Kein Kunststück

Kein Kunststück

Ein kurzes Stück von Bernd Thümmel

Reindorf arbeitet nachts in einer kleinen Fabrik an der Pforte. Er hat den Eindruck sein Leben ziehe an ihm vorbei. Die Chance daran an Stellschrauben etwas zu verändern versucht er zu nutzen.

1. Szene

Das Bühnenbild:

Das Mobiliar des Arbeitsplatzes: Braune, halbhohe Schränke mit Ablageflächen auf denen je eine Reihe von sauber beschrifteten Ordnern steht. Auf einer der Ablagen liegt Reindorfs schwarze Dienststechuhr mit schwarzem Ledertragegurt. Hinter Reindorfs Schreibtisch, an der einzigen Wand, denn alle anderen Wände bestehen aus den hohen Fenstern, hängt eine Uhr.

Rechts neben Reindorfs Arbeitsplatz steht auf der Bühne ein Rednerpult mit einem dicken Buch in der Größe A 4. Es ist der Platz des Notators.

Die Schauspieler:

Reindorf ist erst Mitte zwanzig Jahre jung. Er trägt die Dienstbekleidung einer Bewachungsfirma bei der er im Jahre 1987 beschäftigt ist. Graue Hose mit Bügelfalte dazu ein hellblaues Hemd. Reindorf sitzt an einem großen Schreibtisch mit grüner Schreibauflage. Rings um Reindorfs Schreibtisch, seinem Arbeitsplatz, befinden sich hohe Fenster. Reindorf arbeitet in der Pforte einer Fabrik. Auf dem Schreibtisch finden sich mehrere Telefone, ein für heutige Begriffe alter Computermonitor, eine Tastatur. Mit Hilfe des Computers vermittelt Reindorf ankommende Telefonate.

Der Vorhang öffnet sich.

Reindorf sitzt an seinem großen Schreibtisch. Er stützt die Ellenbogen auf der breiten Schreibtischplatte auf. Reindorf wartet, bereit den Telefonhörer abzuheben. Gelangweilt blickt er aus einem riesigen Fenster hinaus auf die Straße, die direkt vor der gläsernen Fabrikpforte liegt. Durch die hohen Fenster scheint helles Sonnenlicht herein.

Heute ist ein heller Freitagnachmittag. An der Wand, hinter Reindorf, hängt ein großer Kalender. Der heutige sommerliche Freitag ist rot markiert. Eine Uhr neben dem Kalender zeigt vierzehn Uhr dreißig.

Leise surrend beginnen die Telefone vor Reindorf zu läuten. Reindorf hebt einen Hörer ab. Er begrüßt einen Anrufer. Das tut er mit dezenter, weicher, beinahe singender Stimme:

“Firma Blattschneider guten Tag. (Pause) Guten Tag Herr Doktor Flemming! (Pause) Selbstverständlich, das tue ich gerne!”

Reindorf betätigt, während er spricht, Tasten auf der Tastatur. Seine Augen sind starr in den leuchtenden Monitor auf dem Schreibtisch gerichtet. Reindorf behält den Hörer am Ohr. Freundlich spricht er in die Muschel:

“Es tut mir Leid Herr Doktor Flemming, aber Herr Direktor Felbig spricht gerade, möchten Sie kurz warten?”

Reindorf nickt und lächelt.

“Aber gerne Herr Doktor.”

Reindorf legt auf und hebt den Hörer des nächsten Telefons ab. Wieder begrüßt Reindorf einen Anrufer:

“Firma Blattschneider, guten Tag.”

Reindorf tippt auf der Tastatur, blickt in den Monitor.

“Einen Augenblick bitte, ich verbinde Sie mit Frau Krähenbring.”

Reindorf beugt sich näher an den hellen Monitor heran, um besser darin lesen zu können.

“Ich sehe gerade, dass die Leitung belegt ist. Möchten Sie es später noch einmal versuchen, oder wollen Sie warten?”

Während Reindorf weiter einen Hörer nach dem anderen abhebt, in gleichbleibendem singenden Ton die Anrufer begrüßt, dabei aber nicht mehr zu hören ist, betritt ein Herr die Bühne, der mit dunklem Anzug und Krawatte bekleidet ist. Der Notator tritt an das Pult am rechten Bühnenrand. Dort setzt er seine Brille auf und öffnet das dicke Buch, das bereits auf dem Pult liegt. Gezielt blättert er eine bestimmte Seite auf. Von dieser nimmt er kurz Notiz. Er wirft einen strengen Blick hinüber zu Reindorf, der weiterhin telefoniert.

Reindorf, dessen Telefongespräche wieder in den Vordergrund treten, spricht in die Muschel des weißen Telefonhöhrers:

“Aber selbstverständlich Frau Blattschneider. Sie können gerne heute Abend um 22 Uhr den Wagen ihres Gatten abholen. Ich erwarte Sie, um Ihnen die Schlüssel auszuhändigen.” Reindorf schweigt kurz, blickt dabei angestrengt in den Computermonitor, und spricht erneut in den Hörer:

“Nein Frau Blattschneider. Ihr Mann hat den Wagen, vor der Abreise heute Morgen, hier neben der Pforte, auf dem Parkplatz abgestellt. Nein heute gibt es keinen Schichtwechsel mehr. Ich arbeite freitags durchgehend von vierzehn Uhr bis samstagmorgens um acht. Ich erwarte Sie also um 22 Uhr. (Pause) Gerne Frau Blattschneider!”

Reindorf legt auf. Sofort greift er zum nächsten Hörer, um ein weiteres Gespräch anzunehmen. Unhörbar begrüßt er den Anrufer.

Jetzt spricht der Notator zum Publikum. Er liest laut und deutlich aus seinem dicken Buch vor:

“Heute ist wieder ein langer Freitag, an dem Reindorf diese Arbeit macht. Den Job verrichtet er schon seit Monaten. Vor Minuten, um vierzehn Uhr, hat er den Dienst in der Pforte der Brotfabrik angetreten. Vor Monaten hat Reindorf sein Studium der Pädagogik abgeschlossen. Mit dem Job überbrückt er die Zeit zwischen Studium und staatsbürgerlicher Pflicht, dem Dienst in der…”

Reindorf unterbricht den Notator. Er spricht in den Hörer:

“Firma Blattschneider, guten Tag. Bitte warten Sie einen kurzen Augenblick.”

Reindorf betätigt eine Taste auf der Computertastatur, mit der er den Anrufer auf eine Warteschleife legt. Den Telefonhörer behält er in der Hand. So wendet er sich an den Notator:

“Sie wissen doch, dass ich nie bei der Armee gewesen bin! Ich habe doch ein Jahr später den Dienst an der Waffe verweigert. Drei anstrengende Gerichtsverhandlungen vor einem Tribunal hat mich das 1988 gekostet.”

Der Notator antwortet:

“Sicher Herr Reindorf. Ich weiß wohl am besten, was Sie alles getan und unterlassen haben.“

Der Notator tippt auf das geöffnete Buch auf dem Pult:

„Aber wir sind gerade im Jahr 1987. Vielleicht überlegen Sie sich das mit der Armee ja noch anders?”

Der Notator durchblättert einige Seiten des großen Buches auf dem Pult. Er hebt das Buch an, um es kurz dem Publikum zu zeigen. Dazu nickt er und spricht zu Reindorf:

“Alles wichtige und manches weniger wichtige ist in diesem Buch vermerkt. Dazu gehört auch, dass Sie den Dienst mit der Waffe verweigert haben. Entschuldigen Sie also, wenn meine Bemerkung Sie provoziert hat. Wenn Sie das verändern möchten, jetzt haben Sie die Gelegenheit! Sie können beginnen, wo Sie wollen.”

Der Notator hält kurz inne. Er deutet mit einem Bleistift, mit dem er die von Reindorf gewünschten Änderungen im Buch aufnehmen wird, auf die Glastüre hinter Reindorf:

“Ich glaube da ist jemand, der etwas von Ihnen will Herr Reindorf. Und ich glaube, Sie sollten die Telefone weiter abheben, sonst bekommen Sie vielleicht Ärger.”

Alle Telefone in der Pforte läuten. Hinter der Glastür der Pforte steht ein Mann in grauem Anzug. Reindorf dreht sich mit seinem Schreibtischstuhl zur Glastür. Er sieht den Mann und springt sofort vom Stuhl auf, öffnet die Tür. Reindorf, etwas zu laut:

“Herr Direktor Felbig! Es tut mir wirklich Leid, dass ich Herrn Doktor Flemming nicht zu Ihnen durch schalten konnte.”

Der Herr im Anzug hält Reindorf einen Schlüssel vor die Nase und sagt:

“Schon gut, schon gut, kein Thema, Herr Reindorf! Bitte sagen Sie Flemming, dass er mich bis sechzehn Uhr auf dem Autotelefon erreicht.”

Reindorf hängt den Schlüssel in den Schlüsselkasten an der Wand, neben dem Kalender. Der Herr im Anzug spricht zu Reindorf, der ihm wegen des Schlüssels kurz den Rücken zuwendet. Dessen Ton wirkt dabei ein wenig herablassend:

“Ich wundere mich jeden Abend, wenn ich Sie hier sitzen sehe. Sie sind doch noch so jung! Sie könnten bei uns im Verkauf arbeiten. Junge, dynamische Leute brauchen wir. Als Verkaufsfahrer könnten Sie viel Geld machen. Das wäre eine viel anspruchsvollere Arbeit als der muffige Pfortenjob hier! Ich verstehe echt nicht, warum Sie in diesem Glaskasten sitzen und Ihre Zeit vergeuden! Bei mir würden Sie viel Geld verdienen und hätten neben einem sicheren Fixum sogar die Chance, wenn Sie entsprechende Steigerungen der Verkaufszahlen liefern, auch noch dicke zusätzliche Provisionen einzufahren!”

Reindorf:

“Ich glaube nicht, dass es für mich in Frage kommt, als Verkaufsfahrer zu arbeiten. Aber vielen Dank, ich werde mir das vielleicht mal überlegen.”

Darauf Direktor Felbig:

“Das antworten Sie mir doch jedes mal Herr Reindorf! Unentschlossenheit ist der Feind jedes Erfolgs. Mit Ihrer Haltung werden Sie noch Ihr ganzes Leben hier in dieser Vitrine veröden! Nur klare Entschlossenheit bringt in unserer Branche den großen Erfolg. Sehen Sie sich da draußen auf dem Parkplatz mal die Wagen an!”

Felbig deutet durch die breite Fensterfront hinaus auf den Firmenparkplatz.

“Mir gehört der schwarze A113 da hinten. Der ist erst eine Woche lang auf dem Markt. Meinen schönen Wagen kann ich mir doch nur leisten, weil ich weiß, was ich will und entschlossen meinen Willen durchsetze. Die Fähigkeit zu Entschlossenheit! Das ist das Erfolgskonzept unserer Firma. Reindorf, ich rate Ihnen dringend, denken Sie nicht zu lange nach! Nur Entscheidungsfähigkeit und Entschlussfreude gewinnt in unserem Business. Hier in der Pforte haben Leute wie Sie doch nichts verloren! Überlegen Sie es sich schnell und bitte kommen Sie erst in mein Büro, wenn Sie fest entschlossen sind, unsere Ware zu verkaufen! Jeder Tag, den Sie hier vergeuden, spricht gegen Sie und gegen Ihre Fähigkeit, die richtigen Entscheidungen zu treffen!”

