiner Bettdecke immer gespürt hatte. Es ist meine Angst davor, das in meinem Kopf lange Gemalte, das sorgfältig Geplante, das monatelang Gedachte heute endlich zu tun.

Seitdem ich im Haus bei Stiefmutter und Vater wohne, besuche ich die Dorfschule. Sie liegt oben im Dorf, nicht weit vom kleinen Dorfplatz. Mein Lehrer hatte einmal einen Satz aus einem Buch vorgelesen, an den ich immer wieder denken muss. Auch jetzt in den Sekunden auf dem Bürgersteig vor unserem Gartenzaun am feuchten Rosenstrauch, fällt mir dieser Satz wieder ein: “Angst ist ein schlechter Ratgeber.”

In meinem Kopf auf meinen drei klaren Bildern von diesem Morgen fehlt meine Angst. Ich kann sie im Kopf nicht malen, denn sie ist unsichtbar. Sie ist so unsichtbar, dass ich sie auf den drei Bildern in meinem Kopf nicht erkennen kann. Aber sie ist stets da. Sie treibt mich heute schon vor Sonnenaufgang aus meinem warmen Bett, aus unserem Kinderzimmer, aus unserem Haus, durch unser sauberes schwäbisches Gärtchen. Sie treibt mich auf den besenreinen Gehsteig. Sie wird mich heute vielleicht noch den ganzen Tag lang weiter treiben.

Ich glaube nicht, dass meine Angst mein Ratgeber ist. Sie treibt mich an, aber sie berät mich nicht. Ich bin zehn Jahre alt und mich berät mein Kopf. Mein Kopf ist nicht nur voll mit Angst, er ist auch voll mit meinem Denken.

Sehr lange habe ich darüber nachgedacht, was geschehen ist. Mein langes Nachdenken bringt mich heute Morgen vor dieses Gartentürchen. Ich muss es heute tun, weil ich so lange darüber nachgedacht habe und zu dem Ergebnis gekommen bin, dass ich es nicht mehr aushalte. Meine Angst treibt mich dabei an, sie begleitet mich hier her, sie wird mich heute weiter begleiten, aber ich glaube, sie berät mich nicht mehr.

Mein Denken in meinem Kopf verhindert, dass meine Angst mich berät oder gar darüber entscheidet, was ich heute tue. Weil ich so lange über den heutigen Tag nachgedacht habe, hat mein Denken die Angst schließlich besiegt. Nur weil das so gewesen war, gibt es auch Bilder, die ich vor dem heutigen Morgen in meinem Kopf niemals gemalt hatte. Hätte ich sie gemalt, stünde ich jetzt nicht auf dem feuchten Gehsteig vor unserem alten Haus. Jetzt aber, wo ich die ersten Schritte bereits gewagt habe, baut sich in meinem Kopf plötzlich eines dieser Bilder auf. Dieses Bild sieht so aus:

Der Vater liegt neben der Stiefmutter im Bett. Draußen dämmert es. Es ist Samstag, die Familie kann heute ausschlafen. Der Vater muss nicht früh raus. Heute braucht er nicht in seinem weißen Käfer im Morgengrauen zur Arbeit in die Fabrik zu fahren. Trotzdem wacht er genau so früh auf, wie an jedem normalen Arbeitstag. Im seinem Bett dreht er sich um. Er öffnet die schläfrigen Augen und sieht, dass es noch nicht ganz hell geworden ist. Sekundenlang glaubt er, dass er heute zur Arbeit müsse. Deshalb schreckt er auf, denn der Wecker hat nicht geläutet. Jetzt fällt ihm die gestrige Fußballübertragung im Fernsehen wieder ein. Die deutsche Mannschaft ist Fußballweltmeister geworden, ein toller Sieg! Das denkt er jetzt, genauso wie er es gestern Abend schon gedacht hatte. Nun weiß er auch wieder, dass heute Samstag ist. Also kann er im Bett liegen bleiben. Er dreht sich noch mal um. Neben sich im Bett sieht er die Stiefmutter. Sie schläft noch tief. Der Vater schließt die Augen, denn er möchte weiter schlafen. Das Wiedereinschlafen klappt aber nicht. Jetzt spürt er, dass er dringend auf die Toilette muss. Wegen ihrem guten Fußballspiel von gestern Abend, war die deutsche Mannschaft Fußballweltmeister dieses Jahres 1974 geworden. Deshalb liegt ein langer Fernsehabend mit vielen Getränken hinter dem Vater. Das viele Getrunkene will jetzt wieder raus. Die Bettkante knarrt unter seinem großen Gewicht. Der Vater schlüpft in die braunen Pantoffeln. Die Dielen im Schlafzimmer knarren. Über den grauen Steinboden geht er durch das kalte Badezimmer. Schnell erreicht er die Badezimmertür. Sie führt ins Treppenhaus. Quietschend öffnet er sie. Da bleibt der Vater überrascht stehen, denn jetzt sieht er mich. Ich komme gerade aus der Toilette.

Eindeutig, dass ich mich auf der Flucht befinde! In voller Bekleidung sieht mich der Vater. Mein Schlafanzug liegt über der Strickjacke auf meinem rechten Arm. Eindeutig, dass ich das Haus noch vor Sonnenaufgang verlassen möchte. Auch ich sehe den Vater. Ängstlich erstarre ich auf der Treppe. Ich zittere zuerst wenig, dann wird mir sehr heiß, dann zittere ich kräftig, dann wird mir kalt. Schlafanzug und Strickjacke fallen auf die Treppenstufen. Der Vater ist sofort hellwach. Er schreit mich an: “Das gibt’s doch nicht! Was machst du denn hier? Wohin willst du, du freches Bürschchen?”

Ich bleibe, wie so oft in solchen Momenten, bewegungslos zitternd und schweigend stehen. Wie erstarrt stehe ich auf den ersten Treppenstufen vor dem Vater. Ich kann dem Vater keine Antwort geben. Ich glaube, der Vater erwartet gar keine Antwort auf seine laute Frage. Wütend und aufgebracht ist er. Sein Gesicht ist sehr faltig, und jetzt sehe ich, dass es ganz rot von seiner Wut auf mich geworden ist. So stürzt der Vater über die laut knarrenden, alten Dielen im kalten Treppenhaus auf mich zu. Dabei brüllt er zornig: “Die Faxen treibe ich dir jetzt endgültig aus Bürschchen!”

Ich spüre Vaters kalte, feste Hand an meiner Schulter. Sie wirft meinen Rücken gegen die schiefe Treppenhauswand. Ich falle auf die Stufen. Der Vater zieht mich, an meinen Schultern und meinem T-Shirt, über die Treppe zu sich hinauf. Verschwommen erkenne ich jetzt auch die Stiefmutter in der Badezimmertür. Ihr Blick ist hasserfüllt. Es ist der Blick, den ich seit einem Jahr täglich erlebe. Sie hilft dem Vater. Gemeinsam schleifen sie mich ins Wohnzimmer. Jetzt erkenne ich die niedrige, durchhängende Wohnzimmerdecke. Der Putz hat tausend Sprünge. Ich stolpere über die Türschwelle und falle zu Boden. An meinem T-Shirt und meiner Hose ziehen beide mich hoch. Die Stiefmutter schreit: “Du Bürschle brauchscht des einfach jeden Tag! Mir wern’s dir schon noch zoign!”

Der Vater verschwindet für kurze Sekunden. Ich liege auf dem Holzstuhl. Der Vater kommt zurück. Ich spüre seinen scharfen Gürtel. Jeder Schlag zwingt mich zu einem lauten Schrei. Meine Tränen tropfen auf den grauen Teppichboden.

Dieses Bild in meinem Kopf ist hier zu Ende. Ausgerechnet jetzt malt mein Gehirn so ein Bild! Gerade jetzt, in den Sekunden, die ich auf dem nassen Asphalt vor unserem Haus in der morgendlichen Kälte stehe. Dieses Bild kann ich nicht gebrauchen. Warum ist es trotzdem in meinem Kopf? Soll meine Angst jetzt schon zurückkehren? Will sie mich in letzter Sekunde abhalten, das lange Geplante heute endlich zu tun?

2. Der Vorabend

Gestern Abend durfte mein älterer Bruder Christian noch etwas länger fernsehen. Weil das Fußballweltmeisterschaftsspiel gezeigt wurde, waren Stiefmutter und Vater guter Dinge. Meinen jüngeren Bruder Matthias und mich schickten Stiefmutter und Vater wie immer zur täglich gleichen Uhrzeit ins Bett. Wir standen vom Sofa vor dem laufenden Fernsehgerät im Wohnzimmer auf und gingen gemeinsam in unser Schlafzimmer. Dort zog ich meine Kleider sehr langsam aus. Ich legte sie betont ordentlich auf den Stuhl neben meinem Bett. Matthias verließ zuerst das Schlafzimmer. So plante ich das. Ich war einen kurzen Augenblick allein. So konnte ich die Maßnahmen für den heutigen Morgen treffen.

Frisch gewaschene Kleider nahm ich aus unserem Kleiderschrank. Ich versteckte sie unter meinem großen Kopfkissen. Dann verließ auch ich das Zimmer und ging zu Christian in den kalten Waschraum. Christian und Matthias hatten nichts von meinen Vorbereitungen bemerkt.

In der Nacht war ich nur sehr kurz eingeschlafen. Immer wieder wachte ich auf. In einer Art Halbschlaf döste ich vor mich hin. Ich spürte immer wieder meine Angst vor dem kommenden Tag. Deshalb malte ich wieder und wieder die drei Bilder des heutigen Morgens in meinem Kopf. Ich zitterte, schwitzte und fror. Den Plan, das Haus zu verlassen ohne dass es jemand bemerkt, spielte ich immer wieder von neuem durch. Ich fragte nach Fehlern in meiner Vorbereitung und fand keine. Ich überlegte, ob mein Weglaufen durch irgendeine Unbedachtheit zu früh bemerkt werden könnte. Mir fiel nichts ein.

Spät nachts hörte ich Christian. Er öffnete die Zimmertüre und knipste das Licht an. Er setzte sich auf sein Bett, zog seine Schuhe und seine Kleidung aus. Die legte er auf seinen Stuhl neben dem Bett. Seinen Schlafanzug zog er unter dem Kopfkissen hervor. Er zog ihn an, ging zur Zimmertür, öffnete sie und ging zur Toilette.

Durch die kurz geöffnete Zimmertür hörte ich die Stimmen der Stiefmutter und des Vaters. Was sie miteinander besprachen verstand ich aber nicht. Minuten später kam Christian wieder zurück. Die Stimmen der Stiefmutter und des Vaters in der Küche hörte ich nicht mehr. Christian knipste das Licht aus und verkroch sich unter seiner Bettdecke.

Matthias hatte schon lange geschlafen, er atmete schon tief bevor Christian gekommen war. Ich tat so, als schliefe auch ich. Zwei Mal hatte ich lautes Jubelgeschrei aus dem Wohnzimmer gehört. Die Deutschen hatten zwei Tore geschossen. Das Fußballspiel bescherte der Familie einen ruhigen Abend. Deshalb hatte es gestern Abend keine Zwischenfälle gegeben. Der Vater und die Stiefmutter schlugen gestern Abend nicht zu.

Nachdem Christian sich in sein Bett gelegt hatte, wurde es im Haus leise. Die ganze Nacht lang hörte ich nichts, außer den lauten Glocken der Dorfkirche. Bei jedem Glockenschlag zählte ich mit. So wusste ich, wie spät es war. Langsam wurde es in meinem Bett wärmer. Mein Zittern wurde trotzdem nicht weniger.

Irgendwann in der Nacht, als ich noch mal alles genau durchgedacht hatte, war ich mir sehr sicher geworden. Ein wenig Angst spürte ich trotzdem noch. Alles stand deutlich vor meinen Augen. Ich war mir über mein heutiges Fortgehen sicher geworden. Das war nicht mehr nur in meinem Kopf gemalt und geplant. Sondern das Geplante stand klar als eine wichtige Tat vor mir. Es war die nächste Aufgabe für mich. Die Tat stand vor meinen Augen, wie eine Aufgabe, die für den heutigen Tag selbstverständlich zu meinem Leben gehört. Mein Plan war zu etwas geworden, das unbedingt sein muss. Den Fluchtplan heute endlich zu verwirklichen, fühlte ich mich gegen Ende der vergangenen Nacht gezwungen. Die heutige Flucht schien mir genauso notwendig, wie ich täglich trinken und essen muss.

Zitternd wegen meiner Angst sagte ich schließlich zu mir: Du bist derjenige, der hier fortgehen muss. Gehst du nicht, wird alles bleiben wie es ist, und wie es ist, ist es schlecht.

Ich glaube, wegen diesem Satz überwand ich endlich die letzten Bedenken die wegen meiner Angst noch da waren. Der Satz meines Lehrers fiel mir auch vergangene Nacht wieder ein. In meinem Kopf antwortete ich meinem Lehrer: “Vielleicht war meine Angst bisher mein Ratgeber. Sie darf es nicht weiter bleiben! Seit Monaten schon bleibe ich nur deshalb hier, weil ich Angst davor habe, wie schlimm es wäre, wenn der Vater und die Stiefmutter mich beim Weglaufen erwischen würden. Heute Nacht überwinde ich diese Angst! Von ihr will ich mich nicht weiter leiten lassen.”

Schon in den vergangenen Wochen war meine Angst immer weniger hervorgebrochen. In meinem Kopf entstand mehr und mehr Platz für meinen Plan. Die Angst nahm einen immer kleineren Platz ein. Mehr und mehr entstand das Gefühl den Plan zwingend ausführen zu müssen. Es gab keinen anderen Weg oder eine andere Aufgabe mehr, für den heutigen Tag. Über die Umsetzung meines Plans dachte ich nicht weiter nach, als in diesen drei Bildern für den heutigen Morgen. Sie zu Denken kostete mich meine ganze Kraft.

Letzte Nacht gab es keinen Gedanken an die mögliche Endgültigkeit dieses Schrittes. Was danach kommen wird, hatte keinen Platz mehr in meinen Kopf. Gelingen oder Scheitern spielte ich in der vergangenen Nacht nicht durch.

Auch jetzt in den kurzen Sekunden auf dem Bürgersteig können mir die vielfältigen Möglichkeiten, die so ein Denkspiel in meinem Kopf offengelegt hätte, nicht einfallen. Hier draußen in diesen Sekunden in der frischen kalten Morgenluft vor unserem Haus kann ich nicht wissen, dass der heutige Tag nicht nur irgendein Fluchttag ist. Heute ist der Tag an dem ich meine Zukunft entscheide. Zu diesem Gedanken bin ich heute noch nicht fähig, weil ich noch viel zu klein bin, so etwas zu denken.

Meine zehn Jahre alten Füße haben mich gerade aus unserem alten kleinen Haus getragen. Sie werden mich gleich durch unser Bauerndorf tragen. Mein Kopf, mein Denken, das in mir steckt, wollte lange schon nicht mehr hier bleiben. Meine Angst war der Ratgeber, der nur noch meinen Körper in diesem Haus, in dieser Familie hielt. Mein Denken war schon lange weit weg von diesem Ort, von diesen Menschen, von dieser Familie. Lange ließ meine Angst die Umsetzung meines Denkens nicht zu. Das Denken hat jetzt das Übergewicht gewonnen. Meine Angst soll ab jetzt unter meinem Denken bleiben.

Ich glaube, vergangene Nacht war ich irgendwann doch noch eingeschlafen. Denn die Nacht war überraschend schnell vorbei. Durch das Zimmerfenster hatte ich den Nachthimmel beobachtet. Es war hell draußen, eine klare Vollmondnacht. Bereits in der Dunkelheit aufzustehen, um das Haus zu verlassen, hatte ich mich aber nicht getraut. Es war völlig klar, dass ich zu warten hatte bis der Morgen kam.

Morgens hörte ich Geräusche aus dem Stall des Bauernhofes neben unserem Haus. Der Bauer hat viele Milchkühe. Wir holen regelmäßig unsere Milch bei ihm. Noch bevor der Bauer heute Morgen in seinen Stall gehen würde, wollte ich bereits die Dorfstraße hinauf gerannt sein.

Die Kirchturmuhr hatte fünf Mal hintereinander geschlagen. Leise kroch ich unter meiner Bettdecke hervor. Ich richtete sie ein wenig auf. Ich wollte, dass sie so aussieht, als läge ich noch darunter. Unter dem Kopfkissen zog ich die frische Hose hervor. Vom Stuhl nahm ich T-Shirt, Unterhose und Socken. Mein Bett sah ich mir genau an. Es sah aus, als läge ich noch unter der dicken Decke. Ich verließ das Kinderzimmer.

3. Die ersten Schritte

Jetzt laufe ich los. Die schmutzige, steile Dorfstraße marschiere ich eilig hinauf. Die dünne Strickjacke ziehe ich im Laufen über. Immer noch fehlen alle Geräusche, die ich in diesem Dorf auf dieser steilen Dorfstraße täglich auf meinem Weg zur Schule beinahe ein Jahr lang gehört hatte.

Es herrscht Ruhe. Ich kenne den Geruch in der kalten Luft. Er kann zu dieser frühen Stunde nicht fehlen, so wie die Geräusche. Es ist der Geruch des Bauerndorfes. Das sind die vielen Kuhfladen auf der Dorfstraße, es ist die nasse Erde, die Treckerspuren vor mir, es sind die Misthaufen hinter den Bauernhäusern an der Dorfstraße. Es ist der Schweinestall unseres Nachbarbauern aus dem in einer Stunde die Schweine grunzen werden. Diesen Gestank sauge ich jetzt auf. Ich atme tief. Die Straße ist sehr steil. Hinauf brauche ich viel Luft.

Der Gestank des Dorfes ist mir sehr vertraut. Wenigstens etwas, das mir in diesen Sekunden vertraut ist. Aber der Mief beruhigt mich nicht. Ich höre meine stapfenden Schritte auf der Dorfstraße. Sie sind groß. Ich mache sie so groß wie ich nur kann. Ich renne aber nicht. Wenn ich renne, merke ich nicht was um mich herum geschieht. Ich möchte nichts Wichtiges übersehen oder überhören und ich möchte meine Kräfte sparen. Wenn ich renne, brauche ich viel Kraft aber ich habe einen weiten Weg vor mir.

Ich glaube, wenn ich jetzt losrennen würde, könnte ich wegen meiner offenen Schuhbänder in den feuchten Schmutz auf die steile Dorfstraße stürzen. Vielleicht falle ich jemandem auf! Einem Menschen der an der Dorfstraße wohnt und jetzt gerade aus dem Toilettenfenster blickt? Es ist sehr früh am Morgen, es ist noch nicht einmal richtig Tag. Ich laufe allein, mitten auf der leeren Dorfstraße. Ich gehe hier ohne meinen Bruder entlang, denn ich gehe heute nicht zur Schule.

Dass ich so früh im Dorf unterwegs bin, heute am Samstag, wo keine Schule ist! Das ist auffällig. Ich muss nicht noch mehr auffallen, indem ich renne. Ich glaube, um diese Uhrzeit schnell zu rennen auf der Dorfstraße, sieht verdächtig nach Flucht aus dem Dorf aus.

Wenige Meter auf der Dorfstraße liegen jetzt hinter mir. Mir ist schon ganz heiß. Wegen der Jacke, die ich anhabe? Nein, ich glaube es ist mein Denken, dass mich schwitzen lässt.

Es ist wegen dem Mann am Toilettenfenster, der mir gerade einfällt. Ich sehe keinen Mann an irgendeinem Toilettenfenster, denn meine ganze Aufmerksamkeit liegt bei meinen offenen Schuhbändern. Die Möglichkeit, dass mich im Dorf jemand sieht, um diese Uhrzeit, darf es nicht geben. Der Gedanke daran lässt mich schwitzen. Es ist im Grunde gleich, ob ich nun schnell laufe oder renne, beides ist sehr auffällig.

Jetzt darf niemand am Toilettenfenster Richtung Dorfstraße stehen und auf die Straße blicken. Im Dorf darf jetzt, neben mir, kein anderer Mensch unterwegs sein. Das Dorf ist sehr klein, ich kenne nur diese eine Straße, deshalb laufe ich auf ihr. Würde sich ein Bauer jetzt aus seinem Haus machen, muss er mir begegnen. Alle Dorfbewohner kennen mich. Jeder hier weiß, wer ich bin, und jeder weiß, wo ich wohne. Wenn ich jetzt von einem Bauern gesehen werde, ist das mehr als verdächtig.

Ich spüre mein Blut in meinen Adern. Es pulsiert sehr schnell. Ich kenne das aus dem Turnunterricht. Nach dem Laufen sollen wir uns an den Puls fassen und die Schläge zählen. Die Hitze wird fast unerträglich.

“Verdächtig!”

Dieses Wort reicht gar nicht!

Ich spüre das, weil mein Puls rast, obwohl ich noch nicht einmal hundert Meter auf der Straße hinter mir habe. Ein Bauer, jetzt am Klofenster oder auf der Dorfstraße, ich glaube, das wäre das sichere Ende meiner Flucht.

Jeder Bauer der mich jetzt hier laufen sieht, muss sich überlegen, warum er mich so früh laufen sieht. Ich denke an so einen Bauern an der Dorfstraße. Vor dem Toilettenfenster steht er und pinkelt in die Kloschüssel. Das kleine Klofenster ist offen. Verschlafen blickt er kurz hinaus auf die Dorfstraße. Da sieht der Bauer mich, wie ich hier auf der Dorfstraße laufe. Genau in diesem Augenblick eile ich vor seinem Toilettenfenster vorbei.

Sofort denkt der Bauer, dass ich um diese Tageszeit auf der Dorfstraße überhaupt nichts zu suchen habe. Hastig beendet er sein Pinkeln, denn er hat nur eine Idee im Kopf:

Das Telefon!

Der Bauer verlässt schnell die Toilette. Er spült nicht. Er hat nur noch das Telefon im Kopf. Seine Schlafanzughose zieht der Bauer im Laufen hoch. Die Klotür vergisst er zu schließen, auch die Wohnzimmertür lässt er offen stehen. Dort eilt er an das Telefon. Die Telefonnummer findet er sofort, denn im Dorf kennt jeder jeden.

Das Telefon im Wohnzimmer des Vaters klingelt laut und schrill. Es weckt jeden Bewohner im Haus. Heute Morgen muss es sehr lange läuten, denn Vater und Stiefmutter sind noch sehr müde, wegen des langen Fußballabends gestern. Der Bauer wartet. Den Telefonhörer hält er an sein Ohr, das Gerät in der anderen Hand, versucht er soweit zu gehen, wie es die Telefonschnur zulässt. Das reicht gerade bis zur Küchentür. Von dort kann er durch das Küchenfenster jetzt die Dorfstraße sehen. Ich laufe dort aber nicht mehr.

Ich bin schon vorbei an seinem Haus. Jetzt lässt der Bauer das Läuten sein, er hängt wieder ein. Er stellt das Telefon zurück in sein Wohnzimmer. Vielleicht denkt er, dass er nur geträumt hat von mir, dem laufenden Knaben auf der dreckigen Dorfstraße.

Der Bauer ist müde, wie alle Menschen an diesem Morgen im Dorf. Alle haben gestern Abend lange den Sieg der deutschen Fußballer gefeiert. Der Bauer geht zurück ins Schlafzimmer, er legt sich wieder in sein Bett.

Ein klingelndes Telefon. Ein aufgeregter Bauer in der Leitung, der den Vater auf den eilig marschierenden Sohn auf der Dorfstraße hinweist. Das wäre ein schlimmes Ende. Es wäre sehr traurig. Es wäre eine Katastrophe für mich. Warum denke ich jetzt genau daran?

Es ist ganz schlecht, daran zu denken, und trotzdem tue ich es. Und ich denke noch weiter: Der Bauer liegt wieder in seinem Bett. Er kann aber nicht mehr einschlafen, obwohl er nicht aufs Klo muss, denn da war er ja gerade erst gewesen. Was er vor Sekunden gesehen hatte, war vielleicht doch kein Traum. Wenn der Bauer das denkt! Jetzt fällt mir Vaters scharfer Ledergürtel ein. Da spüre ich sie wieder: Meine Angst vor schmerzenden Schlägen, vor der Wut des Vaters. Sie scheucht mich eilig durch das kleine Dorf. Noch nie zuvor war ich so schnell im Dorf unterwegs.

Meine Schuhbänder öffnen sich immer weiter. Ihre Enden klackern gegen die Schuhe. Sie machen: Zack, zack, zack, zack. Sie wollen gebunden werden. Die Schuhe lockern sich mehr und mehr. Das Binden geht jetzt noch nicht. Die Schuhe müssen noch warten. Sie müssen mich noch weiter fort tragen, bevor ich sie binden kann. Das Binden könnte mich zu viel Zeit kosten. Mich jetzt zu bücken, wo ich erst etwa das halbe Dorf durchquert habe, und die Bänder zu binden, das könnte zu früh sein. Gerade in dieser Situation, in diesen Sekunden, könnte mich ein Bauernblick entdecken.

Ein kleines, zehnjähriges Bürschchen mitten auf der Dorfstraße und das am Samstag, morgens um fünf Uhr! Gebückt bindet sich das Bürschchen die Schuhe. Nervös fummelt es an den Bändern herum, bleibt nicht still gebückt stehen, sondern macht noch im Binden und Bücken weitere Schritte die Dorfstraße hinauf. Wie komisch das aussieht! Schuhbinden, Bücken und Laufen gleichzeitig. Jetzt stürzt das Bürschchen fast! Was soll das? Warum so eilig? Warum steht der nicht in Ruhe auf einen Stein gestützt und bindet seine Schuhbänder? Warum Rennen, Binden und fast zu Boden stürzen? Der hechelt und ringt ja nach Luft! Der kann ja kaum noch atmen, so aufgeregt ist der! Wer ist denn das überhaupt? Was macht das Bürschchen so früh draußen auf der Straße? “Hee, was machst Du da? Wo willst’n hin? Hee, kenn ich dich nicht, bist du nicht ein Sohn vom alten …!” Jetzt klopft mein Herz ganz schnell, ich platze fast vor Hitze, mein Gang wird von Schritt zu Schritt noch schneller.

4. Dorfladen, Dorfplatz und Schulhaus

Links sehe ich jetzt den kleinen Dorfladen. Die braunen Fensterläden sind verschlossen. Die alte Frau Maier liegt in ihrem Bett über dem Laden und schläft. Vielleicht träumt sie von kleinen Dieben vor ihrem Laden. Dort sehe ich den Kaugummiautomaten. Er hängt neben der Eingangstür und er ist immer noch kaputt. Die Schublade steht offen.

Mein Bruder Christian und ich hatten das vor einigen Tagen angerichtet. Mit nur einem fünfzig Pfennigstück hatten wir das geschafft. Statt nur einem Päckchen, angelten wir zwei Päckchen aus dem Automaten. Das erste Päckchen nahm Christian heraus, nachdem ich die fünfzig Pfennig eingeworfen hatte. Er hatte die leere Schublade ganz langsam zugeschoben und sie auf halber Stellung festgehalten. Ich hatte mit meinen dünnen, langen Fingern hineingepult und die nächste Packung langsam herausgezogen. Matthias hatte am Rand der Dorfstraße Schmiere gestanden. Die Schublade lässt sich nicht wieder verschließen. Sie steht immer noch offen.

Jetzt, wo ich an Frau Maiers Laden und dem kaputten Automaten vorbeilaufe, denke ich: Warum kein Bauernblick aus einem Klofenster, während wir uns im Dorf am einzigen Kaugummiautomaten vor Frau Maiers Laden zu schaffen gemacht hatten? Gibt es Bauern, hier im kleinen Dorf, die so etwas sehen und sich trotzdem nicht dafür interessieren? Eigentlich dürfte es in diesem winzigen Dorf kaum möglich sein, dass uns am Kaugummiautomaten niemand beobachtet hatte. Denn oft habe ich das Gefühl, dass im Dorf jeder Mensch genau weiß, was die Nachbarn tun, vor allem glaube ich, dass die Erwachsenen im Dorf genau wissen, was wir Kinder den Tag lang tun. Doch vielleicht täusche ich mich. Vielleicht kommt es doch häufiger vor, als ich es glaube, dass in diesem Dorf kein Bauer irgendetwas sieht und hört!

Unsere lauten Schreie durch die dünnen, zugigen Fenster im Kinderzimmer fallen mir da ein. Weil der Vater abends ungestört seinen Gürtel benutzt, könnte es sein, dass ich mich mit meiner Vorstellung von diesem Dorf täusche. Niemals hatte ein Nachbarbauer an unserer Haustüre geläutet und nachgefragt, woher das Knallen dieses scharfen Lederriemens stammt und warum dazu dieses kreischende Kindergeschrei ertönt.

Vielleicht war es genauso auch mit diesem Kaugummiautomaten gewesen. Ein Bauer dieses kleinen Dorfes, der mich und meinen Bruder nachmittags am Automaten hantieren sieht, interessiert sich vielleicht nicht dafür. Ein Bauer, der Kinder laut schreien und weinen hört, interessiert sich für diese Geräusche aus unserem Haus vielleicht so wenig, wie für das Blöken der Schafe auf der Weide. Interessiert meine schnelle Flucht durch das Dorf? Vielleicht denkt kein einziger Bauer in diesem Dorf über uns Kinder am Kaugummiautomaten, oder über unsere Schmerzensschreie aus dem alten Bauernhaus, oder über einen flüchtenden Zehnjährigen um fünf Uhr morgens auf der Dorfstraße nach.

Ich weiß nicht, ob das so ist. Wenn es so ist, dann könnte ich jetzt, wo ich schon vorbei bin am einzigen Laden im Dorf, langsamer werden. Könnte ich mir mehr Zeit lassen? Vielleicht könnte ich gemütlich pfeifend die Dorfstraße hinaufschlendern. Ich könnte so tun, als wäre es normal, dass ich jetzt hier laufe. Wenn ich langsamer ginge, müsste ich nicht so sehr auf die vielen Kuhfladen und die rutschigen Treckerspuren auf der Dorfstraße aufpassen. Ich könnte auch die Häuser am Wegrand noch einmal genau betrachten.

Eigentlich bin ich ja nur ein winziges zehnjähriges Bürschchen, das zu Hause nicht mehr bleiben mag! Dass ich nicht mehr mag, ist für alle Bauern in diesem Dorf doch völlig uninteressant. Dass ich jetzt auf der Flucht bin, ist deshalb vielleicht gar kein Grund für meine Eile, denn sie interessiert niemanden.

Warum also meine innere und äußere Unruhe? Warum dieses schnelle, beinahe panische Herumhüpfen zwischen den matschigen Kuhfladen die steile Dorfstraße hinauf? Warum dieses hektische Ausweichen vor dem feuchten, glitschigen Dreck, der braunen Erde, den vielen Pferdeäpfeln auf der Dorfstraße?

Der Weg hinauf zum Dorfplatz wäre viel einfacher zu laufen, er wäre nicht so anstrengend, wenn ich langsamer ginge, wenn ich mir mehr Zeit ließe. Das geht nicht, ich kann es nicht! So denke ich. Ich muss schnell weg hier. Ich kann mir jetzt nicht erklären, warum ich das nicht kann. Vielleicht fällt mir später eine Erklärung ein. Jetzt, in diesen aufregenden Sekunden durch dieses Dorf, denke ich zwar kurz daran, dass meine Flucht eigentlich normal sein könnte, aber ich denke gleichzeitig auch an das andere.

Ich denke, dass dies, was ich hier um fünf Uhr morgens gerade tue, vielleicht notwendig und deshalb vielleicht für mich normal sein könnte, doch eines ist es sicherlich nicht für die Menschen in diesem Dorf: Mein Laufen hier und jetzt ist nicht alltäglich. Alltäglich in diesem winzigen, nach Stallmist stinkenden Dorf ist vielleicht das Schmerzensgeschrei von uns Kindern, das die Dorfbewohner täglich aus unserm Haus hören. Ich glaube, das ist in diesem Dorf ein Stück Alltag und damit Normalität für alle Dorfbewohner, weil es ebenso regelmäßig zu hören ist, wie das Zwölfuhrschlagen der kleinen Dorfkirche neben unserem Haus. Ich kann jetzt nicht gelassen sein. Das, was ich gerade tue, gehört nicht zum Alltag in diesem Dorf. Deshalb muss ich mich sehr beeilen.

Jetzt erkenne ich schon das große braune Haus. Es ist die Dorfkneipe. Die einzige Gaststätte im Ort. An ihr laufe ich hastig vorbei. Hastig? Ich merke, dass ich jetzt richtig renne. Meine offenen Schuhe fühlen sich an wie große Schlappen. Ich könnte sie verlieren. Deshalb werde ich wieder langsamer.

Es ist der winzige Dorfplatz vor der Kneipe. Wegen ihm bin ich so schnell geworden. Meine Augen tränen wegen der Anstrengung auf der steilen Straße. Mir war gerade, als sitze dort ein Mann auf der Bank am Platz. Deshalb denke ich sofort: Oh nein, auf dem Dorfplatz sitzt ein Betrunkener! Vielleicht hatte der es gestern Abend nicht bis nach Hause geschafft. Nach dem Fußballspiel hatte er als letzter betrunkener Gast die Dorfkneipe verlassen. Die Treppenstufen vor der Kneipe war er hinunter gestürzt. Mit schweren Kopfschmerzen hatte er sich auf der Bank am Dorfplatz wieder hochgerafft. Vielleicht ist es der Bauer vom letzten Bauernhof am Ende des Dorfes. Weil er den weitesten Weg nach Hause hat, hatte er sich, schwer betrunken wie er war, auf die Bank gesetzt. Nur fünf Minuten, so hatte der Mann gedacht, sollten es werden. Wenn er seine Kräfte wieder gesammelt hätte, wollte er weitergehen. Sofort war er trotz der kalten und mondhellen Nacht eingeschlafen. Er war zur Seite weggekippt und blieb die Nacht über auf der Bank am Dorfplatz liegen.

Kein Mensch liegt da auf der Bank am Dorfplatz! Es ist ein voller Kartoffelsack, der dort liegt. Weil ich das zu erkennen glaube, schnaufe ich tief durch. Ich wische mit meinem Jackenärmel über meine verschwitzte Stirn und meine Augen. Jetzt sehe ich noch weniger, doch ich bin froh, als ich ein wenig verschwommen erkenne, dass tatsächlich niemand auf der Bank beim Dorfplatz sitzt.

Warum setze ich mich nicht einfach hin? Warum nicht einfach gemütlich dasitzen und auf die alte Dorfstraße schauen? Vielleicht wird das mein letzter Blick vom Dorfplatz aus die Dorfstraße hinunter. Warum nicht jetzt, um kurz nach fünf Uhr morgens auf der Flucht, so tun als sei ich nur Tourist in meinem kleinen Dorf?

Ich weiß, was ein Tourist ist. Es ist jemand, der in einen Ort kommt, dort nur kurz bleibt und wieder verschwindet. Ich kenne das. Ich habe Jahre lang in einem gebirgigen Touristenort in Oberbayern gelebt. War ich nur für kurze Zeit hier im Dorf? Seit fast einem Jahr bin ich hier. Viel zu lang für einen Touristen und sicherlich zu kurz um es “mein Dorf” zu nennen. Nein, ich bin kein Tourist in diesem Dorf. Ein Tourist kommt freiwillig, er bleibt freiwillig und er geht freiwillig wieder nach Hause.

Kam ich freiwillig in dieses Dorf? Ich erwartete Anderes hier, Schöneres. Ich erwartete meine Familie. Ich erwartete sie nicht im Originalzustand aber immerhin, was ich erwartete, war ein gehöriges Stück von ihr. Die Familie eben. Etwas das ich lange nicht gehabt hatte, etwas das ich in diesem Dorf bei meinem Vater und der Stiefmutter zu finden glaubte. Darauf hatte ich mich gefreut, als ich gekommen war. Somit ist es eindeutig: Ich war freiwillig gekommen, denn ich hatte geglaubt, hier etwas Schönes und Wichtiges für mich zu finden. Aber schon nach kurzer Zeit hatte ich gespürt, dass es mit der Freiwilligkeit, hier zu bleiben, immer schwieriger wurde. Mehr und mehr hatte ich mich zu bleiben gezwungen gefühlt. Mehr und mehr spürte ich auch meine Angst. Langsam hatte sie sich zum Grund entwickelt, der mich noch hier im Dorf bei der Familie gehalten hatte. Meine Angst hatte mich lange Zeit gezwungen, in diesem Dorf zu bleiben.

Heute gehe ich. Ich gehe freiwillig. Ich will heute gehen. Diese Freiwilligkeit ist anders, als meine Freiwilligkeit, mit der ich, vor etwa einem Jahr, zu Vater und Stiefmutter gekommen war. Ich meine, es ist eine sehr klare Freiwilligkeit. Denn im zurückliegenden Jahr habe ich Vater und Stiefmutter kennen gelernt. Nur deshalb entscheide ich mich heute für diese Flucht. Für mein Kommen, vor einem Jahr, hatte ich mich entschieden, ohne beide richtig zu kennen.

Tourist bin ich also sicherlich nicht. Vielleicht bin ich Sucher. Ich hatte hier nach einer Heimat und nach meiner Familie gesucht. Die Suche beende ich heute. War ich erfolglos? Ich fand meine Familie, aber sie wurde mir keine Heimat, sie war ganz anders, als ich es erwartet hatte. Sie war unerträglich.

Meine Schritte werden jetzt langsamer. Ich komme an der alten Dorfschule vorbei. Sehe ich sie heute das letzte Mal? Dann war gestern der letzte Tag, an dem ich sie besucht hatte. Vor der Mauer rings um die Schule bleibe ich stehen. Der steile Anstieg der Dorfstraße liegt jetzt hinter mir. Die Dorfstraße ist hier flach. Ich schaue über die Mauer. Dort sehe ich den gepflasterten Schulhof, in dessen Mitte das graue, hohe Schulhaus steht.

Warum stehe ich jetzt hier und schaue? Vor Minuten war ich noch beinahe panisch am Dorfplatz vorbei gerannt.

Meine Schule ist das größte Haus im Dorf. Es hat drei Stockwerke. Ganz oben, unter dem spitzen Dach ist ein Speicher. Allerlei Gerümpel liegt da herum. Mit meinem Lehrer war ich einmal dort gewesen. Verstaubte, riesige Landkarten hatten Matthias und ich vom Speicher hinunter getragen. Der Lehrer hatte sie im Klassenzimmer an die Wand gehängt. Er hatte uns genau erklärt, wo auf der Landkarte Deutschland liegt und wo wir in Deutschland unser winziges Dorf finden. Leider hatte mich das an dem Tag nicht besonders interessiert.

Erst heute vor dem alten Dorfschulhaus spüre ich, dass ich die Dorfschule gerne besucht hatte. Nicht nur deshalb, weil dort weder Vater noch Stiefmutter waren, sondern auch, weil der Lehrer damals erklärt hatte, wo wir hier in Deutschland leben. Wenn mich das an diesem Vormittag auch nicht interessiert hatte, so weiß ich deshalb doch, dass man auf der Landkarte auch den Ort finden kann, in dem ich lange Zeit gelebt hatte, bevor ich zu Vater und Stiefmutter hierher nach Baden Württemberg gekommen war. Ich glaube, diesen Ort, dieses Dorf hier werde ich mir noch lange merken. Wichtig ist der Ort, weil es der Platz ist, an dem ich dieses Jahr beim Vater gelebt hatte. Ich glaube einen Ort, in dem man lebte, wie ich hier bis heute beim Vater gelebt habe, so einen Ort vergisst man nie.

Weil hier im Dorf meine Familie war, weil ich bei meiner Familie gewesen war, zusammen mit meinen Geschwistern, weil wir hier alle zusammen gelebt hatten, wird der Ort wichtig bleiben für mich. Das spüre ich jetzt schon, wo ich nicht einmal eine Viertelstunde aus dem Haus des Vaters bin.

Schon jetzt ist in meinem Kopf das, was in diesem Ort gewesen war, zu etwas geworden, das vergangen ist. Schon jetzt beginnt die Erinnerung. Schon jetzt ist das Vergangenheit, worin ich noch vor einer halben Stunde mit Haut und Haaren gesteckt hatte. Warum spüre ich das jetzt schon? Habe ich hier etwas zu verlieren? Bin ich gerade dabei, hier in diesem Ort etwas Wichtiges zu früh aufzugeben? Ist es etwas, das ich nicht schon jetzt, heute, der Vergangenheit geben möchte? Was ist das, was mich jetzt so wehmütig macht?

Ich glaube es ist die Trauer um meine Familie, die ich in diesem Ort nicht finden konnte und die ich heute der Vergangenheit übergebe. Jetzt, in diesen Sekunden schon, spüre ich Trauer wegen der ich hier minutenlang am Dorfschulhaus stehen bleibe. Jetzt schon beginnt der schmerzliche Abschied, wo ich das Dorf meiner Suche noch nicht einmal ganz verlassen habe.

Ich spüre Schmerzen, obwohl der Vater nicht seinen Gürtel auf meinem Rücken und Hintern spielen lässt. Mein Schmerz kommt von innen. Er steigt langsam in mir auf. Es wird schmerzhafter, je länger ich hier stehe und denke, wie ich denke. Weil ich mein Denken nicht abschalten kann, spüre ich immer mehr Abschiedsschmerz. Es ist meine Trauer über das nicht Gefundene in diesem Ort. Jetzt werden meine Augen nass und ich erkenne mein Schulhaus nur noch schwer. Das alte Dorfschulhaus verschwimmt. An einem dünnen Baumstamm neben der Schulhofmauer, halte ich mich fest, denn ich glaube, ich könnte jetzt umkippen. Mein Herz rast, ich atme tief. Möchte ich doch noch länger hier bleiben?

Nein!

Ich kann jetzt nicht so weiter denken, ich muss aufhören mit dieser frühen Traurigkeit. Sie kommt zu früh, viel zu früh. Jetzt und heute ist der Vater noch sehr dicht hinter mir her. Ich bin noch lange nicht weit genug weg. Ich kann geschnappt und zurückgebracht werden. Mein Leben beim Vater in diesem Dorf ist heute noch nicht meine Vergangenheit. Was in diesem Dorf gestern für mich gewesen war, ist immer noch heute. So muss ich denken! Ich darf lange noch nicht wehmütig träumen. Ich darf lange noch nicht Schmerzen zulassen, wegen meiner Vergangenheit und Familie in diesem Dorf. Es ist noch nicht vergangen. Meine heutige Flucht muss erst noch gelingen.

Es ist gefährlich und sehr leichtsinnig von mir, so lange vor meinem Schulhaus zu stehen. Meine Gedanken und Gefühle vor der Dorfschule hätten mich vielleicht vor einer halben Stunde, in meinem warmen Bett liegen lassen. Vielleicht hätte ich so meinen Fluchtplan ins Wanken gebracht. Hätte ich schon vor eine halben Stunde im Haus des Vaters gespürt und gedacht, was ich jetzt hier vor dem Schulhof spüre und denke, vielleicht wäre dann der nicht umkehrbare Gedanke an meine heutige Flucht zusammengebrochen. Bestimmt wäre ich im warmen Bett im Haus des Vaters liegen geblieben.

Vielleicht hätte ich über diese Minuten, diese Schritte, vorbei am Laden von Frau Maier, dem Dorfplatz, der Dorfkneipe, der Dorfschule, viel genauer nachzudenken gehabt. Vielleicht habe ich noch nicht genug nachgedacht! Vielleicht bin ich doch noch zu klein, um so einen Schritt zu tun. Wie lange muss ein Kind nachdenken, um zu tun was ich heute tue? Wie viele Stunden, Tage, Wochen, Monate müssen es sein? Vielleicht wären Jahre nötig.

Ein ganzes Jahr bin ich beim Vater. Reicht das? Ich weiß es nicht. Vielleicht denke ich zu kurz, zu wenig, zu wenig genau. Warum glaube ich, schon nach einem Jahr, ich hätte genug darüber nachgedacht?

Wahrscheinlich ist alles völlig normal beim Vater und bei der Stiefmutter. Und überhaupt, wie ist das mit den Stiefmüttern? Warum werden sie immer schlecht gemacht, im Märchen wie in Wahrheit? Ich glaube, dass ich Stiefmütter nicht schlecht machen will. Ich glaube ich kann das gar nicht. Ich bin zu klein, um so etwas zu tun. Aber ich weiß, dass diese meine Stiefmutter wirklich schlecht ist. Ich habe das ein Jahr lang erlebt und täglich gespürt.

Obwohl ich nur diese eine, meine schlechte Stiefmutter kenne, denke ich, dass Stiefmütter in Wahrheit gute Mütter sind. Wahrscheinlich gibt es gar keine schlechten Mütter. Denn richtige Mütter und Stiefmütter wollen ihren Kindern Mütter oder Stiefmütter sein, schon deshalb tun sie sicherlich nicht absichtlich Böses.

Bei uns zu Hause ist das, glaube ich, etwas anderes. Ich glaube, dass die Stiefmutter uns gar keine Mutter sein will. Ich glaube sie will nicht mit uns zusammenleben. Deshalb ist sie so, wie sie ist. Sie ist unerträglich. Sie hasst uns. Im Haus des Vaters spüre ich den Hass der Stiefmutter täglich. Nur wer mich hasst, kann mich ansehen wie diese Stiefmutter. Es kann nur Hass sein, der diese Stiefmutter dazu brachte, auf mir herumzutrampeln, wie sie es täglich getan hatte.