Felbig winkt Reindorf zum Abschied mit dem Wagenschlüssel durch die langsam zufallende Glastür. Er verschwindet, einen schwarzen Aktenkoffer schwenkend, dynamischen Schritts hinaus auf den Parkplatz, um dort mit offener, fliegender Anzugjacke über den Parkplatz zu seinen A113 zu hetzen.

Reindorf setzt sich zurück an den Schreibtisch. Er hebt eines der leise summenden Telefone ab:

“Firma Blattschneider, guten Tag. Der ist gerade raus. Selbstverständlich Frau von Schleenberger, ich werde Ihre Nachricht an Herrn Direktor Felbig leiten. Gleich am Montagmorgen wird sie das erste sein, was Herr Direktor Felbig auf seinem Tisch findet.”

Den Telefonhörer hält Reindorf jetzt einige Zentimeter von seinem Ohr entfernt. Reindorf dreht seinen Schreibtischstuhl zum Notator. Aus dem Hörer piepst die laute Stimme einer Frau:

“Herr Reindorf, Herr Reindorf, ist es denn wirklich sicher, dass Herr Direktor Felbig das Haus bereits verlassen hat? Er arbeitet doch sonst immer bis spät Abends! Herr Reindorf, sind Sie noch dran?”

Reindorf fragt den Notator:

“Können wir hier kurz stoppen?”

Der Notator:

“Aber natürlich Herr Reindorf. Sie können sich aussuchen, wie es läuft. Sie haben sich ja auch ausgesucht, dass wir in dieser Szene beginnen. Ich weiß zwar nicht warum wir ausgerechnet hier anfangen, aber wie gesagt: Sie können das bestimmen.”

Reindorf:

“Ich habe hier begonnen, weil ich wissen wollte, wie ich mich damals bei dieser Arbeit gefühlt habe.”

Der Notator wirf Reindorf einen fragenden Blick hinüber:

“Und? Wie fühlen Sie sich Herr Reindorf?”

Reindorf:

“Es könnte besser sein. Ich habe Magenkrämpfe und ich fühle mich matt, als hätte ich Nächte lang nicht geschlafen. Ich dachte es wäre mir damals viel besser gegangen. Schließlich war ich erst Mitte zwanzig.”

Der Notator blättert im Buch einige Seiten zurück. Er überfliegt eine Seite und wendet sich wieder Reindorf zu:

“Sie haben im Februar mit dem Job angefangen. Jetzt ist es bereits Sommer geworden. Also arbeiten Sie schon monatelang in der Nachtschicht der Fabrik als Pförtner. Kein Wunder, dass Sie sich müde fühlen. Vielleicht hängen Müdigkeit und Magenschmerzen mit der Nachtarbeit zusammen?”

Reindorf erhebt sich behäbig vom Schreibtisch. Er geht langsam an eines der Fenster, öffnet es und blickt hinaus. Reindorf ist jung, bewegt sich aber wie ein alter Mann, der von Rückenschmerzen und vielen anderen Schmerzen geplagt ist. Reindorfs Gesicht wirkt matt und fahl, er sieht bleich, beinahe krank aus. Reindorf vor dem geöffneten Fenster:

“Es ist schön die warme Sommerluft zu atmen. Ich fühle mich aber gerädert und ziemlich übernächtigt. Habe ich mich damals wirklich monatelang so gefühlt?”

Der Notator blättert im Buch einige Seiten nach vorne und antwortet:

“Jedenfalls haben Sie beinahe ein Jahr lang diese Nachtarbeit erledigt. Wie Sie sich dabei gefühlt haben, steht nicht in Ihrer Biografie.”

Reindorf atmet tief durch. Dessen angestrengtes tiefes Atmen wirkt, als seien es für längere Zeit die letzten Atemzüge von frischer Frühlingsluft, die er sich gönnen darf. Reindorf schließt das Fenster. Er geht zurück an den Schreibtisch. Tief schnaufend lässt er sich auf dem Stuhl nieder, stützt die Ellenbogen auf den Schreibtisch, legt den Kopf schwer in beide Hände und blickt hilflos auf die vor seinem Pförtnerfenster liegende Straße in das Publikum. Er spricht leise und langsam, dabei wirkt er, als spreche er zu sich selbst:

“Jetzt weiß ich, wie es mir damals gegangen war. (Pause) Müde und matt hatte ich mich gefühlt. (Pause) So hatte ich mich nicht nur wegen der Nachtarbeit gefühlt. Es war damals mein Lebensgefühl im Allgemeinen gewesen.“ (Pause)

Er starrt auf die vor ihm liegende Straße und sagt nichts mehr. Die Telefone auf dem Tisch klingeln leise vor sich hin. Reindorf scheint das nicht zu interessieren.

Der Notator unterbricht das Schweigen:

“Sollen wir weitermachen Herr Reindorf? Sie wirken ein wenig depressiv. Das kann aber nicht der Sinn dieser Übung hier sein. Sie wollten etwas verändern! Passen Sie auf, dass Sie sich nicht darin erschöpfen, die Stimmungen ihrer späten Jugend noch einmal zu erleben. So verändern Sie sicherlich nichts an ihrer Biografie.”

Reindorf hebt jetzt den Kopf aus seinen Händen. Er blickt nachdenklich ins Publikum. Plötzlich erhebt er sich, als sei er in Eile. Er läuft unruhig in dem hellen Pfortenraum auf und ab. Er rauft sich die Schläfen, kratzt sich am Kopf. Dann setzt er sich wieder, springt aber sofort wieder auf.

Der Notator fragt:

“Über was denken Sie nach Herr Reindorf? Was beunruhigt Sie plötzlich so?”

Reindorf tritt an das Rednerpult, dicht an den Notator heran. Obwohl er vor dem Notator steht, schreit Reindorf laut:

“Sie haben gut Reden! Über was ich nachdenke?”

Und jetzt noch lauter:

“Diesen Irrsinn, den Sie hier mit mir veranstalten! Darüber denke ich nach, ist doch klar!”

Der Notator weicht vor Reindorf zurück. Mit dessen Aufschreien war nicht zu rechnen. Er fasst sich aber sofort und spricht in korrektem, amtlichem Ton zu Reindorf:

“Herr Reindorf, bitte erinnern Sie sich, dass Sie es sind, der beabsichtigt etwas zu ändern. Wir können sofort abbrechen und beenden. Das steht ihnen jederzeit frei.”

Reindorf lässt sich in den Schreibtischstuhl fallen. Matt hängen dessen Arme herunter. Nachdenklich fährt er sich über die Stirn. Leise antwortet er dem Notator:

“Sie haben Recht. Ich will das. Entschuldigen Sie meinen kurzen Ausbruch. Können wir noch mal anfangen?”

Der Notator:

“Jederzeit Herr Reindorf. Sie bestimmen was mit Ihrer Biografie geschieht. Es ist Ihr Wunsch an Ihrer Biografie und damit Ihrem Leben etwas zu verändern. Wo Sie damit beginnen, ist Ihre Sache.”

Der Notator klappt das Buch zu. Er lässt es geschlossen auf dem Rednerpult liegen und entfernt sich auf gleichem Weg, über den er zuvor die Bühne betrat. Während er geht fragt er Reindorf:

“Neubeginn dieser Szene? Gleicher Ort, gleiche Zeit Herr Reindorf?”

Reindorf sitzt immer noch schlaff im Schreibtischstuhl, den er jetzt in Richtung des langsam gehenden Notators dreht. Laut ruft der dem Notator, der bereits hinter einem Vorhang verschwunden ist, nach:

“Nein! Beginnen wir etwas früher. Bitte ein Jahr früher!”

Reindorf rauft sich nachdenklich die Haare. Er lehnt sich im Stuhl zurück, blickt an die Decke. Nochmal ruft er dem Notator nach:

“Vielleicht beginnen wir damals! Es war das Jahr in dem ich noch die Uni besucht hatte und in der Wohngemeinschaft gelebt habe. Können wir da beginnen?”

Der Notator tritt hinter dem Vorhang hervor auf die Bühne. Er bleibt am Vorhang stehen. Von dort antwortet er zu Reindorf gewandt:

“Aber selbstverständlich Herr Reindorf. Sie sind der Herr hier. Beginnen wir ein Jahr früher.”

Notator und Reindorf verlassen die Bühne.

Der Vorhang fällt.

2. Szene

Reindorf ist ein Jahr jünger.

Das Bühnenbild:

Reindorf, bekleidet mit einer verwaschenen Jeans und einem verwaschenen T-Shirt, im Eingangsraum eines alten Hauses, eigentlich einer Villa. Es ist die “Eingangshalle” der Wohngemeinschaft in der Reindorf lebt. Auf dem Boden liegt ein roter Teppich. Ein weißes Treppengeländer führt hinauf in das Obergeschoss. Drei weiße Türen gehen von dem Eingangsraum weg. Sie führen in ein Wohnzimmer, eine Küche und das Zimmer einer Bewohnerin der Wohngemeinschaft.

Reindorf steht im Eingangsraum vor einem halbhohen, alten Schrank. Darauf steht ein graues Telefon mit Wählscheibe. Reindorf blättert in einem gelben Telefonbuch. Das Pult des Notators steht rechts auf der Bühne, auf ihm liegt das dicke Buch.

Die Schauspieler:

Der Notator. Reindorf, Michaela, eine achtzehn Jahre alte Mitbewohnerin. Zwei junge Mitbewohner und eine weitere Mitbewohnerin, die nur kurz erscheinen.

Der Vorhang öffnet sich.

Reindorf blättert im Telefonbuch. Der Notator betritt die Bühne und geht zum Pult. Dort kramt er umständlich sein Brillenetui aus der Innentasche seines Jackett. Er setzt die Brille auf und steckt das Etui wieder in die Innentasche. Er schlägt das Buch auf und liest vor:

“Seit eineinhalb Jahren leben Sie in dieser Wohngemeinschaft. Das Haus, es ist eigentlich eine alte Villa, gehört den Eltern von zwei ihrer Mitbewohner. Die beiden sind alte Freunde von Ihnen. Sie hatten sie vor Jahren kennengelernt. Damals waren Sie noch ein Kind und Sie lebten nicht in dieser Stadt. Als die Eltern ihrer Freunde aus der Villa ausgezogen waren, erhielten Sie das Angebot dort einzuziehen. Die angebotenen Konditionen waren sehr gut, deshalb hatten Sie sofort zugesagt. Es war ganz klar, dass Sie annehmen, denn Sie hatten nicht genug Geld, um die üblichen Mieten in dieser Stadt zu bezahlen. Sie lebten von einem staatlichen Darlehen für ihre Studienausbildung und von Gelegenheitsjobs.”

Der Notator nimmt die Brille von der Nase, behält sie jedoch in der Hand. Er schaut zu Reindorf hinüber.

Reindorf hat, bereits während der Notator vorlas, wiederholt eine bestimmte Nummer auf dem Wählscheibentelefon gewählt. Weil die Nummer belegt war, begann er ständig von neuem zu wählen. Endlich erreicht er den gewünschten Gesprächspartner:

“Hallo Christian! Gut, dass ich Dich noch erwische. Ihr seid also noch nicht von Sylvia losgefahren? Gut! Du, es tut mir Leid, wir müssen das heutige Musiktreffen ausfallen lassen, ihr braucht gar nicht hierher zu fahren, denn ich werde jetzt doch mit aufs Wochenende nach Österreich fahren.”

Während Reindorf schweigt um dem Gesprächspartner am Telefon zuzuhören, dabei nervös am noch aufgeschlagenen Telefonbuch herum fummelt, setzt der Notator die Brille auf und liest:

“Sie sagen gerade ihrem besten Freund Christian das wöchentliche Musiktreffen ab, unter dem Vorwand, dass Sie mit den Mitbewohnern ihrer Wohngemeinschaft das Wochenende in Österreich verbringen werden. Tatsächlich aber sind Sie unentschlossen, ob Sie das wirklich tun wollen. Denn Michaela, eine Mitbewohnerin in die Sie sich verliebt haben, beabsichtigt dieses Wochenende allein in der Wohngemeinschaft zu verbringen.”

Der Notator nimmt die Brille ab, behält sie in der Hand und blickt hinüber zu Reindorf.

Reindorf spricht in die Hörmuschel:

“Tut mir echt Leid Christian! Normalerweise sage ich nicht so kurzfristig ab. Aber jetzt geht es halt nicht anders! Sorry! Treffen wir uns am nächsten Wochenende wieder?” (Kurze Sprechpause)

Reindorf in den Hörer:

“Ja Du hast recht Christian. Bis nächstes Wochenende. Tschüßchen!”

Reindorf legt den Hörer auf die Gabel. Mit einem lauten Knall klappt er das dicke Telefonbuch zu.

Jetzt öffnet sich die rechte Zimmertüre. In ihr erscheint Michaela. Sie trägt ein helles Sommerkleid. Sie kommt einige Schritte auf Reindorf zu, bleibt ein paar Meter vor ihm stehen. Sie sieht aus, als ob sie geweint hätte. Mit gedämpfter Stimme sagt sie:

“Du lässt Dein Musiktreffen ausfallen?”

Reindorf:

“Ja. Hab ich mir kurzfristig überlegt. Hab keine Lust heute auf den Lärm.”

Michaela:

“Meinetwegen hast Du aber nicht abgesagt?”

Reindorf:

“Ne, ne, vielleicht fahr ich ja doch mit nach Österreich.”

Michaela nickt.

Reindorf:

“Wie geht es Deiner Mutter?”

“Sie ist jetzt in dieser Privatklinik in der Nähe vom Englischen Garten. Der Entzug hat sie ganz schön mitgenommen.”

“Wann hast Du mit ihr gesprochen?”

“Heute morgen. Hat sich ganz schlecht angehört.”

Reindorf, der bis jetzt verkrampft am Telefon stand, geht zwei winzige Schritte auf Michaela zu. Reindorf bleibt aber auf Distanz stehen, wühlt mit beiden Händen in den Hosentaschen nach einem Taschentuch, findet keines, nimmt die Hände wieder aus den Taschen. Hilflos, weil er nicht weiß, wo er jetzt seine Hände hin tun soll, lässt er sie kurz neben den Hosentaschen baumeln, steckt sie dann aber wieder in die Hosentaschen.

Reindorf:

“Hat Dein Vater die Scheidungsvereinbarung schon mit Deiner Mutter besprechen können?”

Michaela, mit weinender Stimme:

“Ich glaube nicht, dass er das noch tun wird. Das wird er einfach seinem Anwalt überlassen.”

Reindorf greift in die Hinterntasche seiner verwaschenen Jeans. Von dort zieht er knisternd ein Päckchen Taschentücher heraus. Jetzt tritt er dicht an Michaela heran und reicht ihr ein frisches Tuch. Michaela nimmt es und wischt sich die Augen trocken. Reindorf hat die beiden Hände schon wieder in seinen Hosentaschen. Beide stehen sich nahe gegenüber.

Michaela mit weinerlicher Stimme:

“Der Anwalt wird die Scheidungsvereinbarung wahrscheinlich kommentarlos in die Klinik schicken. Es ist schon Wahnsinn, dass ich jetzt erst begreife, dass meine Mutter diese Ehe wahrscheinlich nur mit Alkohol so lange ertragen hat.”

Wieder wischt sie sich die Augen. Michaela zu Reindorf:

“Das schlimmste ist, dass sich meine Eltern wohl meinetwegen nicht schon vor Jahren getrennt haben. Sie haben gewartet, bis ich erwachsen genug bin, und bis ich ausziehe. Jetzt, wo ich hier wohne, ist es so weit. Die Ehe bricht zusammen, Mama bricht zusammen, und das alles nur wegen dem beschissenen Alkohol!”

Michaela schluchzt und weint dicht vor Reindorf. Der greift erneut in seine Hinterntasche und reicht erneut ein Taschentuch. Wieder steckt er beide Hände in die Hosentaschen. Trotz der geringen Entfernung zu Michaela, keinerlei Anzeichen für eine Annäherung von Reindorf.

Reindorf:

“Nein, Michaela, ich glaube so solltest Du das nicht sehen. Du kannst nicht schuld daran sein, dass Deine Eltern bis vor wenigen Wochen in deren gescheiterter Ehe zusammen gelebt haben.”

Michaela:

“Ich weiß, aber es ist trotzdem alles so schlimm. Für mich bricht eine Welt zusammen. Meine Kindheit bei meinen Eltern hat es nur gegeben, weil Mama Alkoholikerin geworden ist, um das alles auszuhalten!”

“Ich kann mir vorstellen, wie schlimm das für Dich ist.”

“Ich habe nie gemerkt, dass Mama so viel Alkohol trinkt. Ich komme mir vor, als wäre ich die langen Jahre bei meinen Eltern richtig dumm gewesen. Nichts habe ich begriffen…“

Reindorf unterbricht Michaela:

“Soll ich morgen mitkommen in die Klinik? Ich könnte Dich und die Kleidung für Deine Mutter in meinem Auto dort hinbringen.”

Michaela:

“Und Österreich? Wolltest Du nicht mit den anderen…”

Jetzt wird Michaela von einer laut quietschenden Tür unterbrochen. Es ist die Eingangstüre. Von dort treten zwei junge Männer und eine junge Frau auf die Bühne. Sofort tritt Reindorf einige Meter von Michaela zurück an den Telefonschrank. Auch Michaela entfernt sich, bleibt jedoch im Türrahmen ihrer Zimmertüre stehen.

Die drei Mitbewohner laufen schnell und laut durch den Eingangsraum. Einer öffnet die Tür zum Wohnzimmer, die Mitbewohnerin läuft trampelnd die Treppe hinauf, der andere betritt die Küche.

Es herrschen Hektik und Abreisestimmung. Die drei Mitbewohner suchen gepackte Taschen und Jacken zusammen. Ein Mitbewohner bleibt mit einer Reisetasche bei Reindorf stehen, während die anderen beiden, Taschen und Jacken, an Reindorf vorbei, hinaus ins Freie tragen, um sie im Wagen zu verstauen. Die beiden rufen sich gegenseitig zu:

“Sollen wir das Radio auch mit nehmen?“

„Nee lass mal lieber, in dem Ferienhaus gibt es ne gute Stereoanlage!“

„Wie wäre es mit dem Volleyball und einem Volleyballnetz? Das Zeug liegt im Keller. Wäre doch super das mitzunehmen. Oder sollen wir einfach nur die Tischtennisschläger einpacken?“

„Alles zu viel!“

„Wir haben draußen in der Garage doch Federball, das nehmen wir auf jeden Fall noch mit!“

„Hast Du den Autoschlüssel?“

„Nee, der steckt, aber vielleicht sollten wir den Ersatzschlüssel noch mitnehmen?“

O.k., ich hab ihn!“

„Wir müssen noch bei der Bank vorbeifahren, brauchen noch bares fürs Tanken.”

Der Mitbewohner, nahe bei Reindorf fragt:

“Na, hast Du noch mal überlegt?”

Reindorf:

“Ja, ich fahr nicht mit. Ich werde mich hier irgendwie vergnügen.”

Der Mitbewohner:

“Schade, aber o.k., macht es mal gut ihr zwei!”

Die drei verschwinden durch die laut quietschende Tür nach draußen. Im Eingangsraum herrscht wieder Ruhe. Reindorf steht am Telefonschrank, Michaela in der Tür ihres Zimmers.

Michaela tritt jetzt zu Reindorf an den Telefonschrank heran. Sie umarmt ihn nicht, sondern sie streichelt ihn nur leicht über die Schulter:

“Danke, dass Du mir morgen in der Klinik helfen willst. Ich bin froh, dass wir uns trotzdem so gut miteinander verstehen. Ich möchte morgen in der Klinik nicht allein sein. Du brauchst aber nicht mit rein zu kommen, sondern Du kannst draußen auf mich warten, während ich mit meiner Mama rede …”

Reindorf dreht sich von Michaela weg. Er wendet sich an den Notator:

“Was meint sie damit, dass wir uns “trotzdem so gut verstehen”?”

Der Notator setzt die Brille auf, blättert einige Seiten im Buch zurück, überfliegt dort ein Blatt:

“Sie haben sich vor vielen Monaten in Michaela verliebt. Das wird aber mehr und mehr zu einer unglücklichen Liebe, denn Michaela hatte ihnen in einer Aussprache vor wenigen Tagen erklärt, dass sie nicht in Sie verliebt ist. Trotzdem vertraut sie sich ihnen oft an. Beispielsweise die Geschichte mit den Eltern, der Scheidung, der Alkoholerkrankung der Mutter. In der Wohngemeinschaft spricht sie über diese Dinge nur mit Ihnen. Außer Ihnen hat sie dafür offenbar keine Vertrauten. Weil Michaela ihnen erklärt hat, dass sie nicht in Sie verliebt ist, verhalten Sie sich absolut korrekt. Sie respektieren deren klare Erklärung. Deshalb bleiben Sie auf Distanz zu dem Mädchen, obwohl Sie sehr in sie verliebt sind. Ihre Liebe zu ihr bleibt noch viele Jahre lang bestehen. Weil sie weiterhin ohne Gegenliebe bleibt, bleibt es bei einer unglücklichen Liebe. Erst nach Jahren lösen Sie sich von ihr.”

Reindorf kommt jetzt ans Rednerpult heran. Er will einen Blick in das dicke Buch werfen, doch der Notator wehrt ab. Reindorf tritt zwei Schritte zurück.

“Was wollen Sie wissen Herr Reindorf?”

“Wie viele Jahre war ich in diese Frau verliebt, obwohl sie mir gesagt hatte, dass sie mich nicht liebt?”

Der Notator blättert im Buch ein gutes Stück nach vorne:

“Das waren mindestens vier, vielleicht fünf Jahre.”