Ich glaube das. Ich bin mir aber nicht sicher, ob es nicht vielleicht normal ist. Vielleicht ist es einfach das normale Leben, das ich noch zu wenig kenne. Vielleicht muss es so sein, wie es hier ist, wenn man ein Kind ist. Vielleicht ist es normal so, wie ich es im Haus des Vaters täglich erlebe. Das alles ist vielleicht nicht so schlimm, wie ich es finde. Die schmerzlichen Schläge, das Schreien, das Weinen, es gehört täglich dazu, zu meinem Kinderleben.

Ich will es aber anders! Aber was soll das? Was du willst, ist nicht das Leben! Warum willst du das anders? Warum läufst du heute davon? Das geht nicht Freundchen! Hiergeblieben Kleiner! Jetzt habe ich wieder im Ohr, wie die Stiefmutter schreit:

“Du warts’t jetzt in dei’m Zimmer bis Abends dei Vadder kummt! Der wird’s da scho zoing!”

Das ist mein Kinderleben. Es ist nicht schlimm! Es gibt viel Schlimmeres! Was willst du denn? Dir geht es doch nicht schlecht! Millionen Kindern geht es viel schlechter! Die Welt ist riesig, das hatte ich auf den Landkarten in der Dorfschule gesehen. Da muss es unzählige Kinder geben, denen es viel dreckiger geht als mir.

Was jammerst du also so? Warum morgens um Fünf auf die Dorfstraße? Warum Flucht, wo es noch viel, viel Grauenvolleres gibt als diese Stiefmutter und mein Leben beim Vater?

Nein!

Das alles mag stimmen, aber daran zu denken darf jetzt nicht sein! Es darf nicht länger so bleiben, dass ich jeden Tag, den ich bei Vater und Stiefmutter lebe, daran denke und arbeite, an einem Tag wie heute zu fliehen. Dieser Tag ist nach einem Jahr gekommen. Der Tag ist heute. Ich darf nicht denken, dass ich doch noch bleiben sollte. Das hätte keinen Sinn, denn ich würde, wenn ich bliebe nur wieder ständig an die Flucht denken. Der Tag ist wirklich heute! So muss ich denken! Der Tag heute ist gut, es ist der beste Tag für meine Flucht. So denke ich ab jetzt!

5. Unser Versteck

Von der Dorfschule laufe ich jetzt schnell weiter. Aber schon nach wenigen Schritten bleibe ich wieder stehen. Ich sehe hinüber zu unserem Versteck. Es liegt hinter dem alten Gemäuer. Es ist eine alte Scheune. Sie liegt zwischen dem stillgelegten Freibad und dem Schulhaus. Vielleicht werde ich mich nie mehr dort oben auf dem morschen Dachboden, zwischen einem Haufen alter Bretter und vergessenen Strohballen verstecken. Langsam gehe ich weiter, fast normal gehe ich, gemächlich. Doch ich kann nicht munter pfeifen. Ich mache hier keinen Spaziergang. Ich sehe über die Backsteinmauer zur verlassenen Scheune. Gerne würde ich mich da oben hineinlegen und noch etwas schlafen. Nach der kurzen Anstrengung die Dorfstraße hinauf, bin ich jetzt sehr müde.

Die Scheune ist ein Platz den ich vermissen werde. Um die Scheune hatten wir Geschwister viel gespielt. Vor der Scheune hatten wir uns nachmittags oft mit anderen Kindern aus dem Dorf getroffen. Oben in der Scheune hatten wir uns vor der lärmenden Stiefmutter versteckt, wenn wir es mussten. Das mussten wir oft. Unser Versteck in der Scheune hatten wir vor der Stiefmutter geheim gehalten. Weil sie das Versteck nicht gekannt hatte, fühlten wir uns dort vor ihr sicher. Da hatten wir unsere gestohlenen Kaugummis gelagert, weil sie Zuhause zu schnell entdeckt worden wären.

Zuhause gibt es keinen Platz, den die Stiefmutter oder der Vater nicht regelmäßig durchstöbern. Misstrauisch durchsucht die Stiefmutter alle Schränke im Kinderzimmer, sie sucht unter unseren Matratzen. Was sie dort sucht, weiß ich nicht. Ihr traut keines meiner Geschwister, auch ich misstraue ihr. Deshalb ist es viel zu gefährlich Kaugummis in den Hosentaschen zu lassen. Die Stiefmutter würde sie sicherlich finden. Sie würde uns nicht einmal fragen, ob sie gestohlen sind. Stattdessen schlägt sie sofort zu. Wir bekommen kein Taschengeld, deshalb können wir nichts kaufen und deshalb ist klar, dass Kaugummis in unseren Hosentaschen gestohlen sein müssen.

Oben in der hohen Scheune hatte ich mit Christian zusammen meine ersten Zigaretten geraucht. Auch die waren gestohlen. Wo Christian sie gestohlen hatte, weiß ich nicht. Wenn wir nachmittags geraucht hatten, durfte die Stiefmutter davon niemals erfahren. Für uns hätte das eine unvorstellbare Katastrophe bedeutet. Trotzdem waren wir oft in unserem Versteck gewesen um dort zu rauchen. Wegen des Geruchs in unseren Mündern hatten wir auch die gestohlenen Kaugummis gebraucht.

Von der Scheune aus hatten wir beinahe jeden Nachmittag unser Schulhaus genau beobachtet. Dabei rauchten wir die Zigaretten. Unser Blick war täglich von da oben hinüber gewandert, über die große Wiese und den Schulhof, bis hinein in die helle Turnhalle. Dort übte nachmittags eine Kindertheatergruppe. Ich hatte keine Lust mitzuspielen. Die Nachmittage verbrachte ich lieber in der Scheune. Ich brauchte die paar wenigen Stunden. Ich brauchte die kurze Zeit und die Ruhe um unbeobachtet von der Stiefmutter zu sein.

Von der Scheune aus hatten wir auch die Bibelgruppe oft beobachtet. Nachmittags um drei Uhr hatte sie sich immer getroffen. Singende Kinder im Stuhlkreis waren in einem großen, hellen Klassenzimmer mit hohen Fenstern versammelt. Zwei Gruppenleiter hatten mit ihnen gesungen und gespielt. Nur einmal hatten Matthias und ich dort mitgesungen, es war in den ersten Wochen nachdem wir in das Dorf gezogen waren.

Wir hatten die Stiefmutter erst zwei Monate zuvor kennen gelernt und wir hatten ihr noch ein wenig vertraut. Deshalb hatten wir abends einfach von der spielenden Kindergruppe erzählt. Wir waren begeistert gewesen von den Kindern, die wir im Stuhlkreis kennen gelernt hatten. Die Gruppenleiter, das Spielen und das Singen im Kreis hatte uns Spaß gemacht.

Ich glaube, die Stiefmutter und der Vater hatten das nicht recht verstanden. Warum sonst hätten wir nicht mehr hingehen dürfen, wo es uns so gut gefallen hatte, wo wir Spaß hatten, wo wir Kinder aus unserem neuen Dorf kennen gelernt hatten? Das kann nicht der Grund gewesen sein, warum uns die Stiefmutter diese Gruppe einfach verboten hatte. Die Stiefmutter hatte keinen Grund genannt, auch der Vater nicht. Warum wir nicht wieder dort hin gehen durften, verstehe ich heute immer noch nicht. Zuhause hatten wir nie mehr über diese Gruppe gesprochen.

Ich fand das nicht so schlimm, denn ich hatte ja unser Versteck in der Scheune gefunden. Ich gewöhnte mich schnell an diesen Platz. Oft hatte ich mich dort auch alleine aufgehalten, wenn Christian im Konfirmandenunterricht war. In der Scheune hatte ich Zeit zu beobachten, was rund um die Dorfschule geschah.

Das Wichtigere aber war, dass ich in ihr die Ruhe gefunden hatte, um nachzudenken. Im Versteck in der Scheune hatte ich zum ersten Mal gespürt, dass ich die Aufgabe hatte, über mein Kinderleben nachzudenken. Ich hatte da oben zwischen den alten Strohballen die Ruhe gefunden, Gedanken zuzulassen, die im Laufe der Monate von selbst gekommen waren. Die sagten mir, dass etwas geschehen müsse. Dort oben zwischen den Strohballen hatte ich begonnen, den Fluchtplan des heutigen Tages zu schmieden.

Der Gedanke an die heutige Flucht war nicht sofort da gewesen. Der Gedanke war sehr langsam entstanden, er entwickelte sich über viele Tage, Wochen, Monate.

Wie war der Nachmittag in der alten Scheune gewesen, woran hatte ich an diesem Nachmittag gedacht, damit der Fluchtplan im meinem Kopf langsam in Gang kommen konnte? Wie kam die Idee langsam in meinen Kopf hinein, dass ich heute das Haus von Vater und Stiefmutter verlassen würde?

An diesem Nachmittag sitze ich oben in der Scheune auf einem alten Holzbrett, das rechts und links auf zwei Strohballen lagert. Ich sitze angelehnt an einer Bretterwand. Es ist November. In der Scheune ist es eisig kalt. Ich friere noch nicht, denn ich sitze noch nicht lange dort. Unten sehe ich das alte Schwimmbecken. Obwohl es so eisig kalt ist, denke ich daran, wie schön es wäre, in dieser Scheune zu wohnen.

Das alte Freibad vor der Scheune ist zugefroren. Ich könnte, wenn ich hier wohnte, jeden Tag darauf Schlittschuhlaufen. Wenn ich Schlittschuhe hätte, wäre das die Gelegenheit, um das Eislaufen so gut zu lernen, wie es die Kinder in meiner alten Schule beherrscht hatten. Ich könnte jeden Tag so lange üben, wie ich dazu Lust hätte. Es würden keine Kinder am Rand stehen, die sich lustig machten, wenn ich mal stürzte. Es wäre eine tolle Sache, denn hier könnte ich das Schlittschuhlaufen so gut lernen, dass ich in dem Eisstadion, in dem oberbayerischen Gebirgsort, wo meine alte Schule liegt, wieder auftauchen könnte. Dann könnte ich sogar in der Eishockeymannschaft mitspielen. Die übliche Show, die wir in dem Gebirgsort auf dem Eisplatz wegen der Mädchen abgezogen hatten, könnte ich mir hier, vor meiner Scheune, sparen weil ja keine Mädchen da wären. Hier könnte ich in Ruhe so lange das Eislaufen üben, bis ich so gut Eislaufen kann, dass ich den Mädchen überhaupt nichts mehr vorzumachen brauchte. Die würden schon von selbst sehen, dass ich auch so ein toller Schlittschuhläufer geworden bin, wie die anderen Kinder in meiner alten Schulklasse.

Ich glaube, so hatte es begonnen, mit meinen Gedanken in der Scheune. Jeden Tag war etwas mehr dazugekommen. Mein Denken entfernte sich so mit jedem Tag ein Stück mehr von diesem Dorf.

Vater und Stiefmutter erlauben mir nicht, Schlittschuh zu laufen. Das gibt es bei denen nicht. Das Geld dafür fehlt. Schlittschuhe kosten zu viel. Jeden Tag arbeitet der Vater zwar lange in der Fabrik, aber ich glaube, trotz seiner schweren Fabrikarbeit, verdient er fast nichts. Es reicht gerade für Essen, Trinken, Kleidung und unser altes Haus. Ich glaube, wir vier Kinder sind zu teuer für das wenige Geld, das der Vater in der Fabrik verdient. Die Stiefmutter hat kein Geld. Sie verdient nichts. Sie ist jeden Tag zu Hause.

6. Aus dem Dorf

Ich löse meinen Blick von der alten Scheune. Ich tue es ungern, aber es muss sein. Ich muss weiter fort von hier. Meine Schritte höre ich. Sie werden schneller. Die Schuhe sind immer noch nicht gebunden. Ich höre die offenen Schuhbänder, sie klackern wieder.

Rechts kommt jetzt schon die Raiffeisensparkasse. Gegenüber liegt das Haus, in dem Peter wohnt. Peter ist ein Spielkamerad. Seine Eltern sind Bauern. Sie stellen eigenen Apfelsaft her, den sie uns anbieten, wenn wir Peter besuchen. Rund um die Scheune und im Garten von Peter hatten wir oft getobt, wir spielten Fangen und Verstecken. Viele Nachmittage hatten wir bei Peter verbracht. Zu seinem Geburtstag hatte er von seinen Eltern ein richtiges Indianerzelt geschenkt bekommen. Beim Cowboy-und-Indianerspiel hatten wir viel Spaß mit Peter.

Für uns ist Peter ein toller Spielkamerad. Er hat Spielsachen, von denen wir nur träumen. Seine Eltern freuen sich, wenn meine Geschwister und ich zu Besuch kommen. Die Stiefmutter und der Vater wissen davon nichts. Zu Hause erzählen wir fast nichts mehr. Sicherlich würden sie uns unseren Freund Peter verbieten, genauso wie die Bibelgruppe.

Ich glaube, Peter geht es gut. Sein Vater arbeitet auch sehr viel und sehr lange, jeden Tag. Aber er schreit nicht so viel und schlägt nicht so wie meiner. Ich glaube, er spricht viel mit Peter. Einmal hatte ich sie miteinander reden hören. Das Wetter war sehr schlecht und Peters Vater war deshalb schon früh von der Feldarbeit nach Hause gekommen. Peters Vater hatte gesagt: “Hallo Peter! War’s schön heute in der Schule?” Ich hatte meine Jacke übergezogen und war schon durch die Haustür hinaus, als ich Peters Vater noch fragen hörte: “Wie wär’s, wenn wir nachher eine Runde Karten spielen?” Peter hatte gelacht und etwas geantwortet, das ich nicht mehr verstand, weil die Haustür bereits zugefallen war.

Solche Worte spricht mein Vater abends nicht. Er spricht mit der Stiefmutter. Sie erzählt ihm alles. Sie erzählt dem Vater, was wir Geschwister tagsüber wieder alles schlecht gemacht hatten. Sie erzählt dem Vater abends immer so schlechte Sachen von uns, dass der Vater mit einem oder zweien von uns ins Kinderzimmer geht, dort seinen Gürtel aus der Hose löst und auf uns einschlägt.

Endlich verlasse ich jetzt unser Dorf. Die Glocke der Dorfkirche schlägt einmal. Es ist also Viertel nach fünf Uhr. Die Dorfstraße verläuft nun in einem weiten Bogen nach links. Sie führt leicht bergab und stößt in Sichtweite auf die breite Landstraße. Die führt auf einen kleinen Hügel und durch einen Wald. Da muss ich so schnell wie möglich hin, denn dort kann ich die Landstraße wieder verlassen. Es gibt einen schmalen Waldweg, der nach rechts abgeht. Auf ihm sind Autos verboten, der Vater darf dort mit seinem Käfer nicht fahren.

Auf der Landstraße kann jederzeit ein Auto vorbeikommen. Wenn mich da ein Autofahrer sieht um diese Uhrzeit, ich glaube, das könnte sehr gefährlich für mich werden. Ich glaube, ein Erwachsener hinter einem Lenkrad, um diese frühe Tageszeit auf der Landstraße, würde wegen mir anhalten. Es müsste nicht einmal der Vater sein. Ein Zehnjähriger hat um diese Zeit nichts auf der Landstraße zu suchen, zumindest nicht allein, wie ich es bin. Das könnte das Ende sein.

Weil ich weiß, dass ich etwas tue, das Erwachsene deshalb aufmerksam macht, weil es verboten ist, fange ich schon wieder an zu zittern. Deshalb renne ich jetzt. Jetzt ist es mir egal, denn die Häuser des Dorfes liegen hinter mir. Bauernhäuser durch deren Fenster ich vielleicht beobachtet werde, sehe ich jetzt nicht mehr. Links und rechts sehe ich Wiesen, Bäume und Felder. Meine Schuhbänder schlagen ganz wild gegen meine Hose und die Schuhe. Ich achte jetzt sehr darauf, denn ich will nicht stolpern.

Das Ortsendeschild liegt hinter mir. Es muss hinter mir liegen, ich muss es wegen meiner offenen Schuhbänder übersehen haben. Jetzt ist es vorbei mit meinem Dorf. Vielleicht komme ich nicht wieder zurück. Vielleicht sehe ich unser altes Bauernhaus mit den schiefen Wänden nie wieder. Das ist unvorstellbar.

II. Unterwegs zur Stadt

1. Am Waldrand

In meinem Kopf erscheint jetzt ein Bild. Ich erkenne mich in unserem alten Haus. In unserem Schlafzimmer ist es eiskalt. Es gibt dort keine Heizung. An den schiefen, grauen Wänden sehe ich die vielen Risse. Der Putz an der Decke ist brüchig. Ich werde den knarrenden Holzboden in dem Zimmer nie vergessen. Ich erkenne ihn ganz dicht vor meinen Augen. Ich sehe Tausende kleiner Risse in dem abgewetzten braunen Holz. Ich sehe kleine Staubfusseln, Haare und winzige Körnchen, die sich in den winzigen Ritzen des Holzbodens festkrallen. Mein Kopf hängt nur Zentimeter über diesem Boden. Bei jedem Schlag hebe ich ihn leicht an und sehe dann die gleichen Haare, die gleichen, feinen Körnchen, die gleichen Fussel auf dem rissigen Boden. Nach drei schnellen Schlägen sehe ich die Härchen, Staubkörnchen und Fussel kurz kleiner werden, dann werden sie sofort wieder größer. Jetzt, nach dem fünften heftigen Schlag, verschwimmen sie. Bei jedem Schlag hebe ich weiterhin den Kopf, aber ich erkenne jetzt kein einziges Haar oder Körnchen mehr. Ich sehe nur noch etwas Verschwommenes, etwas Braunes. Es ist der Zimmerfußboden.

Jetzt darf ich wieder aufstehen von dem Stuhl, auf dem ich liege. Tränen spüre ich in meinem Gesicht, sie laufen über meine Backen, erreichen meine Lippen. Sie schmecken salzig. Ich erkenne die Umrisse des Vaters vor mir. Er hat den Gürtel schon wieder in seiner Hose. Er zieht ihn und die Hose noch einmal zurecht. Sein Gesicht kann ich nicht erkennen, denn meinen Kopf lasse ich herunter hängen. Jetzt dreht sich der Vater um. Ich sehe seine dunkelbraune Cordhose, in der sein brauner Ledergürtel steckt. Er geht zur Tür, hinaus auf den Korridor.

Jetzt sehe das Zimmer, den braunen Boden, den grünen Stuhl, das weiße, dicke Bettzeug auf unseren drei Betten. Sie stehen nebeneinander aufgereiht. Ich glaube, es ist nicht möglich, das zu vergessen.

Ich muss ganz schnell da oben am Waldrand sein. Ich renne auf dieser gefährlichen Landstraße. Ich höre kein Motorengeräusch. Kein Auto nähert sich. Plötzlich höre ich ein lautes Geräusch! Es ist kein lauter Motor. Es kommt aus dem Wald. Es ist ein lautes Schreien. Regungslos stehe ich am Straßenrand. Ich denke nichts. Ich denke nicht daran, schnell weiter zu laufen. Ich denke nicht an den Vater und die Stiefmutter, vor denen ich fliehe. Sekundenlang kann ich gar nicht denken. Erschrocken stehe ich am Straßenrand. Ich kenne dieses laute Geräusch nicht. Es war laut und heftig, es kam aus dem nahen Wald. Da ist es schon wieder! Laut, es ist ein Schreien aus dem Wald. Ich höre sogar ein Echo. Ich darf hier nicht stehen! Jetzt gehe ich langsam wieder los. Mein Erschrecken löst sich auf. Jetzt kommt schnelles Herzklopfen, Zittern und Schwitzen. Ich kann wieder denken, deshalb kann ich jetzt wieder laufen. Schneller und schneller werde ich. Es muss mir egal sein, welches Geräusch da aus dem Wald kommt. Ich darf mich von meiner Angst, weil ich das nicht kenne, nicht aufhalten lassen. Ich muss weg von dieser gefährlichen Straße, weil jederzeit ein Wagen hier fahren kann. Mein Denken ist wieder da, das hilft mir dabei, noch etwas schneller zu werden. Wieder höre ich die Schreie aus dem Wald. Aber jetzt laufe ich weiter. Ich erschrecke nicht mehr. Ein Wildschwein muss es sein! Jawohl! Das ist es, das ist die Erklärung. Das Wildschwein hat mit mir nichts zu tun, es will nichts von mir, es will mir nichts Böses. Ich darf hier auf der Straße schnell weiterrennen. Das Wildschwein im Wald meint nicht mich mit seinen lauten Schreien. Es soll mich nicht von meinem Weg abbringen. Gut, dass mir einfällt, dass es ein Wildschwein ist, das da schreit.

Endlich erreiche ich den Waldweg. Aus dem Wald steigt Nebel auf. Das Wetter ist heute sehr klar. Noch ist es kühl, aber ich glaube, wenn ich hinter dem Wald wieder herauskomme, muss die Sonne schon zu sehen sein und dann wird es wärmer werden.

Meine Schuhe sind jetzt sehr weit geöffnet. Sie halten nicht mehr fest an meinen Füßen, sie hängen wie Schlappen an ihnen. Ich könnte schneller laufen, wenn sie gebunden wären. Aber ich will es noch nicht riskieren. Lieber noch nicht, lieber erst, wenn ich auf dem Waldweg ein Stück vorwärts gekommen bin. Die Landstraße ist immer noch sehr gefährlich, ein Autofahrer könnte mich von ihr aus noch sehen.

Mir ist sehr warm, obwohl die Luft kühl ist. Ich schwitze. Soll ich die Jacke wieder ausziehen? Nein, lieber nicht! Das mache ich auch erst, wenn ich von der Straße weit genug weg bin.

Das erste Ziel habe ich jetzt erreicht. Auf diesem Waldweg bin ich schon sicher. Kann ich mich hier schon sicher fühlen? Ist er wirklich bereits ein erstes Ziel? Was ist eigentlich mein Ziel? Was wünsche ich mir überhaupt? Ist es ein schönes Kinderleben? Ich glaube nein. Ich glaube, ich möchte nur einen erträglichen Platz für mein Leben finden. Ein erträgliches Kinderleben würde mir reichen. So wie ich es mir in der Scheune ausgemalt hatte. Das könnte mein Wunsch sein.

In der Scheune hatte ich mir einen Rahmen ausgemalt, in dem ich in Ruhe gelassen werde. Ein Rahmen ohne Angst davor, dass ein Erwachsener wie die Stiefmutter kommt. Ohne Angst vor dem Vater, der es uns wieder zeigen soll. Ohne meine ständige Angst und ohne das Schlagen, so wäre es erträglich, Kind zu sein. Das würde mir schon reichen, das wäre schön. Ein schönes Kinderleben. Mehr fällt mir dazu nicht ein.

Vielleicht suche ich das Gegenteil, von meiner jetzigen Welt. Nein. Nicht das Gegenteil, ich glaube ich suche einfach nur einen anderen Teil meiner jetzigen Welt.

Meine jetzige Welt ist eine Welt mit einem Kleinen, in einem kleinen Dorf, bei Stiefmutter und Vater. Die Stiefmutter und der Vater denken, dass ich, der Kleine nur diese winzige Welt, in der sie mich halten, brauche. Sie reicht mir, denken sie. Sie fragen sich: Was soll ein Kleiner schon brauchen? Es ist doch nur ein Kleiner, der nichts anderes kennt als die kleine Welt in seinem Dorf. Und jetzt, wo er noch so klein ist, braucht er auch nichts Anderes.

Aber die Stiefmutter und der Vater wissen nicht, dass er kleine Träume hat. Er träumt in seinem Versteck in der alten Scheune, er träumt morgens auf dem Schulweg, während des Unterrichts, beim Mittagessen, am Tisch der Stiefmutter, auf dem Weg zum Zigarettenkaufen für die Stiefmutter. Der Kleine träumt auf dem Bürgersteig vor dem alten Haus, den er jeden Samstagvormittag mit dem Reisigbesen sauber fegt. Er träumt beim Kehren auf dem braunen Holzfußboden im Kinderzimmer, und manchmal träumt er sogar, während der Vater mit seinem braunen Ledergürtel zu einem kräftigen Schlag ausholt.

Lange Zeit kann sich der Kleine den Inhalt seiner vielen Träume nicht erklären. Er weiß nach den Träumen immer nur, dass er von einem anderen Leben geträumt hatte. Wie dieses Leben ist, das er da träumt, weiß er aber nicht. Er weiß nicht, ob er das, wovon er da träumt, in sein Denken einbeziehen darf. Eines Tages, der Kleine sitz oben in seinem Versteck in der kalten Scheune, merkt er, dass er immer bevor er mit dem Träumen beginnt, an etwas denkt, das bei Stiefmutter und Vater ganz schrecklich ist. Seit diesem Tag geht sein denken immer weiter hinein in die Träume. Eines Tages wird ihm so, in seiner Scheune klar, dass es nichts nützt, nur zu träumen. Tage später träumt der Kleine tagsüber nicht mehr. Anstatt zu träumen, denkt er. Er denkt über sein Leben bei der Stiefmutter nach. Er träumt nur noch nachts in seinem Bett, aber auch dort wird sein Träumen immer weniger. Bald träumt er auch nachts nicht mehr. Bald kann er kaum mehr schlafen, weder tags noch nachts, weil er so viel denkt. Zu sehr beschäftigt ihn sein Denken über sein Leben bei Stiefmutter und Vater.

Der Kleine hat aber kein klares Ziel vor Augen. Er weiß nur, dass etwas anders werden muss. Der Grund ist, dass es bei Stiefmutter und Vater so ist, wie es ist.

Eines Tages geschieht mit dem Kleinen etwas. Es ist der heutige Tag. Der Kleine macht sich auf den Weg. Er tut das, obwohl er überhaupt nicht genau weiß wohin ihn sein Weg führen wird. Der Kleine betritt einen unbekannten Weg, der ihn vielleicht in eine andere Welt führen wird. Er möchte zu einem Platz kommen, an dem es für ihn anders ist, als bei der Stiefmutter und dem Vater. Der Kleine tut heute etwas, das sich Stiefmutter und Vater nicht vorstellen können.

In meinem Kopf sehe ich jetzt noch ein anderes Bild von mir: Ich bin nicht mehr der Kleine. Ich stehe auf dem Gehsteig gegenüber unserem alten Haus. Nein, das bin ja gar nicht ich. Ich sehe doch ganz anders aus! Doch, ich glaube, ich bin es. Aber ich bin nicht mehr der, der ich heute bin. Ich bin nicht mehr der Kleine. Ich bin jemand anderer. Ich bin groß und erwachsen. In diesem Bild bin ich unser erwachsener Nachbar auf der anderen Straßenseite. Ich blicke hinüber, über die kleine Dorfstraße mit den schmutzigen Treckerspuren. Es ist Samstag und meinen Gehsteig habe ich heute Vormittag sauber gekehrt. Auf der Dorfstraße sieht also alles normal aus. Trotzdem bleibe ich kurz stehen, auf dem gekehrten Bürgersteig, denn ich habe gerade laute Schreie von Kindern gehört. Sie kamen aus dem Haus gegenüber. Von dort habe ich schon oft diese lauten Kinderschreie gehört, täglich. Ich höre Weinen, Röcheln, dann Schluchzen, dann wieder lautes Schreien. Ich gehe weiter auf dem gefegten Bürgersteig. Nach links will ich, die Dorfstraße hinauf. Ich will in die Dorfkneipe. Ich will zu meinem Stammtisch, dort will ich ein Bier trinken. Die Kinderschreie höre ich jetzt nicht mehr, zu weit bin ich schon von dem Haus entfernt. Ich habe mir diese Schreie nicht eingebildet. Sie gehören zu meinem Alltag in meinem Dorf. Sie gehören dazu, wie das Schlagen der Kirchturmuhr. Trotzdem kommt es manchmal vor, dass ich wegen dieser Schreie auf dem Bürgersteig stehen bleibe. Dann frage ich mich kurz: warum wegen etwas Alltäglichem auf dem Bürgersteig stehen bleiben? Dann gehe ich weiter und denke: Es gibt einen Grund für diese Schreie, und weil es diesen Grund gibt, habe ich keinen Grund auf dem Bürgersteig wegen der Schreie stehen zu bleiben. Böse Kinder! Freche Kinder! Genau das ist es! Es sind freche Kinder, die ich da täglich schreien höre. Zucht und Ordnung braucht mein Land, braucht mein Dorf! Genauso denke ich. Deshalb ist alles in Ordnung in meinem Dorf. Deshalb höre ich jeden Tag diese Kinderschreie. Ich betrete meine Kneipe und setze mich an den Tresen. Das Fernsehen sendet heute die Fußballweltmeisterschaft. Ich bestelle beim Wirt ein Bier und blicke gebannt auf den Fernsehbildschirm über dem Tresen. Hoffentlich wird die deutsche Mannschaft Fußballweltmeister. Daran denke ich, darüber rede ich in meiner Kneipe, das ist Thema in meinem Dorf.

2. Auf dem Schotterweg

Lautes Knirschen. Es ist ein schmaler Schotterweg auf dem ich jetzt gehe. Meine Schuhe, immer noch nicht gebunden, schleifen wie Schlappen über diesen hellen Schotter. Jetzt ist es Zeit, die Schuhe zu binden. Ich bleibe stehen. Ich bücke mich. Ich höre auf meinen tiefen Atem. Ich atme schnell, fast hastig. Meine Luftzüge sind lang und tief. Sie sind unregelmäßig. Jetzt werden sie schnell und kurz.

Ich spüre den Schweiß auf meinen Armen. Er läuft an ihnen hinunter. Es ist viel Schweiß. Er läuft bis zu meinen Händen hinunter, mit denen ich die Schuhbänder zusammenbinde. Meine feuchten Hände fummeln hastig, nervös an den braunen Schuhbändern herum. Es will mir nicht gelingen, den rechten Schuh zu binden. Jetzt wird es ein Knoten. Ich drehe mich um, ich sehe nach hinten. Da sehe ich den menschenleeren Schotterweg. Es verfolgt mich niemand. Also setze ich mich auf den hellen Schotter. Der Knoten muss wieder weg. Es muss eine feste Schleife werden. Ich sitze, schaue noch mal auf den zurückliegenden Weg. Der bleibt menschenleer. Ich pule den Knoten auf. Alles ist feucht von meinem Schweiß. Endlich löst sich das feuchte Schuhband. Ich zittere und schwitze. Ich muss mich zusammennehmen. Ich versuche es, und konzentriere mich auf meine Hände. Jetzt werden die Hände etwas ruhiger. Sie zittern schwächer. Jetzt erinnere ich mich daran, wie ich vor Jahren, als ich noch ganz klein war, das Schuhbinden gelernt hatte. Genauso, wie ich es damals im oberbayerischen Gebirgsort, mit fünf Jahren, gelernt hatte, will ich es jetzt versuchen. Ganz langsam wickle ich das Schuhband um meine dünnen, nervösen Finger. Genauso wie damals schnüre ich das Schuhband jetzt ganz langsam zusammen. Ich erinnere mich daran, was mir eine Erzieherin damals gesagt hatte, nachdem sie mir das Schuhbinden beigebracht hatte: “Nur keine Eile beim Schuhbinden. Mach die Schlaufe ganz langsam. Du kommst schon rechtzeitig hinaus zum Spielen. Du kannst gleich losrennen, nach draußen auf den Hof. Aber jetzt musst du noch ruhig sitzen und eine ordentliche, feste Schleife machen, sonst löst sich die Schleife gleich wieder und du kannst draußen nicht lange herumspringen, weil du deinen Schuh verlierst. Dann musst du mit der Schlaufe wieder neu anfangen. Oder es wird ein Knoten!”

Die Erzieherin im oberbayerischen Gebirgsort hatte Recht. Schuhbinden funktioniert nicht, wenn man dabei zappelig von einem Bein aufs andere springt oder zittert, wie ich es jetzt tue. Es funktioniert auch nicht, wenn man mit verschwitzten Händen aufgeregt an den Bändern fummelt und sich ständig umblickt ob ein Mensch sich nähert. Deshalb schaue ich jetzt genau auf das Schuhband. Meine Hände zittern kaum. Endlich schaffe ich es. Die beiden Schleifen sind gebunden.

Ich marschiere weiter. Jetzt höre ich die Vögel zwitschern. Vielleicht stehen sie gerade auf. Die Steinchen unter den Schuhen knirschen laut. Meine Schuhe schleifen nicht mehr. Wieder werde ich schneller und schneller. Ich bin ja noch nicht sehr weit weg von zu Hause. Es sind höchstens zwanzig Minuten, seit ich das alte Haus verlassen habe.

Ich kenne den schmalen Schotterweg nicht. Hier bin ich noch nie gegangen. Nur den Anfang dieses Weges in der Kurve an der Landstraße im Wald kenne ich. Ich hatte ihn schon oft gesehen, vom Autofenster aus. Oft waren wir Geschwister Samstagvormittags auf der Landstraße mit dem Vater im weißen Käfer unterwegs gewesen in die Stadt. Wir hatten Einkäufe für die Familie zu erledigen. Dieser Schotterweg hatte lange schon zu meinem geplanten Fluchtweg gehört.

Ich schaue jetzt noch mal zurück. Kein Mensch folgt mir. Die bekannte Landstraße liegt schon weit zurück. Die bekannten Wege sind nun vorbei. Mein schon viele Monate alter Fluchtplan beginnt jetzt, hier auf diesem Schotterweg, mit dem unbekannten Teil. Bis hier kenne ich die Landschaft genau. Jetzt kommen unbekannte Wiesen, Felder, Bäume, Sträucher, Wege. Jetzt tauche ich ein in das Unbekannte. Der Weg ist mir fremd.

Ich muss hier gehen. Auf der bekannten Landstraße ist es zu gefährlich. Ich kenne die Richtung zur Stadt. Ich glaube, wenn ich immer in diese Richtung gehe, muss die Stadt irgendwann vor mir auftauchen.

Als ich das erste Mal von Zuhause weggelaufen war, lief ich nicht allein wie heute. Matthias war mitgekommen. Nach der Schule waren wir nicht nach Hause gegangen. Es hatte Zeugnisse gegeben und unsere Noten waren sehr schlecht gewesen. Deshalb hatten wir viel Angst vor der Stiefmutter, an die ich vormittags in der Schule die ganze Zeit gedacht hatte. Ich hatte sie in meinem Kopf, ich sah sie, wie sie zu Hause auf uns und unsere schlechten Schulzeugnisse wartete. Auch an den Vater hatte ich vormittags ängstlich gedacht. Ich hatte ihn in meinem Kopf, ich sah, wie ihm abends die Stiefmutter unsere schlechten Zeugnisse zeigte. Ich hatte Angst vor Stiefmutters festen Ohrfeigen und vor ihrem Schreien: “Jetzt wirds dir dei Vadder scho zoing!” In der Schulpause hatte ich mich mit Matthias auf der Toilette kurz abgesprochen. Wegen unserer Angst hatten wir entschieden, dass wir nach der Schule abhauen werden. Wir waren, genauso wie ich es gerade hinter mir habe, die Dorfstraße entlang bis zur breiten Landstraße gelaufen. Auf der waren wir geblieben, weil wir wussten, dass sie in die Stadt führt. Wir waren nicht in diesen Schotterweg abgebogen, denn wir hatten Angst davor, uns zu verlaufen. Damals hatten wir nicht gewagt zu tun, was ich heute tue. Einen unbekannten Weg zu betreten. So etwas zu tun hatten wir nicht in unseren Kinderköpfen.

Am Rand der Landstraße waren wir ungefähr zwei Stunden lang unterwegs gewesen. Immer wieder hatten sich vorbeifahrende Autofahrer nach uns umgesehen. Ich glaube wir fielen ihnen auf, weil wir unsere Schulranzen auf unseren Rücken getragen hatten. Zwei kleine Buben mit Schulranzen, nachmittags alleine auf der Landstraße, unterwegs Richtung Stadt! Ich hatte zwar die Blicke der unbekannten Käferfahrer hinter ihren Windschutzscheiben gesehen, trotzdem hatte ich nicht daran gedacht, dass auch der Vater dabei sein könnte. Ich hatte mich um die Männer in den Autos einfach nicht gekümmert. Ich hatte immer nach vorne geschaut, Richtung Stadt. Dabei hatte ich an die schlechten Schulnoten auf meinem Zeugnis in meinem hellbraunen Schulranzen auf meinem Rücken gedacht. Mein Bruder war seit zwei Stunden dicht hinter mir am Straßenrand gelaufen.

Plötzlich hatte auf der anderen Straßenseite ein weißer Käfer gehalten. Er war aus der Stadt gekommen. Ich erkannte sofort, wer da hinter dem Steuer saß.

Heute noch sehe ich den Vater vor mir, wie er am Straßenrand auf uns zukommt: Sein Gesicht ist verzerrt. Ich sehe viele Falten. Es ist Wut, die ich in seinem Gesicht erkenne. Der Vater knallt die Käfertüre kraftvoll zu. Er bleibt noch dicht am Käfer stehen, wegen dem Verkehr auf der Straße. Er dreht seinen schwarzhaarigen Kopf nach rechts und links um und sieht, dass noch ein Auto kommt. Er lässt das Auto vorbei und rennt, kaum dass es vorüber ist, über die Straße. Schnell kommt er auf mich zu. Seine gekämmten schwarzen Haare fliegen im Laufschritt auf und ab. Sein Schritt ist schnell und schwer. Er trägt wieder eine dunkelbraune Cordhose. Seine breiten Hosenbeine schlagen heftig gegeneinander. Seine großen, schwarzen Schuhe sehe ich jetzt. Seine Füße sind leicht nach außen gekehrt. So trampelt der Vater am Straßenrand schnell auf mich zu. Dicht vor mir bleibt er stehen. Der Vater ist riesengroß. Sein Faltiges Gesicht ist rot vor Wut.

Ich stehe erstarrt vor dem Vater. Keine Bewegung, kein Wort. Ich zittere und mir ist heiß. Mein Erschrecken vor dem Vater hört nicht auf. Ich kann nicht denken. Ich sehe den Vater am Straßenrand dicht vor mir. Jetzt reißt er seinen Mund weit auf. Er schreit mich an, aber ich höre nicht, was er sagt. In seinem Gesicht sehe ich seinen Zorn und seine Wut. Jetzt kommt er noch näher. Blitzschnell hebt er die große, rechte Hand. Ich bleibe immer noch wie erstarrt. Keine Bewegung. Ich bin versteinert. Vaters Hand trifft mein Ohr. Heftig kommt ein zweiter Schlag. Wieder trifft er mein Ohr. Jetzt kippe ich zur Seite. Ich gehe langsam zu Boden. Erst jetzt spüre ich den Schmerz. Mein Ohr ist ganz heiß. Jetzt höre ich ein Pfeifen. Ich falle nicht zu Boden. Ich stürze nicht in den Straßengraben. Vaters fester Griff hält mich am Handgelenk.

Meinen Bruder und mich zerrt der Vater über die Landstraße in seinen Wagen. Auf der Fahrt zurück ins Dorf zitterten wir auf der Rücksitzbank. Wir sprechen nichts. Der Vater spricht nicht mit uns. Die Situation ist eindeutig. Darüber wird nicht gesprochen.

Die Stiefmutter steht in der offenen Haustür. Sie trägt einen grünen Kittel. Der flattert ein wenig im leichten Wind. Der Vater zerrt uns, vorbei am Gartentürchen, über den kurzen Gartenweg zur Stiefmutter. Das Gesicht der Stiefmutter ist verzerrt. Ich sehe Wut und ihren Hass auf uns Kinder. Die Stiefmutter tritt einige Schritte zurück ins Haus. Auf dem dunklen Steinboden im Hauseingang sehe ich an ihren Füßen ihre braunen Pantoffeln. Ich sehe ihre dicken, nackten Beine die unter ihrem grünen Kittel hervorschauen. Sie tritt noch ein kleines Stück zurück damit der Vater die Haustür schließen kann. Sie bleibt vor unseren Kleiderhaken und Schuhen im dunklen Eingang stehen. Der Vater schiebt uns weiter durch die Haustür. Ich höre die Haustür. Sie fällt ins Schloss. Jetzt ist es ganz dunkel im Hauseingang. Die Stiefmutter tritt dicht an mich heran. Zwei Schläge ihrer kleinen, dicken Hand treffen mein Gesicht. Sie treffen meine Backen, meinen Mund, meine Nase, meine Augen. Im dunklen Hauseingang erkenne ich jetzt die Stiefmutter kaum mehr. Ich verstehe nicht, was sie so laut und wütend kreischt.

Die Stiefmutter ist an diesem Nachmittag sehr wütend. Sie zerrt uns die Holztreppe hinauf. Der Vater folgt ihr. Sie schleift uns vorbei an Esszimmer und Küche. Sie schiebt uns in unser kaltes Kinderzimmer. Jetzt sehe ich den Vater in der Kinderzimmertür. Stiefmutter und Vater schreien gleichzeitig ihre Wut auf uns Kinder heraus. Ich verstehe kein einziges Wort. Der Vater hält seinen Gürtel in der Hand.

An diesem Nachmittag war die Strafe doppelt hart gewesen. Es gab zwei Gründe. Wichtiger als unsere schlechten Schulzeugnisse war unser gemeinsamer Versuch, von zu Hause wegzulaufen. Die ersten Gürtelschläge gab es wegen dem Weglaufen, die letzten Schläge wegen unserer schlechten Zeugnisse.

Der Schotterweg geht jetzt über in einen schmalen Feldweg. Rechts und links vom Weg sind Felder. Ich glaube, es sind Maisfelder. Wie ich es mir dachte, ist nun die Sonne tatsächlich da. Ich trage meine Strickjacke auf meiner Schulter. Ich gehe langsam, beinahe gemächlich. Ich atme nicht mehr so hastig, eigentlich atme ich wie immer. Der Weg führt leicht bergab. Er führt in Richtung der Stadt.

Rechts und links sehe ich jetzt grüne Wiesen mit bunten Blumen. Auf der rechten Seite erkenne ich einen kleinen See. Da stehen einige Autos. Graue und schwarze Limousinen und einige graue und weiße Käfer stehen am See. Also fahren Autos auf diesem Feldweg! Sofort gehe ich schneller.

Ich sehe zwei Männer am See. Sie halten Angeln in der Hand. Sie sind weit weg, sie können mich keinesfalls Laufen hören. Sie sehen nicht, dass ich gerade vorbeilaufe, denn ich sehe ihre Rücken.

Ich komme an einem Schild am Wegrand vorbei. Auf dem Schild sehe ich einen durchgestrichenen Angler. Hier ist das Angeln also verboten. Ich sollte mir die Autonummern aufschreiben und das der Polizei in der Stadt melden.

Die Männer, die hier angeln, tun etwas Verbotenes! Unglaublich. Sie tun es, obwohl das Schild da steht und obwohl sie bestimmt Strafe bezahlen müssten, wenn die Polizei käme. Ist es nicht zu gefährlich, etwas zu tun, was die Polizei verbietet? Was ist gefährlicher: zu tun, was die Polizei verbietet, oder zu tun, was der Vater verbietet?

In der Stadt kann ich gar nicht zur Polizei gehen. Heute Morgen bin ich vom Vater weggelaufen. Die Polizei wird mich zurückbringen, wenn sie mich findet.

An den Anglern bin ich nun vorbei. Sie haben mich nicht gesehen. Sie könnten mich jetzt von hinten sehen. Vielleicht sehen sie mich. Ich drehe mich nicht um. Ich will nicht wissen, ob sie mich sehen. Auch sie könnten mich zurückbringen. Sie könnten mich fragen, warum ich hier so früh am Morgen laufe. Bestimmt wären sie gegenüber der Polizei und gegenüber dem Vater im Recht, wenn sie mich zurück brächten. Polizei und Vater würde es nicht interessieren, wenn ich sagte: “Die Angler haben doch auch etwas Verbotenes getan. Ich habe es gesehen! Sie haben geangelt, obwohl am See das Verbotsschild steht!” Ich glaube, das würde keinen interessieren. Ich wäre viel interessanter. Ich glaube, was ich heute tue, ist noch viel mehr verboten, als an diesem See zu angeln.

Mein Feldweg führt weiter bergab. Vor mir ist die Sonne gerade aufgegangen. Ich bin sehr müde. Wie spät ist es? Die Kirchturmuhr höre ich hier nicht mehr. Wie lange bin ich jetzt schon unterwegs? Ich hätte auf die Uhren in den Autos der Angler schauen können. Das fällt mir jetzt erst ein. Das ist gut so. Es wäre zu gefährlich gewesen. Ob es sechs Uhr ist? Ich glaube nicht, dass es schon später ist.

Ich werde noch etwas weiter gehen. Später will ich mich hinsetzen und mich ausruhen. Am besten gehe ich noch so lange, bis die Wiesen um mich herum trocken sind.

3. Mark verschwindet

Mein großer Bruder Mark war jeden Morgen sehr früh mit seinem Mofa in die Stadt gefahren. Es gibt nur einen öffentlichen Bus, der von der Stadt in unser Dorf und zurück fährt. Der Bus kommt aber nur dreimal am Tag. Er fährt nicht früh genug in die Stadt. Weil Mark sehr früh in seiner Arbeit sein musste, hatte dieser Bus für ihn keinen Nutzen. So war er täglich, auch bei eisiger Kälte im Winter, morgens um halb sechs, auf sein dunkelblaues Mofa gestiegen. Im Winter fuhr er immer besonders aufmerksam, wegen der glatten, eisigen, verschneiten Straßen. Einmal hatte ihn morgens, bei Finsternis und windiger Kälte, ein Lastwagen von einer schmalen Straße in den Graben gedrängt. Mark hatte Glück gehabt. Er blieb unverletzt. Sein verbogenes Mofa hatte er tagelang vor dem alten Haus, in der eisigen Kälte repariert.

Mark macht eine Lehre als Maurer. Da verdient er Geld. Ich glaube in der Lehre verdient man noch nicht viel. Mark musste an den Vater, weil er schon Geld verdiente, Miete für sein Zimmer im zweiten Stock bezahlen. Mark hatte von dem Wenigen, das er verdient, etwas Geld gespart. Er freute sich, weil es ihm gelungen war, etwas Geld zurückzulegen. In einem großen Möbelhaus hatte er von diesem Geld Möbel für sein beinahe leeres Zimmer gekauft. Die Möbel hatte er sich ausgesucht, weil sie ihm gefallen. Nachdem er sie in sein Zimmer hinaufgetragen hatte, lud er uns Geschwister gleich ein, damit wir seine neuen Möbel mit ihm ausprobierten und feierten. Er hatte zwei Sessel und ein Sofa gekauft.

Ich finde auch, dass es schöne Möbel sind. Sie sind durchsichtig, aus Plastik. Mark hatte sie bereits aufgeblasen und wir ließen uns, an diesem Samstagnachmittag, gemütlich in ihnen nieder. Marks aufgeblasene Möbel könnte man in einem Schwimmbad mit ins Wasser nehmen. Aber man darf keine spitzen Gegenstände auf sie legen. Das hatte Mark gleich erklärt, denn, wenn Löcher hineinkämen, würde die Luft entweichen und die Möbel würden zusammensacken wie eine kaputte Luftmatratze.

An diesem Samstagnachmittag waren wir vier Geschwister bequem auf Marks neuen Möbeln unterm Dach in seinem Zimmer gesessen. Aus Marks Gläsern hatten wir Saft getrunken, den Mark auch von seinem Geld gekauft hatte. So feierten wir seine neue Zimmereinrichtung. Ich war auf einem durchsichtigen Plastiksessel gesessen und wippte auf und ab. Mark und Matthias hatten zu zweit im Sofa Platz genommen, Christian saß in dem anderen Sessel. Wir lachten, redeten miteinander und freuten uns.

Kurz nachdem wir in dieses alte Haus gezogen waren, hatte sich Mark auch dieses Mofa gekauft. Ich glaube das Fahren macht ihm viel Spaß. Aber deshalb hatte er das Mofa nicht gekauft. Er brauchte es, um täglich zu seiner Lehrstelle zu fahren. Der Vater fährt jeden Morgen erst eine Stunde später mit dem Käfer zur Arbeit in die Fabrik am Rande der Stadt. Weil Mark nicht soviel Geld hatte, um das Mofa zu bezahlen, steuerten die Stiefmutter und der Vater die Hälfte der Kosten dazu bei. Seitdem er das Mofa hat, hatte Mark monatlich einen kleinen Betrag an die Stiefmutter und den Vater zurückbezahlt.

Nach diesem Nachmittag, an dem wir die neuen Möbel gefeiert hatten, stritten die Stiefmutter, der Vater und Mark heftig miteinander. Es ging um Geld. Sie wollten mehr Geld von ihm. Der Vater hatte ihn im Treppenhaus angeschrieen: “Die Faxen wer i dir scho no austreim! Wer neue Möbl kofen koon, der koon a sei Mofa schneller zahle!” Auch die Stiefmutter hatte ihn deshalb angeschrieen. Sie glaubten, Mark würde zuviel Geld ausgeben, anstatt ihnen mehr davon zu geben. Der Vater brüllte laut und tief, die Stiefmutter laut und hoch. An diesem Nachmittag waren sie sehr aufgebracht und wütend gewesen wegen Mark.

Ich glaube, weil die Stiefmutter und der Vater Mark nicht danach gefragt hatten, woher er das Geld für die Möbel genommen hatte, konnten sie nicht wissen, dass Mark sich das Geld monatelang von seinem wenigen Lehrlingsgeld abgespart hatte. Die Stiefmutter hatte die neuen Möbel in Marks Zimmer gesehen und wurde sofort wütend. Sie hatte mit Mark gar nicht darüber gesprochen, von welchem Geld er die Möbel gekauft hatte. Stattdessen sprach sie abends mit dem Vater darüber.

Ich glaube beide hatten kein Geld mehr. Der Vater verdient wenig. Vielleicht hatten sie geglaubt, Mark habe mehr Geld, das er nicht hergeben wollte. Es könnte sein, dass sie kein Geld mehr hatten, um Lebensmittel einzukaufen. Es könnte auch sein, dass der Vater das Benzin für den Käfer nicht mehr bezahlen konnte. Ich weiß es nicht. Ich verstehe davon nichts. Ich weiß nur, dass es wenig Geld gibt, denn wir bekommen kein Taschengeld zu Hause.

Aber Mark hatte auch kein Geld mehr, das er ihnen hätte geben können. Die neuen Möbel hatten sein Erspartes gekostet. Mehr hatte er nicht. Das hatte Mark dem Vater an diesem Nachmittag, als beide ihn so anbrüllten, gesagt. Mark hatte keine Chance. Anstatt ruhiger zu werden, war der Vater noch wütender geworden. Er tobte und schrie, er war sehr wütend. Dann hatte er zugeschlagen. Er schlug Mark ins Gesicht. Ich hatte nie miterlebt, dass der Vater auch Mark schlägt. Immer hatte ich geglaubt, der Vater traue sich nicht, auch meinen großen Bruder Mark zu schlagen.

Mark hatte nicht geheult, so wie wir jüngeren Geschwister es immer taten. Seine Schmerzen hatte er dem Vater und der Stiefmutter nicht gezeigt. Er war noch eine Sekunde vor dem Vater wie erstarrt stehen geblieben. Nichts weiter geschah. Alle hatten geschwiegen. Das wütende Geschrei war vorbei. Es waren keine Worte mehr gekommen, weder vom Vater noch von Mark. Auch die Stiefmutter, sie stand neben dem Vater, hatte nicht mehr geschrieen. Dann hatte sich Mark abgewandt. Er lief die Treppe hinauf und verschwand in seinem Zimmer. Dort hatte er seine kleine Tasche vom Schrank genommen, einige Kleidungsstücke hineingestopft, und eine halbe Stunde später war er leise durch das Treppenhaus geschlichen. Er verließ das alte Haus und war in der dunklen Nacht verschwunden. Seit diesem Abend, vor zwei Wochen, habe ich Mark nicht wieder gesehen.

Die Eltern hatten es erst am nächsten Morgen bemerkt. Der Vater saß, wie jeden Morgen, mit seiner Zeitung am Frühstückstisch. Ich glaube, er dachte, Mark sei schon mit dem Mofa zur Arbeit gefahren. Der Vater ging hinunter vor die Haustür und stieg in seinen Käfer. Er fuhr um die Hausecke. Dort sah er das blaue Mofa von Mark. Er stellte den Motor ab, stieg aus dem Wagen und rannte hinauf in den zweiten Stock. Mark lag nicht in seinem Bett. Sein Zimmer war verlassen. Jetzt war das Geschrei groß. Matthias und ich putzten gerade unsere Zähne. Ich hörte, wie der Vater nach der Stiefmutter rief. Beide wussten sofort, dass Mark abgehauen war. Mit Marks Verschwinden hatten sie nicht gerechnet. Ich hörte die Stiefmutter. Sie brüllte: “Na warte, dich kriegen wir schon Bürschchen!”

Wir beeilten uns mit dem Anziehen und Frühstücken, denn wir wollten schnell aus dem Haus, in die Schule. Bevor wir das Haus verließen, drohte uns die Stiefmutter. Sie befahl uns, niemandem in der Schule davon zu erzählen. Ich verstand nicht, was sie damit meinte. Wir erzählten nie etwas in der Schule von zu Hause.

Ich vermisse Mark sehr. Ich hatte mich immer gefreut, wenn er abends nach Hause kam. Seit Marks Verschwinden hatte ich noch viel mehr Angst vor Stiefmutter und Vater. Mark ist unser großer Bruder. Matthias, Christian und mich hatte er immer beschützt. Oben in Marks Zimmer hatten wir uns gut aufgehoben und sicher gefühlt. Wir hatten da oben keine Angst, vom Vater oder der Stiefmutter geprügelt zu werden. Es gab nie Prügel, wenn Mark am Wochenende oder abends zu Hause war. Deshalb war ich immer froh wenn er abends von der Arbeit kam.

Leider war der Vater oft früher gekommen als Mark. Er sah sich die vielen Fehler in unseren Schulheften an. Dann scheuchte er uns ins Kinderzimmer. Dann nahm er seinen Gürtel und verprügelte uns. Wenn Mark zu Hause war, verprügelte er uns nie. Deshalb hatte ich gedacht, dass der Vater uns nicht schlagen kann, wenn Mark da ist, weil er genau weiß, dass Mark dazwischen gehen würde. Dass der Vater sich traute, auch auf Mark einzuschlagen, hatte mich sehr überrascht.

Mark hatte nichts davon gemerkt, dass der Vater und die Stiefmutter uns soviel schlugen. Wir hatten ihm niemals davon erzählt, denn Stiefmutter und Vater hatten es strengstens verboten. Weil wir soviel Angst vor beiden hatten, sprachen wir Geschwister untereinander niemals darüber, wie es uns in diesem Haus ging. Ich hatte immer genau gespürt, was ich mit Mark, mit Matthias und mit Christian besprechen durfte und was nicht. Weil Mark soviel arbeiten musste und so früh das Haus verließ, weil er abends später kam als der Vater, konnte er nie sehen, was in diesem Haus geschah. Mark hatte uns am Wochenende oft gefragt, wie es uns geht. Nie erzählten wir, dass es schlecht geht. Unsere Angst, zu sagen, was Stiefmutter und Vater verboten hatten, saß zu tief.

Mark musste von Zuhause abhauen. Auch er hatte unter Stiefmutter und Vater zu leiden. Sie zwangen ihn, diese Lehre zu machen. Diese Lehre wollte er nicht. Er könnte anderes lernen. Er könnte in einem Büro arbeiten. Aber sie hatten ihn gezwungen, sie sagten, dass man mehr Geld verdiene als Maurer. Vor allem in der Lehre verdiene man schon mehr als in anderen Berufen. Das hatte Mark verstanden. Aber trotzdem wollte er das nicht lernen, er wollte etwas, für das er sich wirklich interessiert. Mark hat viele Interessen, deshalb hatte er viele andere Ideen gehabt. Aber die Stiefmutter und der Vater interessierten sich nicht dafür. Sie zwangen ihn zu dieser Lehre.

Ich verstehe Mark, ich wäre auch weggelaufen. Was ist gegen den großen Vater sonst möglich? Die letzte Chance ist das Weglaufen. Ich weiß es, deshalb laufe ich heute weg. Ich glaube fast, ein ruhiges Gespräch, mit Stiefmutter und Vater, ist nicht möglich. Es gibt keine Worte zwischen uns Kindern und ihnen, ohne dass sie anfangen uns anzuschreien.

4. Ausruhen am Wegrand

Jetzt komme ich auf eine schmale Teerstraße. Ein kleiner geteerter Feldweg. Auf den Wiesen neben dem Weg liegen große Strohballen. Wie weit ist es noch bis zur Stadt? Ich bin schon weit gelaufen. Ich laufe und pfeife ein wenig dabei. Obwohl ich vor dem Vater flüchte, kann ich jetzt sogar munter pfeifen! Vorher im Dorf konnte ich das noch nicht. Jetzt kann ich es, weil der Vater schon etwas weiter entfernt ist. Trotzdem fühle ich mich nicht wie ein “Wandergeselle”. Von solchen Menschen hatte der Dorfschullehrer manchmal aus Büchern vorgelesen. Die wanderten munter pfeifend von einem Dorf zum anderen, dort blieben sie einige Wochen, um zu arbeiten, dann wanderten sie weiter. Ich bin kein munterer Wandergeselle. Ich bin auf der Flucht.

Ich habe Hunger. Ich kann es eine Weile ohne Essen aushalten. Vor mir sehe ich jetzt Wald. Der Weg macht eine Biegung, dort sehe ich eine Bank. Auf die setze ich mich, um etwas auszuruhen. Bald werde ich die große Stadt erreichen. In der Stadt muss ich sehr vorsichtig sein. Ich glaube, sie werden mich suchen. Der Vater wird jetzt auch schon unterwegs sein in die Stadt. Dort muss ich besonders wachsam sein, denn an jeder Ecke kann er stehen und auf mich warten.

Das Wetter ist heute sehr klar. Der Himmel ist tiefblau, ich sehe keine einzige Wolke. Die Sonne scheint mir ins Gesicht. Ich liege auf der Bank am Wegrand. Ich spüre meine Müdigkeit, sie drückt mich auf die Holzbretter. Ich muss kurz hier ausruhen. Ich spüre meine Füße schon ein bisschen. Vergangene Nacht war ich lange wach gelegen, das zehrt jetzt an meinen Kräften. Ich fühle mich schwach. Ich werde immer schwächer, ich glaube, gleich schlafe ich ein. Ich döse auf der harten Holzbank, wie nachmittags, oben zwischen den Strohballen, im Versteck in der alten Scheune. Ich glaube, der Vater kann die Bank hier nicht finden, ich bin schon viel zu weit gelaufen. Wenn jemand vorbeikommt und mich anspricht, mich fragt warum ich hier liege, sage ich, dass ich hier auf einen Freund warte und dabei eingeschlafen bin. Oder soll ich lieber sagen, dass ich unterwegs nach Hause bin, nicht weit von hier wohne und nur kurz ein wenig hier ausruhe? Nein, wenn jemand kommt und mich anspricht, dann tue ich so, als spreche ich eine andere Sprache. Ich tue so, als spreche ich nicht Deutsch, sondern vielleicht Englisch, davon haben wir schon wenige Worte vom Dorfschullehrer gelernt. Ich tue so, als verstehe ich nicht. Dann kann ich ja schnell den Weg hier hinunter laufen und dabei so tun, als wohne ich da unten.

Oder sollte ich mich vielleicht besser auf die Wiese hinter die Holzbank legen? Wie falle ich einem Spaziergänger auf diesem Feldweg weniger auf? Ach nein, ich bleibe einfach auf der Bank, ich glaube da falle ich nicht besonders auf. Auf einer Bank kann man sitzen oder liegen. Ich lege mich einfach drauf, wenn jemand kommt, fällt mir schon irgendetwas ein, das ich erklären kann. Die Bank ist sehr hart. Ich liege auf ihr, obwohl ein Brett durchgebrochen ist, das macht nichts. Ich brauche kein Kopfkissen. Ich nehme meine Hände als Kopfkissen, das geht schon. Es ist jetzt sehr warm von der Sonne. Vielleicht ist es jetzt schon neun Uhr. Dann sind alle zu Hause schon aufgestanden.

Gestern hatten wir einen sehr ruhigen Tag zu Hause. Es war eigentlich kein schlimmer Tag. Der Vater und die Stiefmutter hatten nicht herumgeschrieen und sie schlugen uns nicht. Deshalb war es eigentlich ein richtig schöner Tag. Solche Tage sind selten. Für mich war es der richtige Tag, um unauffällig den heutigen Tag vorzubereiten. Niemand hatte meine Vorbereitungen im Kinderzimmer bemerkt. Ich glaube, das lag nicht nur an meiner Sorgfalt, es hatte auch mit der Stimmung dieses Tages zu tun.

Der Tag war sehr ruhig. Am Abend gab es keinen Streit. Der Vater kam früh von der Arbeit nach Hause weil gestern Freitag war. Unsere Schulhefte waren in Ordnung. Es standen keine Noten drin. Wir hatten keine Hausaufgabe auf, deshalb waren keine Fehler drin, deshalb gab es keine Prügel. Die Stiefmutter hatte nichts, um es dem Vater zu erzählen. Es gab nichts, was Grund gewesen wäre, uns anzuschreien und zu prügeln. Es war alles ruhig in der Familie.

Zum Abendessen gab es Spiegelei und Kartoffeln. Christian, Matthias und ich waren vor dem Abendessen in der Küche gesessen, dort wuschen wir die Kartoffeln. Die Stiefmutter stand am Spülbecken und trocknete Geschirr. Sie redete nicht mit uns. Zu Hause wird sehr wenig gesprochen. Wir Kinder haben mit den Erwachsenen nichts zu reden. Wir haben auf Fragen zu antworten. Wenn die Stiefmutter oder der Vater etwas wissen wollen, sind wir sogar gezwungen zu antworten. Wenn sie nichts von uns wissen wollen, müssen wir schweigen. So hatten wir das bei ihnen gelernt.

Beim Kartoffelschälen machten wir drei Geschwister kleine Späßchen miteinander. Wir spielten ein Spielchen. Wir ließen die geschälten Kartoffeln so in den Topf mit Wasser platschen, dass immer einer von uns nassgespritzt wurde. Jeder versuchte, die jeweils winzigste Kartoffel aus dem Wassertopf zu fischen. Zum Schluss blieben natürlich die fetten übrig. Auch von ihnen versuchte jeder, die kleinste zu nehmen. Weil man manchmal glaubte, eine kleinere Kartoffel im Topf zu sehen, ließ man seine Kartoffel wieder in den Topf platschen. Das spritzte dem anderen ins Gesicht. Es war ein Wettkampf. Sieger war, wer die kleinsten Kartoffeln rausgefischt hatte und am wenigsten schälen musste. Die Stiefmutter beachtete unser Spiel nicht. Immer wieder schaute sie durchs Küchenfenster auf den Hof hinter das Haus. Sie erwartete den Vater.

Schließlich war es soweit. Laut und deutlich hörte ich den Käfermotor. Jetzt überlegte ich, wie schlimm es gleich werden würde, wenn der Vater die Küche betritt. Ich fing aber nur leicht an zu zittern, denn mir fiel nichts ein, was die Stiefmutter zu berichten hätte. Wie an jedem Abend parkte der Vater den Käfer hinter dem Haus. Weil wir wussten, dass er gleich die kurze Treppe hinter dem Haus heraufsteigen und durch den Hintereingang in die Küche kommen wird, beendeten wir sofort unser Kartoffelspiel und wurden ganz still. Noch mal dachte ich nach, was die Stiefmutter ihm erzählen könnte. Mir fiel nichts ein, womit sie ihn dazu bringen könnte, uns zu verprügeln. Ich hörte die stapfenden, lauten Schritte des Vaters auf der Holztreppe. Die Küchentür knarrte, wie jeden Abend, wenn der Vater durch sie das Haus betritt. Der Vater brachte eine Pappkiste mit. Er hatte Getränke eingekauft für den Fußballabend. Tatsächlich hatte ich mich nicht getäuscht. Die Stiefmutter schwieg. Sie erzählte ihm nichts von uns. Sie drängte ihn nicht, dass er unsere Schulhefte ansieht, weil es nichts in ihnen zu sehen gab.

Manchmal hatte sie ihn abends auch aufgefordert, in unsere Hefte zu sehen, wenn keine Noten drin standen und wir keine Hausaufgaben auf hatten. An unseren Heften gab es immer etwas auszusetzen. Es gab immer Fehler, es gab immer meine krakelige Kinderschrift, die noch mal geschrieben werden musste und auch nach zehnmaligem Wiederholen nicht schön genug war. Nicht so gestern Abend. Die Stiefmutter sagte zum Vater nichts. Wir hatten großes Glück. Der Abend war sehr ruhig. Niemand ahnte, dass ich die Ruhe nutzte und damit mein Plan zur Flucht begann.

Warum lief ich heute Morgen weg, wo es doch gestern Abend so ruhig zu Hause war? Ich glaube, das war meine Taktik. In einem Abenteuerheft hatte ich einmal davon gelesen. Der Gegner soll den Feind angreifen, wenn alles ruhig ist. Am besten ist es dann, wenn der Feind sogar noch von irgendetwas anderem abgelenkt ist. Dann rechnet der Feind am wenigsten damit, dass etwas passiert. Ähnliches hatte ich gestern Abend im Wohnzimmer, während im Fernseher das Fußballspiel lief, gedacht. Einen so ruhigen Tag wie gestern könnte es Monate lang nicht mehr geben. Ich nutzte die Ruhe.

Ich kann nicht schlafen obwohl ich sehr müde bin. Von der harten Holzbank stehe ich wieder auf. Kein Mensch kommt auf dem Feldweg. Langsam gehe ich weiter. Ich lege mich später noch mal irgendwo hin. Auf dem Weg sehe ich einen Käfer. “Maikäfer flieg! Flieg schon du Maikäfer!” Er klettert an meinem Zeigefinger nach oben und schon fliegt er tatsächlich davon. Der Feldweg führt bergab. Gleich gehe ich in einen Nadelwald hinein.

Zur Stadt kann es nicht mehr weit sein. Die Richtung stimmt. Die Straße, die wir mit dem Vater zum Einkaufen in die Stadt gefahren waren, führt kurz vor der Stadt einen steilen Berg hinunter. Der Weg, den ich hier laufe, führt schon lange leicht bergab.

Ich beiße auf meinen Fingernägeln herum. Wenn der Vater meine abgebissenen Fingernägel sieht, geht es mir schlecht. Ich darf nicht auf den Nägeln herumkauen und sie abreißen. Deshalb höre ich jetzt mit dem Kauen auf.

Vorne kommt eine Straße. Ich höre die Autos. Auf der Straße ist viel Verkehr. Weil heute Samstag ist, fahren heute viele Leute in die Stadt zum Einkaufen. Einkaufen ist sehr teuer. Der Vater hatte deshalb immer gesagt, dass wir sparen müssen. Wir kaufen in einem Großmarkt in der Stadt ein, weil das billiger ist.

Im Laden, im Dorf, bei Frau Maier kaufen wir keine Lebensmittel. Wir Kinder waren aber trotzdem oft im Laden. Wir hatten kein Geld für uns, sondern wir kauften Zigaretten für die Stiefmutter. Dabei stahlen wir Stifte und Radiergummis für die Schule. Manchmal war ein Stift in der Schule einfach verloren gegangen. Plötzlich war er verschwunden. Ich wusste nie, wo meine Stifte blieben. Hätte ich das zu Hause erzählt, hätte die Stiefmutter sofort zugeschlagen. Um neue Stifte und Radiergummis zu besorgen, mussten wir warten, bis wir wieder Zigaretten im Dorfladen holen sollten. Matthias und ich gingen in den Laden. Einer kaufte Zigaretten, und der andere nahm die Stifte aus dem Regal. Das Regal steht weit hinten in Frau Maiers Laden. Das Stehlen bei Frau Maier ist sehr einfach. Frau Maier hatte nie etwas bemerkt. Das glaube ich zumindest, bis heute. Jetzt allerdings, wo ich darüber nachdenke, frage ich mich, ob sie das vielleicht gar nicht bemerken wollte? Hatte sie gewusst, dass wir zu Hause kein Geld dafür bekamen? Vielleicht wusste sie das. Ihr Laden ist sehr klein. Frau Meier ist größer als wir. Von oben könnte sie unser Stehlen gesehen haben. Vielleicht wollte sie uns so helfen. Gab es Hilfe für uns Kinder in unserem Dorf? Davon hatte ich nie etwas bemerkt. Vielleicht hatte Frau Maier uns so geholfen. Vielleicht hatte sie uns nie wegen unserem Stehlen in ihrem Laden angesprochen, weil sie schon lange gewusst hatte, dass es uns zu Hause so schlecht geht, dass wir nicht einmal Geld für Stifte und Papier für die Schule bekamen. Ich glaube Frau Maier muss das gesehen haben.

Was Frau Maier nicht gewusst hatte: Wir hätten das Geld von der Stiefmutter vielleicht bekommen, aber wir hatten zuviel Angst davor, sie nach Geld für Stifte und Papier für die Schule zu fragen.

5. Wiesen, Felder und Hitze

Schnell laufe ich jetzt über die befahrene Straße. Der Feldweg geht auf der anderen Seite weiter. Ich renne ein Stück bis ich die Straße nicht mehr sehe und sie nur noch leise höre. Es ist die Landstraße in die Stadt. Meine Jacke trage ich unterm Arm, mir ist heiß. Ein Schwimmbad wäre jetzt schön. Seitdem wir bei der Stiefmutter und dem Vater wohnen, waren wir nie zum Baden gegangen. Auch das ist zu teuer.

Früher waren wir oft im Schwimmbad gewesen. Jeden Samstagvormittag waren wir ins Hallenbad, und im Sommer fast jedes Wochenende, ins Freibad gegangen. Das war toll. Obwohl es immer ein weiter Fußmarsch bis zum Freibad gewesen war. Das hatte mir nicht besonders gefallen. Aber dafür gab es als Belohnung dann ja das Freibad. Meist hatten wir den ganzen Tag dort verbracht. Wir vier Geschwister und alle anderen Kinder aus dem Kinderheim waren immer mit viel Spaß dabei gewesen. Das Freibad lag im Tal, in dem Oberbayerischen Gebirgsort, wo ich gewohnt hatte, bevor ich zur Stiefmutter und dem Vater gekommen war. Im Freibad tobten, schwammen und spielten wir. Es gab einen Kinderspielplatz und Tischtennisplatten.

Ich kann sehr gut schwimmen ich habe schon den “Freischwimmer” und den “Fahrtenschwimmer” gemacht. In einigen Jahren könnte ich sogar den “Rettungsschwimmer” machen. Im Kinderheim wäre das sicher möglich. Hier beim Vater aber, geht das nicht. Wir sind ja nie im Schwimmbad. Im Kinderheim wohnen Kinder, die Mitglied im Schwimmverein sind. Da könnte auch ich mitmachen.

Mir ist nun endgültig zu heiß. Vielleicht weil ich gerade ans Schwimmbad denke. Ich bleibe stehen. Ich wische mit der Strickjacke über meine verschwitzte Stirn. Vor mir flimmert die Hitze über dem Feldweg. Es bläst kein Lüftchen. Weit und breit sehe ich keinen Baum am Wegrand, in dessen Schatten ich ein wenig ausruhen könnte.

Wieder mal ins Freibad gehen, das wär’s! Vor Jahren hatten wir in den Schulferien die Oma besucht. An einem heißen Tag gingen wir hier in der nahen Stadt in das Freibad. Wir vier Geschwister waren alleine unterwegs. Ohne Eltern, ohne Betreuer, ohne Erzieher. Vom Haus der Oma hatten wir sehr weit zu laufen, bis zum Freibad in der Stadt. Trotzdem war es ein toller Nachmittag. An dem Tag war es sicherlich genauso heiß gewesen, wie heute. Im Freibad schwammen wir und wir spielten Tischtennis. Es war fast genauso, wie im Freibad im Kinderheim. Nur das Wasser war nicht so schön. Es gab nur ein einziges Schwimmbecken. In dem war Chlorwasser. Nach dem Schwimmen brannten die Augen.

Im bayerischen Gebirgsort bei meinem Kinderheim, gibt es ein besonderes Freibad. Es gibt ein Becken mit Naturwasser. Das Wasser ist zwar sehr kalt, aber nach dem Schwimmen brennen deshalb die Augen nicht. Dort in dem Naturwasserbecken hatte es sogar Fische gegeben. Leider hatte ich vor denen oft Angst. Einmal berührte mich beim Schwimmen ein winziger Fisch. Ganz schnell schwamm ich zum Beckenrand und kletterte aus dem Wasser. Die winzigen Fische kannte ich, denn ich hatte sie schon oft durch meine Taucherbrille beobachtet. Trotzdem hatte ich Angst, mit ihnen in Berührung zu kommen. Das hatte ich den anderen Kindern im Kinderheim natürlich niemals erzählt. Stattdessen hatte ich damit angegeben, ein mutiger Fischjäger zu sein. Im Freibad hatten wir im Sommer jedes Wochenende Fischjagd gespielt. Wir taten so, als wären wir mit Harpunen und Messern bewaffnet. So sprangen wir ins Naturschwimmbecken. Wir jagten Haie. Auf unserem Rückweg, hinauf in unser Kinderheim, prahlten wir gegenseitig damit, wie viele hundert Haie jeder von uns im Freibad gefangen hatte.

Die Stadt kommt jetzt näher. Ich kann sie schon hören, es ist ein Rauschen aus der Ferne. Jetzt führt der Feldweg leicht bergan. Ich erreiche eine kleine Anhöhe. Um mich herum sehe ich abgemähte Wiesen. In einiger Entfernung erkenne ich einen Bauern auf seinem Traktor. Er fährt mit einer Heuwendemaschine über die gemähte Wiese.

Ich glaube, das ist ein guter Job. So einen Traktor zu fahren macht sicherlich viel Spaß. Das Heu braucht der Bauer bestimmt als Futter für seine Pferde im Winter. So kenne ich das aus dem Kinderheim im Gebirgsort. Vielleicht hat dieser Bauer hier, den ich gerade vor mir auf seinem tuckernden Traktor sehe, auch so ein Pony, wie es der Heimleiter in dem Schuppen neben unserem Kinderheim gehalten hatte.

Im Kinderheim war ich nur ein einziges Mal auf dem Pony gesessen. Auf dem Rücken des Ponys hielt ich mich nicht einmal eine Minute. Es war der Pfingstsonntag im vergangenen Jahr gewesen. Der Sonntag war warm und trocken, ein erster richtiger Frühlingstag. Wegen des schönen Wetters hatte das ganze Kinderheim einen Pfingstausflug hinunter ins Tal gemacht. Das Pony war dabei. Wir waren auf schmalen Feldwegen hinunter in den Ort gewandert. Auf der anderen Seite des Tals stiegen wir auf einen kleinen Berg hinauf. Unterwegs durfte immer ein Kind auf dem Pony sitzen. Ich war nicht der einzige gewesen, der sofort herunterfiel. Das Pony hatte keinen Sattel um sich daran festzuhalten. Es lag nur eine dicke Decke auf dem Rücken des Tieres. Ich versuchte mich an seiner Mähne und dem Halfter festzuhalten. Dabei versuchte ich, dem Pferd nicht weh zu tun. Mit einem kräftigen Sprung hatte ich mich auf den runden Rücken des Ponys hinaufgeschwungen. Auf dem Rücken des Pferdes versuchte ich, nach der Mähne zu greifen und Halt zu finden. Doch mein Schwung war zu heftig gewesen, so dass ich sofort auf der anderen Seite hinunter stürzte.

Auch in der Nähe unseres Dorfes gibt es einen Bauern, der ein Pony hat. Dessen Hof hatte ich manchmal zusammen mit Matthias besucht. Das Tier hatten wir auf der Koppel beobachtet. Es war mir viel kleiner vorgekommen, als das Pony vom Pfingstsonntag im Kinderheim. Vielleicht bin ich im vergangenen Jahr so viel gewachsen. Den Bauern in der Nähe unseres Dorfes hatten wir nie gefragt, ob wir auf seinem Pony einmal reiten dürften. Seit ich am Pfingstsonntag von dem Pony gestürzt war, hatte ich keine Lust mehr, auf Pferden zu reiten.

Jetzt fährt der Bauer mit seiner Heuwendemaschine ganz dicht an mir vorbei. Ich rieche das frische Heu. Es ist der Geruch, der mich an mein Kinderheim im Gebirgsort erinnert. Im Sommer hatten wir regelmäßig das trocknende Gras auf der steilen Wiese hinter dem Haus gewendet. Wenn das Heu oft genug gewendet war, wenn es grau und trocken geworden war, hatten wir es mit riesigen hölzernen Rechen zu großen Haufen zusammengeschoben. Weil das Kinderheim mitten im Gebirge liegt, ist die große Wiese hinter dem Haus sehr steil. Ein Traktor, wie ich ihn hier neben dem Feldweg gerade sehe, könnte dort gar nicht fahren. Er würde die Wiese hinunterstürzen. Deshalb hatten wir Kinder das Heu per Hand zu wenden und hinunter in den Ponyschuppen zu schaffen. Mit Hilfe von großen grauen Decken zogen wir das Heu vom steilen Hügel. Es war jeden Sommer sehr viel Heu. Genug für das kleine Pony, den Winter über zu fressen zu haben. Mit einer Heuwendemaschine, wie sie der Bauer hier über die Wiese zieht, hätten wir uns viele Tage an Arbeit gespart.

Manchmal mussten wir am Wochenende auf das Freibad verzichten. Wenn Regen gemeldet war und das Heu auf der Wiese schon schön trocken war, dann durfte kein Tag verloren gehen, um es in den Schuppen zu schaffen. Tagelanger Regen, den es in dem Gebirgsort oft gegeben hatte, hätte die Heuernte auf der Wiese vermodern lassen.

Das Heumachen auf der Wiese hinter dem Kinderheim, war ein Geschufte, auf das bald kein Kind mehr rechte Lust hatte. Ich erinnere mich, dass wir oft herumgemeckert hatten, wenn das Freibad wieder mal wegen des Heumachens ausfiel. Aber weil es zur Belohnung nach einem heißen Tag auf der Heuwiese immer eine kühle Flasche Limonade vom Heimleiter gegeben hatte, waren stets alle Kinder fleißig beim Heuwenden dabei.

6. Sicht auf die Stadt

Jetzt sehe ich die Stadt vor mir. Ich stehe auf einem Hügel. In welche Richtung geht es von dieser Stadt in den kleinen Ort zur Oma? In der Stadt muss ich eine bestimmte Straßenkreuzung suchen, von der es zur Oma geht. Auf dieser Kreuzung steht ein Schild mit dem Namen des Ortes, in dem die Oma wohnt.

Die Oma ist gar nicht meine richtige Oma. Aber das macht mir nichts aus. Sie hatte sich jahrelang, damals als wir noch im Kinderheim lebten, um meine Geschwister und mich gekümmert. In den Schulferien hatten wir sie oft besucht, und häufig hatte sie davon gesprochen, dass wir das Kinderheim vielleicht eines Tages wieder verlassen dürfen. Die Oma glaubte, dass wir ein viel schöneres Leben hätten, wenn wir hier beim Vater wohnten. Sie hatte auch daran gedacht, dass wir sie vom Vater aus viel öfter besuchen könnten, als von dem weit entfernten Kinderheim.

Weil sie glaubte, dass wir es beim Vater besser hätten und auch der Vater uns schon lange aus dem Kinderheim holen wollte, hatte sie ihn jahrelang dabei unterstützt. Ich glaube, die Oma hätte das nicht getan, wenn sie damals geahnt hätte, dass der Vater zu uns Kindern so ist, wie er ist. Die Oma konnte das unmöglich ahnen, denn wir hatten ja im Kinderheim und nicht beim Vater gelebt. Wenn wir zu Besuch gekommen waren, wohnten wir bei ihr und nicht beim Vater, weil dessen Wohnung zu klein gewesen war.

Im Haus von Oma ist viel Platz für Kinder und es ist wirklich schön. Bei ihr wohnen viele Kinder. Sie hat einen großen Garten, in dem ein alter Wohnwagen steht. Im Garten spielen die Kinder Versteckspiele und Fangen. Bei ihr ist immer was los. Auch Opa ist sehr nett. Beide mögen mich und meine Geschwister sehr gern. Oma und Opa hatten sich sehr gefreut, als wir endlich zu unserem Vater ziehen durften und nicht mehr im Kinderheim leben mussten.

Letztes Jahr, am Tag als uns der Vater aus dem Kinderheim abgeholt hatte, fuhren wir im weißen Käfer mit dem Vater zuerst zur Oma. Danach waren wir in das Haus der Stiefmutter und des Vaters gefahren. Seit diesem Tag hatte ich die Oma nie wieder gesehen.

Im Ort unterhalb des Hauses, in dem die Oma wohnt, hatten wir Anfang letzten Jahres einige Wochen mit der Stiefmutter und dem Vater in einer kleinen Wohnung gewohnt. Es war die Wohnung des Vaters. Er hatte sie jahrelang allein bewohnt, als wir Kinder noch im Kinderheim lebten. Diese Wohnung war zu klein für die Familie, deshalb hatte der Vater das alte Haus im Dorf gemietet.

Obwohl wir im Ort nur kurz gewohnt hatten, erinnere ich mich noch gut an die kleine Wohnung und an die Umgebung. Unweit der kleinen Wohnung liegt der Fußballplatz. Da hatten wir Geschwister täglich gespielt. Da hatten wir schnell andere Kinder kennen gelernt. Und es gibt da, gleich um die Ecke, eine kleine Eisdiele.

Jetzt, wo ich daran denke fällt mir ein, dass wir im vergangenen Jahr, als wir kurz in dem Ort beim Vater und der Stiefmutter lebten, noch Taschengeld bekommen hatten. Von diesem Geld hatte ich manchmal Eis in der Eisdiele gekauft. Aus den roten Automaten, von denen es in dem Ort beinahe an jeder Ecke einen gibt, kaufte ich von meinem Taschengeld Kaugummis. Ich glaube, damals hatten die Stiefmutter und der Vater noch nicht solch große Geldsorgen, wie später im Dorf.

Auch meine alte Schule liegt ganz in der Nähe der kleinen Wohnung. Zu Fuß hatte ich sie in wenigen Minuten erreicht. In diesem Ort gibt es auch ein Hallenbad, es liegt gleich neben der Schule. Im Sportunterricht hatten wir es oft besucht. Klassenkameraden und Lehrer hatten es ganz toll gefunden, dass ich so gut schwimmen kann. Das hatte ich gar nicht gekannt. Für mich ist es normal, gut schwimmen zu können. Im Kinderheim hatten alle Kinder gut schwimmen gelernt, denn wir waren sehr oft im Schwimmbad gewesen. Mein gutes Schwimmen war im Kinderheim nichts Besonderes.

Um zur Oma zu gelangen, muss ich diesen Ort finden. Er liegt einige Kilometer von der Stadt entfernt. Ich muss diesen Ort durchqueren. Zur Oma geht es einen steilen Berg hinter dem Ort hinauf.

7. Hinunter zur Stadt

Der Feldweg endet in einem schmalen Trampelpfad. Ihn steige ich jetzt hinunter. Er führt auf die Stadt zu. Da unten sehe ich einen großen, langgezogenen Hügel. Es ist hoch aufgeschütteter Schotter. Dahinter erkenne ich eine Baustelle für eine neue Eisenbahnanlage. Ich sehe nagelneue Gleise. Es fahren noch keine Züge auf diesen Gleisen. Heute ist Samstag, deshalb ist auf der Baustelle alles ruhig.

Ich muss diese Gleise überqueren. Hinter ihnen beginnt die Stadt. Ich glaube, dass es schwer wird, die Straße zur Oma zu finden. Die Stadt sieht unübersichtlich aus. Vom Trampelpfad aus sehe ich viele Straßen.

Jetzt erreiche ich das Ende des Trampelpfades. Ich stehe vor dem langen Schotterhügel. Ich steige langsam hinauf. Oben setze ich mich auf die Steine. Ich suche ein Plätzchen, von dem aus ich nicht gesehen werde. Ich muss noch eine Zeitlang warten, bis ich in die Stadt hineinlaufe. Bestimmt ist der Vater dort unterwegs und sucht mich.

Von dem Schotterhügel aus kann ich alles sehr gut sehen. Ich glaube hier wird mich so schnell niemand entdecken. Auf der ruhigen Baustelle stehen Kräne und Maschinen. Auf der gegenüberliegenden Seite der Gleise sehe ich eine Neubausiedlung. Die Straße ist noch nicht geteert. Ich sehe Staubwolken von fahrenden Autos.

Da drüben wohnen Familien. Ich sehe sie in ihren Gärten. Ich höre einen Rasenmäher. Heute arbeiten die meisten Familien in ihren Gärten. Heute werden die Gehsteige sauber gekehrt.

So ist es samstags bei der Stiefmutter und dem Vater. In unserem Garten im Dorf gibt es immer viel Arbeit. Kurz nachdem wir eingezogen waren, war der Garten noch verwildert. Gebüsch und Wiese wucherten über den Zaun. Das Gras stand meterhoch. Das Haus muss längere Zeit unbewohnt gewesen sein, deshalb blieb auch der Garten lange unbearbeitet.

Ich hatte nichts dagegen, dass es im Garten so wild aussah. Darüber regten wir Geschwister uns niemals auf. Die Stiefmutter hatte sich sehr darüber aufgeregt. Anfangs hatte ihr der Garten überhaupt nicht gefallen. Er war ihr viel zu verwildert und unordentlich. Deshalb hatte sie uns täglich hinunter geschickt, um Unkraut zu jäten. Später, nachdem wir das Gröbste beseitigt hatten, schickte sie uns nur noch am Wochenende in den Garten.

Das Unkraut hatte sie damals sehr geärgert. Es wucherte überall hervor. Es ärgerte sie, dass es auch zwischen ihren Tulpen und Geranien wucherte. Aber besonders hatte sie sich immer darüber aufgeregt, dass es auch zwischen den Steinplatten des Gartenweges wucherte. Schlimm für die Stiefmutter war auch das Unkraut, das unter der Treppenstufe vor der Haustür hervorsprießte.

Das alles musste säuberlich weggerissen werden. Die Stiefmutter hatte dieses Unkraut immer ganz schlecht gefunden. Es gehört nicht in ihr Bild, ihres Gartens, vor dessen Gartentürchen ein sauber gefegter Gehsteig liegt. Die Stiefmutter hatte dieses unordentliche Unkraut, diesen Schmutz im Bild unseres friedlichen Hauses mit seinem gefegten Gehsteig und dem sauberen Gartenweg nicht ertragen. Sie hatte uns gesagt, alles Unkraut müsse vernichtet werden, alles im Garten müsse sauber und ordentlich aussehen. Unkraut sehe unordentlich aus.

Unkraut im Garten und Schmutz auf dem Gehsteig hatten für die Stiefmutter etwas Anrüchiges. Ich glaube der Stiefmutter war es vor allem wichtig gewesen, dass unsere Nachbarn und die Dorfbewohner einen sauberen Garten vor unserem Haus sahen. Vielleicht musste der Garten wegen der Nachbarn sauber sein.

Manchmal hatte sie uns Kindern vorgeworfen, dass wir “nicht ganz sauber” wären. Was sie damit meinte, hatte ich nie verstanden. Doch jetzt fällt mir ein, dass es vielleicht auch mit dem Garten zu tun hatte. Der saubere Garten sollte die Nachbarn und Dorfbewohner beruhigen. Niemand sollte denken, in unserer Familie sei etwas “nicht ganz sauber” oder nicht in Ordnung. Ich glaube, die Stiefmutter hatte wirklich gedacht, das Unkraut wäre anrüchig. Vielleicht machte es ihr sogar Angst, weil es in ihren Augen so unordentlich ausgesehen hatte. Vielleicht wollte die Stiefmutter alles Unkraut weggerissen haben, weil sie Angst davor hatte, die Nachbarn könnten wegen eines ungepflegten Gartens auf uns aufmerksam werden. Vielleicht hatte sie Angst, dass dann die Nachbarn auf Vorgänge in unserem Haus aufmerksam werden. Die Nachbarn hätten vielleicht Rückschlüsse vom Garten vor unserem Haus auf mögliche Zustände in unserem Haus gezogen. Vielleicht hatte die Stiefmutter das mit dem penibel ordentlichen Garten, zu vermeiden gesucht.

Ob nun mit diesem sauberen Garten oder nicht, es fallen mir keine Anhaltspunkte dafür ein, dass bei uns zu Hause nicht alles so ist, wie es den normalen bürgerlichen Bedingungen irgendeiner anderen Familie dieses Dorfes entspricht. Tatsächlich glaube ich, dass es von den Nachbarn völlig falsch wäre, einem Irrglauben wegen unseres nicht ganz unkrautfreien Gartens zu verfallen. Nichts ist bei der Stiefmutter und dem Vater in unserem Haus “nicht sauber”. In unserem Haus ist alles sauber, weil alles von uns Geschwistern so gepflegt und gemacht wird, wie es die Stiefmutter befiehlt.

Jedem Befehl von ihr leisten wir Gehorsam. Zu Hause sind wir nicht aufmüpfig, wir sind nicht frech, wir sind nicht schmutzig und wir tun nichts, wenn es nicht befohlen wird. Wir unterbrechen Erwachsene nicht, wenn sie sprechen. Wir Kinder sprechen nur dann, wenn wir gefragt werden. Wir leben so, wie es die Erziehung von Stiefmutter und Vater fordert. Wir versuchen, uns genau so zu verhalten, wie sie es verlangen. Ich glaube, wir geben unser Bestes. Wir strengen uns an, den Forderungen von Stiefmutter und Vater gerecht zu werden. Wir sind absolut unterwürfig und folgsam.

Manchmal schaffen wir nicht alles, was verlangt wird. Zum Beispiel lernen wir das Schreiben in der Schule nicht so schnell und so gut, wie das in Deutschland vielleicht sein muss. Ein Grund für den Vater und die Stiefmutter, uns zu schlagen. Zu Hause tun wir alles, was Erwachsene verlangen. Zumindest versuchen wir es immer. Ich glaube, deshalb sind wir eine richtig gute normale Familie.

Es wäre wirklich ein Irrweg der Nachbarn, anderes zu denken. Was bei uns zu Hause los ist, ist alles völlig normal. Nichts widerspricht der Tradition der Nachbarsfamilien, des Dorfes oder dieses Landes.