“Obwohl Michaela mir damals erklärt hatte, dass sie mich nicht liebte, war ich so lange Zeit deren Vertrauter?”

Der Notator:

“So steht es in ihrer Biografie Herr Reindorf. In den schwierigen und schmerzenden Monaten der Ehescheidung der Eltern des Mädchens, aber auch in belastenden Situationen späterer Jahre, und auch bei erheblichen Veränderungen in deren Leben, waren Sie für Michaela ein enger Vertrauter, vielleicht der einzige. Das kann ich Ihnen nicht sagen, denn das gehört nicht zu Ihrer Biografie.”

Reindorf sieht den Notator nachdenklich an.

Der Notator fährt fort:

“Zum Beispiel einige Jahre nach diesem Abend im Vorraum ihrer Wohngemeinschaft.”

Der Notator schlägt eine Seite im Buch auf und liest:

“Im Briefkasten Ihrer Wohnung finden Sie Jahre später, Sie leben nicht mehr in der Wohngemeinschaft, einen Brief von Michaela. Er enthält eine Kunstpostkarte mit folgendem Text: …”

Reindorf unterbricht:

“Ja, ja, ich weiß diese Postkarte von Michaela! Ich fand sie in meinem Briefkasten an dem Tag, als ich abends dieses schöne Fest in meiner Wohnung zusammen mit meinem Mitbewohner und Freund Peter veranstaltet hatte!”

Der Notator lässt sich jetzt nicht von Reindorf unterbrechen, sondern fährt fort:

“Genau! Die Kunstpostkarte mit der Nachricht, dass sie schwanger ist. Michaela schreibt Ihnen, dass es ihr besonders wichtig sei, dass Sie der erste sind, der von der Schwangerschaft erfährt. Sie schreibt, dass ihre frühe Schwangerschaft natürlich nicht ganz beabsichtigt war, denn immerhin befinde sie sich noch mitten im Studium, doch es sei nun mal geschehen und inzwischen freue sie sich sehr auf das Kind. Richtig glücklich sei sie bei der Vorstellung…”

Schnell tritt Reindorf mehrere Schritte an den Notator heran und fragt:
“Können wir das verändern?”

Der Notator:

“Sie wollen doch nicht ändern, dass Michaela Ihnen schreibt, dass sie glücklich ist! Das können Sie gar nicht ändern! Deren Glück hat mit Ihrer Biografie gar nichts zu tun, Herr Reindorf!”

“Nein, nein, ich meine die Szene in der wir gerade sind! Der Abend im Vorraum in der Wohngemeinschaft.”

Der Notator:

“Ach so, das wollen Sie ändern! Natürlich Herr Reindorf, das ist Ihre Biografie. Wollen Sie diesen Abend noch einmal haben?”

Der Notator blättert im Buch Seite für Seite zurück.

Reindorf:

“Ja bitte. Wiederholen wir die Szene.”

Reindorf geht zum Telefon im Eingangsraum der Wohngemeinschaft und fummelt am Telefonbuch herum. Der Notator verlässt die Bühne, Michaela verschwindet hinter ihrer Zimmertür.

Die Szene beginnt von neuem.

Reindorf blättert im Telefonbuch. Der Notator betritt die Bühne und geht zum Pult. Dort kramt er umständlich sein Brillenetui aus der Tasche des Jackett. Er setzt sie auf, steckt das Etui wieder in die Tasche, schlägt das Buch auf und liest vor:

“Seit eineinhalb Jahren leben Sie in dieser Wohngemeinschaft. Das Haus, es ist eigentlich eine alte Villa, gehört den Eltern von zwei…”

Reindorf, der eine Telefonnummer wählt, unterbricht den Notator, er ruft ihm zu:

“Das hatten wir doch schon! Können wir das nicht überspringen?”

Der Notator:

“Selbstverständlich Herr Reindorf, ich glaube, Sie haben nun ihren Freund erreicht.”

Er deutet zum Telefonhörer, den Reindorf neben das Telefon gelegt hat.

Reindorf nimmt den Hörer:

“Hallo Christian! Gut, dass ich Dich noch erwische. Ihr seid also noch nicht von Sylvia losgefahren. Wir müssen das heutige Musiktreffen ausfallen lassen, ihr braucht gar nicht hierher zu fahren, denn ich werde doch mit aufs Wochenende nach Österreich fahren.”

Während Reindorf jetzt schweigt und dem Gesprächspartner am Telefon zuhört, dabei nervös am noch aufgeschlagenen Telefonbuch herum fummelt, setzt der Notator die Brille auf und liest:

“Sie sagen gerade ihrem besten Freund Christian das wöchentliche Musiktreffen ab, unter dem Vorwand, dass Sie mit den Mitbewohnern ihrer Wohngemeinschaft das Wochenende in Österreich verbringen wollen. Tatsächlich aber sind Sie unentschlossen ob Sie das wirklich tun wollen. Denn Michaela, eine Mitbewohnerin in die Sie sich verliebt haben, wird dieses Wochenende allein in der Wohngemeinschaft verbringen.”

Der Notator nimmt die Brille ab, behält sie in der Hand, und blickt hinüber zu Reindorf:

„Möchten Sie das verändern, Herr Reindorf?“

Reindorf winkt dem Notator, dass der Ruhe geben soll, schüttelt dabei den Kopf, er spricht in die Hörmuschel:

“Tut mir echt Leid Christian, dass ich Dir so kurzfristig absage, aber wir treffen uns ja am nächsten Wochenende wieder.”

(Kurze Sprechpause.)

“Ja Du hast recht! Bis nächstes Wochenende. Tschüßchen.”

Reindorf legt den Hörer auf die Gabel. Mit lauten Knall klappt er das dicke Telefonbuch zu.

Jetzt öffnet sich die rechte Zimmertüre. In ihr erscheint Michaela, in hellem Sommerkleid. Sie kommt einige Schritte auf Reindorf zu, bleibt jedoch wenige Meter vor ihm stehen:

“Du lässt Dein Musiktreffen heute ausfallen?”

“Ja, ich will am liebsten die Zeit nutzen, um mit Dir etwas mehr zu reden. Ich glaube, dass es Dir zur Zeit besonders schlecht geht, stimmt das?”

Michaela nickt verlegen, antwortet aber nicht.

“Wie geht es Deiner Mutter?”

“Sie ist in dieser Privatklinik in der Nähe vom Englischen Garten. Der Entzug hat sie glaube ich ganz schön mitgenommen.”

Wann hast Du mit ihr gesprochen?”

“Heute morgen. Hat sich ganz schlecht angehört.”

Reindorf geht drei kurze Schritte auf Michaela zu. Dicht vor ihr, zieht er ein Päckchen Taschentücher aus der hinteren Tasche seiner Hose und reicht Michaela ein Tuch:

“Du hast heute schon wieder viel geweint?”

Michaela, in weinendem Ton:

“Ja, wegen der Scheidung und wegen meiner Mama in der Klinik.”

“Ich glaube das ist echt schwer für Dich.”

Michaela mit weinerlicher Stimme:

“Der Anwalt wird Mama die Scheidungsvereinbarung wahrscheinlich kommentarlos in die Klinik schicken. Es ist schon Wahnsinn, dass ich jetzt erst begreife, dass meine Mutter die Ehe wahrscheinlich nur mit Alkohol so lange ertragen hat.”

Michaela wischt mit dem Tuch die Augen. Jetzt umarmt Reindorf sie. Michaela legt ihren Kopf auf dessen Schulter und weint weiter. Reindorf streicht ihr durch die Haare.

Reindorf leise:

“Nein, Michaela, ich glaube so solltest Du das nicht sehen. Du kannst nicht schuld daran sein, dass Deine Eltern bis vor wenigen Wochen in deren gescheiterter Ehe zusammen gelebt haben.”

Michaela:

“Ich weiß, aber es ist trotzdem alles so schlimm. Für mich bricht eine Welt zusammen. Meine Kindheit bei meinen Eltern hat es nur gegeben, weil Mama Alkoholikerin geworden ist, um das auszuhalten.”

“Ich kann mir vorstellen, wie schlimm es für Dich ist.”

“Ich habe nie gemerkt, dass Mama so viel Alkohol trinkt. Ich komme mir vor als wäre ich die langen Jahre bei meinen Eltern richtig dumm gewesen. Nichts habe ich begriffen…”

Reindorf unterbricht Michaela:

“Ich könnte Dich morgen begleiten in die Klinik. Ich werde Dich und die Kleidung für Deine Mutter in meinem Auto dort hinbringen. O.k.?”

Michaela:

“Ja, o.k.”

Jetzt hört man die laut quietschende Eingangstüre. Es treten zwei junge Männer und eine junge Frau ein. Reindorf umarmt Michaela erneut. Nach wenigen Sekunden löst er die Umarmung, während die Mitbewohner an den beiden vorbei laufen, um gepackte Taschen für die Reise nach Österreich zu holen, verschwindet Michaela in ihr Zimmer.

Reindorf zum Notator:

„Können wir hier die Szene beenden? Den Rest kennen wir ja schon, ich werde nicht mit den Mitbewohnern auf das Wochenende nach Österreich fahren.“

Der Notator nickt und setzt mit dem Satz an:

„Gerne Herr Reindorf, es ist ihre Biografie, wir können hier abbrechen und…“

In diesem Augenblick erscheint Michaela in deren Zimmertür, während die Mitbewohner immer noch Taschen tragend auf und ab laufen. Sie sagt zu Reindorf:

“Danke, dass Du mir morgen in der Klinik helfen willst. Ich bin froh, dass wir uns so gut miteinander verstehen. Ich möchte morgen in der Klinik nicht allein sein. Ich freue mich, wenn Du mit kommst, dann können wir ja zu zweit mit meiner Mama reden.“

Reindorf nickt Michaela zu:

„Ja, das ist gut! Gerne komme ich mit.“

Reindorf wendet sich zum Notator, beide nicken sich gegenseitig zu.

Die Szene ist beendet.

Der Vorhang schließt sich.

3. Szene

Das Bühnenbild:

Ein spärlich möbliertes Zimmer in einer runter gekommenen Altbauwohnung mit Dachschrägen. An den schlecht gestrichenen Wänden hängen Postkarten und Fotografien, beinahe wie in einem Fotoalbum oder wie eine real gestaltete Fototapete. Ein altes Sofa steht hinten im Zimmer nahe einem geöffneten Fenster. Dort sitzen Gäste mit Gläsern in Händen. Andere sitzen auf dem Boden, einige auf Holzstühlen, weitere Gäste stehen mit Bierflaschen in der Hand im Zimmer herum oder lehnen an den Wänden. Das Zimmer ist von Zigarettenqualm verraucht.

Leise Musik, Sprechen und Lachen der Gäste, man hört das Klirren von anstoßenden Flaschen und Gläsern.