Ich glaube, wir werden erzogen, wie die Stiefmutter und der Vater selbst erzogen wurden. Für uns gibt es keinerlei “Extrawürste”. Die Zügel werden aber auch nicht extrem fest angezogen. Die Zügel werden von der Stiefmutter und dem Vater in normaler, vielleicht “dorfüblicher” Manier von Zucht und Ordnung gehalten. Ich glaube, es gibt keine außergewöhnlichen Abweichungen in unserem alten Haus im Dorf. Was zu Hause gilt, gilt ja auch in der Schule. Auch der Lehrer in der Dorfschule schlägt manchmal zu. Es ist nichts Besonderes. Wahrscheinlich ist das Schlagen des Vaters und der Stiefmutter völlig normal.

Das Unkraut im Garten und der Schmutz auf der Straße vor unserem Haus werden regelmäßig von uns restlos beseitigt. Die Nachbarn und das Dorf werden niemals auf unsere Familie aufmerksam werden. Meine Familie ist normal und unauffällig, wie jede andere Familie im Dorf. So gesehen, ist überhaupt kein Grund dafür erkennbar, warum ich jetzt hier auf diesem Schotterhügel sitze. Vielleicht gibt es keine vernünftige Begründung dafür, dass ich jetzt vor der Bahnbaustelle stehe und hinüber auf die große Stadt blicke. Ich glaube, das kann mit Vernunft nicht begründet werden. Vielleicht sehe ich das so, weil ich finde, dass, was täglich zu Hause geschieht, auch nicht vernünftig zu begründen ist.

Kein Nachbar im Dorf, vielleicht kein Mensch in diesem Land, der durch das kleine Dorf spaziert, könnte einen vernünftigen Grund für meinen heutigen Marsch zur Oma erkennen.

Trotzdem bin ich heute auf der Flucht.

8. Pfeifenrauch

Als wir im vergangenen Jahr eingezogen waren, standen im Haus noch mehrere alte Möbel. Der Vormieter hatte sie zurückgelassen. Einige von ihnen ließ der Vater stehen, andere transportierte er ab und warf sie auf den Müll. Ins Wohnzimmer stellte er die Möbel aus seiner alten, kleinen Wohnung und einige neu gekaufte Möbel.

Das Haus ist schon sehr alt. Die Wände sind schief, die Decken hängen durch, sie sind rissig, hier und da bröckelt der Putz. Es ist ein altes Bauernhaus. Ich glaube, früher hatte es eine Bauernfamilie bewohnt. Das Haus ist viel geräumiger als die kleine Wohnung des Vaters. Es hat sechs Zimmer und eine große Küche. Die Räume werden mit Holzöfen beheizt. In manchen Zimmern gibt es keinen Ofen. So in unserem Kinderzimmer. Im Winter ist es dort eiskalt. Deshalb haben wir sehr dicke Bettdecken. Wenn wir uns abends schlafen legen, kriecht jeder von uns Geschwistern so schnell wie möglich unter seine Bettdecke, um warm zu werden.

Es wäre möglich mehr Öfen im Haus aufzustellen, damit es im Winter nicht so kalt ist. Aber auch das kostet viel Geld. Und dafür fehlt dem Vater das Geld. So sitzen wir im Winter gerne in der Küche und schälen Kartoffeln oder wir spülen Geschirr, denn es ist der wärmste Raum im Haus.

Als wir hergezogen waren, hatten wir im Dorf kein einziges Kind gekannt. Kinder, die wir im Ort, wo Vaters kleine Wohnung liegt, kennen gelernt hatten, konnten uns im Dorf nicht besuchen. Das Dorf ist zu weit entfernt. Es fahren zu wenig öffentliche Busse. So hatten wir anfangs keine Freunde. Die Dorfkinder lernten wir in der Dorfschulklasse kennen.

In der Dorfschule gibt es nur zwei Klassen. Mein Lehrer, Herr Götz, ist ein sehr strenger Lehrer. Ich glaube, er ist schon sehr alt. Er schickt mich manchmal aus dem Klassenzimmer. Er bestraft mich oft. Manche Unterrichtsstunde muss ich still in der Ecke neben dem Waschbecken stehen. Es gibt immer unterschiedliche Gründe für die Strafen. Ein Mal fehlen die Stifte in meinem Federmäppchen. Ein anderes Mal ist es mein Zuspätkommen am Morgen. Oft habe ich meine Hausaufgabe wieder nicht vollständig erledigt. Meistens ist es meine unvollständige Hausaufgabe. An ihr fehlt immer etwas. Nachmittags sitze ich zu Hause am Küchentisch. Die Stiefmutter will wissen, was ich für Hausaufgaben habe. Weil ich Angst habe, erzähle ich ihr nicht, dass Herr Götz noch viel mehr zu Schreiben aufgegeben hat.

Nachdem die Schulglocke läutet, gehe ich kurz auf die Schultoilette. Dort ziehe ich mein Hausaufgabenheft aus dem Schulranzen. Die richtigen Seitennummern, die ich vormittags im Unterricht eingetragen hatte, radiere ich wieder aus und ersetze sie. Ich bin sehr schlecht im Schreiben. Meine Hände zittern zu stark. Weil ich für das Abschreiben von nur einer Seite aus dem Schulbuch, schon mindestens zwei Stunden nachmittags neben der schreienden Stiefmutter am Küchentisch sitzen muss, kann ich unmöglich die fünf oder sechs Seiten erledigen, die mein Lehrer Götz als Hausaufgabe aufgibt.

In der alten Dorfschule bekomme ich Ohrfeigen, wie von der Stiefmutter, wenn ich etwas tue, das den Lehrer Götz besonders aufregt. Meistens reicht schon die fehlende Hausaufgabe. Jeden Morgen betrete ich das große Klassenzimmer. In der Türschwelle weiß ich schon, dass es wieder eine Strafe von Herrn Götz für mich gibt. Als Hausaufgabe habe ich zu wenige Seiten aus dem Lesebuch abgeschrieben.

Einmal hatte ich etwas besonders Schlimmes getan. Morgens kam ich wie jeden Tag in mein Klassenzimmer. Ich stank fürchterlich. Herr Götz war schon hinter seinem Pult gestanden. Im dicken Lesebuch blätterte er. Er suchte die Seite, auf der er tags zuvor mit dem Lesen aufgehört hatte. Ich trat über die Türschwelle und lief schnell an ihm vorbei. Ich wollte nach hinten laufen zu meinem Platz. Im Vorbeigehen am Lehrerpult schnappte Herr Götz mich an meiner Jacke. Er zog mich dicht an sich heran. Er schnüffelte an mir herum. Ich hörte seine dumpfe, tiefe Stimme: “Kerle, das glaubscht doch selber nedde! Du Bürschle haschd doch ned ebbas graucht heut morge, scho vor da Schul? Oder nach was schtinkscht ‘n du sonscht?”

Regungslos, wie sonst vor dem Vater, stand ich vor dem Lehrer. Das war der Moment, in dem der Lehrer heftig zuschlug. Den Vormittag lang hatte ich in der Ecke beim Waschbecken zu stehen.

Tatsächlich hatte ich mir an diesem Morgen etwas Unglaubliches geleistet. Als ich das Dorfschulhaus betrat, war mir schlecht. Ich ging zur Toilette, wo ich mich übergab. An diesem Morgen war die Stiefmutter mit dem Vater zusammen im weißen Käfer in die Stadt gefahren. Bevor ich mit Matthias das alte Haus Richtung Dorfschule verließ, nahm ich eine von Vaters Pfeifen vom Schrank. Ich stopfte die Pfeife, so wie ich es beim Vater oft beobachtet hatte. Bis zum Rand füllte ich sie mit Tabak und drücke den Tabak mit seinem silbernen Pfeifenstopfer fest. Ich rauchte sie auf unserer Toilette zu Hause.

Wir haben zwei Toiletten, eine ist im Haus und die zweite ist auf der Rückseite des Hauses, hinter der Küche. Dort kann man ein großes Fenster nach draußen öffnen. Nur Matthias und ich waren noch im Haus. Bei geöffnetem Fenster saß ich auf der Toilette und paffte vor mich hin. Heute, wo ich mich an diesen Morgen erinnere, wundere ich mich: Warum traute ich mich so etwas? Hatte ich an diesem Morgen keine Angst? Vaters Pfeife rauchen! Unglaublich! Trotzdem war es ein Spaß! Jetzt muss ich ein bisschen schmunzeln, über mich an diesem Morgen. Wie unglaublich dumm ich da war!

Schon nach den ersten Schritten auf der Dorfstraße Richtung Schule wurde mir sehr schlecht. Auch nachdem ich mich auf der Schultoilette übergeben hatte, wurde es nicht besser.

Zu Hause am Mittag war mir immer noch schlecht. Die Stiefmutter wusste schon, was los war. Der Lehrer hatte bereits angerufen. So ist es im Dorf. Es gibt keine Geheimnisse. Deshalb hatten wir in der Schule nie etwas von zu Hause erzählt. Es war niemals sicher, wen der Lehrer anruft. Es war niemals sicher, wann er anruft. Stets bestand die Gefahr, dass er die Stiefmutter bereits angerufen hatte. Auch an diesem Tag hatte sich diese Gefahr bestätigt.

Natürlich hatte der Lehrer auch bemerkt, dass ich in meinem Hausaufgabenheft oft herumradierte. Hin und wieder rief er deshalb die Stiefmutter an. Sie kontrollierte dann mein Hausaufgabenheft und prügelte die ausradierte Hausaufgabe aus mir heraus. So hatte ich nachmittags immer weniger Zeit. Die freie Zeit im Versteck, in der alten Scheune wurde immer weniger. Die Hausaufgabenzeit mit der plärrenden Stiefmutter wurde immer länger.

Zum Glück konnte sie an diesem Tag nicht wissen, dass ich Vaters Pfeife geraucht hatte. Ich hatte das in der Schule nicht dem Lehrer gesagt, so konnte der es ihr am Telefon auch nicht sagen.

Mittags empfing mich die Stiefmutter unten an der Haustür. Sie schlug so zu, wie ich es kannte. Sie schrie so, wie sie es beinahe täglich tat. Wegen ihrem hohen Geschrei verstand ich sie kaum. Es war klar, was sie wissen wollte. Ich hörte sie kreischen: “Wo hascht du die Zigaredden geklaud? Des Klaun und Lügn wer i dir no austreim!”

Auf dem Weg von der Schule hatte ich mit Matthias ausgemacht, dass er mich nicht verrät. Es war klar, dass die Stiefmutter versuchen würde, auch aus ihm etwas herauszuprügeln. Tatsächlich schlug sie bereits unten an der Haustür auch auf ihn heftig ein. Mit Matthias hatte ich ausgemacht, dass ich morgens auf dem Schulweg ein paar Zigaretten gefunden hatte, sie wären einfach vor mir auf der Straße gelegen.

Die Stiefmutter hatte uns die Treppe hinaufgezerrt. Im Korridor zum Esszimmer schlug sie weiter auf mich ein. Jetzt behauptete ich, dass ich die Zigaretten auf der Straße gefunden hätte. Das glaubte sie nicht. Es war der Anlass mich ins Kinderzimmer zu zerren und noch heftiger auf mich einzuschlagen. Sie plärrte: “Lügen und au no frech sein! Des werma dir scho no austreim! Dei Vadder wirds da heut abend scho zoign!” Ich stand vor ihr, heulte und ich sagte, es sei nicht gelogen. Ich wiederholte, ich hätte eine Schachtel gefunden, in der noch zwei Zigaretten gewesen seien. Wo ich das Feuer her gehabt hätte, wollte sie wissen. Daran hatte ich nicht gedacht! Weil ich darauf nichts sagte, schlug sie noch heftiger auf mich ein. Sie wiederholte, dass sie sich nicht belügen lasse und dass der Vater es abends schon zeigen werde. Wieder schrie sie mich wegen des Feuers an. Jetzt antwortete ich. Ich sei schnell zurück nach Hause gelaufen. Ich hätte mir die erste Zigarette mit Vaters Feuerzeug angezündet. Das war eine Unverschämtheit! Vaters Feuerzeug zu benutzen! Sie schlug weiter zu. Ich konnte nicht mehr reden. Obwohl ich nichts mehr tun konnte, kreischte und schlug sie weiter.

Bei solchen Auseinandersetzungen hatte es zu Hause keinen frühzeitigen Abbruch gegeben, bevor nicht das Ziel erreicht war. Die Stiefmutter kreischte weiter, obwohl ich nicht mehr konnte. Sie schlug weiter auf mich ein, sie schrie weiter. Ich soll sie nicht anlügen, ich soll endlich sagen, woher ich die Zigaretten und das Feuer hätte. Ich konnte mich nur wiederholen, denn es wäre eine Katastrophe geworden, wenn ich zugegeben hätte, dass ich Vaters Pfeife geraucht hatte. Es sei die Wahrheit, die Zigaretten hätte ich gefunden, das Feuer sei von Vaters Schrank gewesen.

Obwohl Matthias unschuldig war, wurden wir beide bestraft. Das hatte die Stiefmutter, seitdem ich sie kenne, immer so gemacht. Ihr ist es wichtig, dass wir Geschwister alle Angst vor ihr haben. So will sie erreichen, dass wir uns gegenseitig verraten. An diesem Nachmittag hatte sie das nicht erreicht. Matthias verriet mich nicht. Er hielt sich an unsere Absprache, obwohl die Stiefmutter auch ihn heftig verprügelte. Das Haus durften wir an diesem Nachmittag nicht verlassen. Wir schrieben den ganzen Nachmittag über in unsere Hefte. Wir saßen neben der keifenden Stiefmutter am Küchentisch. So warteten wir, bis abends der Vater kam. Wir hatten genau gewusst, was dann auf uns zukam.

Zu Hause gibt es kein Entrinnen. Vater und Stiefmutter entkommt keiner von uns. Wir finden keine Ruhe vor den beiden. Im Laufe der Zeit wird es immer schlimmer. Denn mit der Zeit sammelt sich immer mehr an, was das Leben zu Hause unerträglich macht.

Ich war sehr froh, dass Matthias nichts von der Pfeife auf der Toilette erzählt hatte. Ich glaube, es wäre wirklich eine unbeschreibliche Katastrophe geworden, wenn das herausgekommen wäre, denn der Vater war abends sehr wütend gewesen. Ich hatte die Pfeife sauber geputzt in das Regal zurückgelegt. Als der Vater abends nach Hause gekommen war, erzählte ihm die Stiefmutter sofort alles. Der Vater fragte nicht lange weiter nach. Er verstand sofort, dass ich etwas sehr Schlimmes getan hatte und vor allem, dass ich die Stiefmutter belogen hatte.

Für den Vater ist Ehrlichkeit das Allerwichtigste in diesem Leben. Ich glaube, es ist für ihn unerträglich, zu wissen, dass seine Kinder lügen. Ich glaube, der Vater denkt, dass deshalb, weil wir manchmal lügen, aus uns Kindern, wenn wir erwachsen sind, schlimme Verbrecher werden. Mit seinem Prügeln will er erreichen, dass wir aufhören zu lügen. Mit seinen Schlägen erreicht er das niemals. Der Vater versteht nicht, dass ich lüge, weil ich Angst habe. Ich lüge nicht, weil ich andere bestehlen will oder gar Verbrecher werden will. Sondern ich lüge, weil mir nichts anderes einfällt, um mich vor dem Vater und der Stiefmutter zu schützen. Er versteht nicht, dass ich manchmal sogar lüge, weil ich fürchte, von ihm totgeschlagen zu werden. Wenn ich nicht die Wahrheit sage, wenn ich nicht verrate, dass ich morgens seine Pfeife geraucht habe, dann schlägt er nicht so fest zu. Nur dann wird er mich nicht totschlagen. Ich werde kein Verbrecher werden, weil ich lüge. Der Vater versteht das nicht.

Der Vater hatte abends zuerst mit der Hand auf uns eingeschlagen, dann zog er uns in unser Schlafzimmer. Der Gürtel aus der Hose lag schon in seiner Hand. Ich war als erster dran, denn ich hatte die Sache ja ausgefressen. Wie immer musste ich mich über den Stuhl legen. Der Vater schlug zu.

Der Vater schrie, er werde so lange schlagen, bis wir uns das Lügen abgewöhnten. Das Lügen hätten wir im Kinderheim gelernt. Bei ihm gäbe es so etwas aber nicht. Er werde uns zu ehrlichen Kindern erziehen.

Wir hatten ohrenbetäubend laut geschrieen an diesem Abend, denn die Schläge waren besonders kräftig. Mein großer Bruder Mark war noch nicht zu Hause gewesen. Den ganzen Nachmittag hatte ich gehofft, dass er vor dem Vater kommt. Er konnte nicht vor dem Vater zu Hause sein. Seine Arbeit hatte immer länger gedauert als die des Vaters, und mit dem Mofa konnte er nicht so schnell nach Hause fahren, wie der Vater mit dem Käfer.

9. Christians Geburtstag

Immer noch sitze ich oben auf dem Schotterhügel vor der Bahnbaustelle. Die Stadt sehe und höre ich vor mir. Eine Kirchturmuhr schlägt elf Mal. Ich bleibe hier, bis es Mittag wird. Dann werden die Geschäfte schließen und dann wird auch der Vater seine Suche nach mir in der Stadt aufgeben. Der Vater könnte auch bei geschlossenen Geschäften in der Stadt nach mir suchen. Also bleibe ich nicht wegen der Geschäfte bis zum Mittag hier sitzen. Ich bleibe hier, weil ich noch eine Zeit ausruhen muss.

Der heutige Tag ist mein dritter Fluchtversuch. Ich hoffe, dass das Sprichwort: “Alle guten Dinge sind drei”, heute für mich wahr wird und mein heutiger dritter Versuch klappen wird. Als ich das zweite Mal von zu Hause fortgelaufen war, war Matthias wieder mit dabei. Wieder waren wir nach der Schule nicht nach Hause gegangen. Aber wir hatten aus dem ersten missglückten Fluchtversuch gelernt und blieben nicht auf der Landstraße. Direkt unterhalb unseres Dorfes gibt es einen breiten Forstweg, den Matthias kannte. In einem kilometerweiten Bogen führt der Weg an der Stadt vorbei. Stundenlang waren wir auf diesem Weg unterwegs gewesen. Meine Zweifel wurden immer größer. Ich fragte Matthias immer öfter, ob er noch glaube, dass der Forstweg zu dem Ort führt, oberhalb dem die Oma wohnt. Ich hatte Angst, dass wir uns verlaufen. Matthias blieb zuversichtlich. Er hatte mich immer wieder beschwichtigt. Tatsächlich behielt er Recht. Nach vielen Stunden, als die Abenddämmerung schon eingesetzt hatte, endete der Forstweg an einer schmalen geteerten Straße.

Die schmale Straße führte einen steilen Abhang hinunter in ein kleines Tal. Von oben erkannten wir, dass unten tatsächlich der richtige Ort lag. Es war der Ort, in dem wir vergangenes Jahr die ersten Wochen beim Vater in seiner engen Wohnung gewohnt hatten. Auf der anderen Seite des Tals erkannten wir den Berg, auf dem das Haus von Oma liegt.

Unsere Freude war riesig. Die vielen Stunden auf dem Forstweg durch den Wald hatten sich gelohnt! Wir hatten uns nicht verlaufen. Schnell liefen wir die Teerstraße hinunter in den Ort. Als wir unten ankamen, war es bereits finster.

Ein kalter, aber sonniger Januartag lag hinter uns. Nach dem Sonnenuntergang wurde es eisig kalt. Es war der Geburtstag von meinem Bruder Christian. Doch das war mir erst am Ende dieses langen Tages eingefallen.

Unten im Ort wurden wir von einem Erwachsenen angesprochen. Er fragte, ob wir uns verlaufen hätten. Ich glaube, er sprach uns an, weil wir unsere Schulranzen mit uns trugen und es doch schon Abend geworden war. Wir antworteten brav. Wir erklärten, dass wir länger Schule gehabt hätten und wir behaupteten, dass wir gleich um die nächste Ecke wohnten. Der Erwachsene war mit unserer Antwort zufrieden und ging weiter. Auch wir gingen weiter.

Erst einige Minuten später bemerkten wir, dass es mit unserer Ankunft im Ort stockdunkel geworden war. Ich wusste, dass die schmale Straße hinauf zur Oma nachts unbeleuchtet ist. Das fiel mir wieder ein, als ich die Dunkelheit in dem Ort sah. Ich glaube, weil mir das eingefallen war, verlor ich plötzlich den Mut. Ich hatte Angst, weiterzugehen wegen der finsteren Straße hinauf zur Oma. Wir waren sehr abgekämpft und müde von dem langen Fußmarsch. Wir hatten Hunger, und es war eisig kalt und dunkel. Der ganze Mut, den wir oben am Hang noch gespürt hatten, weil wir richtig gelaufen waren, war plötzlich verschwunden.

In der Nähe kannten wir einen Kaugummiautomaten. Wegen unseres Hungers dachten wir darüber nach, ob wir hingehen sollten, um ihn aufzubrechen. Weil das sehr dumm und auffällig gewesen wäre, ließen wir es. Mit den Kaugummis hätten wir unseren Hunger nicht vernünftig stillen können. Der Automat hängt an einer Hausecke, direkt an der Hauptstraße. Hätten wir ihn geknackt, wären sicher alle Kaugummis auf die Straße gerollt.

Unser Mut war gewichen. Wegen unseres Hungers und der Kälte kamen uns solch dumme Dinge in den Sinn. Aber wir waren noch gescheit genug, so etwas Blödes nicht zu tun. Weil wir nicht wussten, was wir tun sollten, drückten wir uns auf dem Hof hinter irgendeinem Haus herum.

Dort dachten wir beide laut darüber nach, unsere Flucht aufzugeben. Aber keiner von uns traute sich, vorne an der Haustür des fremden Hauses zu läuten. So liefen wir eine Zeitlang verzweifelt in der Kälte hinter dem Haus auf und ab. Bereits nach wenigen Minuten entdeckte uns jemand. Eine Frau öffnete ein Fenster im ersten Stock. Von oben rief sie hinunter: “Was macht ihr denn da unten?” Ich rief hinauf: “Nichts. Wir schauen hier nur ein bisschen herum.” Es war eine sehr dumme Antwort, doch mir war nichts anderes eingefallen. Außerdem wollte ich, dass die Frau zu uns herunterkommt. Ich wollte, dass sie uns in ihre warme Wohnung holt. Ich glaube, Matthias wollte das auch. Er sagte nichts, sondern er nickte der Frau da oben nur freundlich zu. Die Frau rief hinunter: “Was gibt’s hier denn zu Schauen? Habt ihr da eure Schulranzen auf den Rücken?” Wir beide nickten freundlich hinauf zu der Frau. Die Frau fragte: “Wo kommt ihr denn her, um diese Zeit, wo wohnt ihr denn?” Ich rief laut hinauf: “Wir haben uns verlaufen, nach der Schule!” Jetzt lehnte sich die Frau etwas weiter aus ihrem Fenster. Ungläubig rief sie zu uns hinunter in den dunklen Hof: “So lange habt ihr euch verlaufen? Das gibt’s ja gar nicht! Wo wohnt ihr denn?” Jetzt war mir endgültig klar geworden, dass die Flucht an diesem kalten Tag mit Matthias gescheitert war. Wir scheiterten an der Kälte, an der Dunkelheit und an unserem Hunger. Ich dachte daran, dass wir von der Frau sicherlich etwas zu essen bekommen, wenn sie uns in ihre warme Wohnung hinauf holte, vielleicht würde sie uns sogar zur Oma bringen. Aus dem Hof rief ich zu ihr hinauf: “Wir wohnen in Zweiflingen! Wir sind in den Wald gelaufen und haben nicht wieder nach Hause gefunden!” Die Frau hatte immer noch nicht verstanden, dass sie etwas für uns tun muss. Sie rief: “Ja in Zweiflingen! Das ist ja ein schönes Stück weit weg! Das gibt’s doch gar nicht!” Die Frau lehnte sich noch weiter hinaus. Weil sie immer noch nicht sagte, dass wir zu ihr hinauf kommen sollten, rief ich: “Doch! In Zweiflingen wohnen wir! Und jetzt ist uns saukalt!” Jetzt wusste die Frau über uns bescheid. Sie rief hinunter in den Hof: “Wartet da unten, ich komme runter!” Sie Schloss ihr Fenster. Das Licht hinter dem Fenster ging aus. Nur Sekunden später erschien sie im Hof. Sie trug einen dicken Mantel. Sie sagte: “So, ich bringe euch jetzt zu einer Polizeistation!”

Mich hatte eine Polizeistation sehr interessiert, weil ich noch nie auf einer gewesen war, trotzdem antwortete ich der fremden Frau: “Wir wollen aber lieber zur Oma! Die wohnt nicht weit, da oben am Berg!” Das interessierte die Frau nicht. Sie nahm uns beide an der Hand. Sie brachte uns über die Hauptstraße zur Polizei. Dort bekamen wir zu essen und zu trinken. Bei einem Polizisten warteten Matthias und ich in einem beheizten Zimmer. Die Polizeistation war uninteressant. Ich sah nur diesen einen Polizisten und dieses eine, langweilige Zimmer.

Nach einiger Zeit kamen zwei Leute, eine Frau und ein Mann. Wir kannten sie nicht. Sie fragten uns, warum wir von zu Hause abgehauen waren. Wir erzählten ihnen, dass wir zu Hause immer Angst hätten.

Schließlich brachten uns die Frau und der Mann in einem gelben VW-Passat zurück ins Dorf. Sie parkten ihren Wagen neben Vaters weißem Käfer. Sie gingen mit uns ins Haus. Sie verschwanden mit der Stiefmutter und dem Vater im Wohnzimmer. Dort sprachen sie eine Zeitlang miteinander. Mark war noch nicht zu Hause gewesen, aber Christian saß in der Küche.

Christian saß am Küchentisch. Er begrüßte Matthias und mich nicht. Stattdessen zog er ein Gesicht, wie ich es an ihm kenne, wenn er sehr wütend und sauer auf mich ist. Er war sehr beleidigt und er hatte einen guten Grund. Der Tag war sein Geburtstag.

Heute darf ich auf keinen Fall auf eine Polizeistation gebracht werden. Auch heute würde ich sicherlich ins Dorf zurückgebracht werden. Ich muss es diesmal unbedingt schaffen. Die Oma wird mir bestimmt helfen. Sie hatte uns früher schon so viel geholfen. Vielleicht kann ich bei ihr wohnen. Bei ihr wohnen ja noch mehr Kinder. Ich muss heute die Oma unbedingt erreichen, anders geht es heute auf keinen Fall.

Der Geburtstag war überhaupt nicht schön für Christian. Wegen des Ärgers, den Matthias und ich angerichtet hatten, tobte die Stiefmutter den ganzen Nachmittag durch das Haus. Der Vater hatte uns den ganzen Tag mit dem Auto gesucht. Christian bekam kein Geburtstagsgeschenk. Matthias und ich hatten seinen Geburtstag versaut.

Hätten die Stiefmutter und der Vater meinem Bruder Christian an diesem Geburtstag etwas geschenkt, wenn Matthias und ich nicht fortgelaufen wären? Christian muss es gehofft haben. Ich glaube, er hoffte auf ein winziges Geschenk. Vielleicht hatte er auf etwas Geld gehofft. Vielleicht hatte er an zwei Mark gedacht. Nein, das ist sehr unwahrscheinlich. Christian weiß, dass die Stiefmutter und der Vater kaum Geld haben. Vielleicht hatte er auf eine Tafel Schokolade gehofft, wie wir sie zu Weihnachten bekommen hatten.

Jeder von uns bekam zu Weihnachten eine große Tafel. Mich hatte das sehr überrascht, denn ich hatte nichts erwartet. An Geburtstagen gibt es zu Hause nie etwas Besonderes. Es gibt keinen Kuchen, keine Kerze und keine Geschenke. Deshalb hatte ich auch für den Weihnachtsabend nichts erwartet. Das einzige: Ich hatte auf einen ruhigen Abend gehofft, sonst nichts. Dass es eine Tafel Schokolade für jeden gab, freute mich deshalb sehr. Wir legten die Schokolade in unsere Kleiderschränke, ins kühle Kinderzimmer. Wir teilten sie uns gut ein, sie reichte wochenlang.

Jetzt fällt mir ein warum Christian am Abend seines Geburtstages so sauer gewesen war und Matthias und mich in der Küche mit so einem grimmigen Blick empfangen hatte. Ich stelle mir das so vor: Christian hatte an diesem Tag kein Geburtstagsgeschenk erwartet. Nein, ich glaube es ging ihm genauso, wie es mir an Weihnachten gegangen war. Er hatte nur auf etwas Ruhe an diesem Tag gehofft. Er hatte gehofft, dass die Stiefmutter und der Vater ihn an diesem Tag in Ruhe ließen, sonst nichts. Christian besucht schon die Hauptschule in der Stadt. Morgens fährt er mit dem Bus um kurz nach sieben Uhr dort hin. Nachmittags kommt er spät nach Hause. Immer hat er lange Unterricht. Er versucht, so spät wie nur möglich nach Hause zu kommen. Ich glaube, an seinem Geburtstag war er nachmittags schon früher unterwegs nach Hause gewesen. Weil er Geburtstag hatte, brauchte er sicherlich nicht in den Konfirmandenunterricht zu gehen. Auf dem Heimweg von der Bushaltestelle dachte er über den vor ihm liegenden Nachmittag nach. Vielleicht dachte er: Heute wird es ein ruhiger Nachmittag für mich werden. Denn heute habe ich ja Geburtstag. Die Stiefmutter wird heute nicht um sich schlagen, denn sie weiß: Ich habe Geburtstag. Das ist schön, darauf freue ich mich. Ich werde mich mit diesem kleinen Comicheftchen, das mir ein Klassenkamerad geliehen hat, ins Wohnzimmer neben den warmen Holzofen setzen. Ich werde den Nachmittag im Sessel sitzen und in Ruhe dieses Comicheftchen lesen können. Die Stiefmutter wird mich in Ruhe lassen, denn sie weiß, dass ich heute Geburtstag habe. Sie wird mich nicht ankeifen, sie wird mir nicht meine Schulhefte um die Ohren schlagen, sie wird mir nicht ins Gesicht schlagen. Es wird ein anderer Nachmittag sein als sonst. Deshalb komme ich schon so früh nach Hause. Die Stiefmutter wird mich in Ruhe sitzen und lesen lassen. Ich freue mich auf meinen ruhigen Geburtstagsnachmittag.

Jetzt stelle ich mir Christian vor, wie er an diesem Tag vor unserer Haustür steht. Seine Hand liegt schon am Griff, er möchte sie gerade aufdrücken. Plötzlich wird sie von innen aufgerissen. Da steht die Stiefmutter vor ihm. Sie trägt ihre dunkelbraunen Filzpantoffeln und den grünen Haushaltskittel. Sie begrüßt ihn nicht. Ihr Gesicht sieht nicht freundlich aus. Sie lächelt das Geburtstagskind nicht an. Ihr Gesicht sieht gehässig aus. Ihr Gesicht trägt tausend Falten. Doch es sind keine Sorgenfalten. Es sind Falten, in denen Christian den Hass dieser Frau sieht. Sie macht sich keine Sorgen um uns Kinder, sondern sie hasst uns. In der Haustür keift die Stiefmutter Christian an: “Hascht du deine zwee Brider gsähä? Die sin net hoim kumme, von da Schul!”

Eine Antwort von Christian erwartet sie nicht. Die Stiefmutter zerrt Christian, wie einen der etwas sehr Schlimmes angestellt hatte, am Jackenkragen ins Haus. Sie plärrt das Geburtstagskind auf der Treppe an: “Du hascht denen beschtimmt an Tip gäbä! Von aloi kumme die doch nede uf die Idee nochamal abzuhaua!”

Ich glaube, so könnte es gewesen sein an Christians Geburtstag. Christian hatte nichts erwartet. An seinem Geburtstag hatte er nur auf Ruhe gehofft.

10. Die Zeit ist abgelaufen

Mein Bruder Mark ist jetzt in einem strengen Erziehungsheim. Das hatten der Vater und die Stiefmutter in den letzten Wochen beinahe täglich erzählt. Auch wir kommen in ein Erziehungsheim, wenn wir noch mal abhauen, so hatten sie gedroht. Wir sollten uns nicht einbilden, dass wir wieder zurück in das normale Heim in den Gebirgsort kommen. Das sei für uns für immer gestorben. Wenn wir noch mal zu Hause abhauen, dann ginge es uns genauso dreckig wie unserem großen Bruder. Der hätte jetzt nichts mehr zu lachen. Der wäre jetzt für sein ganzes Leben „erledigt“. Der komme aus dem Erziehungsheim nie wieder heraus. Da werde ihm beigebracht, dass er gegenüber Erwachsenen nicht so frech zu sein habe, wie er es zu Hause gewesen sei.

Ich finde nicht, dass Mark zu Hause frech zu Stiefmutter und Vater gewesen war. Er war viel zu wenig zu Hause, um frech zu sein. Vielleicht hatte er zu wenig Geld hergegeben, vielleicht hatte er in seiner Maurerlehre nicht ordentlich gearbeitet, vielleicht war er manchmal zu spät zur Arbeit gekommen, aber frech? Das hatte ich nie beobachtet.

Ich hatte ihn meist am Wochenende gesehen. Da war er zu Hause und er war immer freundlich zu Stiefmutter und Vater gewesen. Er arbeitete wie wir im Haus, in der Küche, im Garten und er kehrte auf dem Gehsteig. Mit uns spielte er. Er hatte immer Ideen für interessante Spiele im Freien oder im Haus. Wenn Mark zu Hause war, blieb alles ruhig. Die Stiefmutter schrie nicht, der Vater schlug nicht. Mark war nicht frech zu Erwachsenen. Er war für uns, seine jüngeren Geschwister, der große Bruder. Wenn er im Haus war, hatten wir kaum Angst. Vielleicht war es das gewesen, was die Stiefmutter und der Vater meinten. Vielleicht meinten sie, dass Mark frech gewesen sei, weil er uns oft geholfen hatte, indem er einfach da gewesen war. Wegen ihm hatten sich die Stiefmutter und der Vater nicht getraut, hemmungslos auf uns einzuschlagen. Vielleicht war das der Grund, weshalb sie ihn in dieses Erziehungsheim geschickt hatten.

Seit Mark weg gegangen war, war es zu Hause noch schlimmer geworden. Seit diesem Zeitpunkt hatten der Vater und die Stiefmutter uns jederzeit geschlagen, auch am Wochenende. Die Stiefmutter schlug mich auch am Samstag, wenn ich im Haus geputzt hatte, oder sie schlug auf mich ein, nachdem ich auf der Straße vor der Türe gekehrt hatte. Hatte ich das nicht ordentlich genug gemacht, und wie es ordentlich war, das bestimmte stets die Stiefmutter, dann gab es ihre Ohrfeigen, es gab Schläge und Tritte von ihr. Seit Mark weg gegangen war, hatte uns die Stiefmutter permanent beobachtet. Ich hatte das Gefühl, dass sie alles sah, was ich tat. Vor allem am Wochenende war sie stets dicht in meiner Nähe.

Oben im zweiten Stock, gegenüber dem leeren Zimmer von Mark, wohnt ihr Sohn Paul. Paul ist oft unterwegs. Ich weiß nicht wohin. Er fährt abends mit seinem Wagen, einem gelben Opel weg und kommt erst am nächsten Tag gegen Mittag wieder. Auch das Zimmer von Paul kehren wir am Samstagvormittag.

Es war am vergangenen Wochenende gewesen. Ich hatte oben im Zimmer von Paul gefegt. Die Stiefmutter hatte mich vom Treppenabsatz an Pauls Zimmertüre genau beobachtet. Unter dem Tisch hatte ich schlecht gekehrt. Die Stiefmutter sah dort Haare und Staub. Nachdem ich alles auf die Schaufel gekehrt hatte, sprang die Stiefmutter plötzlich ins Zimmer, sie griff unter den Tisch, hob dort etwas auf und hielt es mir vors Gesicht. Sie schrie: “Was isch das? Du hascht doch grad erscht da unde gekehrd, oder?” Ich stand vor ihr mit meinem Besen. Ich sagte nichts. Sie schlug mir ins Gesicht. Ich nahm den Besen, schob ihn unter den Tisch und kehrte noch mal alles hervor. Den Dreck schob ich auf die Kehrschaufel und kippte ihn in Pauls Abfalleimer. Sie beobachtete mich genau.

Wäre Mark nicht weg gewesen, hätte sie nie am Samstagvormittag zugeschlagen. Am liebsten hätte ich ihr den Besenstil ins Gesicht geschlagen. Das ging nicht, dann hätte sie oder der Vater mich totgeschlagen. Also bemühte ich mich, alles so gut und richtig zu tun, wie ich es konnte. Es hatte ihr auch nicht gepasst, wie ich den Dreck in Pauls Mülleimer kippte. Ich zitterte, und es fiel etwas Sand daneben auf den gekehrten Fußboden. Sofort schlug sie mir von hinten auf den Kopf.

Ich hatte keine Chance mehr. Das wurde vergangenes Wochenende klar. Seit Mark gegangen war, gab es keinerlei Schutz mehr vor dieser Frau. Es gab keine Ruhepause mehr. Ich konnte machen, was ich wollte, alles war falsch gewesen. Alles was ich tat, war so schlecht gewesen, dass die Stiefmutter zuschlagen konnte, wann und wie sie wollte.

Meine Zeit im Haus von Stiefmutter und Vater war abgelaufen, nachdem Mark gegangen war. Es hätte nur eine Möglichkeit gegeben: zurückschlagen. Das allerdings wäre mein Ende gewesen.

11. Es geht uns gut

Jetzt sehe ich einen Mopedfahrer. Langsam kommt er näher. Er sieht mich nicht. Vielleicht sollte ich weiter gehen. Vielleicht sollte ich nicht bis Mittag auf dem Schotterhügel warten. Vielleicht sieht mich ja doch irgendjemand. Vielleicht taucht plötzlich der Vater im weißen Käfer auf. Ich stehe auf und gehe langsam weiter. Vielleicht steht drüben in der Neubausiedlung jemand hinter einem Vorhang und beobachtet mich schon die ganze Zeit. Das kann ich nicht wissen. Vielleicht ist die Polizei schon unterwegs wegen mir. Vielleicht fragt sich drüben, hinter der Bahnbaustelle, in irgendeinem Neubau ein Mensch hinter einem Storevorhang: “Was macht der kleine Bursche da oben auf dem Schotterhügel so lange? Warum sitzt der da? Warum glotzt der so lange runter auf die Baustelle, wo dort doch nichts los ist?”

Ich klettere den Abhang hinunter. Ich gehe am Schotterhügel entlang. Den Mopedfahrer höre ich. Jetzt sehe ich ihn. Er kommt mir entgegen. Falle ich ihm auf? Hoffentlich nicht. Ich grüße ihn, wenn er vorbeifährt. Der Mopedfahrer soll glauben, dass ich hinter den Gleisen in einem der Neubauten wohne. Ich latsche hier nur ein bisschen herum. Jetzt ist er schon ganz nah. Ob er stehen bleibt und fragt was ich hier mache? Was soll ich antworten? Ich sage, ich gehe hier spazieren. Nein, das ist zu einfach. Warum sollte ich hier spazieren gehen? Jetzt wird der Mopedfahrer langsamer. Sein Motor knattert. Jetzt sieht er mich an. Ich nicke und schaue freundlich. Auch er nickt. Ich sehe sein Gesicht nicht. Er trägt einen schwarzen Sturzhelm. Er fährt dicht an mir vorbei, ohne etwas zu fragen.

Ich klettere wieder den Hügel hinauf. Drüben steige ich hinunter. Schnell springe ich über die Gleise. Es kommt kein Zug. Die Gleise sind noch nicht in Betrieb. Bahngleise darf man nicht überqueren. Aber ich bin ja auf der Flucht. Hier kann kein Zug kommen. Ich erreiche einen schmalen Weg in der Wiese. Langsam schlendere ich auf dem Weg. Ich tue so, als wohne ich in diesen Neubauten. Ich habe keine Eile. Ich komme von der Bahnbaustelle. Die finde ich interessant, denn ich bin ein zehnjähriger Bub. Zehnjährige Buben interessieren sich für riesige Baumaschinen, wie sie dort stehen. Ich erreiche die ersten neuen Häuser. Auf dem gefegten Bürgersteig sehe ich niemanden. Ein Besen lehnt an einem Gartentor. Der Samstagvormittag ist jetzt vorbei. Der Bürgersteig ist gekehrt. Die Straße flimmert in der Sonne. Ich höre das Klappern von Geschirr. Familien sitzen beim Mittagessen. Kein Kind spielt auf der Straße.

Ich spüre meinen Magen. Er ist leer. Gerne würde ich jetzt etwas essen, aber ich habe nichts. Ich halte es leicht einen Tag ohne Essen aus. Ich hatte heute Morgen nicht daran gedacht, dass ich Hunger bekommen würde. Jetzt rieche ich gekochtes Mittagessen. Es riecht aus den geöffneten Fenstern. Ich habe Hunger.

Viel zu gefährlich wäre es gewesen, heute Morgen in die Küche zu gehen. In der Küche gibt es den Brotkasten. Es steht links auf dem Küchenbuffet. Aus der Küche hätte ich etwas zu Essen holen können. Mein Plan hatte die Küche aber nicht vorgesehen. In der Küche schläft Rati unser Dackel. Sicherlich wäre er aufgewacht. Er hätte Lärm gemacht. Das konnte ich nicht riskieren. Ich komme leicht einen Tag ohne Essen aus.

Vom Lehrer in der Schule hatte ich einmal von Kindern gehört, die in Afrika hungern müssen. Dort müssen die Kinder immer ohne Essen auskommen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie das geht. Weil ich zu Hause zu essen und zu trinken habe, geht es mir gut. Der Vater hatte das oft gesagt. Er hatte gesagt, dass es uns sogar viel zu gut geht.

Als der Vater so alt war, wie ich es heute bin, hatte er bestimmt schon schwer arbeiten müssen. Damals muss Krieg gewesen sein. Mark hatte es einmal erzählt. Im Krieg gibt es für Kinder nichts zu essen, hatte er gesagt. Es ist so wie für die Kinder in Afrika. Kinder müssen im Krieg arbeiten. Sie müssen den Erwachsenen beim Schießen helfen.

Ich glaube der Vater hatte damals sehr hart arbeiten müssen, um zu Essen zu bekommen. Heute müssen wir unser Essen nicht mit harter Arbeit verdienen. Wir bekommen es vom Vater. Uns geht’s wirklich viel besser, als es unserem Vater ging, als er ein Kind gewesen war. Mark hatte einmal erzählt, dass er froh ist, dass wir unser Essen nicht selber verdienen müssen. Mark trägt seinen Teil schon bei, mit seinem wenigen Lehrlingsgeld. Aber wir Geschwister sind wirklich noch zu klein. Vieles ist seit dem Krieg viel besser geworden, hatte Mark gesagt.

Ich kann mir nicht vorstellen wie grauenvoll der Krieg für die Menschen vor allem für die Kinder und den Vater gewesen war. Oft hatte es gar nichts zu essen gegeben. Es war kalt, alles war zerstört. Mark hatte das in der Schule gehört. An einem Samstagnachmittag hatte er davon erzählt: “Unser Vater war damals so klein wie wir heute. Er hat um sein Leben gekämpft. Nach dem Krieg waren alle glücklich, dass sie das Grauen überlebt haben. In den sechziger Jahren haben viele ihre Familien gegründet. Die vom Krieg zerschossenen Häuser und Straßen waren fast alle repariert. Das Leben wurde wieder viel besser, als es vorher im Krieg gewesen war. Uns geht es heute viel besser als den Kindern und dem Vater im Krieg!”

Das hatte Mark auf einem Samstagsspaziergang erzählt. Trotzdem hatte er es beim Vater nicht mehr ausgehalten. Trotzdem ließ er sich vom Vater ins Erziehungsheim stecken. Obwohl Mark weiß, dass es Kindern im Krieg viel dreckiger geht als uns hier in Deutschland, sitzt er jetzt im Erziehungsheim. Aus der Schule weiß Mark auch, dass es überall auf der Welt Krieg gibt, auch heute. Mark hatte an dem Nachmittag erzählt, dass es Millionen Kinder gibt, denen es sehr schlecht geht. Ich glaube, das stimmt. Mark hatte es in der Schule gehört. Man sagt so etwas nicht zum Spaß. Mark war, obwohl es anderen in dieser Welt viel schlechter geht als ihm, trotzdem von zu Hause weggelaufen. Mark hat entschieden, dass er beim Vater genug ausgehalten hatte.