Die Schauspieler:

Der Notator, er steht rechts neben der Bühne am Pult. Reindorf, bekleidet mit einer schwarzen Hose und hellem Hemd, er hat die Bühne noch nicht betreten. Michaela trägt ein sehr weites Kleid. Sie sitzt auf einem Stuhl nahe dem Sofa, neben ihr steht ein freier Stuhl. Helen, eine hübsche Fünfundzwanzigjährige, sitzt hinten im Zimmer auf dem Sofa. Peter, der Mitbewohner von Reindorf, ein stämmiger Typ mit Wuschelkopf, trägt ein herunter hängendes, zu weites T-Shirt und eine verwaschene Jeans. Mit Bierflasche in der Hand, lehnt er an der Wand.

Der Vorhang öffnet sich

Der Notator betritt die Bühne, er geht zu seinem Pult, während die Gäste bereits im Zimmer auf der Bühne sind und man die Geräuschkulisse hört. Reindorf fehlt noch.

Der Notator setzt die Brille auf und liest aus dem Buch auf dem Pult vor:

“Sie bewohnen seit drei Jahren eine sanierungsbedürftige Altbauwohnung. Die Zeit von Schule und Uni ist vorbei. Die Wohnung ist ein Überbleibsel aus dieser Zeit. Sie bewohnen die runter gekommene Studentenbude nicht nur deshalb weiter, weil Sie nach wie vor kein Geld haben, um sich eine ordentliche Wohnung in der Stadt zu mieten, sondern Sie haben einen gewissen Hang, an längst vergangenem so lange wie möglich festzuhalten. Seit zwei Monaten haben Sie einen neuen Mitbewohner: Mit Peter verstehen Sie sich so gut, dass Sie heute Abend gemeinsame Freunde eingeladen haben, um Peters Einzug zu feiern.”

Reindorf betritt die Bühne, in der Linken eine Bierflasche, in der Rechten eine qualmende Zigarette. Er bleibt stehen und blickt sich im Zimmer um. Er geht langsam zum Sofa, wo er sich neben Helen nieder lassen möchte. Dort aber sitzt bereits ein Gast. Michaela sitzt auf einem Stuhl in der Nähe des Sofas. Neben ihr steht ein freier Stuhl. Reindorf bewegt sich langsam weiter Richtung Helen. Er versucht neben ihr auf dem Sofa Platz zu nehmen, indem er das Sofa von hinten umrundet. Dort versucht er irgendwie auf der Rückenlehne zu sitzen, um mit Helen ins Gespräch zu kommen.

Der Notator am Pult spielt nervös mit seiner Brille, beobachtet den Vorgang, setzt die Brille auf, blättert im Buch einige Seiten zurück, überfliegt eine Seite, nimmt die Brille wieder ab, ruft fragend zu Reindorf:

“Aber was tun Sie denn da, Herr Reindorf?”

Reindorf, hinter dem Sofa zwischen Helen und einem anderen Gast auf der Lehne sitzend, blickt überrascht zum Notator:

“Wieso? Ich will mich zu Helen setzen. Ich will mit ihr reden. Ich war den ganzen Abend neben ihr auf dem Sofa gesessen! Was will der Kerl von Helen?”

Reindorf deutet auf den Gast neben Helen.

“Aber Herr Reindorf! Das hatten Sie doch geändert!”

Der Notator setzt die Brille nochmal auf. Er sieht im Buch nach. Er tippt mit dem Zeigefinger auf die aufgeschlagene Seite, nimmt die Brille wieder ab, blickt zu Reindorf hinüber:

“Sie haben vor Jahren dieses Wochenende allein mit Michaela in ihrer damaligen Wohngemeinschaft verbracht. Sie waren nicht nach Österreich mitgefahren.Sie hatten deshalb sogar ihrem besten Freund Christian das wöchentliche Musiktreffen abgesagt. Haben Sie das schon vergessen?”

Reindorf kommt hinter dem Sofa vor, tritt zum Notator ans Pult.

Der Notator blättert im Buch, überfliegt einige Seiten, nimmt die Brille ab, sieht Reindorf an:

“Sie hatten mit Michaela an dem Wochenende in ihrer Wohngemeinschaft sehr lange und vertraulich gesprochen. Sie hatten sie in der Krise mit deren vom Alkohol kranken Mutter, und wegen der Scheidung der Eltern, intensiv gestützt. Sie haben Michaela an dem Wochenende geliebt, denn Sie hatte Ihr Vertrauen angenommen und sie war sehr schwach. Sie glaubte sogar daran, sich in Sie zu verlieben. Das hatten Sie geändert, Herr Reindorf.”

Reindorf steht verdutzt neben dem Notator. Er wirft kurz einen Blick zu Michaela und dem freien Stuhl.

Der Notator:

“Der freie Stuhl neben Michaela ist Ihrer Herr Reindorf! Das hatten Sie geändert. Sie sitzen heutige Abend nicht das ganze Fest über neben Helen. Sie beginnen heute keine Beziehung zu Helen, Herr Reindorf. Sie haben die Liebe von Michaela gewonnen.”

Reindorf nickt, wirkt niedergeschlagen. Langsam entfernt er sich vom Pult. Die Geräuschkulisse des Festes kehrt zurück. Reindorf geht auf Michaela zu. Er setzt sich auf den freien Stuhl. Er küsst sie auf die Wange.

“Hat es geklappt, mit dem neuen Job?”

“Ach so der Job? Ja, ja, das wird klappen.”

Reindorf schaut hinüber zu Helen auf das Sofa. Angeregt unterhält sie sich mit dem Gast. Sie lacht, trinkt und raucht Zigaretten. Beide stoßen mit Bierflaschen an und sehen dabei ganz vergnügt aus.

“Was hast Du denn ausgemacht? Wann kannst Du voraussichtlich anfangen?”

“Am Montag. Am Montagmorgen um sechs wird es losgehen. Ich bin gespannt auf die Fahrerei mit dem Verkaufslastwagen und darauf, ob ich mich wirklich zu einem Verkäufertypen entwickle. Mit den Nachtschichten als Pförtner wird es erst mal vorbei sein. Mehr Kohle wird es garantiert geben. Das Brot aus meinem LKW werde ich schon irgendwie verkaufen.”

“Da bin ich ja froh! Wir brauchen das Geld für die Wohnung und unser Kind. Brot brauchen die Menschen immer. Du kannst bestimmt neben Deiner festen Verkaufstour noch Geld machen, indem Du mehr verkaufst.”

“Dieser Felbig, mein Vorgesetzter, hat mir erklärt, dass satte Provisionen zum Fixum winken, wenn ich den Kunden zusätzlich Ware auf schwatze.”

“Super, dass Du endlich den Nachtschichtjob an der Pforte losgeworden bist. Ich bin mir sicher, wenn das Baby da ist, werden die Nächte anstrengend werden.Ich werde Dich brauchen.”

Reindorf springt jetzt vom Stuhl auf, er eilt zum Pult des Notators:

“Deshalb habe ich heute Nachmittag keine Post von Michaela, mit dieser Kunstpostkarte aus meinem Briefkasten geholt?”

Der Notator:

“Das hatten Sie vor Jahren in der Wohngemeinschaft geändert, Herr Reindorf, so wie Sie es wollten. Michaela brauchte ihnen die Postkarte nicht zu schicken. Sie waren es, der als erster von deren Schwangerschaft erfahren hat, denn Sie sind der Vater des Kindes, da braucht es keine Kunstpostkarte.”

Reindorf entfernt sich vom Pult. Er trinkt einen Schluck aus der Bierflasche, die er in Händen hält. Auf halbem Weg zu Michaela kommt Peter auf Reindorf zu. Peter lehnte die ganze Zeit über mit Gästen auf der anderen Seite des Zimmers an der Wand, und hatte sich dort unhörbar unterhalten. Er klopft Reindorf freundschaftlich auf die Schulter. Reindorf dreht sich langsam zu Peter, erschrickt beim Anblick seines Mitbewohners ein wenig. Peter zu Reindorf:

“Na, alles klar? Oder brennt bei dir gerade irgendetwas an?”

“Nein Peter, ich hab meine Eisen alle im Feuer. Es ist alles geregelt, bei mir brennt nichts an.”

“Und Michaela? Haste schon mit ihr gesprochen?”

Reindorf ist unsicher, kratzt sich am Kopf, scheint nicht zu wissen, wovon Peter spricht. Der Notator beobachtet das, drückt sich schnell die Brille auf die Nase und blättert im Buch. Peter nimmt die Unsicherheit von Reindorf wahr und hakt deshalb nach:

“Na, die Trennung meine ich! Haste schon was mit ihr besprochen?”

“Achso! Ne, ne! Ich hab mir das noch mal überlegt! Ich glaube nicht, dass es jetzt der richtige Zeitpunkt ist, für so ein Gespräch.”

“Echt nicht? Da hast Du Dir aber nicht das leichteste aus gesucht!”

Peter klopft Reindorf erneut auf die Schulter. Beide lachen sich gegenseitig an. Sie stoßen mit ihren Bierflaschen an. Man hört wieder die Geräuschkulisse des Festes. Reindorf geht zu Michaela, lässt sich langsam neben ihr nieder. Er küsst sie auf die Wange.

Der Vorhang fällt.

4. Szene

Das Bühnenbild:

Ein kleines Zimmer mit Dachschrägen. Ein mit Papieren übersähter Schreibtisch am Fenster. Daneben ein nicht gemachtes Bett. An der Wand ein Regal mit Stereoanlage. Ein Ölofen, eine große Zimmerpflanze, die zu groß ist für den winzigen Raum.

Die Schauspieler:

Reindorf, diesmal nicht mit Hemd, sondern mit einfachem Pullover, ohne Kragen und Jeans bekleidet. Reindorfs Freund Peter, der Wuschelkopf, trägt einen grünen, alten Rollkragenpullover und eine schwarze Jeans.

Der Vorhang öffnet sich

Peter und Reindorf sitzen Zigaretten rauchend und Bier trinkend vor Peters Schreibtisch, auf dem beide hin und wieder ihre Flaschen abstellen. Peter erhebt sich vom Stuhl, geht zur Stereoanlage, legt eine CD von Frank Zappa ein. Peter setzt sich wieder neben Reindorf auf den Stuhl vor den Schreibtisch. Beide unterhalten sich so leise miteinander, dass man zunächst nur die Musik von Zappa hört, sie rauchen und stoßen hin und wieder mit ihren Bierflaschen an.

Der Notator betritt die Bühne, geht zu seinem Pult, setzt die Brille auf, blättert im Buch und beginnt zu lesen. Die Musik wird dabei leiser:

“Herr Reindorf, Sie besuchen an diesem Abend Ihren Freund Peter, mit dem Sie inzwischen seit über drei Jahren nicht mehr zusammen wohnen. Die gemeinsame Studentenbude mit Peter mussten Sie aufgeben, weil der Hausbesitzer das Gebäude endgültig sanieren ließen. Sie wohnen schon lange in einer Wohnung in der Innenstadt. Ihr Freund Peter bewohnt ein Studentenzimmer am Stadtrand. Während Peter wesentlich jünger ist als Sie, er ist gerade sechsundzwanzig und studiert noch, er ist Student der Rechtswissenschaften, sind Sie bereits seit einigen Jahren voll berufstätig.”

Der Notator nimmt die Brille ab, blickt hinüber in das Studentenzimmer von Reindorfs Freund Peter. Leise hört man die Musik von Zappa.