Habe ich genügend ausgehalten? Wie schlecht geht es mir beim Vater? Bin ich zu empfindlich? Halte ich vielleicht zu wenig aus? Wahrscheinlich bin ich verweichlicht! Vielleicht bin ich verweichlicht, weil ich nie Krieg erlebt habe, wie es der Vater während seiner Kindheit erlebt hatte! Vielleicht brauche ich auch so schreckliche Kindheitserlebnisse im Krieg, wie sie der Vater damals erlebt hatte, damit ich mein Leben beim Vater gut finde. Ich weiß nicht, wie schlimm der Hunger, die zerstörten Häuser, Dörfer, Städte, die vielen ermordeten Menschen im Krieg sind. Das alles muss für den Vater und alle Menschen im Krieg sehr schlimm gewesen sein. Es muss so fürchterlich schlimm gewesen sein, dass ich mir das heute gar nicht vorstellen kann. Vielleicht kann ich den Wert meines Lebens beim Vater nicht schätzen, weil ich noch nie so etwas Grausames erlebt habe. Der Vater hatte das alles erlebt. Sehr schlecht war es dem Vater im Krieg gegangen. Beinahe wäre er gestorben, wie Millionen andere. Ich glaube, mein großer Bruder Mark hat Recht. Weil es dem Vater so schlecht ergangen war, will er, dass es uns viel besser geht. Der Vater hat das erreicht. Uns geht es viel besser. Unser Kinderleben heute ist viel besser, als das Kinderleben das der Vater während des Krieges erlebt hatte. Da bin ich mir ganz sicher. Weil ich mir ein wenig vorstellen kann, wie schrecklich das Kinderleben des Vaters während des grauenvollen Krieges gewesen sein muss, brauche ich keinen Krieg. Mir reicht die schreckliche Vorstellung. Ich glaube, kein Mensch braucht Krieg. Ich glaube, auch der Vater hätte die schrecklichen Erlebnisse des Krieges nicht gebraucht, um für sich zu entscheiden, dass es seinen Kindern gut, besser als ihm während seiner Kindheit gehen soll.

Ich bin froh, dass es uns so gut geht. Ich bin sehr froh, dass ich das Essen vom Vater geschenkt bekomme. Ich wüsste nicht, wo ich das sonst herbekommen könnte. Ich habe kein Geld, um es zu kaufen. Trotzdem habe ich Angst vor dem Vater.

12. Ursprünglich war es anders

Damals als der Vater uns im Gebirgsort im Kinderheim besuchte, hatte ich noch keine Angst vor ihm. Da hatte ich ihn sogar lieb. Ich hatte mich immer gefreut, wenn er uns besuchte. Wir hatten sehr selten Besuch. Er war der Einzige, der regelmäßig kam. Die Tage mit dem Vater waren damals sehr schön gewesen.

Der Vater konnte immer nur kurz zu Besuch bei uns bleiben. Häufig hatte er mit uns Ausflüge in die nahen Berge unternommen. Wir wanderten mit dem Vater durch die Natur und meist hatte er uns zum Mittagessen eingeladen. Damals hatte er immer davon erzählt, dass er uns zu sich nach Hause holen werde. Das freute mich sehr, denn ich war gern mit ihm zusammen. Der Vater sagte, sobald er eine Frau gefunden habe, würde er uns holen.

Im Kinderheim hatte ich oft davon geträumt, wie schön es werden würde, wenn der Vater uns nach Hause holte. Ich hatte mir ein friedliches Zusammenleben erhofft. Ich hatte geglaubt, es würde so schön werden, wie an den Tagen als der Vater uns besuchte. Ich hatte keinen Zweifel daran, dass es gut werden würde.

Schließlich hatte der Vater diese Frau gefunden. Ich weiß nicht wie er sie kennen gelernt hatte. Der Vater erzählte nichts darüber. In unser Kinderheim hatte er die Frau nie mitgebracht. Vielleicht hatte er schon geahnt, dass sie mit uns, und wir mit ihr, nicht zurechtkommen würden. Vielleicht hatte der Vater befürchtet, wir Kinder könnten uns weigern, mit zu ihm nach Hause zu kommen, wenn wir diese Frau schon vorher kennen gelernt hätten. Ich weiß es nicht.

Ich hatte die Stiefmutter noch nicht gekannt, als der Vater uns zu sich holte. Der Vater hatte sie geheiratet. Ich glaube, weil die Stiefmutter nicht arbeitet, durften wir zu ihr und zum Vater ziehen. Sie hat Zeit, den Haushalt zu führen, sie hat Zeit, sich um uns zu kümmern. Vielleicht ist genau dieses unser Verhängnis?

Vielleicht wäre es besser, wenn sie arbeiten würde und der Vater zu Hause bliebe. Vielleicht hätte es der Vater nachmittags zu Hause anders mit uns versucht, als diese Stiefmutter. Weil ich, als wir letztes Jahr zum Vater zogen, noch keine Angst gehabt hatte, wäre das vielleicht gut gegangen. Der Vater hätte sich um uns gekümmert, während die Stiefmutter in ihrer Arbeitsstelle gewesen wäre. So hätte der Vater mehr Zeit gehabt zu sehen, was mit uns los ist. Er hätte sich nicht jeden Abend alles von der Stiefmutter sagen lassen müssen.

Weil die Stiefmutter abends eh schon immer sauer auf uns war, wurde der Vater auch jeden Abend gleich wütend. Das wäre anders gewesen, wenn der Vater tagsüber genau gesehen hätte, welche Schwierigkeiten wir aus der Schule mitbrachten. Der Vater hätte den Nachmittag zu Hause gestaltet. Der Vater hätte gesehen, dass wir uns anstrengten. Er hätte gemerkt, dass wir uns bemühten, soweit wir es konnten. Vielleicht hätte er geahnt, dass wir in der Schule und zu Hause nicht absichtlich alles falsch gemacht hatten. Vielleicht hätte er sogar irgendwann verstanden, dass wir die Stiefmutter und ihn nicht ständig ärgern wollten.

Der Vater hätte gesehen, dass wir vieles lernen wollten. Er hätte gemerkt, dass auch wir uns das Leben bei ihm anders gedacht hatten, als es schließlich geworden war. Vielleicht wäre dem Vater schnell klar geworden, dass wir uns dieses Leben alle schöner vorgestellt hatten. Wenn der Vater nachmittags zu Hause gewesen wäre, hätten wir es vielleicht mit ihm zusammen verändert.

Den Vater hatten wir alle schon lange Zeit gekannt. Wir wussten also, wie er es haben wollte mit uns. Bei seinen Besuchen im Kinderheim hatte er das oft genug erzählt. Auch er wusste, dass wir uns bei ihm ein schönes Leben vorgestellt hatten.

Ich glaube der Vater hat zu wenig Zeit, und Ruhe um zu sehen und um zu verstehen, wie es zu Hause ist. Er hat keine Ruhe, um zu erkennen, warum es zu Hause ist, wie es ist. Er hat zuwenig Zeit, um nachzudenken wie wir es zu Hause anders machen könnten. Vielleicht hat der Vater schon aufgegeben. Vielleicht glaubt er gar nicht mehr daran, dass es zu Hause so sein könnte, wie er es ursprünglich gewünscht hatte. Oder hat er vielleicht schon vergessen, wie er es sich ursprünglich wünschte?

Da ist die Stiefmutter. Warum kreischt sie so oft herum? Warum schlägt sie uns? Warum sagt sie das, was sie mit uns spricht, immer so gehässig? Warum schreit sie jeden Tag das gleiche: “Na ward Bürschle! Dei Vadder wirds da heut Abend scho zoing!” Warum will sie, dass der Vater abends seinen Gürtel benutzt? Ich kann ihr nicht mehr zuhören. Zwischen ihr und mir ist es aus. Wenn sie spricht, spüre ich, dass sie mich am liebsten zum Fenster hinaus werfen würde.

Warum lebt sie mit uns zusammen? Was hatte sie sich ursprünglich gewünscht? Vielleicht hatte sie sich ursprünglich auf uns gefreut, obwohl sie uns noch nicht gekannt hatte. Sicherlich hatte sie sich alles auch ganz anders vorgestellt. Oder hatte sie von vornherein geplant, uns jeden Tag zu beschimpfen, anzuschreien und zu schlagen? Ich glaube nicht, dass sie das ganz freiwillig tut. Sie will es nicht. Das glaube ich. Vielleicht kann sie einfach nicht anders. Ich glaube jetzt, seitdem Mark fort ist von zu Hause, weiß auch sie, dass es vorbei ist, dass es nicht so weiter geht.

Den Hass zwischen ihr und mir hatte ich von Beginn an gespürt. Als ich sie zum ersten Mal gesehen hatte, merkte ich sofort, dass etwas nicht in Ordnung ist. Obwohl sie nicht sofort gemein und gehässig zu mir gewesen war. Ich traf sie das erste Mal im Haus bei der Oma. Es war der Tag gewesen, als der Vater uns vom Kinderheim abgeholt hatte. Ich glaube, an dem Tag hatte sie nur so getan, als wäre sie nett. Heute glaube ich, dass sie uns im Haus der Oma an diesem Nachmittag etwas vorgespielt hatte. Sie hatte uns angelacht, sie hatte getan, als freute sie sich auf uns. Auch mit der Oma und dem Opa sprach sie ganz freundlich. Aber ich hatte gespürt, dass an ihrem Lachen und an ihrem freundlichen Grüßen und Reden irgendwas nicht stimmte. Ihr Lachen und Reden war sehr seltsam, sehr eigenartig. Es hatte etwas nicht zusammengepasst, doch ich kann heute noch nicht sagen, was das genau gewesen war, ich spürte das einfach. Schon von diesem ersten Tag an war mir die Stiefmutter unangenehm. Ich glaube schon von dieser ersten Begegnung an hatte der Hass zwischen uns begonnen, der sich im vergangenen Jahr ins Unermessliche steigerte.

Vielleicht war das mein Fehler gewesen, vielleicht hätte ich mich an diesem ersten Nachmittag gegenüber der Stiefmutter anders verhalten müssen, vielleicht hätte ich damals irgendwie verhindern können, dass dieser Hass zwischen uns entsteht. Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich hatte die Stiefmutter von diesem ersten Tag an schon gemerkt, dass ich sie nicht mag. Vielleicht war es schon dieser eine kurze Kennenslerntag bei der Oma gewesen, an dem die Stiefmutter sich entschieden hatte, mich zu hassen und mich zu schlagen.

13. Ordnung und Sauberkeit

Der Vater hatte sich schnell verändert. Er sprach nicht mehr genauso mit uns wie zuvor, als wir noch im Kinderheim gelebt hatten. Ich hatte das Gefühl, dass er sich nicht mehr so stark für uns interessierte. Und: Er war nicht mehr so nett zu uns.

Er sprach die ganze Zeit mit der Stiefmutter. Mit uns unterhielt er sich nur selten. Wenn er uns ansprach, hörte ich plötzlich einen neuen Ton in seiner Stimme. In seiner Stimme hörte ich nicht mehr, dass er von mir etwas hören-, etwas wissen wollte. Wenn ich den Vater reden hörte hatte ich das Gefühl, dass es ihn nicht mehr interessierte, wie es mir geht. Er sprach so, als erwarte er überhaupt keine Antwort von mir. Es war als wisse er eh genau, was mit mir los ist. Der Vater fragte seine Kinder nicht, sondern er befahl. Er sagte nur noch, was wir tun dürfen und was nicht. Das meiste durften wir nicht. Den gleichen Ton hörte ich von der Stiefmutter. Allerdings hörte ich diesen Ton von ihr viel öfter, denn der Vater war ja jeden Tag bei der Arbeit gewesen.

Wir Geschwister waren einiges gewohnt gewesen aus dem Kinderheim, in dem wir zuvor gelebt hatten. Die Nähe allerdings zu zwei Menschen, wie dem Vater und dieser Stiefmutter, denen wir zu Hause nicht entkamen, war uns neu. Wir hatten keine Chance, der Stiefmutter aus dem Weg zu gehen. Abends konnten wir auch dem Vater nicht aus dem Weg gehen.

Ich hatte das mit den Befehlen schon aus dem Kinderheim gekannt. Dort gab es viele Befehle und eine klare Ordnung. Das hatte mir nie etwas ausgemacht, oft fand ich das sogar gut, denn ich wusste genau, was verboten war.

Bei Stiefmutter und Vater war es anders. Sie befahlen und trotzdem war nicht zu verstehen, was genau verboten war und warum es verboten war. Trotz ihrer vielen Befehle verstand ich nicht, was sie eigentlich meinten. Eines hatte ich irgendwann gemerkt: Alles, was ich tat, war schlecht und falsch. In den vergangenen zwei Wochen, seit Mark fort ist, hatte ich gespürt: Es ist egal, was ich tue, denn alles, was ich tue, ist falsch.

Die Stiefmutter befiehlt. Ich tue, was sie befiehlt. Egal wie es mir gelingt, es ist immer etwas falsch, an dem was ich tue. Deshalb schlägt die Stiefmutter. Vor ihrem Schlagen gibt es kein Entrinnen. Abends erzählt sie dem Vater irgendetwas. Dann gibt es kein Entrinnen vor dem Schlagen des Vaters.

Braucht die Stiefmutter uns, damit sie schlagen kann? Braucht sie uns, damit sie sich ärgern kann? Braucht sie uns, weil wir vieles falsch machen, weil wir vieles nicht gut können, weil wir alles nicht so gut können, wie wir es sollten? Vielleicht braucht sie uns, damit sie tagsüber beschäftigt ist. Braucht sie uns als etwas, worüber sie sich aufregen kann? Ich weiß es nicht.

Die Stiefmutter spricht nie etwas Vernünftiges mit uns. Glaubt sie, dass wir dumm sind? Seit wir bei ihr und dem Vater wohnen, hat sie sich noch nicht mit uns unterhalten. Das einzige, was sie getan hatte, war, uns zu schimpfen und herumzuschreien. Für die Stiefmutter gehen wir Zigaretten kaufen. Für sie jäten wir das Unkraut aus dem Garten. Für sie fegen wir den Bürgersteig. Die Stiefmutter will Ordnung und Sauberkeit. Die Stiefmutter kontrolliert alles. Ist sie unzufrieden, kreischt sie und schlägt. Sie ist immer unzufrieden.

Einen Menschen wie die Stiefmutter hatte ich vorher nicht gekannt. Sie sagt nie, dass sie etwas gut findet. Ich glaube, etwas das sie gut findet, gibt es bei ihr nicht. Die hohe Stimme der Stiefmutter klingt schrecklich. Ich zucke sofort zusammen, wenn sie ertönt. Schlägt ihre Hand auf mein Ohr, höre ich ein Pfeifen. Manchmal höre ich das Pfeifen schon, bevor die Stiefmutter zuschlägt.

Ich weiß nicht, warum die Stiefmutter noch nie mit uns gesprochen hat. Ich weiß auch nicht, warum der Vater nicht mehr mit uns spricht.

III. Durch die Stadt

1. Suche nach dem gelben Schild

Ich bin mitten in der Stadt. Es ist meine Geburtsstadt. Trotzdem kenne ich mich nicht aus. Es ist laut und es stinkt. Viele Autos fahren auf einer breiten Straße an mir vorbei. Ich bin an einer Kreuzung angelangt. Ich weiß nicht, welche Richtung ich einschlagen soll. Ich gehe nach rechts. Ich suche eine Straße hinaus aus der Stadt in den Ort zur Oma.

Ich laufe auf dem Gehsteig an Wohnhäusern mit kleinen Vorgärten vorbei. Aus offenen Fenstern höre ich das Klappern von Geschirr. Ich rieche Abgase von Autos und Geruch von Mittagessen. Schon wieder kommt eine große Kreuzung. Diesmal gehe ich geradeaus. Jetzt rieche ich das Mittagessen nicht mehr. Rechts und links am Straßenrand sind keine Wohnhäuser mehr. Dort sind jetzt Geschäfte, die bereits geschlossen haben. Ich glaube, in den Stockwerken darüber sind Büros, denn alle Fenster sind geschlossen.

Ich biege nach rechts ab in eine gepflasterte Straße. Kein Auto fährt hier. Jetzt kommen einige Fußgänger entgegen. Den heutigen langen Vormittag war ich ganz allein gewesen. Kein Mensch ging nahe an mir vorbei oder kam mir entgegen. Deshalb frage ich mich nun, ob ich einem der Fußgänger auffalle. Wird mich einer fragen, wer ich bin, wo ich hin will? Ich werde schneller. Ich gehe an vielen Fußgängern vorbei. Sie alle kennen mich nicht, sie grüßen mich deshalb nicht, sie wollen auch nicht wissen, wer ich bin, sie wollen nicht wissen, woher ich komme und wohin ich heute gehe.

Ich verlasse die Fußgängerzone. An der nächsten Kreuzung gehe ich wieder gerade aus. Ich erreiche eine Bushaltestelle. Dort warten einige Menschen. Ob ich mit dem Bus zur Oma fahren könnte? Ich habe kein Geld. Deshalb kann ich mit dem Bus nicht fahren, auch wenn er zur Oma fährt. Ich gehe weiter.

Metzgereien, Schuhgeschäfte, ein Fernsehgeschäft, eine Bäckerei, alle haben schon geschlossen. Es ist kein langer Samstag heute. Die Straße wird nun breiter. Lärm und Gestank nehmen wieder zu. In jedem weißen Käfer, der an mir vorbeifährt, könnte der Vater sitzen. Deshalb drehe ich mich nicht nach den Autos um. Ich glaube, der Vater erkennt mich sofort. Ich gehe ganz nah bei den Häusern und Geschäften. Ich blicke in die Schaufenster. Wenn der weiße Käfer mit dem Vater auf der Straße vorbeifährt, sieht der Vater nur meinen Rücken. Vielleicht fährt er zu schnell an mir vorbei. Er bemerkt nicht, dass ich vor dem Kaufhausschaufenster stehe und mir die Auslagen ansehe.

An jeder Kreuzung gehe ich geradeaus. Ich gehe langsam. Ich renne nicht so verrückt schnell durch diese Stadt, wie heute Morgen durch das Dorf. Es hätte keinen Sinn, schnell zu laufen. Ich fiele nur unnötig auf. Ich tue so, als bummle ich ein wenig durch die Straßen. Ich bin auf meinem Weg nach Hause zum Mittagessen.

Die Fußgänger beachten mich nicht. Das kenne ich nicht. Hier kennt mich keiner, das ist in der Stadt anders als zu Hause. Im Dorf kennt mich jeder. Da weiß jeder, wo ich herkomme und wo ich hin gehe. Im Dorf fragt mich jeder, was ich will, wenn er es noch nicht weiß. Ich war noch nie allein unterwegs in einer Stadt.

Ich sehe mir die großen Straßenschilder an. Auf einem Schild muss der Name des Ortes stehen in dem die Oma wohnt. Durch das Fenster in Vaters Käfer hatte ich es schon Mal gesehen. Wir waren zum Einkaufen in die Stadt gefahren. Ich hatte schon lange geplant wegzulaufen und ich dachte daran, durch die Stadt zu gehen. Ich hatte mir überlegt, dass der Vater sicherlich nicht vermuten werde, dass ich diesen Weg wähle. Mein dritter Fluchtversuch soll mich heute auf keinen Weg führen, den ich schon einmal versucht hatte. Heute Vormittag sollte es nicht der breite Forstweg sein und auch nicht die Landstraße. Ich hatte schon lange entschieden, dass mein Weg mich heute durch diese Stadt führen wird. Deshalb hatte ich damals aufmerksam verfolgt, welche Strecke der Vater zum Einkaufen mit dem Käfer durch die Stadt gefahren war. Die Geschäfte und Schaufenster in der Nähe der Kreuzung mit dem richtigen Schild, das ich jetzt suche, hatte ich versucht, mir genau einzuprägen. Die Häuser und Mauern an der Straße hatte ich mir genau angesehen. Ich war mir damals sicher gewesen, dass ich den Weg zu dem Schild an der Kreuzung heute suchen werde. Heute bin ich hier und suche. Bis jetzt erkenne ich kein Geschäft und kein Haus wieder.

Vielleicht weiß die Oma schon, dass ich heute weggelaufen bin. Vielleicht hat sie der Vater schon angerufen. Vielleicht hat er schon gefragt, ob ich bei ihr angekommen bin. Christian hatte erzählt, dass der Vater immer die Oma anrief, wenn wir weggelaufen waren. Der Vater brüllte die Oma am Telefon an. Er drohte mit der Polizei, die er bei ihr vorbei schicken wollte, wenn wir bei ihr wären und sie ihn zu belügen versuche. Ich glaube nicht, dass die Polizei bei der Oma vorbei gekommen wäre und uns dort abgeholt hätte. Ich glaube, die Oma hätte im Jugendamt angerufen. Sie hätte erklärt, warum die Polizei uns nicht zum Vater bringen soll.

Vielleicht könnte die Oma dafür sorgen, dass ich bei ihr wohnen kann. Bei ihr wohnen schon viele Kinder. Vielleicht zu viele. Sie hat keinen Platz mehr im Haus. In allen Zimmern wohnen schon Kinder. Die Oma hilft mir trotzdem. Der Polizei würde sie mich bestimmt nicht freiwillig übergeben.

Weit entfernt erkenne ich jetzt wieder ein großes, gelbes Schild. Vielleicht steht da endlich der richtige Name. Ich komme schnell näher. Es stehen viele Namen auf dem gelben Schild. Aber der richtige ist wieder nicht dabei. Ich gehe geradeaus weiter.

Viele Männer fahren heutzutage einen weißen Käfer, genauso wie der Vater. In Vaters Käfer sitze ich gerne direkt hinter dem Vater. Von da sehe ich gut zum Fenster hinaus, und ich kann mich an der Lehne aufstützen. In der Mitte sitze ich nicht so gerne. Ich erinnere mich an eine Fahrt mit dem Vater. Es ist sehr lange her. Es war ein Ausflug. So etwas haben wir lange nicht mehr gemacht. Am Wochenende waren wir unterwegs zu Bekannten vom Vater. Nach langer Fahrt steuerte der Vater den Käfer auf einen Parkplatz. Meine Geschwister, die Stiefmutter, der Vater und ich, wir alle gingen auf die Toilette. Dann fuhren wir weiter.

Der Vater hatte die Fahrertür des Käfers nicht richtig zugeschlagen. Das erkannte ich sofort, denn wie immer saß ich hinter ihm. Die Tür war nur einen kleinen Spalt weit offen. Sie bewegte sich in den Kurven hin und her. Unten, durch den Türspalt sah ich in den Kurven die graue Straße. Die ganze Fahrt über beschäftigte mich die offene Tür. Ich dachte darüber nach, ob ich dem Vater sagen sollte, dass seine Türe offen ist. Ich hatte darüber nachgedacht, was geschehen würde, wenn die Tür plötzlich in einer scharfen Kurve aufspringt. Ich fragte mich: Stürzt der Vater dann hinaus auf die Straße, wird er gegen einen Baum geschleudert? Ich wäre schuld daran, weil ich die ganze Zeit lang gesehen hatte, dass die Türe nicht richtig geschlossen war. Ich hätte Schuld weil, ich nichts gesagt hatte. Die anderen würden mich fragen, ob ich nichts gesehen hätte. Sie würden sagen: “Du musst doch von deinem Sitzplatz etwas gesehen haben! Warum hast du nichts gesagt? Der Vater wäre noch am Leben, wenn du etwas gesagt hättest! Er hätte während der Fahrt nur kurz die Türe geöffnet und sie fest zugeschlagen. Dann wäre gar nichts passiert! Es wäre alles in Ordnung. Aber du hast einfach nichts gesagt. Du hast ihn weiterfahren lassen. Du hast so getan, als wäre nichts, als sei alles völlig normal. Nur du hättest ihm helfen können. Kein anderer wusste, dass die Türe aufgehen könnte. Du warst der einzige, der es schnell sagen hätte können und der Vater wäre noch am Leben, du bist Schuld daran!”

Dem Vater hatte ich während der Fahrt nicht gesagt, dass seine Türe nicht richtig verschlossen war. In den Kurven hätte sie aufspringen können. Es kamen sehr viele Kurven. Wir waren noch lange unterwegs. Die Türe war nicht aufgesprungen. Niemand hatte bemerkt, dass die Türe nicht richtig geschlossen war. Am Fahrtziel stiegen wir alle aus dem Auto aus, auch der Vater.

2. Vor einer Gärtnerei

Ich stehe vor einer kleinen Gärtnerei. Im Gewächshaus wird gearbeitet, obwohl heute Samstag ist. Frauen und Männer gießen und graben. Mit einem Gartenschlauch spritzen sie herum. Ich stehe auf dem Bürgersteig und schaue durch das Glas.

Die Gartenarbeiterinnen erinnern mich an unseren Garten im Dorf. Kurz nach unserem Einzug in das alte Haus hatte der Vater das meterhohe Gras mit einer Sense weggeschnitten. Im Garten waren neben dem hohen Gras bunte Blumen gewachsen. Der Garten war eine einzige bunte Blumenwiese gewesen. Das vom Vater abgeschnittene Gras warfen wir auf einen Haufen hinter dem Haus. Im Laufe der Zeit hatte die Stiefmutter im Garten neue Blumen eingepflanzt. Sie pflanzte Tulpen, Rosen und Geranien. Mir wäre ein Beet mit Schnittlauch, Tomaten und Petersilie recht gewesen. Auch die hohe, bunte Blumenwiese hätte mir gut gefallen. Alles Unkraut hätte ruhig weiter wachsen können. Anfangs hatte unser Garten ausgesehen, wie ich mir Gärten in Märchen vorstelle.

In unserem Garten hatten wir nie gespielt. Es kam überhaupt nicht in Frage, dort zu spielen. Der Garten war kein guter Platz für meine Geschwister und mich. Wir hatten in ihm gearbeitet, aber wir spielten dort nicht. Ich glaube, wir hätten dort auch dann nicht gespielt, wenn die Wiese schön hoch gewachsen wäre. Der Garten lag zu nah bei der Stiefmutter. Wir hatten stets darauf geachtet, beim Spielen im Freien möglichst weit weg von der Stiefmutter zu sein. Wir gingen in den Wald oder zur alten Scheune hinter der Schule. Wenn wir weit weg waren vom Haus, vom Garten, von der Stiefmutter, dann waren wir sehr froh, denn dann hatte ich das Gefühl, mich ein wenig frei bewegen zu können.

Ist das nun alles vorbei? Oder werde ich wieder, nachmittags im Dorf einen Platz zum Spielen suchen? Vielleicht werde ich nie wieder ins Dorf zurückkommen, so wie mein großer Bruder Mark. Ich bin ganz sicher, dass Mark nie mehr beim Vater wohnen wird. Mark lebt im Erziehungsheim und dort wird er für immer bleiben, das hatten der Vater und die Stiefmutter in den vergangenen Wochen oft genug gesagt.

Ins Erziehungsheim will ich nicht. Der Vater hatte oft gedroht, dass wir, wenn wir auch von zu Hause abhauen, so wie Mark, genauso wie es mit ihm geschehen ist, ins Erziehungsheim gesteckt werden. Heute ist es so weit. Ich bin abgehauen. Ich will aber nicht ins Erziehungsheim gesteckt werden. Ich will bei der Oma wohnen! Doch was mache ich, wenn das nicht geht? Was will ich, wenn bei der Oma kein Platz mehr für mich ist? Will ich zurück zur Stiefmutter und dem Vater? Oder gehe ich dann ins Erziehungsheim?

Vom Erziehungsheim hatte ich früher im Kinderheim schon gehört. Genauso wie es in den letzten Wochen der Vater getan hatte, hatte auch der Heimleiter damit gedroht. Manche Kinder aus seinem Kinderheim schickte der Heimleiter ins Erziehungsheim. Diese Kinder waren von heute auf morgen plötzlich verschwunden. In einem Erziehungsheim muss es sehr schlimm sein. Die Regeln die es dort gibt, müssen noch viel genauer und strenger sein, als in einem normalen Kinderheim. Ich hatte den Heimleiter so verstanden, dass dort die Kinder besonders viel geschlagen werden, wenn sie gegen die Regeln verstoßen. Sie dürfen das Heim nicht verlassen. Die Kinder dürfen nachmittags nicht mit anderen Kindern aus dem Ort spielen. Ich glaube, es gibt dort auch keinen Wald, in dem man Hütten bauen darf. Sicherlich gibt es auch keine Scheunen in denen man unbeobachtet Zigaretten rauchen kann. Man wird im Erziehungsheim streng überwacht und Tag und Nacht genau kontrolliert.

Ich glaube, wenn das so ist, will ich nicht ins Erziehungsheim. Zurück zur Stiefmutter gehe ich auch nicht. Also muss ich bei der Oma bleiben. Etwas andres fällt mir jetzt nicht ein. Was soll es sonst noch für mich geben? Es gibt nur die Oma, bei der ich leben kann.

Der Vater hatte gedroht, dass Mark im Erziehungsheim schon lernen werde, nicht mehr frech zu Erwachsenen zu sein. Dort werde er sich schon abgewöhnen, Erwachsene zu belügen. Wenn Mark das nicht lerne, dann komme er später ins Gefängnis. Das Gleiche werde auch mir blühen, wenn ich noch einmal davonliefe.

Wird Mark später in ein Gefängnis gesteckt? Vielleicht. Weil er sich nichts gefallen lässt und keine Angst vor den Erwachsenen hat? Der Vater und die Stiefmutter hatten gesagt, dass er sich im Erziehungsheim abgewöhnen werde, Erwachsene zu ärgern und sein Geld zum Fenster hinaus zu werfen.

Ich hatte das nicht verstanden. Ich habe nie beobachtet, dass Mark zu Stiefmutter und Vater frech gewesen war. Mir war auch nicht aufgefallen, dass Mark sein Geld zum Fenster hinausgeworfen hatte. Mark verdient sehr wenig Geld. Für seine Möbel hatte er deshalb sehr lange gespart. Er hatte die Hälfte für das Mofa auf einen Schlag an den Händler bezahlt, er zahlte monatlich seinen Anteil für die Miete und er zahlte seine Schulden bei Stiefmutter und Vater für die andere Hälfte des Mofas zurück. Was sollte er da noch zum Fenster hinauswerfen?

Das Mofa haben der Vater und die Stiefmutter bereits an den Händler zurückverkauft. Nur zwei Tage, nachdem Mark verschwunden war, schickten sie Christian, nachmittags nach der Schule, mit dem Mofa in die Stadt. Der Vater hatte sich von der Arbeit frei genommen und war mit dem Käfer hinter Christian her gefahren. Christian war niemals zuvor mit einem Mofa gefahren. Deshalb war er an diesem Tag begeistert, er strahlte, weil er endlich einmal Mofafahren durfte. Das Mofa hatte der Händler gerne zurück genommen. Jetzt steht es in seinem Schaufenster irgendwo hier in dieser Stadt. Christian hatte abends in unserem Schlafzimmer erzählt, dass der Vater einige Geldscheine dafür bekommen hatte. Die Hälfte von diesen Geldscheinen müsste Mark zurückbekommen. Ich weiß nicht, ob der Vater und die Stiefmutter ihm das in sein Erziehungsheim schicken werden.

Abends in unserem Schlafzimmer hatte Christian erzählt, dass das Mofa sehr gut gefahren war. Der Händler habe gesagt, dass er ein so gut repariertes und gewartetes Mofa sehr gerne zurückkaufe. Mark repariert alles gut. Schon früher im Kinderheim hatte Mark elektrische Geräte repariert. Alle Heimbewohner hatten ihm regelmäßig kaputte Radios und Kassettenrekorder zur Reparatur gebracht. In seinem Zimmer hatte Mark die Geräte zerlegt und oft stundenlang geduldig nach Fehlern gesucht. Meist war es ihm gelungen, die Defekte zu finden und die Geräte wieder in Gang zu bringen. Die Heimkinder hatten sich darüber immer gefreut. Mark war im Kinderheim ein zuverlässiger Ansprechpartner für alle technischen und mechanischen Probleme gewesen. Manchmal hatte er sogar Geräte von Erziehern repariert.

In seinem Zimmer im Kinderheim hatte Mark eine alte Musiktruhe. Der Vater hatte sie bei einem seiner Besuche für Mark mitgebracht. Von seinem Taschengeld hatte Mark Schallplatten gekauft. Marks Musik hatte mir gut gefallen. Auch dem Heimleiter hatte sie gefallen. Sie hatte ihm so gut gefallen, dass er sich einmal alle Schallplatten von Mark geliehen hatte, um sie auf Kassetten aufzunehmen.

Ich stehe immer noch auf dem Gehsteig vor der Gärtnerei. Die Arbeiterinnen tragen grüne Kittel. Sie räumen Pflanzentröge vom Gehsteig hinter den Zaun, sie tragen Gartenwerkzeug ins Gewächshaus, sie rollen Gartenschläuche zusammen. Sie räumen auf, damit morgen der Sonntag kommen kann. Ich denke jetzt nicht mehr an unseren Garten im Dorf.

Ich denke wieder an Marks Zimmer im Kinderheim, das nie aufgeräumt gewesen war. Im Zimmer stand alles voll mit zerlegten elektrischen Geräten. Sie hatten unter dem Bett gelegen, sie stapelten sich auf dem Schrank bis zur Decke, sie überwucherten den Tisch, und die vielen Kabel und Platinen versperrten den Blick aus Marks Zimmerfenster, weil die Stapel auch auf der Fensterbank höher und höher wuchsen. Alle im Heim hatten Mark gern, denn meist schaffte er es, auch das älteste Gerät wieder in Gang zu bringen.

Einer im Heim hatte Mark nicht besonders gern gehabt. Es war der Heimleiter. Von ihm hatte Mark nie etwas zur Reparatur angenommen. Nur einmal hatte Mark diesem Mann seine Schallplatten geliehen. Vielleicht hatte sich Mark dazu gezwungen gefühlt. Zwischen ihm und Mark war oft Streit gewesen. Ich glaube, das hatte darin seinen Grund, dass der Heimleiter oft diejenigen Mädchen im Arm hatte, mit denen Mark befreundet gewesen war oder es gern sein wollte. Ich glaube, deshalb hatte Mark dem Heimleiter nur einmal den Gefallen getan, seine Schallplatten herzuleihen. Mit den Mädchen, die Mark gern hatte, war der Heimleiter häufig nachmittags im Auto davongefahren und erst abends wieder zurückgekommen. Mark konnte nichts dagegen tun, denn die Mädchen hatten sich stets darüber gefreut, mit diesen Ausflügen im Wagen des Heimleiters etwas Besonderes zu haben. Oft durften diese Mädchen im Nebenhaus, in der Wohnung beim Heimleiter, in dessen Wohnzimmer vor dem Fernseher sitzen. Manchmal waren sie mit dem Heimleiter in eine Kneipe unterwegs oder sie wurden von ihm zum Eisessen im Ort eingeladen. Für den Heimleiter waren die Mädchen etwas Besonderes gewesen. Ich glaube, nachdem Mark das festgestellt hatte, war er immer wütender auf den Heimleiter geworden.

Auch in diesem Kinderheim in Oberbayern wurden wir Kinder oft geschlagen. Dieser Heimleiter und sein Buchhalter, der war sein Stellvertreter, hatten oft auf uns Kinder eingeschlagen. Aber mit denen konnte man reden. Mark konnte das. Oft hatte Mark die beiden einfach darauf angesprochen, wenn sie auf Kinder einschlugen. Einmal hatte ich sogar beobachtet, wie er sich dazwischen warf. Der Heimleiter schlug im Speisesaal auf einen kleinen Buben ein. Mark kam gerade zur Tür herein. Er sah den prügelnden Mann und stürzte sich dazwischen. Ich glaube Mark hatte sich damals deshalb oft so verhalten, weil er wissen wollte, warum der Heimleiter zugeschlagen hatte. Oft hatte Mark lange mit diesem Mann gesprochen. Manchmal hatte ich solche Gespräche beobachtet. Dabei war mir mehrmals aufgefallen, dass der Heimleiter im Gesicht rot wurde. Ich glaube, Mark hatte diesem Mann oft etwas gesagt, dass ihn ärgerlich machte. Eines Tages war es zwischen beiden so ärgerlich geworden, dass der Heimleiter sich nicht mehr beherrschen konnte. Während Mark den Mann wieder zur Rede gestellt hatte, hatte dieser Mark mit der Faust aufs Auge geschlagen. Ich glaube, deshalb und weil der Heimleiter so oft mit den Mädchen verschwunden war, konnte Mark den Heimleiter nicht mehr leiden.

Der Heimleiter hatte damals versucht, Mark in ein Erziehungsheim zu schieben. Aber es gelang ihm nicht, weil eines Tages der Vater gekommen war und sagte, dass wir bald zu ihm nach Hause gehen würden.

Mark wollte gerne Elektriker werden. Weil er alles reparieren kann, wäre das ein guter Beruf für ihn. Er wäre sicher ein guter Elektriker. Er kann sogar einen Fernseher wieder in Gang bringen. Der Vater hatte nicht gewollt, dass Mark Elektriker wird. Als Elektriker bekomme man zu wenig Geld, das hatte der Vater immer gesagt. Er hatte gesagt, dass man in der Lehre als Elektriker fast nichts verdient. Deshalb hatte der Vater für Mark eine Lehrstelle als Maurer besorgt. Mark solle unbedingt Maurer lernen, weil er als Maurer viel Geld verdienen könne und gut davon leben könne. Auf dem Bau verdiene Mark schon in der Lehre viel. Der Vater hatte behauptet, so verdiene er viel mehr, als wenn er Elektriker lerne. Wenn der Vater zu Hause so etwas gesagt hatte, dann hatte es stets gestimmt. Gegen die Worte des Vaters hatte es keinen Widerspruch gegeben, denn der Vater und die Stiefmutter dulden keinen Widerspruch. Mark hatte nicht widersprochen, denn er hatte schnell verstanden, dass Widerspruch zu Hause zu Streit führt. Mark wollte keinen Streit mit dem Vater, ich glaube, er hatte den Worten des Vaters getraut. Mark hatte den Worten des Vaters vertraut, der gesagt hatte, dass der Verdienst bei einer Lehre sehr wichtig ist. Also lernt Mark jetzt Maurer. Es ist sehr gut, dass Mark das Reparieren von Radios und Kassettenrekordern trotzdem nicht verlernt hat. Ich finde es schade, dass er nicht Elektriker wird.

3. Der richtige Weg

Ich höre Schlüssel klimpern. Die Gärtnerei wird jetzt zugesperrt. Ich gehe langsam weiter. Ich spüre meine Füße. Sie schmerzen nicht, aber sie kommen mir schwer vor. Wieder kommt eine Kreuzung mit großen Schildern. Wieder finde ich den richtigen Namen nicht.

Auf der Kreuzung blicke ich jetzt genau um mich. Sie kommt mir bekannt vor! Ich glaube, ich war schon einmal hier. Vielleicht habe ich diese Kreuzung schon mal durch das Käferfenster gesehen.

Ich gehe nach rechts. Kenne ich die Häuser in der Straße? Kenne ich die Geschäfte, die Gärten? Habe ich die Straße schon gesehen? Ich erinnere mich nicht. Ich spüre meinen Magen, er meldet sich, er hat Hunger. Ein Brötchen wäre jetzt gut. Aber ich halte es auch ohne aus. Eine lange Kurve. Eine Bushaltestelle. Meine Füße werden schwerer. Die Sitzbank ist leer. Die Fahrer in ihren Käfern, hinter ihren Windschutzscheiben, können mich jetzt gut sehen. Warum sitze ich hier? Der Vater könnte vorbei fahren.

Ich sitze und denke nichts mehr … Nichts denken ist schwer. Nicht an die Stiefmutter denken, nicht an den Vater, nicht an Mark im Erziehungsheim. Einfach sitzen und nicht denken, obwohl der Vater vorbei fahren könnte. Ich sitze hier, das Gewicht meiner Füße spüre ich jetzt nicht mehr. Ich könnte also weiter laufen. Trotzdem sitze ich immer noch hier. Weiße Käfer fahren ständig vorbei. Nichts zu denken ist schwer. Ich glaube, ich kann nicht nicht denken. An irgendetwas muss ich denken. Ich denke daran, was ich gerade tue. Heute laufe ich davon, obwohl ich weiß, dass es verboten ist. Ich laufe davon, obwohl es sein kann, dass zu Hause alles normal ist. Vielleicht ist es zu Hause genauso, wie in vielen anderen Familien. Heute laufe ich davon, obwohl es ungewiss ist, ob ich bei der Oma bleiben darf. Heute laufe ich davon, obwohl ich nicht ins Erziehungsheim gehen will. Alles was ich heute tue, ist schlimm, denn es ist verboten. Die Stiefmutter und der Vater haben verboten wegzulaufen. Ich muss das tun, was die Erwachsenen sagen. Erwachsene wissen, was gut ist und was schlecht ist. Ich bin noch zu klein, um das zu wissen.

Wer ruft denn da? Wem gehört die laute Stimme? Ich kenne sie nicht. Es ist die Stimme eines Erwachsenen. Durch die offene Bustür schreit der Fahrer: “Einsteige! Ned träume!” Sofort winke ich mit der Hand. Ich zeige in die andere Richtung. Ich stehe auf und laufe schnell los. Ich höre das Zischen der Bustür. Jetzt gibt der Fahrer Gas. Es qualmt grau aus dem Auspuff.

Ich drehe mich wieder in die richtige Richtung um. Den Bus sehe ich nicht mehr. Schnell laufe ich an der Bushaltestelle vorbei. Ich glaube, ich bin wahnsinnig. Was ich hier tue, ist Irrsinn. Ich tue nur Dinge, die schlimm sind. Ich laufe von zu Hause weg. Ich will zur Oma, obwohl ich genau weiß, dass sie keinen Platz mehr in ihrem Haus hat. Ich sitze hier, mitten in der großen Stadt, am Straßenrand an einer Bushaltestelle. Der Vater kann hier jederzeit anhalten. Ich glaube, ich bin verrückt geworden! Nichts von all dem ist erlaubt, alles ist verboten. Der Vater wird mich deshalb bestrafen.

Trotzdem laufe ich schnell diese langgezogene Kurve entlang. Jetzt erhebt sich neben dem Bürgersteig aus dem Boden in dieser langen Kurve eine dunkle, graue Mauer. Was treibt mich voran? Warum laufe ich so schnell, obwohl es mir ganz klar vom Vater verboten worden war, von zu Hause abzuhauen? Jetzt renne ich! Weil es verboten ist, weil es bestraft werden kann, deshalb renne ich. Im Grunde ist es vollkommen klar, dass ich renne. Ein Mensch, der denkt wie ich, ein Mensch der sich entscheidet, zu tun, was ich heute tue, ein Mensch, der heute tatsächlich tut, was ich lange überlegt und schließlich entschieden habe, dieser Mensch muss rennen!

Was ist das für eine hohe, graue Mauer neben dem Bürgersteig? Ja, sie kommt mir bekannt vor! Ich muss sie früher schon gesehen haben. Waren wir an ihr mit dem Vater im Käfer vorbeigerauscht? Ich glaube das könnte auf einer Einkaufsfahrt mit dem Vater in dieser Stadt gewesen sein. Ja, ich bin sicher, diese Mauer habe ich schon gesehen. Auf den Einkaufsfahrten in den Großmarkt hatte ich sie durch das Wagenfenster schon mehrmals gesehen. Ich renne, so schnell ich kann. Die Straße ist sehr breit. Viele Autos rasen vorbei. Endlich ist die Kurve zu Ende. Eine verkehrsreiche Kreuzung führt in vier Richtungen. Ich schwitze beinahe so stark wie heute Morgen im Dorf. Auch meinen schnellen Puls spüre ich wieder. Mit meiner Strickjacke wische ich wieder über meine verschwitzte Stirn. Auch meine Augen wische ich trocken. Aber nun kann ich gar nichts mehr erkennen. Weil ich zu fest auf meinen Augen herumgewischt habe, sehe ich die vielbefahrene Kreuzung und das große gelbe Schild kaum mehr. Alles sieht verschwommen aus. Ich bleibe stehen. Ich atme tief und schnell. Das gelbe Schild wird langsam klarer. Die Worte sind weiterhin unscharf, aber nun kann ich sie entziffern. Den ersten, zweiten und dritten Ort kenne ich nicht. Den vierten Ort kenne ich. Es ist unser Dorf. Wieso steht da der Name unseres kleinen Dorfes? Den fünften Ort kenne ich auch nicht. Der sechste Ort? Er ist richtig! Da ist der richtige Name, und der Pfeil zeigt nach links. Ich habe alles richtig gemacht! Endlich bin ich wieder auf dem richtigen Weg. Ich biege also nach links ab. Ich erkenne die Straße sofort. Es stimmt alles. Das ist der Weg in den Ort zur Oma. Ich habe mich nicht verlaufen, ich muss keinen Fußgänger nach dem Weg fragen.

Schweiß läuft durch mein Gesicht. Tropfen fallen herunter. Ich wische sie mit der Jacke weg. Ich sehe nur noch vereinzelte Häuser am Straßenrand. Jetzt kommen die ersten Bäume. Die Autos rasen schnell vorbei. Es sind viele Käfer dabei. Das Ortsendeschild kann ich vor mir erkennen. Die Stadt liegt also gleich hinter mir. Ich blicke jetzt auf die breite Straße mit den vielen rasenden Autos. Ich sehe mehrere Gesichter hinter den Windschutzscheiben in weißen Käfern. Zum Glück kenne ich keines. Ich sehe nach vorne und nach hinten. Die Straße ist jetzt kurz frei, deshalb renne ich sofort los. Ich überquere die Straße, sie hat vier Spuren. Der schwarze Teer sieht neu aus, genauso wie heute Morgen der Teer auf unserer Landstraße beim Dorf. Ich will keine Gesichter mehr hinter den Windschutzscheiben in weißen Käfern sehen, deshalb schaue ich jetzt nicht mehr auf die Straße.

Ein Schuhband öffnet sich. Schon wieder diese blöden Schuhbänder! Ich binde das Band nicht sofort. Oder kann ich es wagen? Mit dem Rücken zur Straße. Warum nicht? Ich kann schneller gehen wenn das Band wieder verschlossen ist. Wenn ich es gleich tue, geht das Binden schneller, weil das Schuhband noch nicht ganz aus der Öse herausgerutscht ist. Ich bücke mich. Schweiß tropft schon wieder herunter. Das Binden klappt dieses Mal besser. Ich renne weiter. Mit der Jacke wische ich über mein Gesicht.