Peter:

“Dieser Musiker war einfach ein Genie. Es ist unglaublich, was dieser Mensch zusammengebracht hat, obwohl er gleichzeitig so ein Chaot war!”

Reindorf lachend:

“Ja, das stimmt, das Chaos schlägt sich in vielen von dessen Schallplatten nieder und trotzdem ist seine Musik optimal arrangiert und musikalisch perfekt! Auch wenn sie nicht jedermanns Geschmack ist.”

Peter steht vom Stuhl auf. Er holt aus einem Regal zielsicher eine bestimmte CD. Damit setzt er sich zurück neben Reindorf.

“Diese Scheibe hier gehört zu dessen besten Werken, soweit man das bei diesem Musiker überhaupt sagen kann, weil einfach alles von dem sehr gut ist. Hier drauf aber, das muss ich sagen, findet sich das absolute Chaos, und doch ist die Platte musikalisch perfekt. Soll ich mal einlegen?”

Reindorf winkt ab:

“Nein, nein, ich kenne die Scheibe, Du hattest sie doch oft in unserer Wohngemeinschaft gespielt, damals.”

Peter mit träumerischem Gesichtsausdruck:

“Klar, damals im Westend in der Innenstadt, das waren noch Zeiten. Keine weiten Wege in die nächste Kneipe, mit der U-Bahn nicht weit zur Uni und eine Party nach der anderen. Das war toll. Dagegen hänge ich jetzt hier schon ziemlich in der Pampa herum. Ohne Auto wäre ich hier draußen echt aufgeschmissen.”

Reindorf:

“Wie läuft es denn so im Studium?”

“Naja, nichts läuft mehr. Ich zittere und warte auf die Prüfungsergebnisse.”

Reindorf:

“Echt, Du weißt immer noch nichts? Ist doch schon Wochen her, seitdem Du die Prüfungen geschrieben hast.”

“Jetzt dauert es auch nicht mehr sehr lange. Zehn Tage noch, bis Anfang Januar, dann gibt es den Brief vom Prüfungsamt.”

Reindorf:

“Unmöglich aufgebaut dieses Studium! Zuerst haste jahrelang keine einzige Prüfung, dann kommt alles auf einmal und dann dauert es fast ein halbes Jahr, bis Du weißt, ob Du jahrelang umsonst studiert hast, weil sie Dich durch fallen lassen. Dann stehst Du ohne Ausbildung da.“

Peter:

“Ja richtig! Unheimlich übel das Ende dieses Studienganges. Riesiger Druck staut sich da an. An einem Tag, wenn der Postbote den Prüfungsumschlag in Deinen Briefkasten steckt, zerplatzt der Druck in einer riesigen Explosion in Dir.”

Reindorf:

“Da will ich aber mal das beste für Dich hoffen. Und vergiss nicht: Das Leben geht auch nach so einer Prüfung weiter, auch wenn die den Bach herunter geht.”

Peter:

“Mag sein, mag sein, aber Wahnsinn wäre das schon, nach so vielen Jahren der Paukerei und Schufterei.”

Reindorf steht jetzt von seinem Stuhl auf, er tritt zum Notator ans Pult. Peter blickt ihm verdutzt hinterher:

“Wo gehst Du denn hin? Willst Du frische Luft schnappen? Soll ich mal das Fenster öffnen? Ich glaube hier im Zimmer steht sehr viel Zigarettenrauch.”

Peter steht auf, öffnet das Fenster, wirbelt mit den Armen durch die Luft um den Zigarettenqualm nach draußen zu treiben.

Reindorf zu Peter:

“Nein, nein, ich muss nicht an die frische Luft. Komme gleich wieder.”

Reindorf zum Notator:

“Können wir kurz stoppen?”

Der Notator:

“Natürlich Herr Reindorf, wie Sie wünschen.”

Reindorf rauft sich die Haare, kratz sich hinterm Ohr, läuft am Bühnenrand unruhig auf und ab. Er verschränkt die Arme, nimmt sie wieder auseinander, lässt sie kurz herunter baumeln, steckt die Hände in die Hosentaschen. Nachdenklich steht er am Bühnenrand. Er wirkt zappelig, seine Hände zittern.

“Was beunruhigt Sie so sehr Herr Reindorf? Warum sind Sie so nervös?”

Reindorf antwortet nicht. Stattdessen zündet er sich, dabei mit dem Feuerzeug fuchtelnd, eine Zigarette an, die er aus einer Schachtel vom Schreibtisch seines Freundes Peter nimmt. Paffend läuft er auf und ab, dabei schüttelt er nachdenklich den Kopf. Leicht gebückt, kopfschüttelnd und qualmend tritt er wieder an das Pult des Notators:

“Sie wissen doch genau, warum ich so unruhig bin!”

Hastig zieht er an der Zigarette und bläst dem Notator den Rauch ins Gesicht. Der hält sich deshalb schützend die Hand vor das Gesicht, versucht der Qualmfahne zu entkommen, wedelt mit der Hand den Qualm beiseite.

Reindorf:

“Das ist doch wirklich Wahnsinn, was wir hier treiben!”

Der Notator hustet jetzt, wegen Reindorfs nervösem Gequalme. Laut und scharf fragt er Reindorf:

“Wollen Sie hier lieber beenden Herr Reindorf?”

Reindorf sieht den Notator ernst von der Seite an. Wieder kratz er sich nervös am Kopf, wendet sich ab, läuft am Bühnenrand qualmend hin und her. Dabei blickt er immer wieder zum Notator hinüber.

Der Notator, jetzt in klarem, beinahe amtlich korrektem Ton:

“Es steht ihnen frei hier abzubrechen, Herr Reindorf. Es war Ihr Wunsch, Ihre Biografie zu verändern. Aus welchem Grund auch immer diese Idee in Ihrem Kopf entstanden ist, Herr Reindorf. Ich kenne den Grund nicht. Aber klar ist: Sie sind für Ihre Biografie verantwortlich. Sie können Ihre Biografie verändern. Was hier geschieht, haben Sie gewünscht! Sie können jeder Zeit damit aufhören.”

Reindorf drückt nervös die Zigarette in einen Aschenbecher auf dem Schreibtisch seines Freundes Peter. Jetzt dreht er sich wieder zum Notator und ruft mit scharfer, entschlossener Stimme:

“Nein! Lassen Sie uns fortfahren!”

Der Notator:

“Wie Sie wünschen, Herr Reindorf. Aber bitte beachten Sie, dass Sie nur Ihre Biografie verändern können. Sie können nicht die Biografie von anderen ändern, auch nicht diejenige Ihrer Freunde. Das sehen Sie an Ihrer ehemaligen Freundin Michaela, die Sie trotz des gemeinsamen Kindes verlassen hat. Sie hatten es geschafft, dass Michaela eine Zeit lang in Sie verliebt war, nun ist Sie mit einem anderen Mann glücklich. Bitte Herr Reindorf, bedenken Sie auch, dass…”

Reindorf der sich wieder auf dem Stuhl neben Peter niedergelassen hat, unterbricht jetzt den Notator:

“Ich weiß, ich weiß, ich weiß! Bitte lassen Sie uns nun fortfahren.”

Der Notator:

“Gleicher Tag, gleiche Zeit, gleicher Ort, gleiche Situation bei Ihrem Freund Peter? Oder wollen Sie an einer anderen Stelle weiter machen, Herr Reindorf? Ich möchte Sie nicht beeinflussen, aber vielleicht sollten Sie diese Stelle überspringen und stattdessen…”

Reindorf unterbricht den Notator:

“Nein, nein ich bin entschlossen hier weiter zu machen!”

Der Notator:

“Bitte!”

Reindorf fragt Peter:

“Wie geht es Dir denn mit Deiner Freundin im Moment?”

Peter sieht jetzt seinen Freund Reindorf mit deutlich genervtem Gesichtsausdruck an.

Reindorf:

“Oha! Entschuldigung. Mit der Frage hab ich wohl einen völligen Fehlgriff gelandet!”

Peter:

“Nee, nee, lass mal. Du hast voll ins Schwarze getroffen. Es läuft halt alles daneben mit dieser Frau. Aber das dürftest Du ja ganz gut kennen, von Deiner Michaela! Ihr habt ja sogar ein Kind miteinander, selbst das ist keine Garantie für eine glückliche Beziehung.”

Reindorf trifft die Antwort unerwartet. Langsam steht er auf, zieht eine neue Zigarette aus der Schachtel auf dem Schreibtisch, zündet sie an und schließt das geöffnete Fenster. Er antwortet:

“Du hast recht. Einfach war die Trennung für uns beide wirklich nicht. Verdammt viel Wäsche wurde da gewaschen und vieles kaputt gemacht. Unglaublich vieles.”

Reindorf blickt nachdenklich durch das geschlossene Fensterglas ins dunkle. Auf der Glasscheibe sieht er nur sich selbst:

“Vieles woran ich geglaubt hatte, wurde von uns beiden innerhalb weniger Wochen zertrümmert.”

Peter:

“Ich glaube, Du kannst Dir vorstellen wie es mir mit Bettina und Regina geht. Ich fühle mich hin und her gerissen zwischen zwei Extremen. Ich kann mich nicht zwei teilen. Ich weiß bald wirklich nicht mehr, was ich tun soll. Ich glaube irgendwann kracht es einfach und alles um mich herum explodiert.”

Reindorf:

“Was meinst Du denn damit?”

Der Notator ruft vom Rednerpult:

“Das ist neu!” Er notiert etwas mit einem Bleistift im Buch.

Peter antwortet noch nicht, sondern steht auf. Nachdenklich läuft er einige Schritte im Zimmer hin und her. Er bleibt an der Stereoanlage stehen, schaltet sie aus, lässt die CD herausfahren und packt sie zurück in deren Hülle.

“Ach nichts besonderes. Ich weiß einfach noch nicht, was demnächst passiert. Aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass etwas geschehen wird. Da staut sich so viel an in mir. Ich muss etwas ändern, denn so kann es nicht weitergehen.”

Reindorf kratz sich nachdenklich am Kopf, antwortet aber nicht.

Peter hat eine andere CD in der Hand, hält sie Reindorf kurz unter die Augen und fragt: “Willst Du die hier hören?”

Reindorf nickt:

“Ja, warum nicht?”

Peter schaltet die Stereoanlage wieder an, legt die CD ein.

Es ertönt der Titel “Mama” von Frank Zappa.

Der Vorhang fällt, die Musik läuft leise weiter, solange der Vorhang geschlossen ist.

5. Szene

Das Bühnenbild:

Ein ordentlich gedeckter Kaffeetisch in der solide geführten Wohnung einer Pfarrerin.

Die Schauspieler:

An dem Kaffeetisch treffen sich Reindorf, dessen Musikfreund Christian, Bettina, die Freundin von Peter, eine Pfarrerin und Martin (wie Reindorf ein Freund von Peter).

Der Vorhang öffnet sich.

Der Notator betritt die Bühne, geht zum Rednerpult, setzt die Brille auf und liest aus dem Buch vor:

„Niemand von Ihnen hatte geahnt, dass Peter so etwas tun würde. Sie, Herr Reindorf und Ihre Freunde, haben Peter nicht so eingeschätzt. Peter war einer Ihrer wenigen nahen Freunde. Deshalb gehört Peters Suizid untrennbar zu einem Teil Ihrer Biografie, aber, und das ist wichtig Herr Reindorf: Peters früher Tod ist nicht Ihre Biografie.”

Es läutet. Die Pfarrerin betritt die Bühne, geht zur Tür und öffnet.

Alle Besucher stehen vor der Tür, sie treten nacheinander ein. Zuerst Bettina, gefolgt von Reindorf, Christian und Martin. Alle tragen schwere Wintermäntel, die sie an der Garderobe aufhängen. Die Pfarrerin weist den Besuchern Plätze am Kaffeetisch zu.

“Bitte bedienen Sie sich. Kaffee oder Tee?”

Sie weist auf die beiden Kannen auf dem Tisch. Die Besucher danken und greifen zu.

“Es freut mich sehr, dass wir uns so kurzfristig zu diesem Termin finden konnten. Mit Peters Eltern habe ich gestern einen Text vorbereitet. Den Ablauf der Beisetzung haben wir gemeinsam festgelegt.”

Bettina schnupft in ein Taschentuch, sie wischt sich die verweinten Augen.

“Peters Eltern wünschen sich, dass Sie, die engsten Vertrauten und Freunde von deren einzigem Sohn, den Text, den ich am Grab sprechen werde, mit Ihren Erfahrungen und Kenntnissen von deren Sohn ergänzen. Weil ich Sie alle kaum kenne, schlage ich vor, dass jeder von Ihnen…”

Christian, der Musikfreund von Reindorf, setzt die Kaffeetasse ab, fällt der Pfarrerin ins Wort:

“Ich kann es immer noch nicht fassen, dass er wirklich tot ist. Erst seit gestern, als ich seinen leblosen Körper gesehen habe, in dem kalten Nebenraum der Aussegnungshalle, ist mir klar, dass er es tatsächlich getan hat.”

Christian sieht die Pfarrerin an und sagt:

“Aber entschuldigen Sie, ich habe Sie unterbrochen.”

“Bitte sprechen Sie ruhig weiter. Sind Sie ein Studienfreund von Peter?”

Jetzt meldet sich Martin:

“Nein, nein, äh, das bin ich.”

Martin sieht Christian an und sagt:

“Wie war das eigentlich am Abend vor der Nacht als Peter gestorben ist, ich meine, als er sich, ja, als er sich das Leben genommen hat? Seid ihr beide da nicht wegen irgendeiner Aktion mit einer Tante von einem Fernsehsender verabredet gewesen?”

Auf die Frage antwortet Reindorf:

“Ja stimmt, wir haben deshalb den ganzen Abend lang auf Peter gewartet. Wir hatten einen Termin mit dieser Filmtante von einem privaten Kanal, wie heißt der noch gleich…”

Reindorf schaut seinen Musikfreund Christian fragend an, doch dem fällt der Name auch nicht ein. Christian spricht weiter:

“Äh, keine Ahnung, ist ja auch wurscht. Ich hatte das Treffen mit dieser Kamerafrau organisiert. Ich hatte sogar einen Schlager zusammen mit einer Bekannten komponiert. Der Kanal war auf uns bei irgendeinem Auftritt aufmerksam geworden. Die wollten an diesem Abend ein kurzes Video filmen.”

Reindorf fragt die Frau Pfarrerin:

“Darf ich hier rauchen?”

Die Pfarrerin weist auf einen Aschenbecher auf dem Kaffeetisch:

“Bitte sehr.”

Reindorf hat bereits eine Zigarette zwischen den Lippen, die er jetzt entzündet:

“Ich hatte vorgeschlagen, als Kulisse für dieses Video eine verschneite Wiese zu nehmen, nur etwa einen Kilometer von Peters Studentenbude entfernt. Peter wollte uns beim Vorbereiten der Kulisse, einem Feuer im Schnee, helfen. Aber er kam nicht. Ich dachte er kam nicht, weil er diese Musik hasste.”

Christian:

“Stimmt genau, der ist nicht gekommen, aber das hatte ich fast befürchtet, denn ich hatte ihn am Vormittag angerufen, weil ich mit ihm besprechen wollte, ob er Getränke im Auto mitbringen kann. Aber ich habe Peter nicht erreicht. Stattdessen meldete sich dessen Anrufbeantworter mit einem total blöden Spruch. In diesem Moment war mir eingefallen, dass er wahrscheinlich seine Prüfungsergebnisse bekommen hatte. Der Anrufbeantworter war das Signal für mich, dass er es nicht geschafft hatte. Ich glaube, deshalb wollte er an dem Tag von niemandem irgendetwas hören.”

Bettina:

“Der Spruch auf dem Anrufbeantworter war so dumm, dass ich richtig wütend geworden war. Ich wollte mit Peter über dessen Prüfungsergebnisse sprechen, aber er hat den ganzen Tag das Telefon nicht abgenommen, stattdessen hörte ich drei, vier Mal dessen wütendes: “leckt mich alle” vom Anrufbeantworter.”

Martin:

“Das hab ich mir auch ein paar mal angehört, denn ich wollte Peter erreichen, weil er mir das Auto geliehen hatte. Der Spruch hat sich hasserfüllt und aggressiv angehört.”

Reindorf:

“Ich habe Peter an dem Tag nicht angerufen. Nach der Filmerei mit der Fernsehtante auf der Schneewiese waren Christian und ich mit meinem Auto zu Peters Wohnung gefahren.”

Bettina fragt jetzt ein wenig aufgeregt:

“Echt? Davon wusste ich bis jetzt gar nichts. Was war da los? Habt ihr bei Peter geläutet?”

Reindorf steht jetzt auf. Er beginnt im Zimmer hin und her zu laufen, greift sich an den Kopf, kratzt sich, wirkt beunruhigt:

“Das ist es ja gerade, worüber ich mir schon seit Tagen Gedanken mache. Vielleicht war er ja zu Hause und wir hätten mit ihm noch einmal sprechen können. Aber das Licht in der Wohnung und in Peters Zimmer war aus, auch sein Auto stand nicht vor der Tür. Das Haus lag im Dunkeln.”

Christian:

“Wenn Peters Auto nicht vor der Tür stand, dann war das in der Regel ein untrügliches Zeichen dafür, dass er unterwegs war.”

Martin:

“Ihr zwei konntet nicht wissen, dass er mir den Wagen am Tag zuvor geliehen hatte.”

Reindorf, der sich jetzt wieder an seinen Platz sitzt und nervös die Zigarette in den Aschenbecher auf dem Tisch ausdrückt:

“Stimmt genau. Wenn wir das gewusst hätten, ich glaube wir wären mit Sicherheit aus meinem Wagen ausgestiegen und wir hätten bei Peter geläutet. Aber wir sind nicht einmal aus dem Wagen gestiegen, um zu läuten, denn wir waren vollkommen durchgefrohren, wegen der dämlichen Videofilmerei auf der verschneiten Wiese. Ich glaube es hatte um die minus zehn Grad an dem Abend und ich war froh, dass es im Auto endlich einigermaßen warm geworden war.”

Bettina:

“Diese scheiß Kälte. In anderen Wintern wäre der Suizid so gar nicht möglich gewesen. Nur in eiskalten Nächten, wie in diesem scheiß Winter, kann sich ein Mensch überhaupt erfrieren lassen.”

Eine kurze Pause.

Bettina:

“Vielleicht war es doch ein Unfall? Peter hat sehr viel Alkohol im Blut gehabt. Vielleicht war er auf dem Weg zu der verschneiten Wiese, wo ihr dieses Video gemacht habt? Vielleicht war er gestolpert oder dumm gestürzt und war nicht wieder hochgekommen? Vielleicht war er deshalb im Schnee erfroren?”

Reindorf steht vom Kaffeetisch auf. Er raucht. Diesmal aber nicht nervös. Er geht zum Fenster, das er öffnet.

“Das wäre vielleicht eine Erklärung. Die Befunde haben einen extrem hohen Blutalkoholwert bei Peter ergeben. Kurz vor dessen Tod hat er sehr viel Alkohol getrunken.”

Martin:

“Er starb erst in der Nacht nachdem ihr dieses Video auf der Schneewiese gemacht hattet. Ich glaube nicht, dass er den Tag verwechselt hatte, außerdem kannte er die Wiese, wo ihr euch treffen wolltet. Die Stelle, wo sein erfrorener Körper, am nächsten Morgen, von einem Spaziergänger, gefunden wurde, lag aber in eine völlig andere Richtung.”

Bettina:

“Wahrscheinlich habt ihr recht. Ich sollte nicht weiter versuchen nach Erklärungen zu suchen, wo es nichts zu erklären gibt. Peter hat diese Art zu sterben gewählt, keiner von uns hatte geahnt, dass er ein Mensch war, der so etwas tun würde.”

Reindorf, der jetzt wieder aufsteht und unruhig im Zimmer herumläuft:

“Vielleicht leben wir alle einfach falsch? Wie kann es sein, dass Peters Freunde nicht mitbekommen haben, was er tat? Vielleicht leben wir alle irgendwie aneinander vorbei?Wir alle haben zu viel Stress. Die Hektik ist zu viel. Da bleibt keine Zeit um zu spüren, was mit dem anderen los ist. Vielleicht ist das der Grund, warum keiner von uns mitbekommen hat, was Peter plante. Irgendwie muss er den Tod doch geplant haben? Oder war es eine Kurzschlusshandlung?”

Keiner der Besucher am Tisch antwortet auf die Frage. Reindorf schließt das Fenster.

Jetzt spricht Reindorf die Pfarrerin an:

“Aber Frau Pfarrerin, Sie wollten wissen, wie wir alle Peter gekannt haben, was wir von ihm zu sagen wissen. Vielleicht sollten wir zu dieser Frage zurückkehren?”

Die Pfarrerin:

“Bitte sprechen Sie ruhig weiter und bitte, bedienen Sie sich.” Die Pfarrerin weist erneut auf Tee und Kaffee auf dem Tisch.

Der Vorhang fällt.

6. Szene

Das Bühnenbild:

Am hinteren Bühnenrand: Ein großer Schreibtisch hinter dem Reindorf in einem großen Chefsessel sitzt. Auf dem Tisch ein Telefon, Zeitungen ein Laptop.

Die Schauspieler:

Reindorf ist solide gekleidet. Er trägt einen korrekt sitzenden Anzug und eine passende Krawatte. Eine stark geschminkte und heraus geputzte Sekretärin. Eine junge Sekretärin in einem Sommerkleid.

Der Vorhang öffnet sich

Reindorf sitzt hinter dem Schreibtisch, liest Zeitung, raucht eine dicke Zigarre. Er liegt im Chefsessel, die Füße auf dem Tisch.