Endlich passiere ich das Ortsendeschild mit dem Balken. Da kommt auch schon der erste Busch zwischen der Landstraße und dem Gehweg! Ich setzte mich in den Schatten hinter den Busch. Ich mache mich sehr klein. Kein Autofahrer kann mich sehen.

Eine Wolke schiebt sich vor die Sonne. Endlich ist überall Schatten. Deshalb ist keine weitere Zeit hinter dem kleinen Busch zu verlieren. Jetzt kann ich weiterlaufen. Schweiß läuft an meinen verschwitzten Armen hinunter. Die Hitze ist unerträglich, deshalb freue ich mich über die Wolken. Das Land ist flach, nur kleine Büsche stehen zwischen Straße und Gehweg. Schattenspendende Bäume fehlen völlig. Deshalb bin ich froh, dass die Sonne jetzt hinter einer riesigen Wolke ist. Mein Blick reicht über das flache Land nach vorne bis hinüber zum Anfang des nächsten Ortes. Dieser Ort ist mein nächstes Ziel. Ich schätze, es sind höchstens zwei Kilometer. Es geht geradeaus über diese flache Ebene. Vielleicht geht es sogar leicht bergab, denn mein Schritt kommt mir jetzt sehr schnell und locker vor. Der Ort vor mir ist mein nächstes Ziel, denn hinter diesem Ort liegt der Berg, auf dem die Oma wohnt. Wie viele Kilometer bin ich heute schon gelaufen? Zehn? Oder zwölf? Ich glaube, in meinem Leben bin ich noch nie so weit an nur einem Tag gelaufen. Ich muss die Oma fragen, wie weit es von unserem Dorf bis zu ihr ist.

IV. Durch den Ort hinauf

1. Paul

Ich spüre leichten, kühlenden Gegenwind. Die dicke Wolke zieht schnell vorbei. Schon kommt die Sonne wieder hervor. Ich habe das Gefühl, mein Kopf glüht von der Hitze. Ich laufe rhythmisch, meine Schuhe sind gut gebunden. Der Fußweg verläuft in unmittelbarer Nähe neben der Landstraße, die Stadt und Ort verbindet. Ich komme schnell vorwärts, der Ort rückt näher.

Von der lauten Landstraße hinter den kleinen Büschen höre ich dieses typische Motorengeräusch. Aber nicht jedes Auto ist ein Käfer. Hin und wieder höre ich auch die Motoren von Mercedes oder Opel vorbeidonnern. Die Mehrheit der Wagen jedoch hat ein sehr schrilles Motorengeräusch, es sind Käfer.

Auch Opa fährt einen schönen, grauen Käfer. An ihn denke ich jetzt. Vielleicht ist er heute unterwegs? Wenn der Vater die Oma angerufen hat, ist er bestimmt unterwegs. Vielleicht hat die Oma ihn losgeschickt, um nach mir zu suchen. Vielleicht ist ein Gesicht hinter der Windschutzscheibe eines grauen Käfers, das Gesicht von Opa. Aber auf der Landstraße fahren auch viele weiße Käfer.

Ich atme schnell und tief. Der Ort ist gleich erreicht. Meine Schuhe an den Füßen fühle ich. Es kommt mir vor, als wären meine Schuhe mit meinen Füßen verschweißt. Sie sind schwer. Bei jedem schwungvollen Schritt werfe ich den schweren Fuß in seinem angeschweißten Schuh vor mich. So entsteht mein Laufrhythmus. Ich habe das Gefühl, als ziehe mich das unendlich schwere Gewicht meiner Füße hin zu dem nahen Ort.

Von der Landstraße dicht neben meinem Fußweg höre ich jetzt wieder besonders laut diese schrillen Käfermotoren. Die Geschwindigkeit der Fahrzeuge auf der Landstraße ist sehr hoch. Sie zischen an mir vorbei und von ihrem Fahrtwind wackeln die Zweige der Büsche. Jeder der herannahenden und an mir vorbei donnernden Käfermotoren klingt laut, monoton und schrill. Keiner dieser Käfermotoren hört in dem Augenblick auf mit diesem hohen, schrillen Drehgeräusch des Motors, in dem der Fahrer mich auf dem Gehsteig neben der Landstraße erkennt. Kein Käferfahrer auf der Landstraße nimmt den Fuß vom Gaspedal. Zum Glück! Denn wenn das hohe, schrille Motorengeräusch nachlassen würde und überginge in ein etwas tieferes, beinahe dumpfes Geräusch, dann könnte es der Vater sein, der neben mir auf der Landstraße seinen Fuß vom Gaspedal nimmt. Aber kein Käfermotor wird dumpfer und leiser. Kein Käfer hält auf der Landstraße neben mir. Der Ort rückt näher. Ich erkenne das gelbe Ortsschild.

Paul ist der Sohn der Stiefmutter. Warum fällt mir der jetzt ein? Ich kann nichts dagegen tun. Jetzt falle ich aus meinem Laufrhythmus. Mein Schritt wird schneller. Ich bin beunruhigt. Ich laufe unrhythmisch, auch mein Atem ist ungleichmäßig. Warum? Der Sohn der Stiefmutter hat auch ein Auto. Es ist kein Käfer. Er hat einen gelben Opel Kadett. Ihn hatte ich völlig vergessen. Nicht nur der Vater, auch Paul könnte heute hinter mir her sein. Ich mag ihn nicht. Als wir ins Dorf gezogen waren, war Paul plötzlich da. Es war, als hatte er dieses Zimmer im zweiten Stock schon immer bewohnt. Paul war immer irgendwie da, aber trotzdem gehört er nicht zur Familie. Vielleicht weil er schon älter ist als meine Geschwister und ich. Paul ist erwachsen.

Manchmal war Paul mit uns Geschwistern spazieren gegangen. Er hatte das nicht gern getan. Am Sonntagnachmittag, bei Regenwetter, hatte er uns oft mitgenommen, damit wir aus dem Haus waren. Die Stiefmutter hatte das von Paul verlangt. Pauls Spaziergang hatte immer in seine Stammkneipe, in einem Nachbardorf geführt. Sonntags trifft Paul dort seine Freunde aus einem Fußballklub. In der Kneipe trinkt er Bier. Wir Geschwister waren stets am Nebentisch gesessen. Wir hatten nie etwas getrunken, denn wir hatten kein Taschengeld. Wir hatten uns immer leise miteinander unterhalten und wir hatten uns die Männer in der Kneipe angesehen, wie sie an der Theke lehnten und um die verrauchten Tische saßen, Bier tranken und Zigaretten rauchten.

Paul raucht sehr viel. In seiner Jacke, die er sonntags neben sich auf die Holzbank, seinem Stammplatz in der Kneipe legt, hat er mehrere offene Zigarettenpackungen. Jedes Mal, wenn Paul uns mitgenommen hatte, haben wir uns mehrere Zigaretten von ihm stibitzt. Am Montagnachmittag hatten wir sie in unserer Scheune geraucht. Paul hatte nie etwas davon bemerkt. Paul hatte zu viele Schachteln in seiner Jacke. Paul trinkt sonntags in seiner Stammkneipe drei Bier. Danach steht er auf, zieht die Jacke an, winkt seinen Freunden am Stammtisch kurz zu und verlässt die Kneipe. Wir waren viele verregnete Sonntage hinter Paul hergewatschelt, damit wir aus dem Haus und irgendwie beschäftigt waren. Die Spaziergänge mit dem Sohn der Stiefmutter waren immer sehr langweilig gewesen. Dabei hatte Paul sich nie unfreundlich verhalten. Trotzdem mag ich ihn nicht.

Paul hilft uns nie, wenn es Prügel gibt. Er tut, als wüsste er davon nichts. Aber er weiß davon. Von seiner Arbeit ist er täglich schon viel früher zu Hause, als mein großer Bruder Mark. Paul kommt schon vor dem Vater nach Hause. Er geht hinauf in sein Zimmer. Man sieht ihn den ganzen Abend lang nicht. Wenn wir ins Bett gehen, gegen halb acht Uhr, verlässt er das Haus. Er fährt irgendwo hin. Paul interessiert es nicht, wie es uns geht. Wahrscheinlich mag ich ihn deshalb nicht. Paul tut, was die Stiefmutter sagt. Wenn sie ihn Sonntagnachmittags mit uns zum Spazieren gehen schickt, tut er es. Wenn sie ihn heute Morgen losgeschickt hat, mich zu suchen, tut er es sicherlich auch.

Gestern Abend war Paul im Nachbardorf im Sportheim gewesen. Dort hatte er sich zusammen mit seinen Fußballfreunden das Fußballspiel angesehen. In der vergangenen Nacht habe ich Pauls Auto nicht gehört. Heute Morgen, als ich vor unser Haus getreten war, habe ich seinen gelben Opel nicht auf der Straße gesehen. Das fällt mir jetzt erst ein! Paul muss die Nacht bei seinen Fußballfreunden verbracht haben. Er hätte also heute Morgen, zu sehr früher Stunde, übernächtigt die Dorfstraße herunterfahren können. Er hätte auch auf der Landstraße fahren können, auf der ich das Dorf verlassen hatte. An Paul habe ich bis jetzt nicht gedacht.

Endlich das gelbe Ortsschild! Vielleicht ist Paul noch gar nicht zu Hause. Vielleicht hat er bei einem Fußballfreund geschlafen. Vielleicht sitzt er jetzt schon wieder im Nachbardorf in der Kneipe bei seinen Fußballfreunden und feiert den Sieg der Deutschen Fußballmannschaft. Dann weiß er noch gar nicht, dass ich weggelaufen bin. Wenn Paul heute mehr als drei Bier trinkt, weil es was zu feiern gibt, dann kommt er sicherlich erst nachmittags heim. Vielleicht lohnt es sich nicht mehr, dass er losfährt, vielleicht bin ich dann schon bei der Oma.

2. Wohin gehören?

Ich habe mein nächstes Ziel erreicht. Im Ort komme ich jetzt an der Sporthalle und dem Fußballplatz vorbei. Dort hatten wir Geschwister damals, als wir in der kleinen Wohnung vom Vater wohnten, beinahe jeden Nachmittag gespielt. Wir hatten nicht nur Fußball gespielt, sondern wir spielten dort alles, was uns gerade einfiel. Im Herbst ließen wir auf der Wiese neben dem Platz unsere Drachen steigen.

Auf dem Fußballplatz hatte ich das Fahrradfahren gelernt. Michael, der ganz in der Nähe wohnt, hatte jeden Nachmittag mit uns gespielt. Er hat ein schönes, rotes Fahrrad. Er zeigte mir, wie man fährt. Ich war ein paar Mal gestürzt. Das hatte Michael gefallen. Aber bald hatte ich es gelernt. Bei schönem Wetter war ich jeden Nachmittag mit Michaels Fahrrad auf der schwarzen Bahn um den Fußballplatz unterwegs gewesen.

Mit einem Fahrrad ist man viel schneller als zu Fuß. Das Fahren geht sehr einfach. Den weiten Weg, den ich heute gelaufen bin, hätte ich mit dem Fahrrad viel schneller geschafft. Zu Hause haben wir auch ein Fahrrad. Aber es ist sehr alt und sehr groß. Ein Riesenfahrrad, schwarz mit Rücktrittbremse, ohne Gangschaltung. Vorne hat es eine Bremse mit dickem Bremsklotz, der während des Bremsens von oben auf den Reifen drückt. Unser altes Fahrrad ist für mich viel zu groß. Wenn ich drauf sitze, erreichen meine Füße die Straße nicht mehr. Aber trotzdem kann ich schon damit fahren. Beim Stehenbleiben muss ich das Fahrrad langsam zur Seite fallen lassen.

Einmal war ich mit dem Fahrrad im Dorf unterwegs. Das Radfahren habe ich nicht verlernt. Auf der Dorfstraße war ich gestürzt und hatte mich am Knie aufgeschürft. Das lag aber an dem zu großen Fahrrad. Ich war bereits stehen geblieben. Beim Abspringen war ich gefallen. Für ein kleineres Fahrrad, auf das wir besser draufpassen, reicht zu Hause das Geld nicht.

Jetzt habe ich einige Minuten gar nicht mehr an den Vater gedacht. Der Fußweg und die Straße im Ort machen eine langgezogene Kurve. In dieser Kurve liegt die alte, kleine Wohnung des Vaters. Jetzt werde ich wieder schneller. Es ist möglich, dass mich hier im Ort noch jemand von früher kennt. Gleich komme ich am Haus mit Vaters früherer Wohnung vorbei. Davor erkenne ich schon die Eisdiele. Sie ist geöffnet. Klar, bei der Hitze! Sie ist voll. Menschen sitzen auf den Stühlen an runden Tischen draußen auf dem Gehsteig. Ich laufe ganz schnell, aber ich renne nicht. Ich höre die Menschen, sie unterhalten sich und sie lachen. Ich rieche das Eis. Erdbeere, Schokolade und Zitrone. Mein Lieblingseis ist Schokolade. Ich schaue niemanden an. Ich laufe schnell vorbei.

Vaters alte Wohnung liegt nun hinter mir. Der weiße Käfer vom Vater steht nicht vor der Tür. Früher stand er immer neben dem Gehsteig vor dem Haus. Der neue Mieter ist nicht Zuhause oder er hat kein Auto. Jetzt werde ich noch schneller.

Die erste Querstraße biege ich gleich rechts ein. Ich muss runter von dieser Hauptstraße. Hier im Ort kenne ich mich aus. Die Hauptstraße wäre die kürzeste Strecke zur Oma, doch weil zu viele Autos und Menschen auf ihr unterwegs sind, ist sie zu gefährlich. Ich gehe einen Umweg über die Nebenstraßen.

Jetzt habe ich schon eine schmale Nebenstraße Richtung Schwimmbad erreicht. Das Schwimmbad liegt auf einer kleinen Anhöhe. Am Wegrand setze ich mich unter einen Baum in den Schatten. In der Sonne, auf dieser Nebenstraße ist die Hitze beinahe unerträglich. Endlich kann ich mich etwas ausruhen. Niemand weiß, wo ich jetzt bin. Ich denke wieder an das Verbotene, das ich gerade tue. Ein ruhiger Tag heute. Ich glaube, es ist noch nie so ruhig gewesen. Niemand will etwas von mir. Heute hat mich nur der Busfahrer in der Stadt etwas gefragt. Er wollte wissen ob ich mitkomme. Niemand sonst wollte etwas von mir. Niemand fragt heute, ob ich das Zimmer schon gefegt habe, ob ich im Wohnzimmer schon Staub gewischt habe, ob meine Schuhe schon geputzt sind, ob ich die Hausaufgaben fertig habe, ob ich schon im Garten Unkraut gejätet habe. Niemand befiehlt heute: Geh Zigaretten holen, putz das Klo, schäle Kartoffeln, fege den Bürgersteig, fege in Pauls Zimmer, aber ordentlich! Niemand droht heute: Sonst kracht’s! Dein Vater wird’s dir heute Abend zeigen! Das machst du jetzt noch mal, sonst setzt’s was!

Heute bin ich hingegangen, wohin ich gehen wollte. Heute habe ich es endlich gemacht! Aber ich habe Angst. Es ist verboten. So einen Tag habe ich noch nicht erlebt. Um mich herum ist alles ruhig. Diese Ruhe habe ich, weil ich heute das Verbotene tue. Die Stiefmutter und den Vater sehe ich heute nicht. Meine Geschwister sehe ich nicht. Ich bin hier und muss gleich weiter gehen. Ich muss in Bewegung bleiben. Ich muss weiterkommen, obwohl ich gar nicht genau weiß, wo ich hin soll. Hoffentlich ist das nicht das Leben. Hoffentlich weiß ich bald wieder, wohin ich gehen soll, wo ich bleiben soll. Ein bisschen bleibe ich noch sitzen, unter dem schattigen Baum. Ein paar Grashalme nehme ich noch in die Hand, bevor ich aufstehe. Es war noch nie so ruhig.

Gleich in der Nähe ist meine alte Schule. Kurz vor Unterrichtsschluss mussten wir damals jeden Tag fünf Minuten lang “stillsitzen”. Das hatte zum Schulunterricht gehört. “Ihr seid alle so zappelig und nervös”, hatte die Lehrerin gesagt. Deshalb sollten wir jeden Tag das Stillsitzen üben. Jetzt sitze ich hier, unter dem Baum. Ich sitze ganz still, ich zapple nicht. Die Lehrerin würde sich freuen, wenn sie das sehen könnte. Ich freue mich, dass ich jetzt so still sitzen kann. Aber die Fingernägel! Die sind alle abgebissen. Schon den ganzen Tag kaue ich auf den Nägeln herum. Das wollte ich nicht. Jetzt sind sie alle weg. Abgerissen. Wenn der Vater das sieht! Nein, nein der sieht das nicht mehr! Dem zeige ich die Hände nie mehr! Alles, was ich heute getan habe, ist verboten.

Ich stehe auf. Es geht eine Steigung hinauf Richtung Hallenbad. Jetzt denke ich an die alte Wohnung. Der Vater hatte mich dort, gleich am ersten Tag, das erste Mal geschimpft. Es war wegen der abgebissenen Fingernägel. Die lange Autofahrt, vom Kinderheim bis zur Oma, hatte ich auf den Nägeln herumgekaut. Genauso wie heute hatte ich das gar nicht bemerkt. Erst als der Vater mich deswegen angebrüllt hatte, sah ich, dass die Nägel alle weg waren.

3. Schreiben

Die alte Wohnung war sehr klein gewesen. Es ging eine schmale, steile Treppe hinauf zur Wohnungstüre. Links das kleine Bad und rechts die Küche. Sie hatte keine Türe. In der Küche stand ein Küchentisch mit einer Eckbank.

Matthias und ich hatten nachmittags täglich viel Zeit am Küchentisch verbracht. Christian war nachmittags nie zu Hause. Er hatte immer gesagt, er hätte Unterricht. Nur an einem Nachmittag pro Woche ging er nicht zur Schule, da hatte er Konfirmandenunterricht. Mark war jeden Tag bei der Arbeit gewesen.

Am Küchentisch hatten wir nachmittags die Hausaufgaben gemacht. Während wir in unsere Hefte schrieben, lief die Stiefmutter in der Wohnung herum. Sie kam am Esstisch vorbei. Sie nahm unsere Hefte. Sie sah, was falsch war. Sie sagte uns, was falsch war. Falsch war das, was ihr an unserer Kinderschrift nicht gefiel. Meist war alles falsch. Ich kann nicht schön schreiben. Meine Hand zittert beim Schreiben, neben der Stiefmutter. Ich schaffe keinen geraden Strich.

Damals hatte die Lehrerin alles, was ich aus dem Buch abschreiben musste, mit einem Rotstift markiert. Jeden Tag hatten Matthias und ich viel zu schreiben. Die Stiefmutter nahm unsere Hefte und radierte alles wieder aus. Unsere Linien und Stiche waren krumm und schief. Was ich schrieb, sah ganz anders aus, als das, was im Buch stand. Manchmal riss die Stiefmutter eine ganze Seite aus meinem Schreibheft. Ich musste alles noch einmal schreiben.

Weil meine Linien und Buchstaben jeden Nachmittag zittrig gewesen waren, war die Stiefmutter sehr böse geworden. Sie brüllte mich an. Sie behauptete, ich würde mir keine Mühe geben. Sie sagte, sie werde mir das schon austreiben. Sie hatte täglich alles noch mal ausradiert. Sie knallte das Heft auf den Tisch. Dann hob sie es wieder auf und schlug es Matthias und mir ins Gesicht. Dann kreischte sie laut. So begann die Stiefmutter zuzuschlagen.

Matthias war jeden Tag noch viel länger am Esstisch bei den Hausaufgaben gesessen als ich. Obwohl er viel besser und schneller lesen kann, braucht er beim Schreiben bei der Stiefmutter viel mehr Zeit als ich. Er kann nicht mit der rechten Hand schreiben. Er schreibt schon immer mit der linken Hand. Ich glaube, das hatte er in der Schule damals im Kinderheim so gelernt. Im Kinderheim hatte das nachmittags bei den Hausaufgaben nie jemanden gestört. Matthias schreibt alles genauso, wie die anderen Kinder. Nur nicht mit der rechten, sondern mit der linken Hand. In der Schule stört das nicht. Für die Lehrerin hier im Ort war das kein Problem, auch den Lehrer in der Dorfschule stört es nicht. Die Stiefmutter und den Vater stört es. Sie glauben das wäre nicht normal. Sie glauben, Matthias müsse lernen, mit der rechten Hand zu schreiben. Ich weiß nicht, warum sie das glauben. Vielleicht glauben sie, dass die Ordnung gestört ist, wenn man mit der Linken schreibt. Welche Ordnung das ist, das weiß ich nicht. Es ist ungewöhnlich, mit der linken Hand zu schreiben! Jeder Mensch muss mit der rechten Hand schreiben! Ich glaube so denken sie. Ganz einfach.

Das klappt nie. Matthias kann das nicht lernen. Er hatte die vielen Jahre im Kinderheim immer mit der linken Hand geschrieben. Deshalb hatte er in der alten Wohnung, hier im Ort, jeden Nachmittag noch viel länger gebraucht als ich. Wenn die Stiefmutter mich spät nachmittags aus dem Haus gehen ließ, durfte Matthias lange noch nicht gehen. Oft musste er, bis abends der Vater von der Arbeit Heim kam, am Esstisch sitzen und alles immer wieder neu mit der rechten Hand schreiben.

Der Vater hatte sich jeden Abend zuerst das Heft von Matthias angesehen. Jeden Tag war das, was Matthias geschrieben hatte, schlecht. Der Vater verprügelte ihn deshalb im Badezimmer. Manchmal verprügelte er auch mich. Abends musste Matthias wieder am Küchentisch sitzen und alles noch mal schreiben.

Oft war ich wegen der vielen Fehler von Matthias verschont geblieben. Ich glaube, weil der Vater ihn jeden Abend im Badezimmer verprügelt hatte, vergaß mich der Vater manchmal. Und weil ich mit der rechten Hand schreibe, hatten die Stiefmutter und der Vater nicht so viel Grund, sich über meine Schreibhefte zu ärgern.

4. Verrat

Wir Geschwister sind zu Hause ständig auf der Flucht. Wir verstecken uns vor Stiefmutter und Vater. Wir weichen ihnen aus, wo immer es möglich ist. Wir fliehen vor dem Kreischen und Schlagen der Stiefmutter und vor dem Gürtel des Vaters.

Obwohl wir zu Hause eng aufeinander sitzen, ist jeder von uns vier Brüdern einsam für sich selbst. Auch wir Geschwister müssen voreinander fliehen. Es gibt kein Vertrauen mehr unter uns. Es ist nicht mehr wie früher im Kinderheim. Jeder hat Angst davor, dass der Bruder dem Vater und der Stiefmutter etwas erzählt, das zu Schlägen führt. Weil der Vater und die Stiefmutter versuchen, diese Dinge aus uns herauszuprügeln, ist es besser mit den Geschwistern nicht mehr zu reden. Unter uns Geschwistern gibt es permanente Angst vor Verrat.

Damals im Dorf, als ich morgens die Pfeife vom Vater geraucht hatte, wurde ich nicht von Matthias verraten. Er hatte den brutalen Schlägen von Stiefmutter und Vater damals Stand gehalten. Ich glaube, heute wäre das unmöglich. Schon zu lange drangsalieren uns die beiden.

Seit einem Jahr arbeiten beide daran, uns unter Kontrolle zu bringen. Die Stiefmutter befiehlt unsere tägliche Zeit, unseren Tagesablauf. Sie weiß, dass wir wegen der ständigen Angst vor ihr, wegen ihrer Worte abends, wenn der Vater nach Hause kommt, kaum mehr miteinander reden. Sie will, dass wir Schweigen lernen. Sie will, dass unsere Angst vor Verrat so groß wird, dass wir uns durch Schweigen voreinander schützen. Was der Bruder nicht weiß, kann er unter den Schlägen der Stiefmutter nicht verraten. Aber wenn wir nicht miteinander reden, können wir uns auch nicht gegenseitig unterstützen und schützen. Das will die Stiefmutter. Zu Hause sind wir nicht mehr lustig. Wir sind ängstlich. Wir zittern vor Angst. Unsere Blicke sind ernst. Wir lachen nicht mehr. Wir haben keinen Grund zur Freude. Wir haben nichts zu lachen. Vielleicht sind wir gar keine Kinder mehr.

Hier in diesem Ort hatte damals vor einem Jahr alles angefangen. Wir hatten noch nicht verstanden, wie Vater und Stiefmutter sich das neue Zusammenleben mit uns vorstellten. Wir hatten noch nicht geahnt, dass die Stiefmutter es sich mit Schreien, Schlagen und Hass vorstellte, und dass der Vater es mit seinem scharfen Gürtel plante.

Die ersten Schläge hatten mich deshalb schockiert. Ich hatte das noch nicht gekannt. Im Kinderheim gab es auch Schläge, aber andere und aus anderen Gründen. Dort hatte ich fast immer gewusst, wann und warum geschlagen wurde. Die Gründe für das Schlagen waren bei Stiefmutter und Vater völlig neu. Bis heute weiß ich nie genau, welche Gründe für das Schlagen am Abend da sind. Den ganzen Tag lang denke ich darüber nach, welche Gründe die Stiefmutter dem Vater abends liefern kann, damit er wieder prügelt.

Hier im Ort hatte ich das noch nicht verstanden. Ich glaube, es war weil ich so schockiert gewesen war. Jeden Tag hatte ich Angst. Ich hatte mich noch nicht an die Angst gewöhnt, deshalb konnte ich nicht vernünftig darüber nachdenken. Erst später, nachdem wir in das Dorf gezogen waren, begann ich darüber nachzudenken. Hier in diesem Ort war ich jeden Tag froh gewesen, dass ich besser in mein Schulheft schreiben konnte als Matthias und dass ich deshalb manchmal verschont blieb. Matthias wurde von Stiefmutter und Vater nicht verschont.

Heute, auf meiner Flucht durch diesen Ort, verstehe ich ganz genau, was damals geschehen war. Es ist die Ruhe, wegen der ich heute so klar denken kann. Die Stiefmutter hatte dafür gesorgt, dass wir Geschwister voreinander sehr viel Angst entwickelten. Weil sie begonnen hatte, nachmittags Informationen über den Bruder aus uns herauszuprügeln, zerstörte sie den Zusammenhalt unter uns Geschwistern. Im Kinderheim hatten wir Geschwister viel miteinander geredet, wir hielten zusammen und wir hatten uns dort deshalb sicher gefühlt. Als wir hier im Ort angekommen waren, in den ersten Wochen, war das noch so gewesen.

Niemandem von den Geschwistern habe ich von meiner heutigen Flucht erzählt. Ich bin sicher, die Stiefmutter hätte es nachmittags aus Matthias herausgeprügelt. Die Stiefmutter hätte gemerkt, dass er etwas weiß. Sie hätte ihn so lange geschlagen, bis er mich verraten hätte.

Jetzt erst fällt mir ein, dass die Geschwister sicherlich heute Morgen von Stiefmutter und Vater geschlagen wurden. Weil die Geschwister von meinem Fluchtplan nichts gewusst hatten, ließen sie mich gehen.

Ich hatte den Brüdern also absichtlich nichts erzählt. Sie hätten es melden müssen. Hätten sie es nicht gemeldet, hätten es Stiefmutter und Vater herausgeprügelt. So ist es zu Hause. Das haben uns Vater und Stiefmutter innerhalb eines Jahres beigebracht.

Heute denken Vater und Stiefmutter, die Brüder hätten mich nicht gemeldet, obwohl sie von meinem Fluchtplan wussten. Sie hätten mich heute Morgen gehen lassen, um Vater und Stiefmutter zu schaden. Die Folgen sind klar. Gestern Abend schon hätte ich wissen können, dass die Geschwister heute deshalb geschlagen werden. Hätte ich meinen Plan den Brüdern mitgeteilt, hätten sie mich an der Flucht gehindert. Das hätten sie getan, weil klar ist, dass sie heute dafür verprügelt werden. Deshalb ist mir das nicht schon gestern Abend eingefallen. Ich wäre niemals von zu Hause weggekommen.

5. Vaterrolle

Wegzulaufen ist vielleicht feige. Ich kann nicht geschlagen werden. Die Stiefmutter und der Vater sind nicht hier. Sie wissen nicht, wo ich bin. Ich habe die Geschwister alleine mit der Stiefmutter und dem Vater zurückgelassen. Ich konnte nichts anderes tun, ich musste alleine gehen. Seit Mark geflohen war, wurde es noch schlimmer zu Hause. Täglich wurde es schlechter. Es gab immer mehr Schläge. Ich konnte das nicht länger ertragen.

Was ist das für ein Fluchtplan, der mich heute zur Oma treibt? Konnte ich es bis hier her nur schaffen, weil ich eiskalt plante? Bis jetzt habe ich nur an mich selbst gedacht. Ich dachte nur daran, dass ich weg will. Ich dachte nicht an meine Geschwister. Ich sitze hier in Ruhe. Sie wurden heute Morgen schon geschlagen, wegen meiner Flucht.

Ich bin froh, dass ich jetzt nicht von der Stiefmutter oder dem Vater geschlagen werden kann. Es ist beinahe so, wie bei den Hausaufgaben am Esstisch. Es sind andere da, die geschlagen werden. Ich werde verschont.

Ist das feige? Ich liefere meine Brüder der Stiefmutter und dem Vater aus. Sie werden jetzt nur deshalb geschlagen, weil ich gegangen bin. Wäre ich heute Morgen nicht abgehauen, hätten sie heute vielleicht einen ruhigen Samstag. Wegen mir haben sie jetzt sicherlich keine Ruhe. Ich sitze hier in der Sonne und habe Ruhe. Ich freue mich, weil ich so einen schönen, ruhigen Tag erlebe.

Ich sitze hier in Ruhe, obwohl ich genau weiß, dass andere dafür leiden müssen. Ist das eiskalt? Matthias und Christian sind schließlich meine Brüder! Gut, wir streiten uns manchmal, das ist normal. Aber schlimm ist, dass wir nicht mehr zusammenhalten, wenn es Prügel gibt. Die Stiefmutter und der Vater haben das geschafft. Ich weiß, warum ich beide so hasse. Es geht nicht anders.

Was ist in dem Jahr mit dem Vater passiert? Ich hatte ihn, damals im Kinderheim, doch anders gekannt. Plötzlich schlägt er uns. Damals hatte er gesagt, dass er uns aus dem Kinderheim herausholen möchte, weil er in einer richtigen, schönen Familie mit uns leben möchte. Warum hatte er das gesagt, und warum tut er das heute nicht?

Ich weiß nicht, ob der Vater plötzlich von selbst so schlecht zu uns sein wollte. Einmal, es war damals im Kinderheim, hatte ich einen kleinen Jungen verprügelt, der viel jünger war als ich. Eigentlich wollte ich ihn gar nicht verprügeln! Im Gegenteil ich hatte ihn sogar sehr gern. Er hatte von meinem Radio die Antenne abgebrochen. Sicherlich tat er es versehentlich. Ich war sehr wütend auf ihn. Die anderen Kinder im Zimmer rieten mir: “Lass dir das von dem frechen Kerl bloß nicht gefallen!” Ich wusste, dass der Junge sonst immer ganz nett gewesen war. Ich hatte mich prima mit ihm verstanden. Er hatte noch nie etwas von meinen Sachen kaputt gemacht. Trotzdem schlug ich ihm ins Gesicht. Ich schlug zweimal zu, so fest ich konnte, weil ich ziemlich schwach bin. Der Kleine fiel um. Er blutete aus der Nase. Ich sah, dass ich ihn umgehauen hatte. Er fing zu heulen an. Das hatte mir gleich sehr Leid getan. In diesem Moment wusste ich genau, dass ich das so nicht wollte. Trotzdem hatte ich es getan. Heute glaube ich, ich hatte es getan, weil die anderen Kinder gesagt hatten, ich sollte mir das von dem frechen Kerl nicht gefallen lassen. Nach meinen Schlägen stand ich da. Ich hätte den Jungen gerne vom Fußboden aufgehoben. Ich hätte ihm gerne gesagt, dass es mir Leid tut und dass ich das nicht wollte. Ich hätte mir auch von ihm ins Gesicht schlagen lassen, damit das, was ich getan hatte, wieder gut wird. Das ging nicht. Ich stand da und konnte nichts tun. Am liebsten hätte ich mich wieder mit dem Jungen vertragen. Er hätte von mir etwas geschenkt haben können. Er hätte sich etwas aussuchen dürfen. Ich hätte ihm sogar mein Radio geschenkt, damit wir wieder Freunde sind. Aber es ging nicht. Ich musste die Rolle weiterspielen. Ich musste das tun, wovon ich wusste, dass es schlecht war. Ich hatte etwas getan, das ich überhaupt nicht tun wollte.

Vielleicht geht es dem Vater heute, mit uns Kindern genauso. Warum sonst tut ein Mensch etwas, das er gar nicht will? Der Vater hatte es früher immer sehr gut mit uns gemeint. Seit wir zusammen leben, ist plötzlich alles anders geworden.

Der Vater kann mit uns nicht mehr reden wie früher, bevor er uns so geschlagen hatte. Es geht ihm wie mir, als ich den Jungen geschlagen hatte. Er muss das tun, wegen seiner Rolle.

Vielleicht hatte das alles begonnen, wegen des wenigen Geldes, das er verdient. Vielleicht wegen seiner anstrengenden Arbeit in der Fabrik. Den ganzen Tag lang schwer arbeiten, wenig Geld verdienen und dann abends die schreiende Stiefmutter und unsere schlechten Schulhefte! Nachdem der Vater deshalb das erstemal zugeschlagen hatte, kam er hinein in diese Rolle. Weil er begonnen hatte zu schlagen, konnte er nicht mehr versprechen, was er früher versprochen hatte. Er konnte überhaupt nicht mehr so mit uns reden, wie er es früher getan hatte. Wegen dieser Rolle konnte er nur noch herumschreien, wie die Stiefmutter. Vielleicht hatte der Vater wirklich geplant, anders mit uns zu reden, aber es geht nicht mehr.

Was soll ich jetzt machen? Soll ich wieder aufstehen und weitergehen, zur Oma? Oder soll ich jemanden auf der Straße nach Geld fragen, damit ich zu Hause anrufen kann und dem Vater das alles erklären kann, wie ich es sehe?

Es wäre schön, wenn ich dem Vater das alles einfach erklären könnte. Ich könnte ihm sagen, wie ich darüber denke. Er sagt mir dann, was er darüber denkt. Und er sagt auch, was an meinem Denken nicht stimmt. Es wäre toll, wenn das gehen würde, ohne dass der Vater wieder schlägt. Vielleicht stimmt das, was ich denke ja gar nicht. Vielleicht habe ich gar nicht Recht. Das macht aber gar nichts aus. Wir könnten ja darüber sprechen. Wir könnten so lange darüber reden, bis wir uns auf etwas einigen. Wir können auch in der Nacht noch weiter reden, ich werde nicht so schnell müde. Ich kann die Nacht lang aufbleiben und reden. Wenn der Vater mir alles genau erklärt, dann glaube ich es ihm sicher auch. Es muss ja nicht so sein, wie ich es mir denke. Der Vater denkt ja auch. Ich könnte mit dem Vater reden, wenn er Lust hätte.

Soll ich den Vater einfach anrufen? Was würde er am Telefon zu mir sagen? Will er mit mir darüber sprechen? Würde er die Stiefmutter zu Hause lassen und mit mir reden, ohne zu schlagen?

Ich traue mich nicht, den Vater anzurufen. Ich bin viel zu feige. Bestimmt würde die Stiefmutter mitkommen. Der Vater würde mich verprügeln, weil ich heute fortgelaufen bin. Auch wenn er am Telefon antwortet, dass er ohne die Stiefmutter kommt, ich könnte ihm das nicht glauben. Ich kann dem Vater nicht vertrauen. Er hat zuviel geschlagen. Ich würde ihm gerne glauben, aber es ist vorbei. Ich schaffe es nicht. Wegen meiner Angst vor dem Vater geht das nicht.

6. Am Kaugummiautomat

Ich stehe auf. Der Himmel ist nicht mehr blau, er ist bewölkt. Ich laufe die Nebenstraße weiter hinauf. Das Hallenschwimmbad ist geöffnet. Durch die Glasscheibe sehe ich viele Schwimmer im Becken. Den Bademeister erkenne ich wieder. Langsam läuft er am Beckenrand auf und ab.

Ich gehe einige Schritte weiter zu meiner alten Schule. Mein altes Klassenzimmer liegt im Erdgeschoss. Weil heute Samstag ist, ist kein Unterricht. Das Schuljahr ist bald vorbei. Ob meine alte Klasse dann eine andere Lehrerin bekommt?

Meine Lehrerin war sehr nett. Sie war freundlicher als der Lehrer in der Dorfschule. Obwohl sie immer viel zu Schreiben aufgegeben hatte. In der Ecke stehen oder Ohrfeigen gab es bei ihr nicht. Wenn wir ihr zu laut gewesen waren, schickte sie trotzdem keinen vor die Türe hinaus. Manchmal spielte die Lehrerin auf der Gitarre. Sie sang Lieder mit uns. Sie kannte viele Lieder. Einige von den Liedern kannte ich sehr gut. Die hatten wir früher im Kinderheim oft gesungen.

Das “Stillsitzen” jeden Tag nach der letzten Stunde war nicht schlimm. Manchmal war es gar kein richtiges “Stillsitzen”, weil einige aus der Klasse trotzdem laut waren. Wir durften deshalb trotzdem nach Hause gehen. Niemand musste länger bleiben und in der Ecke stehen.

Jetzt laufe ich um mein altes Schulhaus herum. Ich gehe dicht an ein Fenster heran. Ich werfe einen Blick in mein altes Klassenzimmer. Die Bänke stehen noch genauso da, wie früher. Alle Stühle stehen auf den Tischen. Sicherlich besetzt meinen Platz jetzt ein anderes Kind. Ich war in der vorletzten Reihe gesessen. Das Klassenzimmer sieht unverändert aus. Auf der grünen Tafel steht etwas geschrieben. Ich stehe zu weit weg, ich kann’s nicht lesen. An der Wand hängen Bilder aus dem Malunterricht. Meine Bilder hatte ich damals in der Schule vergessen. Aber an der Wand kann ich sie jetzt nicht mehr finden. Wahrscheinlich wurden sie inzwischen weggeworfen.

Ich gehe weiter. Das Tor am Schulhof ist verschlossen. Der Schulhof wäre eine Abkürzung. Die Nebenstraße führt leicht bergab. Sie führt durch eine kleine Unterführung. Im Moment habe ich keine Angst. Ich fürchte nicht, dass der Vater um die nächste Straßenecke kommen könnte. Ich fühle mich sicher. Ich kenne die Straßen.

Bevor die Stiefmutter den Vater geheiratet hatte, war sie mit einem anderen Mann verheiratet gewesen. Der Mann war verstorben. Ich weiß das deshalb, weil die Stiefmutter, wegen des Todes ihres Mannes Geld geerbt hatte. Eines Tages waren beide, Stiefmutter und Vater, mit einem Stapel Geldscheinen nach Hause in die kleine Wohnung gekommen. Ich glaube, es war viel Geld gewesen. Kurz vor unserem Umzug in das Dorf, kauften sie davon neue Möbel. Nachdem wir in das Dorf gezogen waren, war das Geld bereits ausgegeben. Stiefmutter und Vater mussten sparen.

Im Dorf hatte es kein Taschengeld mehr für uns gegeben. Mein letztes Eis und mein letztes Comicheftchen hatte ich mir damals hier im Ort gekauft. Seit dem Umzug hatte ich nur noch einmal Geld. Es waren die fünfzig Pfennige gewesen, die wir in den Kaugummiautomaten vor Frau Maiers Laden gesteckt hatten. Das Fünfzigpfennigstück hatte ich auf der Dorfstraße gefunden.

Geld ist sehr wichtig. Heute habe ich kein Geld dabei. Obwohl es gut wäre, wenn ich etwas hätte. Jetzt würde ich mir etwas zu Essen kaufen. Wer kein Geld hat, kann auch nichts essen.

Früher, im Kinderheim, hatte es jeden Samstag zwei Mark fünfzig Taschengeld gegeben. Davon durfte ich kaufen, was ich wollte. Wir liefen Samstagvormittags im Gebirgsort herum und kauften von unserem Taschengeld ein. Vor der Taschengeldausgabe waren wir immer im Hallenbad gewesen. Weil ich nach dem Schwimmen großen Hunger hatte, kaufte ich mir oft nicht nur Süßigkeiten sondern auch Brot, Wurst oder Käse. Im Kinderheim gab es jeden Samstag nur eine Suppe zum Mittagessen.

Wenn ich jetzt zwei Mark fünfzig hätte, würde ich mir auch ein Brot kaufen. Jetzt laufe ich wieder schneller, bei der Oma gibt es bestimmt etwas Gutes zu Essen. Sicherlich weiß der Vater, dass ich versuche zur Oma zu laufen. Wo sollte ich sonst hin gehen? Ich kenne niemand anderen, zu dem ich flüchten könnte. Die Oma hat uns Kinder sehr gern, das hatte ich damals gemerkt, als wir sie besucht hatten. Ich glaube, sie mag alle Kinder gerne, sonst würden nicht so viele bei ihr wohnen. Sie sorgt gut für die Kinder, die bei ihr leben. Vor der Oma und dem Opa habe ich keine Angst. Sie werden mich nicht schlagen. Deshalb möchte ich ja auch zu ihnen gehen.

Der Oma werde ich erzählen, was zu Hause passiert. Sie wird mich nicht wieder zurückschicken. Sie soll beim Jugendamt anrufen und fragen, ob ich bei ihr wohnen kann. Sie soll den Leuten im Jugendamt sagen, dass ich nicht wieder zur Stiefmutter und dem Vater zurück möchte. Sie soll sagen, dass ich sonst wieder weglaufen werde, weil die Stiefmutter und der Vater mich sicherlich wieder verprügeln werden. Sie soll erzählen, dass ich dort nicht mehr leben kann.

Die Oma wird das verstehen, sie wird mit dem Jugendamt telefonieren. Sie hätte Matthias und mir sicher auch beim letzten Mal geholfen, wenn wir es bis zu ihr geschafft hätten. Die Oma ist die einzige, die helfen kann. Die Oma weiß, dass ich unterwegs zu ihr bin. Wahrscheinlich hofft sie, dass ich bald komme. Vielleicht macht sie sich Sorgen, dass mir unterwegs etwas passiert. Deshalb beeile ich mich jetzt, dann braucht sie sich nicht so lange Sorgen zu machen.

Ich bin jetzt am Ortsrand, in einer Neubausiedlung. Die Häuser sind noch nicht verputzt, sie sind erst seit kurzer Zeit bewohnt, einige stehen noch leer. Damals hatte es in dieser Straße nur ein einziges, altes Haus gegeben. An dem Haus hing ein kleiner Kaugummiautomat. An einem sonnigen Tag waren wir Geschwister hier vorbeigekommen. Wir waren auf dem Weg zum Abenteuerspielplatz. Wir blieben an dem Kaugummiautomaten stehen. Wir hatten kein Geld dabei. Christian tat so, als hätte er ein zehn Pfennigstück. Das zehn Pfennigstück, das er nicht hatte, warf er in den Schlitz. Er drehte am Hebel. Plötzlich öffnete sich der silberne Deckel, unten am Automaten. Ein roter Kaugummi rollte heraus. Er plumpste auf die Straße und verschwand sofort im Gully am Straßenrand. Christian hatte seine Hand nicht unter den Automaten gehalten. Weder er, noch wir, rechneten damit, dass ein Kaugummi herausrollt. Er versuchte das Spielchen ein zweites Mal. Diesmal hielt er seine Hand unter den Auswurf. Er tat nicht mehr so, als werfe er Geld ein, sondern, er drehte sofort. Wieder kam ein Kaugummi heraus, ein blauer. Da war unsere Freude groß! Christian drehte weiter. Viele bunte Kaugummis rollten aus dem Silberschlitz.

Rund um das alte Haus befanden sich damals viele Baustellen. Die Bauarbeiter hatten uns nicht beachtet. Die Kneipe in dem alten Haus hatte geschlossen. Kein Wagen parkte vor der Tür. Auch die Straße war menschenleer gewesen. Also drehte Christian weiter am Hebel. Abwechselnd hielten wir unsere Jackentaschen auf. Die Kaugummis rollten direkt hinein. Auch die Hosentaschen stopften wir voll. Nachdem wir den Automaten zur Hälfte geleert hatten, gingen wir weiter Richtung Spielplatz.

So viele Kaugummis an einem Tag, hatte ich noch nie gegessen. Am Abend tat mir der Mund weh. Auf dem Rückweg vom Spielplatz, drehten wir nicht mehr am Hebel. Die Kneipenbesitzer waren eingetroffen. Ein Mann stand am Automaten und montierte mit einem Schraubenzieher daran herum. Mit argwöhnischem Blick verfolgte er uns vier Geschwister. Wir waren auf der anderen Straßenseite vorbeigelaufen.

Weil wir die vielen Kaugummis natürlich nicht mit nach Hause bringen konnten, hatten wir uns frühzeitig auf den Heimweg gemacht. Wir waren genau den Weg zurückgelaufen, den ich gerade hinter mir habe. Wir liefen vorbei an der Schule, dem Hallenbad bis hinunter zum Sportplatz. Dort gruben wir, neben einem Baum, ein kleines Loch. Jeder legte seine Kaugummis hinein. Am Wasserhahn, beim Sportplatz, spülten wir unsere Münder. Die Stiefmutter durfte nicht riechen, dass wir etwas gegessen hatten. Tatsächlich hatte sie abends nichts bemerkt.

Nachts regnete es. Erst Tage später gingen wir zum Kaugummiversteck. Das Loch gruben wir wieder auf. Der Regen hatte sie alle kaputt gemacht. Über unsere Dummheit hatten wir uns geärgert. Trotzdem war der Tag als wir hier in der Straße den Kaugummiautomaten halb geleert hatten ein großer Glückstag gewesen, vor allem weil die Stiefmutter das am Abend nicht gemerkt hatte. Bei unserem nächsten Spaziergang zum Spielplatz war der Automat abmontiert. Heute ist das ganze Haus verschwunden.

7. Regen im Wald

Auf einem Trampelpfad laufe ich eine steile Wiese hinauf. Den Pfad kenne ich nicht. Er führt hinauf, auf den Berg zur Oma. Die Richtung stimmt. Die Bergstraße ist in der Nähe. Ich sehe sie nicht, aber ich höre sie. Auf der Wiese stehen viele Apfelbäume. Ich reiße mir einen Apfel herunter, er ist winzig und grün. Ich beiße hinein. Schmeckt sauer, der Apfel ist nicht reif. Nein, er ist zu sauer. Ich werfe ihn weg. Pech gehabt, doch nichts zu Essen. Hoffentlich bekomme ich bald etwas zu essen. Es ist nicht mehr weit bis zur Oma. Ich freue mich schon darauf, bei ihr anzukommen.

Der Trampelpfad führt von der Straße weg. Er führt in einen Wald hinein. Ich bleibe auf dem Pfad, auch wenn es ein Umweg bis zur Oma ist. Oben halte ich mich nach links, dann finde ich sicherlich wieder aus dem Wald heraus.

Im Wald höre ich viele Geräusche. Es knackt und raschelt. Gezwitscher von Vögeln, die ich nicht kenne, ein Piepsen. Viele Tiere sind unterwegs und machen Lärm. Meine Schritte im Laub, am Boden sind sehr laut. Von oben aus den Laubbäumen höre ich Geräusche. Die Blätter rauschen, und es hört sich an als fielen ständig Tropfen auf das Walddach. Der Pfad hört jetzt auf. Er verliert sich zwischen den Laubbäumen. Trotzdem gehe ich weiter. Ich brauche keinen Weg. Ich halte mich nach links. Ich werde schon wieder aus dem Wald herausfinden. Ich bleibe stehen und sehe mich um. Niemand folgt mir. Ich höre auf die vielen Geräusche. In der Nacht wäre das hier im Wald nichts für mich. Ich hätte Angst und würde mich wahrscheinlich verlaufen.

Jetzt höre ich genau hin. Ich höre mehr als den Wald. Das Rauschen aus der Ferne ist der Lärm des Ortes. Noch vor Minuten war ich da unten gewesen und hatte nicht gemerkt, welchen Lärm der Ort macht. So laut können nur die Autos sein die im Ort herum fahren. Jetzt höre ich es genau. Es sind Automotoren, aus denen sich dieses Rauschen bildet.

Ich erinnere mich an den Wald beim Kinderheim. Das Kinderheim liegt oben auf einem hohen Berg. Rund um das Haus gibt es steile Wiesen und Wälder. Unten im Tal liegt der Gebirgsort. Bei schönem Wetter war ich jeden Nachmittag die steile Wiese hinter dem Haus hinaufgelaufen. Von dort oben am Waldrand hatte ich einen sehr guten Blick auf das Tal und den Ort. Ich hatte den Ort aber nur dann gehört, wenn ich allein da oben am Waldrand stand. Meist war ich da oben nicht allein gewesen. Es waren immer viele Kinder mit dabei. Nachmittags, nachdem wir die Hausaufgaben erledigt hatten, spielten wir zusammen im Wald. Nur zwei oder drei Mal stand ich ganz allein da oben. Der Wald ist auch dort sehr leise. Von der Ferne hatte ich immer das Geschrei der anderen Kinder gehört. Sie spielten Cowboy und Indianer.

Ich gehe weiter. Jetzt trifft mich ein Tropfen. Es regnet. Die ersten Tropfen fallen durch das Walddach.

Ich bin sicher, dass die Menschen in den Freibädern jetzt eilig ihre Klamotten zusammenpacken. Sie suchen nach einem Plätzchen um sich unterzustellen. Die Menschen springen von den Liegewiesen auf. Ihre Handtücher rollen sie eilig zusammen und verstauen sie in ihren Badetaschen. Ein Ansturm auf den überdachten Kiosk findet statt, weil man dort vor dem Regen geschützt ist. Der Verkäufer erlebt das große Geschäft des Tages. Im Eingang des Freibades drängen sich Kinder und Erwachsene unter dem großen Vordach. Auch unter den Bäumen auf den Liegewiesen drängen sich die Menschen zusammen. Jeder Badegast möchte den Tropfen von oben entkommen. Mit den ersten Regentropfen entsteht jetzt dieses hektische Treiben. Schon seit Stunden hatten sich die Wolken am Himmel zusammengebraut. Mit Regen war also rechnen. Kaum ein Badegast hatte sich darum gekümmert. Viele ahnten zwar, dass es losgehen könnte, aber trotzdem hofften die meisten darauf, dass der Regen ausbleiben werde. Viele der Menschen im Freibad versuchten nicht daran zu denken. Man sprach nicht über den herannahenden Sturm. Man hoffte darauf, dass die Sonne wieder durchkommt. Man hoffte, dass sie es schafft, die Wolken zu vertreiben. Obwohl sich immer dickere Regenwolken am Himmel versammelt hatten, obwohl es dunkler und dunkler geworden war, obwohl sich eindeutig ein Gewitter zusammengebraut hatte, blieben viele Menschen im Schwimmbad. Am Himmel hatte es nicht den geringsten Anhaltspunkt gegeben, der ihre Hoffnung auf erneuten Sonnenschein begründet hätte. Trotzdem blieben die meisten Badegäste. Sie wollten sehen und spüren, dass wirklich Tropfen fallen. Sie hofften bis zum Schluss. Der Himmel war pechschwarz geworden. Die Menschen blieben auf ihren Badetüchern sitzen. Manch einer sprang noch einmal munter ins Wasser und schwamm im Becken seine Bahnen. Die Schwimmer im Wasser hätten die ersten zwei, drei Tropfen, die die Wasseroberfläche erreichten, sofort als Regentropfen erkennen können. Das taten sie nicht. Stattdessen redeten sie sich ein, es seien Spritzer, die sie selbst und andere Schwimmer verursachten. Weil die Gewittertropfen jetzt richtig dick sind und heftig auf dem Wasser aufschlagen, geben die Schwimmer schließlich auf. Überall auf der Wasseroberfläche sieht man diese runden Kräusel. Unzählbar viele Tropfen schlagen auf. Heftiger Wind peitscht über das Schwimmbecken. Endlich verlassen die Schwimmer das Becken. Es gießt in Strömen. Der Wind reißt Sonnenschirme um. Grüne Blätter fetzt er von den Bäumen. Schnell wird es kühl. Man zieht sich eine trockene Jacke über.

Nur einige wenige Badegäste hatten mit dem Regen gerechnet. Sie hatten nicht darauf gehofft, dass das Wetter hält. Im Radio hatten sie den Wetterbericht gehört. Deshalb wussten sie, dass das Wetter nachmittags umschlägt. Deshalb hatten sie schon vor Stunden das Bad verlassen.

Jetzt ist es nicht mehr wichtig, ob man sich einen schönen Nachmittag mit Spaß im Schwimmbad erhofft hatte. Die Wetterlage ist eindeutig schlecht. Im Schwimmbecken kann man jetzt vom Blitz getroffen werden. Wichtig ist, so schnell wie möglich ins Trockene zu gelangen. Die ursprüngliche Vorstellung von einem schönen Tag im Wasser sollte man jetzt schnell vergessen, denn es wäre Unsinn, weiter von einem sonnigen Tag zu träumen. Es ist höchste Zeit, diesen Traum aufzugeben, denn niemand hat jetzt noch Zeit zu verlieren, um sich selbst und die Kleidung ins Trockene zu retten.

Es ist sehr schade, dass es für meine Geschwister und mich keine Vorhersage, ähnlich einem Wetterbericht für dieses vergangene Jahr beim Vater gegeben hatte. Ich hätte gewusst, wie schlecht dieses Jahr werden wird und ich hätte mir nichts erhofft.

8. Auf dem Berg

Das Dach der Laubbäume im Wald schützt mich vor den Regentropfen. Der Regen nimmt zu. Das Walddach lärmt. Ich halte mich seit einiger Zeit nach links. Ich laufe sehr schnell, so schnell es geht. Ich höre meine Schritte auf dem Laub nicht, der Regen übertönt jetzt alles. Jetzt bin ich nicht mehr der Lauteste im Wald.

Es wird heller. Ich erreiche das Ende des Waldes. Es geht nicht mehr bergauf. Ich bin oben. Es ist der Berg der Oma, den ich nun endlich erreiche! Jetzt treffen mich die ersten, dicken Regentropfen. Die Strickjacke wird mir nicht lange Schutz vor dem Wasser bieten. Der Weg zur Oma ist aber nicht mehr lang. Vielleicht erreiche ich sie, bevor der Regen meine Jacke durchdringt.

Die Oma spricht sehr viel. Sie unterhält sich mit den vielen Kindern und Erwachsenen, die in ihrem Haus leben. Sie redet viel mit dem Opa. Sie fragt, ob es gut geht. Die Menschen im Haus sprechen über ihre Arbeit, über die Schule, über den Garten, über das Wetter und über vieles Andere. Sie sitzen in der Küche am Küchentisch und reden.

Sie überlegen, was der Opa von seiner Einkaufsfahrt in den Ort mitbringen soll. Sie besprechen, was die Oma zum Mittagessen kochen wird. Die Oma kocht immer gutes Essen. Ich freue mich schon darauf, weil ich jetzt richtig Hunger habe. Früher, als wir die Oma mit dem Vater besucht hatten, sprach die Oma auch mit dem Vater sehr viel. Sie hatte dem Vater geholfen uns Kinder aus dem Kinderheim herauszuholen. Sie wollte, dass wir nicht im Kinderheim leben, sondern wir sollten in der Familie leben. Das hatte sie einmal gesagt, aber damals hatte sie noch nicht gewusst, wie der Vater mit uns zusammenleben wird. Der Vater und die Oma hatten sich früher gut miteinander verstanden. Das ist vorbei. Heute verstehen sie sich nicht mehr gut. Ich glaube, das liegt daran, dass die Oma weiß, wie die Stiefmutter und der Vater zu Hause mit uns umgehen. Ich glaube, deshalb haben wir die Oma so lange nicht besucht. Der Vater weiß, dass die Oma immer fragt, wie es geht. Der Vater will nicht, dass wir der Oma von zu Hause erzählen.

Gleich komme ich bei der Oma an. Ich werde alles erzählen. Mir ist es jetzt egal, ob der Vater das will oder nicht. Ich kann sowieso nicht mehr zu ihm zurück.

Große Regentropfen klatschen auf die schwarze Straße und auf die parkenden Autos am Waldrand. Meine Strickjacke tropft. Meine Haare sind nass. Wassertropfen laufen durch mein Gesicht. Das Wasser läuft wie ein kleiner Bach die Bergstraße hinunter. Kein Mensch läuft auf der Straße. Kein Auto fährt vorbei. Ich gehe über die Straße. Ich sehe kein Vordach, unter das ich mich stellen kann. Es gibt keine überdachte Bushaltestelle, keinen Hauseingang. Im Wald kann ich nicht bleiben. Der Regen ist zu stark für das dünne Blätterdach. Also laufe ich schnell die Straße hinunter. Ich erreiche die Kreuzung, an der die Bergstraße und die Straße, in der die Oma wohnt, zusammentreffen. Von beiden Straßen läuft viel Regenwasser zusammen. Es fließt die steile Bergstraße hinunter. Dem Treiben des Wassers auf der Straße würde ich gerne weiter zusehen. Aber ich habe keine Zeit.

Ich überquere die nasse Straße. Auf dem Gehsteig laufe ich schnell zum Haus der Oma. Der Vater sitzt immer noch im Käfer. Er sucht mich nicht hier oben auf dem Berg. Er fährt noch unten im Ort herum.

Wie wird mich die Oma begrüßen? Was sagen die anderen Kinder und Erwachsenen im Haus, wenn ich gleich zur Tür hereinkomme? Kann ich bei der Oma bleiben? Wird sie dem Jugendamt alles erklären und sagen, dass ich nicht wieder beim Vater wohnen kann? Kann ich heute Nacht gleich bei der Oma bleiben? Das alles weiß ich nicht. Nur eines ist ganz sicher: bestimmt werde ich gleich etwas zu essen bekommen, denn ich habe großen Hunger.

Ich erreiche die Straße, in der die Oma wohnt. Ich bin gut bei der Oma gelandet, endlich hat es geklappt. Der dritte Versuch die Oma zu erreichen, ist nicht gescheitert. Darüber bin ich sehr froh. Es hätte unterwegs etwas schief gehen können. Der Vater hätte mich finden können. Andere Leute auf der Straße hätten mich zur Polizei bringen können. Aber es ist nichts passiert, ich habe es heute geschafft. Jetzt bin ich sehr erleichtert. Der Vater braucht nicht mehr nach mir zu suchen. Ich bin bei der Oma. Er kann mich jetzt nicht mehr finden. Ich werde sehen, wie es bei der Oma mit mir weiter geht.

V. Ins Gebirge

1. Es ist zu spät

Der Tacho zeigt Einhundertzwanzig. Die Tachonadel zittert. Manchmal bewegt sie sich über, manchmal fällt sie etwas unter die Einhundertzwanzig. Am Lenkrad sitzt ein Mann. Er trägt eine hellbraune Lederjacke. Auf dem Kopf hat er kaum mehr Haare. Er hat noch keine richtige Glatze, hinten wachsen noch Haare. Oben und vorne sind sie alle schon weg. Es ist Herr Neumann. Neben ihm sitzt Frau Michaels. Ihre Haare sind blond und gelockt. Sie fallen bis zur Schulter herab. Sie trägt eine große, braune Brille. Sie ist mit einer roten Jacke bekleidet und trägt eine weiße Bluse. Schon ein paar Mal hat sie in den kleinen Spiegel gesehen, der unter der Sonnenblende angebracht ist.

Ich sitze hinter Frau Michaels. Von hier kann ich Herrn Neumann besser sehen als sie. In Vaters Käfer war ich immer hinter dem Fahrersitz gesessen. Hier im Wagen, sitzt dort jetzt mein Bruder Matthias. Heute Morgen, um halb neun Uhr sind wir in der Stadt abgefahren. Die Uhr neben dem Tacho zeigt jetzt Viertel vor Elf.

Mit Opa war ich heute Morgen in seinem grauen Käfer zum Jugendamt in die Stadt gefahren. Im Jugendamt, es ist ein altes Haus, warteten oben im ersten Stock alle auf uns: Matthias, Herr Neumann und Frau Michaels. Ich hatte Matthias seit zwei Wochen nicht gesehen. Trotzdem haben wir uns heute Morgen nicht besonders begrüßt. Er sagte: “Hallo”. Ich sagte auch “Hallo”. Das war’s. Matthias hatte keine gute Laune heute Morgen, das merkte ich sofort. Ich glaube, es war ihm in den vergangenen zwei Wochen nicht gut gegangen. Vielleicht hatte er deswegen so schlechte Laune. Vielleicht hatte er keine Lust, auf die lange Autofahrt.

Herr Neumann und Frau Michaels begrüßten den Opa und mich freundlich. Im Büro standen zwei kleine Koffer. Es sind unsere Koffer, sie liegen jetzt hier im Kofferraum. Herr Neumann nahm beide Koffer und wir alle gingen hinunter zum Auto. Er lud die Koffer in den Wagen, einen gelben VW-Passat. Ich verabschiedete mich von Opa, dabei hatte ich einige Tränen in den Augen. Ich weiß nicht, wann ich ihn wieder sehen kann. Auch Herr Neumann, Frau Michaels und Matthias verabschiedeten sich. Wir stiegen in den Wagen, die Fahrt ging los. Opa stand auf dem Parkplatz und winkte uns hinterher.

Das Wetter ist nicht schön heute, es ist bewölkt draußen. Heute Morgen, als wir oben vor dem Haus der Oma losgefahren waren, sah ich aus dem Ort kleine Nebelbänke aufsteigen. Ich erkannte noch nicht, wie das Wetter heute wird. Es hätte auch die Sonne herauskommen können. Jetzt auf der Autobahn sieht draußen alles grau aus, aber es regnet nicht.

Heute Morgen war ich sehr früh aufgestanden. Bevor die Kinder in die Schule fuhren, verabschiedete ich mich von ihnen. Heute ist Montag, ein ganz normaler Schultag. Nachdem alle Kinder mit ihren Schultaschen das Haus verlassen hatten, saßen die Oma, der Opa und ich noch in der Küche. Es blieb noch ein bisschen Zeit, bevor wir ins Auto steigen und fahren mussten. Die Oma sagte, ich könne sie bald besuchen, das hätte sie bereits mit den Leuten vom Jugendamt besprochen. Matthias und ich könnten in den Schulferien zu Besuch kommen. Das Jugendamt würde die Zugfahrkarten bezahlen. Trotzdem war meine Stimmung schlecht geblieben. Heute Morgen hatte ich ständig daran gedacht, dass es wahrscheinlich für lange Zeit, das letzte Frühstück in Omas Küche ist.

Vor der Haustür hatten wir uns voneinander verabschiedet. Ich wäre gerne geblieben. Ich wollte bei der Oma leben, wie die anderen Kinder in ihrem Haus. Aber das geht nicht. Die Oma schrieb mir noch ihre Telefonnummer mit Vorwahl auf, damit ich einmal anrufen kann. Opa und ich stiegen in den grauen Käfer. Opa fuhr los, Oma stand vor der Türe und winkte, ich winkte zurück.

Während der Fahrt dachte ich, dass es für lange Zeit die letzte Fahrt mit Opa in seinem grauen Käfer hinunter in den Ort ist. Deshalb sah ich mir im Ort alles noch mal genau an. Den Laden, in dem Opa täglich einkauft, den Kaugummiautomaten an der Hauptstraße, den Matthias und ich auf einer Flucht einmal aufbrechen wollten, die Eisdiele, wo wir unser letztes Taschengeld umgesetzt hatten, und das Haus mit Vaters alter Wohnung, wo wir vor einem Jahr gewohnt hatten. Ich möchte nicht so schnell vergessen, wie es im Ort aussieht. Wenn ich zurückkomme, in einigen Jahren, oder wenn ich zu Besuch komme, möchte ich den Ort noch gut kennen.

In den vergangenen zwei Wochen war ich mit Opa fast jeden Tag in den Ort gefahren. Ich war immer mit dabei, wenn er zum Einkaufen, in den kleinen Lebensmittelladen am Ortseingang, fuhr. Alle Angestellten dort kennen Opa. Sie sind sehr nett. Jeden Vormittag begrüßten sie mich und Opa freundlich. Die meisten Dinge, die Opa kaufen wollte, hatten sie bereits für ihn hergerichtet. Als ich das erste Mal mitgekommen war, fragte die Verkäuferin gleich, wer ich sei.

Bei jedem Einkauf unterhielt sich Opa mit den Leuten im Laden. Ich hörte interessiert zu. Jeden Tag gab es Neuigkeiten aus dem Ort. Opa betrat das Geschäft, und sofort begann die Verkäuferin zu erzählen. Mal ging es um den Fußballverein, dann um den Bürgermeister, den Angelverein oder den Kegelklub. Opa interessiert alles. Die Leute im Laden wissen das, ich glaube deshalb erzählen sie ihm jeden Tag so viel.

Wieder Zuhause bei der Oma hatte Opa jeden Tag ausführlich von dem berichtet, was die Leute im Laden erzählt hatten. Oma interessierte sich sehr dafür. Opa brachte aus dem Laden täglich eine Zeitung mit. In der lasen alle Hausbewohner im Laufe des Tages.

In den zwei Wochen bei Oma und Opa war ich nicht in die Schule gegangen. Oma sagte es hätte keinen Sinn, für so kurze Zeit, wieder hier im Ort, in meine alte Schule zu gehen. Ich hatte also in den letzten zwei Wochen Ferien, obwohl keine Schulferien gewesen waren. Deshalb war ich jeden Vormittag mit Opa unterwegs. Alle anderen Kinder aus dem Haus saßen in der Schule.

Zunächst hatte niemand gewusst, wie lange ich bei Oma und Opa bleiben kann. Zwei Mal war ich mit Opa im Jugendamt. Dort wurde ich nach dem Vater gefragt und, warum ich abgehauen war. Ich erzählte alles, genauso wie ich es der Oma erzählt hatte. Im Jugendamt hatten sie gesagt, dass sie mich nicht zum Vater zurückschicken werden. Darüber war ich sehr froh. Sie sagten aber auch, dass ich nicht bei Oma bleiben kann, wie ich das wollte. Es sei zu gefährlich, wenn ich dort bliebe. Der Vater wohnt zu nah. Wir könnten uns auf der Straße im Ort treffen oder er könnte mich von der Schule abholen.

Sie hatten mich gefragt, ob ich in das Kinderheim zurückgehen will, aus dem uns der Vater herausgeholt hatte. Weil ich alle Kinder aus dem Kinderheim kenne und weil ich genau weiß, wo es ist und wie es dort aussieht, bejahte ich die Frage. Dann hatten sie gesagt, dass Matthias auch mitkommen würde, dass aber Christian und Mark nicht dabei sein werden, weil die schon zu alt sind. Ich hatte gehofft, dass wir im Kinderheim endlich wieder alle zusammen sein könnten. Aber das geht nicht mehr. Es ist zu spät. Mark und Christian sind zu alt. Also sitzen jetzt nur wir beide, Matthias und ich, im Auto.

2. Rückweg

Im Auto ist es sehr leise, wir sprechen nichts. Ich denke darüber nach, wie es im Kinderheim werden wird, ohne Mark und Christian. Ich denke an die Kinder, die ich dort alle noch kenne. Ich denke an den Wald und den großen Berg, hinter dem Haus, auf dem wir im Sommer Heu wendeten und im Winter Schlitten fuhren.

Mit den Schlitten spielten wir wilde Verfolgungsjagden. Es gab zwei Gruppen, die Cowboys und die Indianer. Beide verfolgten sich gegenseitig. Die Schlitten waren unsere Pferde, auf ihnen jagten wir den steilen Berg hinunter. Unten stand eine kleine Bretterbude, sie war die Ranch der Cowboys. Immer wieder hatten die Indianer die Ranch überfallen. Einer in den beiden Gruppen spielte den Anführer. Er war der Sheriff bei den Cowboys und der Häuptling bei den Indianern. Gemeinsam saßen die Gruppen um ihren Anführer, sie dachten sich einen Schlachtplan aus. Die Cowboys überlegten, wie sie das Indianerlager, oben im Wald bei dem großen Felsen, überfallen könnten. Die Indianer saßen auf ihrem großen Felsen und überlegten, wie sie die Cowboys unten in ihrer Ranch überfallen könnten.

Einmal hatten wir auf dem riesigen Dachboden im Kinderheim ein Paar uralte, braune, hölzerne Skibretter gefunden. Der Anführer der Cowboys durfte mit ihnen den Berg hinunter fahren. Unten hatten wir eine Sprungschanze gebaut. Mark war der Anführer gewesen. Er stürzte schwer. Er verstauchte sich beim Sprung ein Fußgelenk. Zum Glück war sein Bein nicht gebrochen.

Mark oder Christian waren damals oft die Anführer der beiden Mannschaften gewesen. Sie hatten sich immer neue Pläne ausgedacht, wie die Gegner überlistet werden könnten. Manchmal hörten die Kämpfe und Streitereien des Spieles nach dem Spiel nicht auf. Eine gespielte Schlägerei, nach einer Verfolgungsjagd durch den Wald und über die Wiese den Berg hinunter wurde plötzlich, weil ein Anführer nicht verlieren wollte, zu einem ernsthaften Streit. Niemand wollte gerne der Verlierer sein. Mehrmals hatten sich Christian und Mark heftig gestritten. Sie hatten gemeinsam ein Zimmer bewohnt, dort flogen dann die Fetzen.

Nach einiger Zeit, wenn sie sich wieder vertragen hatten, saßen sie weit oben im Wald, abseits der Wege der vielen Heimkinder. In einer Erdmulde zwischen hohen Laubbäumen und kleinen Tannen hatten sie ihr Versteck. Näherte ich mich der Mulde, sah ich dort leichte Rauchwolken vom Boden aufsteigen. Sie saßen in der Mulde und rauchten Zigaretten. Sie hörten jedes Geräusch, der sich nähernden Kinder. Mark machte drei Mal schnell hintereinander das Geräusch des Uhus. Wenn ich darauf nicht sofort drei Mal wie eine Amsel pfiff, war klar, dass sich ein fremdes Kind oder ein fremder Erwachsener näherte.

Oft hatte es im Kinderheim Streitereien gegeben. Mark und Christian waren immer da. Sie halfen uns aus den Schwierigkeiten heraus. Sie mischten sich ein, wenn sie glaubten, dass wir ungerecht behandelt wurden. Wie wird das jetzt werden, wo sie nicht mehr mit dabei sind? Ich bin sicher, dass es viel besser wäre, wenn sie mit dabei wären. Es geht aber nicht, weil Mark seine Lehre weitermachen muss, und weil Christian bald mit der Schule fertig ist und dann auch arbeiten wird.

3. Keine Zeit zu verlieren

Oma hatte erzählt, dass es nicht stimmt, dass Mark in einem Erziehungsheim wohnt. Die Wahrheit ist, dass er in einem offenen Heim für Jugendliche lebt. Dort bewohnt er sein eigenes Zimmer, für das er einem Schlüssel hat. Am vergangenen Wochenende hatten wir ihn besucht. Er erzählte, dass es ihm sehr gut geht. In seinem Heim ist es viel besser, als es vorher beim Vater gewesen war. Er geht immer noch in die Lehre. In dem Heim kann er seine Zeit frei einteilen. Er ist alt genug, um selbst zu entscheiden, wann er kommt und wann er geht. Er kann jetzt machen, was er will. Er ist für sich selbst verantwortlich. Für sein Zimmer bezahlt er auch dort eine Miete. Die ist klar festgelegt. Er gibt sie an einem vereinbarten Tag im Büro ab. So kann er sich sein Geld einteilen und dafür sorgen, dass es bis zum Monatsende reicht. Niemand taucht überraschend auf und verlangt mehr Geld von ihm. Niemand brüllt ihn an, wenn er das nicht geben kann. Niemand gibt ihm dann eine Ohrfeige.

Mark hatte gesagt, das Mofa könne der Vater behalten. Es hätte ihn vom Vater abhängig gemacht. Der Vater hätte das geliehene Geld zurückverlangt, wann es ihm passte. Es hätte keine feste Regel gegeben, wann er zahlen sollte. Deshalb sei es besser ohne Mofa. Er gehe lieber zu Fuß.

Ich hatte öfter daran gedacht, dass es sein könnte, dass uns die Stiefmutter und der Vater belogen hatten, dass das Erziehungsheim eine Erfindung von ihnen war. Oma erklärte, dass sie das sicher getan hätten, um uns Angst zu machen. So wollten sie verhindern, dass auch wir von zu Hause abhauen.

Weil ich schon genügend Angst hatte, machte mir ihre Geschichte über Mark im Erziehungsheim nicht mehr viel aus. Ich war weggelaufen, nachdem Mark gegangen war. Meinen Fluchtplan, über den ich so lange nachgedacht hatte, verwirklichte ich an diesem Tag, auch deshalb, weil mir Mark fehlte. Wegen ihm hatte ich stets Hoffnung gehabt, dass der Vater irgendwann aufhört zu schlagen. Wenn Mark zu Hause gewesen war, hatte ich keine Angst. Ich hatte gedacht: Solange Mark da ist, gibt es die Chance, dass wir Geschwister eines Tages wieder zusammenhalten werden. Eines Tages werden wir vielleicht sogar mit dem Vater reden können. Vielleicht werden wir die Stiefmutter rauswerfen, wenn sie nicht anders mit uns leben will. Mit uns kann man nicht so leben, wie sie es tut. Wir brauchen ihr Kreischen nicht jeden Tag und Vaters Schlagen brauchen wir auch nicht. Wir wollen normal mit ihr und Vater reden. Eines Tages wird das gelingen. Mark wird dabei helfen. Solange er da ist, besteht Hoffnung.

Ich hatte das gedacht, weil der Vater Mark nie geschlagen hatte. Ich hatte geglaubt, der Vater hätte gegenüber Mark ein schlechtes Gewissen, wegen seines Schlagens. Irgendetwas hatte den Vater vom Schlagen abgehalten, wenn Mark da war. Vielleicht hatte er gespürt, dass das Schlagen nicht gut ist. Vielleicht hatte er das gespürt, weil Mark früher bei den Besuchen des Vaters im Kinderheim mit dem Vater viel gesprochen hatte. Der Vater musste schon damals gemerkt haben, dass er mit Mark vernünftig sprechen kann. Also hatte der Vater schon lange gewusst, dass Mark vernünftig denken kann. Vielleicht hatte der Vater nicht zugeschlagen, wenn Mark zu Hause war, weil er spürte, dass Mark schon viel erwachsener ist, als wir es sind. Ohne dass Mark darüber sprach, hatte er dem Vater vielleicht gesagt, dass Erwachsene, wie der Vater und die Stiefmutter, eigentlich nicht schlagen sollten, weil das nicht nur weh tut, sondern für immer kaputt macht.

Ich glaube, das hatte dem Vater ein schlechtes Gewissen gemacht. Wegen Mark hatte er zu Hause gespürt, dass Erwachsene eigentlich reden sollten, anstatt zu schlagen. Weil das der Vater nach einem Jahr noch nicht verstanden hatte, hielt Mark es zu Hause nicht mehr aus. Er hatte die Hoffnung so lange nicht aufgegeben, bis der Vater an dem Nachmittag wegen des Geldes auch auf ihn eingeschlagen hatte. Da gab er es auf und ging fort.

Marks Weggehen war für mich das Zeichen gewesen, dass der Vater sich nicht ändern will oder kann. Das Schlagen hätte nicht aufgehört. Es war das Zeichen, dass auch die Stiefmutter nichts verstanden hatte und wahrscheinlich nie verstehen wird. Es war das Zeichen, dass alles bleiben wird, wie es sich eingespielt hatte. Es war das Zeichen, dass sich zu Hause nichts verbessern wird. Zu Hause war deshalb keine weitere Zeit mehr zu verlieren.

4. Mark und Christian

Die Tachonadel steht jetzt bei Achtzig. Draußen sehe ich eine Baustelle, der Verkehr läuft nur auf einer Spur. Wir fahren an dampfenden Teermaschinen vorbei. Ich sehe Bauarbeiter in gelben Jacken mit Schaufeln in der Hand.

Auch Mark ist gerade beim Arbeiten. Er steht auf einer Baustelle, irgendwo in einer Stadt oder in einem Dorf. Ich stelle ihn mir oben auf einem neuen Hochhaus vor. Ich sehe ihn auf einem hohen Baugerüst. In seiner Hand hält er eine Maurerkelle. Mit ihr fährt er in den dreckigen, schwarzen Eimer. Er klatscht den nassen, grauen Putz an die Wand. Mit der Spachtel streicht er darüber. Die Wand muss glatt werden. Er klettert das Gerüst hinunter. Seine blaue Arbeitshose ist verspritzt mit grauem Mörtel. Unten hebt er einen schweren Betonsack von einem Stapel auf einer Palette. Er schleppt ihn auf dem Rücken zur Betonmischmaschine. Dort wirft er ihn zu Boden. Er reißt ihn auf. Das graue Pulver schaufelt er in die Maschine. Diese Arbeit macht Mark heute schon seit sieben Uhr.

Leider arbeitet er nicht in einer Reparaturwerkstatt für elektrische Geräte. Er studiert keinen Schaltplan für Fernsehgeräte oder Radios, so wie er es früher in seinem Zimmer im Kinderheim stundenlang getan hatte. Er hat keinen Lötkolben in der Hand, um defekte Bauteile von einer Platine zu lösen und durch neue zu ersetzen. Er hantiert nicht mit einem Messgerät und fahndet nach einem Fehler, den er in einem Kassettenrecorder vermutet. Ich glaube, ihm fehlt die Kraft und der Mut, nach allem, was beim Vater gewesen war, sich einfach eine Ausbildungsstelle in diesem Bereich zu suchen.

Der Vater hatte gelogen. Mark war nicht ins Erziehungsheim gekommen. Vielleicht hatte der Vater auch vorher schon oft gelogen. Vielleicht hätte Mark auch bei einer Lehrstelle im Elektronikbereich genügend Geld verdient, um seine Miete und das Mofa bezahlen zu können.

Hoffentlich hat Mark gleich eine Mittagspause. Nein, das ist noch zu früh, es ist erst halb zwölf Uhr.

Die Tachonadel zeigt jetzt wieder Einhundertzwanzig. Die Autobahnbaustelle ist vorüber. Draußen fällt Nieselregen. Herr Neumann schaltet den Scheibenwischer ein. In den Gischtwolken, draußen vor der Windschutzscheibe, sehe ich ein Meer aus roten Rückleuchten von den Autos, die uns überholen. Die Autobahn ist voll. Auch auf der Gegenfahrbahn ist viel Verkehr. Tausende Lampen fliegen zurück in die Richtung, aus der wir kommen. Die Lichter spiegeln sich im Regen. Sie spielen in den dichten Gischtwolken, welche die Autos aufwerfen. Sie tanzen und reflektieren auf der glänzenden Fahrbahn.

Jetzt stelle ich mir Christian vor. Er sitzt gerade in der Schule. Vielleicht sitzt er auf seinem Stuhl, hinten in der letzten Reihe und hört dem Lehrer zu. Vielleicht passt er heute genau auf, weil er wissen möchte, was in der nächsten Probe abgefragt wird. Oder er ist heute Vormittag noch sehr müde, weil er gestern sehr spät ins Bett gegangen ist. Dann sitzt er jetzt in der Schulbank und versucht, nicht einzuschlafen. Um ein Uhr mittags hat er Unterrichtsschluss. Er kann nach Hause fahren in sein Heim. Er bewohnt ein Zimmer, in demselben Heim wie Mark.

Er war einige Tage nachdem ich zur Oma geflohen war, auch vor dem Vater aus dem Dorf geflüchtet. Christian lief zum Jugendamt in der Stadt, dort hatte er sich nach Mark und mir erkundigt. Weil Christian nur noch ein Schuljahr vor sich hat, hatte das Jugendamt ihn in dasselbe Heim geschickt wie Mark.

Ob er sich selbst sein Mittagessen kocht? Oder gibt es für alle Jugendlichen ein Mittagessen in seinem Heim? Ich weiß es nicht. Vielleicht sitzt Christian jetzt gar nicht in der Schule. Vielleicht war er heute Morgen noch zu müde gewesen und blieb einfach in seinem Bett liegen. In der Schule wird er dem Lehrer Morgen sagen, dass er heute krank gewesen sei. Ob er so etwas machen kann, in seinem neuen Heim?

5. Schule im Gebirgsort

Kennen mich die Kinder in meiner alten Schulklasse, im Bayerischen Gebirgsort, noch? Sicherlich kennen sie mich noch, denn ich bin ja erst seit einem Jahr weg, vom Kinderheim auf dem Berg. An einige Kinder in meiner Schulklasse erinnere ich mich gut.

Manfred, neben dem ich saß, hatte aus seinen Filzstiften Spuckröhrchen gebaut. Damit ärgerte er die Lehrerin und die Mitschüler. Richard hatte jeden Tag viele Pausenbrote dabei. Die nahm er morgens aus seinem Schulranzen und steckte sie unter seine Schulbank. Schon nach wenigen Minuten, in der ersten Unterrichtsstunde, raschelte er an seinen Brottüten unter der Bank herum. Wenn die Lehrerin nicht zu ihm hinsah, hatte er sich immer ein Stückchen vom Pausenbrot in den Mund gestopft. Markus hatte jeden Tag Geld dabei. In der Pause stand er in der langen Schlange, unten in der Pausenhalle am Kiosk. Dort kaufte er sich jeden Tag so viele Lakritzeschnecken, wie er für sein Geld nur bekommen konnte. Alle Kinder aus der Schulklasse, die gerne Lakritze aßen, auch ich, waren dann um Markus herumgestanden und bettelten ihn nach einer Lakritzeschnecke an.

Ich glaube, die erkennen mich sicher gleich wieder. Hoffentlich haben sie eine nette Lehrerin. Oder haben sie inzwischen einen Lehrer? Vielleicht haben sie einen strengen Lehrer, so wie Herrn Götz in unserer Dorfschule?

Im vergangenen Schuljahr hatten wir im Gebirgsort eine alte Lehrerin. Sie hatte schon seit vielen Jahren an der Schule unterrichtet. Ich glaube, unsere Klasse war eine sehr freche Klasse gewesen. Manchmal hatte die Lehrerin Kinder aus der Klasse zum Direktor geschickt. Das ist ein sehr strenger Mann. Einmal kam es vor, dass die Lehrerin das Klassenzimmer verlassen hatte und nicht wieder zurückkam. Sie war einige Tage krank und wir bekamen einen strengen Lehrer als Vertretung. Montags nach einer Woche war die Lehrerin wieder da.

Manfred verteilte wieder seine Spuckröhrchen an andere Kinder in der Klasse. Das hatte er sich nicht getraut, als der strenge Lehrer als Vertretung da gewesen war. Bei dem hatte sich niemand getraut, mit dem Röhrchen ein Stück Papier an die Tafel zu spucken. Bei der Lehrerin sollte nun alles von neuem losgehen. Aber plötzlich brüllte sie Manfred an. Sie verbot ihm, weiter seine Spuckröhrchen zu bauen. Wir Kinder waren überrascht, dass sie genau wusste, dass Manfred es gewesen war, der die Röhrchen gebastelt hatte. Lange Zeit hatte ich geglaubt, sie ahne nicht, wer der Hauptübeltäter war. Die Lehrerin war strenger geworden. Manchmal warf sie Manfred aus dem Klassenzimmer. Trotzdem war sie lange nicht so schlimm gewesen, wie mein strenger Lehrer an der Dorfschule es war.

In den Pausen hatte ich mich jeden Tag im Schulhof mit den Geschwistern Christian, Mark und Matthias getroffen. Jetzt werden Christian und Mark fehlen. In der Schule wird es deshalb nicht mehr so wie früher sein.

6. Ruhe

Wir fahren auf eine Autobahnraststätte. Wir gehen in die Raststätte, um etwas zu Mittag zu essen. Herr Neumann hat einen großen schwarzen Geldbeutel. Er bezahlt alles. Das Essen ist sehr gut. Matthias und ich essen Schnitzel. Es ist unser Lieblingsessen. Wir verlassen das Rasthaus. Draußen regnet es stark. Schnell laufen wir zum Wagen. Herr Neumann sagt, dass wir noch ungefähr drei Stunden fahren werden, bis wir im Kinderheim ankommen. Herr Neumann fährt los. Er steuert den Wagen wieder auf die regennasse Autobahn. Schnell zeigt der Tacho wieder Einhundertzwanzig an. Matthias hat jetzt bessere Laune. Sein Blick ist nicht mehr so grimmig, wie er es morgens im Jugendamt und den Vormittag lang im Auto war.

Jetzt stelle ich mir den Vater vor. Im Moment arbeitet er in der Maschinenfabrik. Die Mittagspause ist gerade vorüber. Der Vater steht wieder an der großen, lärmenden Maschine. Von einem Stapel auf einer Palette, neben der Maschine, nimmt er eine dünne Blechplatte. Er schiebt sie unter die Presse. Dann drückt er auf den grünen Knopf. Von oben senkt sich der schwere Arm der Presse herab. Es entsteht ein lautes Zischgeräusch. Durch Pressluftkraft verformt sich das Blech zu einem Teil für eine neue Maschine. Die schwere Presse fährt wieder hinauf. Der Vater drückt den roten Knopf, um die Presse zu sichern. Jetzt zieht er das geformte Blech aus der Maschine. Er hebt es hoch und lässt es auf einen Stapel, bereits fertiger Bleche, fallen. Er nimmt das nächste Blech vom Stapel und schiebt es erneut unter die Presse. Diese Arbeit macht der Vater jeden Tag, ab Viertel nach sieben Uhr morgens. Schon seit über zehn Jahren ist der Vater in der Maschinenfabrik beschäftigt.

Heute Abend wird der Vater wie jeden Tag um halb sechs Uhr, die Fabrik verlassen. Im weißen Käfer fährt er von der Stadt zurück ins Dorf. Den Käfer parkt er hinter dem alten Haus, wie jeden Abend. Außer der Stiefmutter und ihrem Sohn Paul, ist niemand zu Hause. Die Kinder sind alle nicht mehr da. Der Vater wird die Tür hinter dem Haus laut quietschend öffnen, er wird langsam die Holztreppe heraufsteigen.

Das werde ich nicht hören. Ich werde heute nicht am Küchentisch sitzen und bei jedem schweren Schritt des Vaters mehr und mehr Angst davor spüren, dass er gleich vor mir steht.

Am Ende der Holztreppe angelangt, wird der Vater die Küchentür öffnen. Rati unser Dackel wird ihm schwanzwedelnd entgegenspringen. Nur die Stiefmutter sitzt am Küchentisch. Vielleicht sitzt heute Abend auch Paul neben ihr in der Küche. Jetzt, wo wir Kinder weg sind, kommt Paul vielleicht zum Abendessen aus seinem Zimmer herunter.

Seine schwarze Arbeitstasche mit der Brotzeitdose stellt der Vater auf die Anrichte in der Küche. Die Stiefmutter wartet schon mit dem Abendessen. Sie wird dem Vater heute nichts von uns Kindern erzählen. Sie muss über etwas anderes reden. Sie kann nichts von den Kindern sagen, denn sie sind nicht mehr zu Hause.

Heute Abend muss der Vater nicht mehr in unsere schlechten Schulhefte sehen. Heute Abend wird er froh sein, dass er sich nicht darüber ärgern muss. Der Vater wird keine schlechten Noten mehr in unseren Heften sehen müssen. Er wird kein schlechtes Schulzeugnis mehr ansehen müssen. Weil das alles nicht mehr geschieht, braucht sich der Vater über seine Kinder nie mehr zu ärgern. Er kann sich jetzt ein ruhiges Leben machen. Er kann sich heute Abend, nach seiner schweren Arbeit, an den Tisch setzen und in Ruhe essen. Dabei kann er in aller Ruhe in seiner Zeitung lesen, oder er kann das Radio einschalten und zuhören. Heute Abend muss er nicht hören, welche schlimmen Dinge die Stiefmutter von seinen Kindern berichtet. Er kann sich in seinem Stuhl zurücklehnen und eine Bierflasche trinken. Er braucht nicht mehr seinen Gürtel aus der Hose zu lösen und seine Kinder ins Schlafzimmer zu treiben.

Die Stiefmutter wird uns nicht mehr in den Dorfladen zum Zigarettenkaufen schicken. Frau Maier im Dorfladen braucht uns nicht mehr zu helfen. Sie muss nicht mehr so tun, als bemerkte sie nicht, dass wir ihre Stifte und Radiergummis stehlen. Der strenge Dorfschullehrer braucht nicht mehr zu schimpfen. Ich werde nicht mehr ohne Stifte oder Radiergummi in sein Klassenzimmer kommen. Nie mehr werde ich morgens in die Dorfschule kommen und nach der Tabakspfeife vom Vater stinken. Die Dorfschule werde ich nie mehr betreten.

Jetzt, am Nachmittag, muss die Stiefmutter nicht mehr neben dem Küchentisch stehen und zusehen, wie wir Kinder in unsere Schulhefte schmieren. Sie sieht nicht mehr wie wir, statt einer geraden, sauberen Linie, eine zittrige Kurve ins Schulheft malen. Meine Schulhefte liegen nicht in dem kleinen Koffer im Kofferraum. Sie liegen noch zu Hause bei der Stiefmutter. Aber sie braucht sie nicht mehr anzusehen. Das ist jetzt nicht mehr wichtig. Die Hefte sind voll mit meiner krakeligen Kinderschrift. Die kann sie jetzt in den Küchenofen stecken.

Die Stiefmutter kann jetzt etwas anderes machen. Sie braucht sich nicht mehr über unser Geschmiere in unseren Schulheften zu ärgern. Heute Abend muss sie dem Vater nicht mehr die schlimmen Dinge berichten, über die sie sich tagsüber ärgern musste. Wir sind weg. Die Stiefmutter hat jetzt keinen Grund mehr, sich zu ärgern. Sie hat jetzt Ruhe. Vielleicht ist es jetzt so geworden, wie sie es sich gewünscht hatte. Vielleicht kann sie jetzt die Ruhe in dem alten Haus genießen.

Sie muss uns nicht mehr schimpfen, wenn die Treppe nicht sauber geputzt oder das Zimmer nicht ordentlich gefegt ist. Sie muss sich nicht darüber aufregen, dass die Kinder wieder alles falsch und schlecht gemacht haben. Im Haus ist es jetzt ruhig und friedlich. Es herrscht nicht mehr dieses schlimme Durcheinander, welches wir in das Haus der Stiefmutter und des Vaters gebracht hatten. Ich glaube, ab jetzt wird dort alles schön ordentlich und sauber sein.

Auch im Dorf ist es jetzt ruhiger. Auf der Straße, vor unserem Haus hört man kein lautes Kindergeschrei. Unser Versteck in der Scheune bleibt nun leer. Wir sitzen nicht mehr mit gestohlenen Kaugummis und Zigaretten da oben.

Wird das Unkraut in unserem Garten wieder wuchern? Wird der Gehsteig verschmutzen? Dann werden die Nachbarn auf der anderen Straßenseite denken, dass in unserem Haus etwas “nicht ganz sauber” ist. Ich glaube, deshalb wird das nicht geschehen. Die Stiefmutter und der Vater werden ihr Unkraut jäten. Sie werden ihren Bürgersteig fegen.

7. Für immer

Der Tacho zeigt genau einhundert an. Herr Neumann fährt nicht mehr so schnell, weil es sehr stark regnet. Die Sicht ist sehr schlecht. Der Scheibenwischer jagt über die Windschutzscheibe, trotzdem sehe ich nur wenig. Die Wischblätter hauen ständig hin und her. Der Wagen fährt jetzt noch langsamer, nur noch achtzig. Die Autobahn ist weiß vom aufklatschenden Regen. Hinter jedem Wagen entsteht eine dichte, weiße Gischtwolke. Manchmal sehe ich draußen, vor der Windschutzscheibe, gar nichts mehr. Herr Neumann überholt jetzt nicht mehr, er fährt lieber vorsichtig. Er sagt es ist besser, wenn wir etwas langsamer fahren und gut ankommen, als schnell zu sein und deshalb vielleicht einen Unfall zu bauen. Ich finde es gut, wenn er nicht so schnell fährt. Ich sitze gerne im Auto und sehe zum Fenster hinaus. Ich finde es gut, wenn wir nicht so schnell ankommen.

Die letzte weite Reise mit dem Vater war die Fahrt in seinem Käfer vor fast einem Jahr gewesen. Er hatte uns aus dem Kinderheim abgeholt. Im Käfer war es sehr eng. Wir saßen zu dritt hinten auf der Bank. Mark saß vorne, neben dem Vater. Der Vater fuhr sehr schnell. Manchmal hatte er große Autos wie Mercedes oder Opel überholt. Wir zählten jeden Wagen, an dem er vorbeifuhr.

Der Vater war schon am Vorabend gekommen. Er übernachtete in der Pension, gegenüber der Bushaltestelle Station Erika. An diesem letzten Abend in unserem Kinderheim, hatte uns der Vater zum Abendessen in eine Gaststätte eingeladen. Der Vater sagte, er müsse mit uns feiern, dass er es endlich geschafft hatte, uns aus dem Heim herauszuholen.

An diesem Abend hatte ich zum ersten Mal von der Stiefmutter gehört. Der Vater erzählte, dass sie sehr nett wäre. Ich hatte nicht verstanden, was der Vater damit meinte. Ich verstand nicht, dass wir mit einer Stiefmutter zusammen wohnen würden. Mark und Christian hatten das verstanden. Sie fragten den Vater über die Frau aus. Sie wollten wissen, wo sie herkommt, wie sie heißt und wo er sie kennen gelernt hatte. Ich weiß nicht, was der Vater auf diese Fragen geantwortet hatte.

Am nächsten Tag holte uns der Vater morgens ab. Wir freuten uns, endlich wegzukommen. Ich hatte gedacht, dass ich das Kinderheim nie wieder sehe. Wir verabschiedeten uns von den anderen Kindern. Die beneideten uns, weil wir raus kamen. In der Schule verabschiedete ich mich von niemandem. Obwohl ich wusste, dass wir wegkommen. Aber mir war das nicht so wichtig. Mit den Kindern in der Schule hatte ich nur in der Schule zu tun und nicht in der Freizeit. Ich ging nicht so gerne in die Schule. Dort hatte es genügend Kinder gegeben, die mich geärgert hatten.

Unsere Abfahrt vom Kinderheim war etwas Besonderes. Es kam selten vor, dass Kinder von den Eltern “für immer” abgeholt worden waren. Viele Kinder standen deshalb draußen um den weißen Käfer herum und verabschiedeten sich von uns. Der Vater fuhr langsam los, wir sahen zurück und winkten.

8. Platz es auszuhalten

Heute kommen wir wieder zurück. Damals hatten wir uns gefreut, endlich weg zu kommen. Heute freue ich mich, dass wir wieder hingebracht werden. Im Kinderheim gibt es vieles, das mir nicht besonders gefällt, aber ich weiß, dass es dort viel schöner ist, als bei der Stiefmutter und dem Vater.

Ich kenne das Kinderheim gut. Ich hatte schon viele Jahre dort verbracht. Es gibt sehr strenge Regeln. Der Heimleiter ist sehr streng, das ist nicht schlimm. Schlimm ist, dass er manchmal sehr unberechenbar ist. Er hat einen Stellvertreter, der ist Buchhalter. Das ist nicht schlimm. Schlimm an ihm ist, dass er der Stellvertreter des Heimleiters ist, weil er brutal ist, und noch unberechenbarer als der Heimleiter. Ich kenne das, weil ich es jahrelang erlebt habe. Weil ich weiß, was mit diesen beiden Männern, in dem Kinderheim auf mich zukommt, will ich dort wieder hin. Weil ich das kenne, kann ich damit klarkommen. Trotzdem muss ich vorsichtig sein. Auch im Kinderheim wird man von diesen Männern verprügelt. Aber dort kann ich mich auch gut verstecken. Ich kann ihnen besser aus dem Weg gehen als der Stiefmutter und dem Vater. Und manchmal helfen ältere Kinder.

Es gibt den nahen Wald, in dem wir nachmittags spielen. Es gibt immer die Möglichkeit zu flüchten, wenn die Gefahr besteht, geschlagen zu werden. Im Kinderheim gibt es Kinder, die abhauen. Manche versuchen mit der Bahn zu den Eltern zu flüchten. Sie werden unterwegs im Zug, ohne Fahrkarte, geschnappt. Ich würde nie aus diesem Kinderheim abhauen. Ich weiß gar nicht, wohin ich abhauen sollte. Wo sollte es noch besser sein, als in diesem Kinderheim? Ich kenne dieses Kinderheim, ich kenne die Stiefmutter und den Vater und ich kenne die Oma. Wo ich wohnen will, bei der Oma, kann ich nicht wohnen, weil der Vater zu nah ist. Also bleibt nur dieses Kinderheim.

Weil ich mich im Kinderheim auskenne, weil ich dem unberechenbaren Leiter und dem Buchhalter aus dem Weg gehen kann, weil ich meistens weiß, wann und wohin ich verschwinden muss, ist es der Platz, an dem ich es schon einmal ausgehalten hatte. Ich glaube, ich werde es wieder dort aushalten. Das Kinderheim ist der Platz, der mir am Morgen meiner Flucht aus dem Dorf nicht eingefallen war. Jetzt hier im Auto auf dem Weg zurück dorthin, weiß ich, dass es der Platz sein muss, den ich am Morgen meiner Flucht in meinen Gedanken meinte. Es ist der Ort an dem es erträglich ist.

Im Kinderheim geht es gut, solange ich mich mit den Erwachsenen nicht anlege. Wenn ich ihnen zustimme und ihnen aus dem Weg gehe, was im Dorf bei Vater und Stiefmutter beinahe unmöglich gewesen war, dann geht es gut. Im Kinderheim gibt es keine Prügel wegen Fehlern im Schulheft und schlechten Noten im Zeugnis. Deshalb wird man geschimpft, aber man wird nicht verprügelt.

Es ist wichtig in der Schule nicht sitzen zu bleiben. So lange man nicht sitzen bleibt, fällt man dem Heimleiter nicht auf. Damals waren einige Heimkinder in der Schule öfter sitzen geblieben. Manche von ihnen kamen deshalb auf eine Sonderschule. Diesen Kindern war es im Kinderheim besonders schlecht ergangen. Ihre Schulhefte hatte sich der Heimleiter jeden Nachmittag genau angesehen. In der Hausaufgabenstunde mussten sie lange sitzen und in ihre Hefte schreiben. Zu diesen Kindern hatte der Heimleiter immer gesagt: “Ihr seid hier die dümmsten Idioten!” Alle anderen Kinder machten das dem Heimleiter nach. In diesem Kinderheim ist es deshalb so, dass ich in der Schule nicht sitzen bleiben darf, weil ich sonst auf die Sonderschule komme und vom Heimleiter, dem Buchhalter und allen anderen Kindern immer “der Idiot” genannt werde.

Nur wenige Kinder waren wirklich gut in der Schule gewesen. Weil sie nicht die Volksschule, sondern die Realschule oder das Gymnasium besuchten, nannte sie der Heimleiter die “schlauen Knöpfe”. Auch ihre Schulhefte sah sich der Heimleiter nachmittags genau an. Ist man in der Schule, so wie ich es bin, nicht zu schlecht und nicht sehr gut, dann bleibt man im Kinderheim unauffällig und wird in Ruhe gelassen. Besonders wichtig ist es, dass man im Kinderheim nicht herummeckert, dass man sich nicht ärgert, über Heimleiter und Buchhalter. Sonst werden beide sehr böse und schlagen um sich.

Der Heimleiter spielt gerne Theater vor den Kindern. Er will uns zeigen, dass er der große Leiter ist. Wenn der Heimleiter nicht da ist, macht das der Stellvertreter. Freitagabends nach dem Abendessen, stehen sie im Speisesaal vor den Heimkindern und verteilen die Hausarbeit für die nächste Woche. Daraus machen beide eine lange Show. Zu jeder Aufgabe die ein Kind bekommt, sprechen Heimleiter oder Buchhalter kleine Kommentare. Einzelne Kinder nennen sie in ihren Kommentaren “Idioten”, “Pisser”, oder “unseren Dorftrottel”.

Viele Kinder werden von den beiden Männern nicht mit ihren Vornamen angesprochen, sondern mit dem Wort das ihnen gerade zu dem jeweiligen Kind einfällt. So versuchen sie uns zu ärgern. Wenn man sich darauf einlässt und sich darüber wirklich ärgert, hat man schon verloren. Das können die beiden am wenigsten ertragen: Kinder die ihnen vorhalten, wie sie sind. Kinder, die sich offen über die beiden ärgern oder beschweren.

Am schlimmsten sind Kinder, die sich einmischen und kleine Kinder beschützen wollen. Solche Kinder schlagen sie. Deshalb hatten sie Mark damals öfter geschlagen. Ich hatte mich nicht mehr geärgert oder aufgeregt, über diese beiden Männer. Ich hatte versucht, einfach nicht mehr hin zu hören, wenn sie auch mich mit schlimmen Worten beschimpften. Das werde ich jetzt wieder genauso versuchen, denn ich bin gut damit klargekommen.

Besonders schlecht geht es den Kindern, die nachts ins Bett machten. Sie werden vom Heimleiter und dem Buchhalter “die Pisser” genannt. Alle Kinder machen auch das nach. Bald nennt jedes Kind einen Bettnässer nicht mehr bei seinem Namen, son­dern “Pisser”. Der Heimleiter hatte damals besondere Betteinlagen besorgt. Sobald diese Einlagen nass geworden waren, ging ein lauter Heulton los. Der Heimleiter hatte zu den Kindern, die mit Bettnässern in einem Zimmer schliefen, gesagt: “Die verdammten Pisser erziehen wir trocken zu werden! Wenn nachts die Sirene heult, dann jagt sie aufs Klo!” Kein Kind im Zimmer eines Bettnässers konnte nachts durchschlafen. Mitten in der Nacht gingen die Heulsirenen los. Deshalb hatten die Kinder den Bettnässern jeden Abend angedroht, sie heftig zu verprügeln, wenn nachts das Sirenengeheule wieder losginge. Manche Bettnässer schalteten deshalb abends die Sirene ab. Schnell hatte der Heimleiter das gemerkt. Persönlich erschien er deshalb abends, um zu überprüfen, ob die Sirenen eingeschaltet waren.

Ich glaube, diesem Heimleiter und dem Buchhalter macht es Spaß, Kinder zu ärgern. Meistens hatten beide gelacht, wenn sie die Bettnässer “Pisser” schimpften. Solche Kinder hatten keine Ruhe vor den beiden Männern. Unter den anderen Heimkindern hatten sie keine Freunde. Wenn irgendetwas Schlimmes geschehen war, wenn etwas gestohlen wurde, waren “die Pisser” und “die Idioten” die ersten, bei denen gesucht wurde.

Mir geht es in diesem Kinderheim nur dann gut, wenn ich unauffällig bleibe. Damals hatte der Heimleiter für mich noch keinen Spitznamen gefunden. An mir gab es nichts Auffälliges, womit er mich ärgern konnte. So soll es auch jetzt wieder sein. Es ist deshalb gut, dass ich wieder in das gleiche Heim zurückkomme. Auch wenn ich den Heimleiter und seinen brutalen Stellvertreter nicht mag. Aber ich weiß, wie sie sind und ich weiß, wie ich mich zu verhalten habe, damit ich von ihnen in Ruhe gelassen werde. Etwas Besseres kann ich mir nicht vorstellen.

Wenn ein Schlag des Heimleiters mich doch einmal erwischt, muss ich sofort die Arme auf die Ohren reißen, sonst schmerzt und pfeift es im Ohr. Es ist das gleiche Pfeifen wie nach den Schlägen der Stiefmutter. Im Heim werde ich mich nicht ärgern lassen. Ich werde mich nicht aufregen. Ich werde nicht aufmüpfig sein. Mir wird es wurscht sein, wie mich der Heimleiter und sein Stellvertreter nennen und behandeln werden. Ich werde tun, was sie verlangen. Ich werde vor allem still sein. Wenn ich mich doch mal ärgern muss, werde ich den Ärger nicht zeigen. Wenn ich schreien will, gehe ich hinauf in den Wald. Im Heim kann ich den Schlägen aus dem Weg gehen. Ich kenne die Regeln, und es gibt viele Plätze, wo ich mich im Notfall verstecken kann.

9. Ein kleines Stück Freiheit

Herr Neumann sagt, dass wir in ungefähr zwei Stunden ankommen werden. Die ganze Zeit über unterhielten sich Frau Michaels und Herr Neumann leise miteinander. Wir stoppen noch mal auf einem Parkplatz und gehen auf die Toilette. Frau Michaels fährt jetzt weiter. Der Regen ist schwächer geworden, es nieselt nur noch. Das Wetter passt zu dieser Reise. Die Stimmung im Auto ist gedämpft. Mit Matthias habe ich noch nicht gesprochen, auch er scheint nachzudenken.

Die Mittagspause von Mark ist jetzt vorbei, es ist schon zwei Uhr. Er steht wieder auf dem Gerüst und klatscht mit der Maurerkelle Mörtel an die Wand. Bis zum Feierabend dauert es noch drei Stunden. Dann werden wir schon im Kinderheim angekommen sein. Dann werde ich die Kinder wiedersehen, die auch Mark von früher noch kennen. Ich könnte in das Zimmer gehen, in dem Christian und Mark früher geschlafen hatten. Die Heimkinder werden mich fragen, warum Mark und Christian nicht mit dabei sind. Sie wollen wissen, warum wir ohne sie zurückkommen. Ich werde sagen, dass sie schon zu alt sind, um noch im Kinderheim zu wohnen. Ich werde ihnen einen schönen Gruß von Mark und Christian bestellen.

Wann werde ich meine beiden Brüder, Mark und Christian wieder sehen? Werden wir mal wieder zusammen ein Spiel spielen, so wie wir es am Anfang getan hatten, in der alten Wohnung beim Vater? Wir hatten einige Spiele. Wir spielten sie auf dem Tisch im Schlafzimmer. Der Samstagnachmittag war ein guter Tag zum Spielen gewesen. Es gab keine Hausaufgaben. Wenn das Wetter gut war, gingen wir hinaus auf den Sportplatz. Bei Regenwetter spielten wir in unserem Zimmer. Wir spielten Bingo, Malefiz, Mensch ärgere Dich nicht, Monopoly oder ein Kartenspiel. Oft hatten wir uns nach solchen Spielen gestritten, weil keiner von uns verlieren wollte. Manchmal flog das ganze Spiel durch unser Zimmer. Wer verloren hatte, ärgerte sich sehr. Wer gewonnen hatte, triumphierte. Auch darüber ärgerten sich die Verlierer.

Die Stiefmutter und der Vater wollten Samstagnachmittags immer Ruhe in der kleinen Wohnung haben. Das fiel uns natürlich dann besonders schwer, wenn sich der Verlierer eines Spieles so sehr ärgerte, dass er das ganze Spiel durch das Zimmer warf. Wahrscheinlich werde ich die Brüder Mark und Christian nicht so schnell wiedersehen. Das ist sehr schade, obwohl wir uns beim Spielen oft gestritten hatten.

Im Kinderheim wird es anders sein als früher. Wir werden nur noch zu zweit sein. Im Zimmer von Mark und Christian wohnen andere Kinder, vielleicht neue Kinder, die ich nicht kenne und die mich nicht kennen. Wir werden uns nicht mehr im Zimmer von Mark und Christian treffen, um uns miteinander zu unterhalten. Wir beide werden nun allein im Heim sein. Wir müssen sehen, dass wir neue Freunde finden, mit denen wir sprechen können.

Am schönsten hatte ich damals den Wald beim Kinderheim gefunden. Vielleicht wird es jetzt auch wieder so. Im Wald hatten wir uns versteckt. Wir bauten Baumhütten und kleine Lager. Bei schönem Wetter spielten wir jeden Nachmittag dort. Mit Werkzeugen bewaffnet, marschierten wir den Hügel hinauf in den Wald. Wir suchten uns geeignete Plätze für die Baumhütten. Meist spielten wir immer an denselben Stellen im Wald. Am Waldrand gibt es eine Mulde, in der sich ein großer Felsbrocken befindet. Damals war das unser Treffpunkt gewesen. Von diesem Punkt schwärmten wir aus und machten Verfolgungsjagden durch das Gelände. Mit Messern ritzten wir unsere Namen in den großen Baum neben dem Felsbrocken. Die Bäume in unserem Wald hatten viel auszuhalten. Wir schlugen große Nägel in sie, um die Bretter für die Baumhütten zu befestigen.

Eines Tages hatten wir nicht weit von unserem Treffpunkt beim Felsen drei Baumhütten ganz eng aneinander gebaut. Dort hatten regelmäßig Zusammenkünfte stattgefunden. Mark und Christian schafften Lebensmittel aus der Speisekammer dort hin. In diesen Baumhütten hatten wir unser zweites zu Hause.

Heimleiter und Buchhalter kümmerte sich nicht um das, was wir im Wald gemacht hatten. Deshalb war der Wald das Schönste gewesen. Für die Erzieher war die große Buche auf der ersten Anhöhe hinter dem Haus, die letzte Station, bis zu der sie uns Kindern in den Wald folgten. Ab dieser Buche hatten wir uns stets frei bewegt.

Am Wochenende hatten die Erzieher manchmal unterhalb der Buche mit uns Kindern ein Lagerfeuer gemacht. Das hatte mir immer gut gefallen. Die älteren Kinder durften beim Feuer übernachten. Ich durfte das damals leider noch nicht. Vielleicht kann ich ja jetzt, wo ich etwas älter und größer geworden bin, auch am Lagerfeuer im Freien übernachten.

10. Christian

Christians Schule ist jetzt vorbei. Darüber ist er bestimmt froh, denn er geht nicht gerne in die Schule. Was macht Christian heute Nachmittag? Vielleicht besucht er die Oma. Vielleicht fährt Christian hinauf zur Oma, vielleicht ist er zum Mittagessen bei ihr eingeladen. Er könnte von der Stadt aus mit dem Bus fahren. Er muss den weiten Weg nicht zu Fuß gehen. Im seinem Heim bekommt er Taschengeld, davon kann er den Bus bezahlen.

Christian hatte bei der Stiefmutter und dem Vater nie etwas geschenkt bekommen. Wir alle bekamen nichts von ihnen, aber mit Christian hatten sie es besonders schlecht gemeint. Am Anfang, in der kleinen Wohnung, gab es noch manchmal Taschengeld. Aber für Christian hatten sie nie etwas übrig. Ich weiß nicht, warum sie ihn so behandelten.

An Weihnachten hatten die Stiefmutter und der Vater uns alle überrascht. Sie schenkten Christian einen großen Karton. Der war in buntem Geschenkpapier eingewickelt. Wir alle saßen gespannt auf dem Sofa und sahen Christian dabei zu, wie er freudig sein riesiges Geschenk auspackte. In dem Karton war noch mal ein Karton, der auch in Geschenkpapier eingewickelt gewesen war. Darin kam wieder ein Karton. Ich glaube, es waren insgesamt fünf Kartons, die Christian auspackte. Übrig blieb eine kleine Schuhkiste. Wir hatten alle gespannt auf diese Schuhkiste geschaut. Christian öffnete sie langsam.

In ihr lag ein altes, verkohltes Holzbrett. Die Stiefmutter hatte es im Holzkohlenkeller aufgegabelt. Sie und der Vater hatten Christian damit geärgert. Besonders lustig konnten wir das alle nicht finden. Ich hatte nicht gewusst, was das sein sollte, was sie damit bezweckten.

Geburtstage und Weihnachten waren bei Stiefmutter und Vater die leidigsten Tage. Wir hatten gewusst, dass es besondere Tage waren, dass aber nichts Gutes von ihnen zu erwarten war.

11. Guter Alltag

Herr Neumann sagt, dass es jetzt noch hundert Kilometer sind, bis zum Kinderheim. Draußen regnet es nicht mehr. Frau Michaels sagt, dass es schade ist, dass wir heute wegen der Wolken die Berge nicht sehen können. Bei schönem Wetter könnte man sie jetzt von hier aus schon sehen.

Das Kinderheim liegt auf einem Berg. Eine sehr steile Straße führt hinauf. Ich kenne jede Kurve dieser Straße. Früher war ich auf dem Hof im Kinderheim mit einem Kettcar herumgekurvt. Jede Kurve dieser steilen Straße stellte ich mir dabei genau vor.

Der Heimleiter hatte einen kleinen, roten Fiatbus. In diesem Bus waren wir oft die steile Straße zum Kinderheim hinaufgefahren. Auf einer dieser Fahrten öffnete sich in einer scharfen Kurve plötzlich die Türe. Ein Kind, das sich dort angelehnt hatte, fiel heraus. Der Heimleiter blieb stehen. Das Kind war auf die Wiese am Waldrand neben die Straße gestürzt. Es war zum Glück nichts passiert, nur einige Schrammen hatte es abbekommen. Die Straße hat viele scharfe Kurven. Fährt man sie schnell hinauf, muss man sich im Wagen festhalten, damit man nicht hin und her geworfen wird.

Mit dem Kopf schlage ich leicht gegen die Scheibe des Autos. Ich öffne meine Augen. Matthias sitzt noch neben mir. Frau Michaels und Herr Neumann sitzen auch noch vorne. Aber wir fahren nicht mehr auf der Autobahn. Draußen regnet es stark. Es ist eine kurvenreiche Straße. Wir fahren steil bergauf. Es geht in eine scharfe Linkskurve, dann geht es geradeaus. Die Straße ist sehr steil. Schnell kommt eine scharfe Rechtskurve. Jetzt weiß ich, wo wir sind. Ich kenne die Strecke. Ich war hier früher sehr oft zu Fuß unterwegs gewesen. Manchmal war ich sie im gelben Schulbus oder im roten Fiatbus des Heimleiters mitgefahren. Wir fahren auf der steilen Bergstraße, hinauf zum Kinderheim. Mir bleibt nur noch eine kurze Minute, um über das vergangene Jahr- und darüber nachzudenken, wie es jetzt weitergehen wird. Auf der Autobahn war ich eingeschlafen. Ich hatte nicht gesehen wie wir von ihr herunter fuhren.

Gleich sind wir umringt von Kindern, die ich noch von früher kenne. Sie begrüßen uns, wenn wir auf dem Hof aus dem Wagen steigen. An einem Tisch mit anderen Heimkindern sitzen wir beim Abendbrot. Viele Kinder sitzen, verteilt an vielen Tischen im Speisesaal. In der Mitte des Speisesaals steht ein Tisch, an dem sitzen der Heimleiter, der Buchhalter und unbekannte Erziehe. Der Raum ist hell und kahl. Die Wände sind weiß. An der Decke hängen grelle, helle, viereckige Neonlampen. Im Speisesaal ist es laut. Viele Kinder unterhalten sich. Meinen Bruder und mich fragen die Kinder wie es uns geht.

Der Heimleiter begrüßt uns freundlich. Zum Abendessen stellt er uns einen extra Begrüßungsnachtisch hin. Wir dürfen zwei Quarkspeisen essen. Der Heimleiter ist heute sehr freundlich zu uns. Ab Morgen werde ich wieder versuchen ihm und dem Buchhalter aus dem Weg zu gehen. Ab Morgen wende ich mein Wissen über die Heimregeln wieder an. Ich versuche mich möglichst unauffällig zu verhalten. Vielleicht wird es beinahe so sein, als wäre ich nicht weg gewesen.

Morgen beginnt der Alltag in unserem Kinderheim. Wir schlafen in einem Zimmer mit fünf, sechs anderen Kindern. Nachts weckt uns die Heulsirene eines Bettnässers. Ich kann nicht mehr einschlafen. Ich muss an die Stiefmutter und den Vater in unserem Dorf denken. Ich denke an die Geschwister, die nicht mehr hier sein können. Ich denke an die Oma und den Opa. Nachts nehme ich mir vor, mit meinem ersten Taschengeld bei Oma und Opa anzurufen.

Um sechs Uhr morgens reißt der Buchhalter die Zimmertür auf. Er brüllt: “Aufstehen, ihr Penner!” Dem Bettnässer reißt er die Bettdecke aus dem Stockbett. Er sieht, dass es nass ist. Er brüllt: “Aufstehen, du alter Pisser!”

Mit verschlafenen Augen stehe ich barfuss im Waschraum. Neben mir und hinter mir stehen viele andere Kinder. Wir putzten uns die Zähne. Danach gehen wir über den Hof. Dort liegt sauber gerechter Kies unter der riesigen Eiche. Wir gehen in das andere Haus. Es ist das Haupthaus des Kinderheims. Hinter der weißen Milchglastür neben der steilen schwarzen Kellertreppe, ist der helle Speisesaal. Wir sitzen auf unseren Plätzen am Frühstückstisch. Ich weiß nicht, ob es die gleichen Plätze sein werden wie vor einem Jahr, als wir Geschwister noch alle zusammen hier waren.

Nach dem Frühstück fegen wir unser Zimmer. Wir machen unsere Betten und dann putzen wir irgendwo herum. Ich weiß noch nicht wo, denn ich weiß noch nicht, welchen Haushaltsdienst der Heimleiter mir in dieser Woche gibt. Vielleicht putze ich das Klo, vielleicht die Waschbecken, vielleicht fege ich den Flur oder das Treppenhaus.

Um sieben Uhr morgens gehe ich hinunter in den Keller, unterhalb des großen Speisesaals. In dem niedrigen, neonbeleuchteten Kellerraum hängen an vielen Haken unsere Jacken und Schultaschen. Vielleicht hängt meine Jacke am gleichen Platz, wie vor einem Jahr. Ich ziehe sie und auch meine geputzten Schuhe an. Meine Schuhe sind ordentlich mit brauner Schuhcreme geputzt, weil ich sie, genauso wie ich es früher jeden Nachmittag um fünf Uhr getan hatte, zusammen mit allen Heimkindern in diesem Keller täglich putzen werde. Der Heimleiter achtet genau darauf, dass alle Kinder täglich pünktlich beim Schuhputzen im Keller sind.

Mit meinen sauberen Schuhen und meiner gelben Regenjacke bekleidet und mit meiner Schultasche auf dem Rücken, laufe ich um Viertel nach Sieben Uhr, zusammen mit den vielen anderen Kindern zur Station Erika, unserer Bushaltestelle. Auf dem Weg dorthin höre ich genau zu, was die großen Kinder miteinander sprechen. Ich will hören, ob sie wieder vom Krieg sprechen, von dem sie im Fernsehen gehört und gesehen haben. Ich will ihnen genau zuhören, weil ich wieder wissen will, wie gut es uns Kindern im Kinderheim geht. Um das richtig spüren zu können, will ich genau wissen, wie schlecht es den vielen Kinder im Krieg auf der ganzen Welt geht.

An der Station Erika warte ich mit den vielen Heimkindern auf unseren gelben Schulbus. Der Bus rollt die schwarze Straße hinunter. Die großen Kinder steigen zuerst ein. Ich und andere, kleinere warten geduldig. Wir sind froh, dass noch nicht Winter ist, weil wir deshalb nicht, kurz bevor der Bus kommt, von den größeren Buben in den eisigen Schnee geworfen und eingerieben werden.

In der Schule kenne ich mich noch gut aus. Morgen früh holt uns der Direktor am Schulbus vor dem Schulhaus ab. Er begrüßt meinen Bruder und mich freundlich. Er bringt uns in unterschiedliche Klassenzimmer. Ich komme wieder in meine alte Schulklasse. Der Direktor steht mit mir vor der Klasse. Dem neuen Lehrer und den Kindern sagt er, dass ich nun wieder da bin. Der neue Lehrer schüttelt mir die Hand. Der Platz neben Manfred ist frei. Ich setze mich wie vor einem Jahr wieder neben ihn. Manfred fragt mich, wo ich so lange gewesen bin. Er bastelt keine Spuckröhrchen mehr. In der Pause erzählt er, dass der neue Lehrer sehr gescheit und sehr streng ist. Weil der Lehrer unbedingt will, dass wir viel von ihm lernen, so erklärt Manfred, hat er mit den Spuckröhrchen endgültig aufgehört. In der Pause treffe ich mich mit Matthias. Ich rede mit ihm darüber, wie es ihm geht.

Mittags fahre ich zusammen mit vielen Kindern in dem gelben Schulbus wieder hinauf in unser Heim. Dort essen wir aus den weißen, zerkratzten Plastiktellern unser Mittagessen.

Jeden Samstag gibt es Cornflakes in Milch zum Frühstück. Weil das etwas Besonderes ist, freuen wir uns schon die ganze Woche darauf. Jeden Samstagvormittag gehen wir hinunter ins Tal. Wir besuchen das Hallenbad. Nach dem Schwimmen bekommen wir das Taschengeld vom Buchhalter ausbezahlt. Im Gebirgsort kaufe ich mir etwas zu essen, weil es Samstagmittag nur Suppe gibt. Vielleicht kaufe ich ein Comicheftchen.

Jetzt, solange noch Sommer ist, gehen wir am Wochenende wieder ins Freibad. Im Naturwasserbecken spielen wir Fischjagd. Ich habe immer noch Angst, dass mich unter Wasser ein winziger Fisch streift. Jeden Nachmittag zwischen der Hausaufgabenzeit und dem Schuhputzen rennen und toben wir oberhalb des Hauses im Wald herum. Wir bauen Baumhütten und spielen Cowboy und Indianer. Auf dem steilen Hügel ist das Gras schon zum zweiten Mal in diesem Sommer abgemäht. Am Samstagnachmittag wenden wir das Heu. Vom Heimleiter bekommt jeder als Belohnung für das Heuwenden eine Limoflasche. Ich streichle das Pony im Stall. Ich setze mich nicht mehr drauf.

Nach dem Mittagessen schreibe ich meine Hausaufgaben in meine Schulhefte. Niemand gibt meinem Bruder oder mir eine Ohrfeige. Beim Schreiben zittern wir noch eine Zeit lang. Die Linien bleiben noch krakelig, wie sie das beim Vater gewesen waren. Irgendwann hört das Zittern auf. Die Linien sind dann fast gerade. Dann schreibe ich lange Aufsätze in der Schule. Dafür bekomme ich manchmal sogar gute Noten. Vor allem beim Hausaufgabenmachen denke ich immer wieder an das Gekreische der Stiefmutter und an den abends schlagenden Vater.

Draußen erkenne ich jetzt alles. An der Station Erika, wo wir täglich auf den Schulbus warten, steuert Herr Neumann den Wagen von der Bergstraße nach rechts ab. Auf der Nebenstraße überqueren wir über eine Brücke die Rodelbahn. Auf dieser Rodelbahn waren wir vier Brüder vor mehr als einem Jahr das letzte Mal gemeinsam hinunter in den Ort gelaufen. Jetzt steuert Herr Neumann den Wagen an der kleinen Pension vorbei, in der Vater übernachtet hatte, als er uns vor einem Jahr im Heim abgeholt hatte.

Es sieht alles unverändert aus. Nur die Straße ist neu geteert. Nach der grauen Mauer, die den Berg davon abhält auf die Straße zu stürzen, biegt Herr Neumann links ab. Jetzt erkenne ich oben die beiden Häuser und zwischen ihnen die riesige, alte Eiche auf dem Hof. Unser Kinderheim. Herr Neumann steuert um die letzte Rechtskurve. Durch das Wagenfenster schaue ich hinunter ins Tal. Dort hängen viele Wolken. Es wird gerade dunkel. Der Regen ist sehr stark, so wie ich das früher an diesem Berg oft erlebt hatte. Die Zeit meines Nachdenkens ist vorbei. Meine Flucht ist hier beendet. Jetzt kommt mir die Zeit in dem kleinen Dorf sehr kurz vor. Meine beiden Geschwister Mark und Christian sind nicht mit uns gekommen.

VI. Später

Den brutalen Buchhalter, genauso wie den Heimleiter ertrage ich in dem Kinderheim auf dem Berg jahrelang. Nicht immer schaffe ich es, das Gefühl zu leben, mit beiden nichts zu tun zu haben. Das liegt daran, dass es mir doch nicht so gut gelingen mag, wie ich es mir vorgenommen hatte, beiden aus dem Weg zu gehen.

Manchmal kann ich meine Wut wegen der gewalttätigen Art dieser beiden Männer, wie sie uns Heimkindern oft gegenübertreten, nicht für mich behalten. Mehrmals erwischt mich vor allem der Buchhalter dabei, wie ich andern Kindern aufgebracht und wütend erzähle, was ich von dem Zuschlagen der beiden Männer halte. Deshalb schlagen mich Buchhalter und Heimleiter hin und wieder grün und blau.

Nach Jahren verlasse ich das Kinderheim mit dem brutalen Buchhalter und dem unberechenbaren Heimleiter. Mark hatte recht gehabt. Der Heimleiter ist ein brutaler Mensch. Was Mark lange befürchtet hatte, hat der Mann tatsächlich getan. Kurz bevor ich das Kinderheim verlasse, wird der Heimleiter von der Polizei abgeholt. In einem Gerichtsverfahren wird er zu mehrjähriger Haft verurteilt. Seine Verurteilung hängt mit den jungen Heimbewohnerinnen zusammen, hinter denen der Heimleiter oft her gewesen war. Wegen ihnen hatte sich Mark damals mit dem Mann angelegt. Deswegen hätte der Heimleiter Mark beinahe in ein Erziehungsheim geschoben.

Nach Jahren, ich wohne lange schon nicht mehr in dem Heim, zieht der Buchhalter mit seinem Kinderheim um. Das Haus wird verkleinert. Der Buchhalter leitet es weiter, bis zu seiner Berentung. Niemand beklagt sich bei dem Mann darüber, dass er damals Kinder verprügelt hatte. Keiner fragt ihn eines Tages, warum er die Heimkinder damals so unter Druck gesetzt hatte und warum er unkontrolliert auf sie eingeschlagen hatte. Auch ich stelle dem Mann diese Fragen nicht.

Mark muss noch lange schwer arbeiten. Er ruiniert sich den Rücken. Er verrichtet unterschiedliche Arbeiten. Er ist Fahrer, Verkäufer, Postbote, Rolladenbauer, Koch, Hausmeister, Büroangestellter, Automechaniker, Bühnenarbeiter und vieles mehr. Nirgends hält er es lange aus. Oft ist es nicht die Arbeit, die ihn nicht lange hält. Es sind die Menschen, seine Vorgesetzten.

Mark lernt, dass das Leben davon abhängt, welchen Beruf man gelernt hat. Er lernt, dass es nicht interessiert, was man davor getan hatte. Er lernt auch, dass es nicht interessiert, warum man nicht den Beruf lernen konnte, für den man sich interessiert hätte. Die Vorgesetzten in seinen tausenden Jobs interessiert es nicht, welche Fähigkeiten ein Mensch wie Mark hat. Dafür dass er sich als Kind engagiert hatte, dass er sich für uns eingesetzt hatte, dass er Kinder, die bedroht wurden zu schützen versucht hatte, erntet er niemals Dank.

Ich glaube, damals im Kinderheim und beim Vater hatte Mark sich menschlich verhalten, sonst nichts. Das interessiert in seiner Arbeitswelt niemanden. In seinem Beruf nützt ihm das nicht. Mark hatte damals versucht den Vater vom Schlagen abzubringen, und er hatte versucht den Heimleiter und seinen brutalen Stellvertreter zu überzeugen nicht mehr zuzuschlagen. Der brutale Buchhalter aber blieb brutal. Der Heimleiter war ins Gefängnis gekommen. Der brutale Buchhalter war Heimleiter geworden.

Hätte Mark mehr Angst haben müssen, so wie ich? Vielleicht ist der Satz falsch, den der Lehrer in der Dorfschule, damals aus dem Buch vorgelesen hatte:

“Angst ist ein schlechter Ratgeber.”

Ich glaube, Mark hatte damals wenig Angst. Er hatte sich von seiner Angst nicht beraten oder gar leiten lassen, so wie ich es oft getan hatte. Vielleicht hatte sich Mark deshalb, weil er sich so wenig von seiner Angst beraten ließ, so oft in den Weg gestellt. Vielleicht hatte er deshalb so viel Platz für die Idee im Kopf gehabt, dass der Heimleiter, der Buchhalter und der Vater menschlicher sein müssten. Weil in seinem Kopf nur wenig Angst gewesen war, hatte er Platz für die Utopie gehabt, dass diese Erwachsenen nicht schlagen dürften. So könnte es damals gewesen sein.

Christian, der nie etwas geschenkt bekommen hatte, kommt über sehr viele Jahre mit einem Job in einer Fabrik durchs Leben. Im Beruf hat er ein viel größeres Durchhaltevermögen als Mark. Vielleicht hat er das größte von uns allen. Keiner von uns hat schon so lange an einem Platz gearbeitet, wie er. In einem Ort in der Nähe des alten Dorfes findet er eine Heimat. Dort findet er viele Freunde. Es gelingt ihm viele der Demütigungen, die er bei Stiefmutter und Vater erlebt hatte, zu vergessen. Hoffentlich wird ihm der Alkohol den er dazu benötigt, nicht eines Tages zum Verhängnis.

Matthias besucht eine höhere Schule. Matthias ist ein sehr gescheiter Mensch. Er besucht unterschiedlichste, sehr hohe Schulen. Er lernt sehr viele Sprachen. Er arbeitet mit sehr vielen Menschen zusammen, die ihn sehr schätzen. Das wichtigste: Er lernt wieder zu lachen! Vor allem Matthias entwickelt sich, wie es der Vater niemals zugelassen hätte.

Auch ich kann eine höhere Schule besuchen. Ich bin nicht so gescheit geworden wie Matthias. Ich steige keine so hohe Leiter hinauf. Aber es geht mir gut. Es geht mir viel besser, als es beim Vater je möglich gewesen wäre.

Dass ich es damals endlich geschafft hatte, meine Angst zu überwinden und den Vater im Dorf für immer zu verlassen, bereue ich nicht. Im Gegenteil. Am liebsten wäre es mir gewesen, wenn ich das Dorf niemals kennen gelernt hätte.

Das traurigste an der Geschichte ist, dass die schönste Zeit mit den Geschwistern vorbei gegangen war, ohne dass ich das damals gemerkt hatte. Es war die Zeit gewesen, bevor uns der Vater aus dem Kinderheim geholt und zu sich gebracht hatte.

Mit Christian und Mark haben Matthias und ich heute nicht mehr viel zu tun. Das Jahr beim Vater hatte uns auseinander gerissen. Wir besuchen uns nur selten gegenseitig, denn wir leben völlig anders.

Die Stiefmutter und der Vater ziehen um. Das alte Haus im Dorf ist für sie zu groß. Sie wohnen in dem Ort wo der Vater damals die kleine Wohnung hatte. Dort haben sie einen ordentlichen Vorgarten, genauso wie damals im Dorf. Er ist frei von Unkraut. Abends lässt der Vater die Rollos herunter und morgens zieht er sie wieder hoch. Der Gartenweg ist gefegt.

Der Vater parkt den Wagen abends in der Garage neben dem Haus. Die Stiefmutter wartet in der Küche mit dem Essen auf ihn. Die Küche ist kleiner als im Haus im Dorf. Aber sie reicht für zwei Personen. Ich glaube, der Vater hat mehr Geld als damals. Von Mark muss er kein Geld mehr verlangen. Schließlich geht der Vater in Rente. Er genießt den Lebensabend mit der Stiefmutter.

Mark lebt heute in einer Stadt, einige hundert Kilometer entfernt von mir. Sie liegt nicht weit entfernt vom Ort, in dem der Vater wohnt. Trotzdem besucht er den Vater so wenig wie ich. Es gibt keinen Grund.

Heute Nachmittag hatte der Vater zu mir gesagt, dass er es verstehe, dass Mark und ich ihn länger als zwanzig Jahre nicht besucht hatten. Wir hatten ihn nie besucht. Heute Nachmittag war es das erste Mal, und es kann sein, dass wir ihn nie wieder besuchen werden. Es war meine Idee gewesen, den Vater aufzusuchen.

Ich sitze mit Mark in seiner winzigen Küche am Küchentisch. Wir sprechen über den heutigen Besuch beim Vater. Wir hatten uns nicht frühzeitig angemeldet. Ich hatte vorgeschlagen, den Vater einfach anzurufen. Mark rief an, der Vater war zu Hause und wenig später fuhren wir schon los.

Der Vater wohnt in einem Einfamilienhaus, ganz in der Nähe der Straße, wo wir Geschwister damals den Kaugummiautomaten auf dem Weg zum Spielplatz halb leer geplündert hatten. Es waren seine Gürtelschläge von damals, die der Vater gemeint hatte. Wegen ihnen verstehe er, dass wir den Kontakt zu ihm nicht aufgenommen hatten. Ich weiß das, ohne dass wir heute Nachmittag mit ihm darüber gesprochen hatten.

Weil ich bis heute nicht weiß wie der Vater wirklich ist, hatte ich die Idee, ihn zu besuchen. Jetzt am Abend, wo wir zurück sind und in der Küche bei Mark sitzen, weiß ich es immer noch nicht.

Der Vater sagte, dass er froh sei, alles zu haben, was er brauche. Er und die Stiefmutter leben nicht in Armut. Sie könnten sich sogar etwas leisten. Über das was damals gewesen war, wollte der Vater heute Nachmittag nicht reden. Wahrscheinlich war die Überraschung unseres Besuches für ihn zu groß. Als wir gingen fragte er uns nicht, ob wir wieder kommen wollten. Vielleicht möchte er, dass wir ihn mit dieser Geschichte in Ruhe lassen.

Von Matthias und Christian hatten wir dem Vater schöne Grüße bestellt.

Der Vater hatte gefragt was Matthias arbeitet. Ich erzählte, dass er eine ganz große Karriere gemacht hatte. Da spürte ich, dass der Vater nicht verstand, was ich gesagt hatte. Dass ich erklärt hatte, dass ausgerechnet Matthias eine ganz große Karriere gemacht hatte, schien sein Vorstellungsvermögen zu übersteigen. Es schien nicht in seine Welt zu passen. Ich merkte das an seinen wenigen Fragen. Der Vater hatte nur genickt, aber er fragte nicht genauer nach.

Ich glaube, er wollte nicht hören, dass gerade Matthias die größte und steilste Karriere von uns Geschwistern gemacht hatte.

Der Vater filmte Mark und mich mit einer Videokamera ab. Er wollte sich nicht weiter mit uns unterhalten.

Ich glaube, die Filmaufnahme braucht er, weil er nicht weiß, ob er uns noch einmal wiedersehen wird.

Die Oma und der Opa waren gestorben, ohne dass ich davon gehört hatte. Vom Kinderheim aus hatte ich sie noch ein paar Mal besucht. Es war immer schön bei ihnen gewesen. Irgendwann waren die Kontakte aber eingeschlafen. Erst Jahre später, als ich das Kinderheim verlassen hatte, hatte ich sie noch mal besucht.

Wir waren am Küchentisch gesessen, genauso wie damals an dem Morgen, bevor Opa mich ins Jugendamt gebracht hatte. Wir hatten darüber gesprochen, wie gut es damals gewesen war, dass Matthias und ich zurück in das Kinderheim gehen durften.

Das Gespräch war nicht mehr so, wie es früher bei Oma am Küchentisch gewesen war. Wir alle waren zehn Jahre älter geworden. Wir hatten vereinbart, uns öfter wieder zu sehen.

Leider war es nie mehr dazu gekommen. Es wäre an mir gelegen, bei ihnen vorbeizukommen, denn beide waren damals schon sehr alt und wenig mobil. Opa war zuerst gestorben, einige Jahre später starb auch Oma.