Der Notator betritt die Bühne, geht zum Pult, setzt die Brille auf, blättert eine bestimmte Seite auf und liest vor:

“Sie haben es geschafft Herr Reindorf. Nach fünfzehn Jahren Arbeit als Verkaufsfahrer für die Firma Blattschneider sind Sie vor sechs Jahren in die Chefetage aufgestiegen. Ihr abgeschlossenes Pädagogikstudium haben Sie völlig vergessen. Sie hatten diesen Verkäuferjob angenommen. Das hatten Sie in Ihrer Biografie geändert, weil Sie mit Michaela und Ihrem gemeinsamen Kind zusammenleben wollten. Deshalb waren Sie damals der Meinung gewesen, dass Sie viel Geld verdienen sollten. Seit Jahren verdienen Sie sehr viel Geld. Sie lebten aber nur knapp ein halbes Jahr mit Michaela und Ihrem gemeinsamen Kind zusammen.“

Ein Telefon auf Reindorfs Schreibtisch läutet. Reindorf gibt die liegende Haltung im Chefsessel auf, nimmt die Füße vom Tisch, klappt die Zeitung zu und hebt den Hörer ab. Er spricht in freundlichem Ton:

“Selbstverständlich Herr Direktor Felbig, die Tischvorlagen für die elf Uhr Sitzung hat mir Fräulein Krähenbring schon rein gebracht, ich werde Sie beauftragen Ihnen eine Kopie nach oben zu bringen.”

Reindorf legt den Hörer auf. Auf seinem Telefon drückt er eine Taste. Aus dem Lautsprecher des Telefons hört man die Stimme einer Frau:

“Ja bitte Herr Reindorf, Sie wünschen?”

Reindorf in korrektem aber befehlendem Ton:

“Frau Krähenbring, bitte bringen Sie dem Direktor eine Kopie unserer Tischvorlage für die Elfer hoch!”

Aus dem Telefon:

“Jawohl Herr Reindorf, wird umgehend erledigt.”

Reindorf lehnt sich im Sessel zurück, studiert die Zeitung auf dem Tisch.

Wieder läutet Reindorfs Telefon. Diesmal lehnt er sich zeitungsknisternd nach vorne, schaut auf das Telefon, erkennt auf dem Display, wer dran ist und reißt den Hörer von der Gabel:

“Was ist den schon wieder Frau Krähenbring? Sie wissen doch, dass ich vor der Elfer nicht gestört werden will!”

Reindorf hört in den Hörer, der nicht mehr auf laut gestellt ist, liest dabei weiter Zeitung und pafft an der Zigarre.

“Diese gekündigte junge Chefsekretärin aus der Lohnbuchhaltung? Die hat noch was zu besprechen? Aber warum denn unbedingt mit mir? (Pause) Warum denn das? Mit der Kündigung ist doch alles klar! Um die Frau kann sich doch Huber kümmern!”

Reindorf will auflegen, aber:

“Ach so, nur noch ne Unterschrift? Huber ist krank? Na gut, bringen Sie die Unterlagen rein und schicken Sie die Sekretärin fünf Minuten später hinterher, ich kann auf keinen Fall zu spät zur Elfer mit dem Direktor kommen!”

Reindorf knallt den Hörer auf die Gabel, legt die Zeitung zusammen und verstaut sie in einer Schublade. Auf dem Schreibtisch öffnet er einen Aktendeckel und greift zu einem Federhalter. An der Tür klopft es.

Reindorf:

“Kommen Sie herein Frau Krähenbring!”

Sie bring Reindorf eine dünne Akte mit Unterlagen. Während sie an dessen Schreibtisch heran kommt meint Reindorf:

“Na, Sie sehen heute ja wieder besonders fesch aus Frau Krähenbring. Gehen Sie noch auf einen Ball ?”

“Das nicht gerade, aber in der Verkaufsabteilung gibt es um sechzehn Uhr einen kleinen Empfang. Sie wissen schon, wir haben doch mit dem Verkauf der neuen Serie die Zehnmillionen-Mauer durchbrochen.”

Reindorf:

“Ach klar, stimmt, der ehrgeizige Oberndorfer! Der Mann ist wirklich ein Verkaufsgenie! Der bringt es noch sehr weit, da bin ich mir sicher!”

Frau Krähenbring entfernt sich, während Reindorf die Zeitung aus der Schublade herauszieht. Diesmal legt er sie auf den Schreibtisch über die dünne Akte, welche die Sekretärin dort hin gelegt hatte. Reindorf sucht mit dem Zeigefinger eine bestimmte Stelle in der Zeitung. Er findet die Stelle, beugt sich dicht darüber, um besser lesen zu können, und sagt zu sich selbst:

“Unglaublich der Höhenflug dieser Aktie! Da hab ich jetzt schon wieder einige Tausender mitgenommen. Das kann eigentlich nicht mehr lange gut gehen.”

Jetzt nimmt er sich die dünne Akte vor. Er lehnt sich im Stuhl zurück, nimmt die Zigarre aus dem Aschenbecher, pafft daran und beginnt die Akte zu überfliegen. Plötzlich hält er inne. In der Akte hat er etwas entdeckt. Eilig drückt er seine qualmende Zigarre in den Aschenbecher. Reindorf erhebt sich mit geöffneter Akte vom Schreibtisch. Er überzeugt sich nochmal vom Inhalt der Seite, die er da aufgeschlagen hat. Jetzt läuft er zum Pult des Notators. Mit dem Zeigefinger deutet er auf eine Passage in der Akte und fragt:

“Aber was soll das hier? Das gibt es doch gar nicht!”

Der Notator ist überrascht, weil er so plötzlich von Reindorf in das Geschehen hineingezogen wird. Er tastet nach der Brille in der Jackettasche, setzt sie auf und wirft einen Blick in die Akte, die Reindorf ihm unter die Nase hält:

“Ich weiß nicht was Sie haben Herr Reindorf? Ich sehe hier nur den Lebenslauf einer jungen Dame. Es ist der Lebenslauf einer Sekretärin mit hervorragenden Abschlussleistungen, einer mehrsprachigen Qualifikation an einer internationalen Sekretärinnen-Schule und internationaler Sekretariatserfahrung. Eine hochqualifizierte Fachkraft.”

Der Notator deutet mit Händen, Schultern und Gesichtsausdruck, dass er die Aufregung Reindorfs nicht versteht. Reindorf tritt noch dichter an den Notator heran, der ihm die Akte bereits zurück gereicht hat. Reindorf hält dem Notator die Akte erneut unter die Brille:

“Aber sehen Sie denn nicht, der Geburtsname und der Vorname dieser Sekretärin, deren Geburtsdatum, der Geburtsort.”

Der Notator hält nun die Akte dicht unter die Brillengläser und liest. Jetzt gibt er Reindorf die Akte und blättert im Buch auf dem Pult sehr weit zurück. Dort überfliegt er einige Seiten. Reindorf, der immer noch am Pult steht, sieht den Notator erwartungsvoll an. Der Notator, dem die Nähe zu Reindorf, so dicht am Pult, offensichtlich zu eng wird, entfernt sich jetzt vom Pult. Er läuft einige Meter am Bühnenrand auf und ab. Weil Reindorf ihm aber hinterher läuft, kehrt er sofort wieder zum Pult zurück. Von dort spricht er Notator mit gewohntem, korrektem Ton:

“Auch das hatten Sie in Ihrer Biografie verändert Herr Reindorf. Sie haben mit Michaela eine Tochter gezeugt. Deshalb ist es heute, zwanzig Jahre später, nicht irgendeine Sekretärin, die Sie und Ihr Chef aus der Firma feuern.”

Der Notator schaut ins Buch und liest vor:

“Nach der Trennung, kurz nach der Geburt der gemeinsamen Tochter, war Michaela in eine weit entfernte Stadt gezogen. Sie wollte zurück in ihre Heimatstadt, denn dort lebte inzwischen deren Mutter. Die hatte einen Entzug gemacht und war geheilt. Michaelas Mutter fand in der Erziehung der Enkelin eine schöne Aufgabe, die ihr die Kraft gab, dem Alkohol nicht wieder zu verfallen. So konnte Michaela eine hochkarätige Ausbildung absolvieren, den deren Mutter unterstützte sie mit der Tochter. Später heiratete sie einen Kanadier, den sie in ihrer Heimatstadt kennenlernte. Die Familie lebte zwei Jahre in Kanada, bevor sie, inzwischen mit zwei Kindern, wegen des Berufs von deren Mann, zurück nach Deutschland und in die Stadt kam. “

Der Notator blättert in dem dicken Buch viele Seiten nach vorne. Er liest weiter:

“Sie Herr Reindorf, haben sich nie besonders für Ihre Tochter interessiert. Nie haben Sie sich um Kontakt bemüht. In deren Familie wuchs Ihre Tochter in besten Verhältnissen auf, um eine internationale Sprachenschule zu absolvieren und sich bestens als Chefsekretärin zu qualifizieren.”

Reindorf:

“Ja, ich weiß ich erinnere mich, ich musste mich in der Firma eine steile Treppe hinauf arbeiten. Ab und an kamen Kunstpostkarten, aber ich konnte mich nicht darum kümmern.”

Der Notator:

“Seit zwei Monaten arbeitet ihre Tochter in der Firma. Es ist deren erste Anstellung und immer noch haben Sie keinen Kontakt zu ihr. Herr Reindorf, vielleicht sollten Sie…”

Es klopft an der Tür des Büros.

Reindorf läuft mit der schmalen Akte zurück an den Schreibtisch. Er setzt sich in den Chefsessel und ruft:

“Ja bitte herein!”

Eine junge, zwanzigjährige Frau in einem Sommerkleid tritt ein. Die Ähnlichkeit dieser Frau mit der jungen Michaela aus Reindorfs Wohngemeinschaftszeit ist verblüffend. Reindorf springt sofort aus dem Sessel auf, kommt der jungen Frau entgegen und reicht ihr die Hand. Reindorf mit sicherer Stimme:

“Ich bitte Sie, setzen Sie sich.”

Reindorf bietet der Frau einen Stuhl vor seinem Schreibtisch an.

Reindorf fragt:

“Was bitte kann ich für Sie tun?”

Die Frau antwortet:

“Herr Reindorf, ich habe lange mit mir gerungen, das müssen Sie mir glauben, aber ich habe es mir wirklich nicht leicht gemacht, Sie heute aufzusuchen.”

Reindorf ist ein wenig verlegen:

“Aber bitte, kommen Sie doch zur Sache.”

Die junge Frau:

“Ich möchte Sie nicht um Rücknahme der Kündigung bitten, denn ich weiß, das alles ist entschieden.”

Reindorf lehnt sich im Stuhl zurück und nickt.

Die junge Frau:

“Ich weiß, dass ich in der Probezeit bin und Sie daher berechtigt waren, keine Gründe für Ihre Kündigung zu nennen. Trotzdem möchte ich Sie um eine Erklärung bitten, denn ich stehe in meinem Beruf noch am Anfang und ich möchte gerne aus der Erfahrung in Ihrer Firma lernen. Das kann ich aber nur, wenn ich etwas über die Gründe erfahre, denn ich möchte mich bemühen an meinem nächsten Arbeitsplatz nicht die gleichen Fehler wieder zu machen.”

Reindorf nimmt die dünne Akte vom Schreibtisch, blättert darin, sucht vergeblich nach irgendetwas, legt die Akte zurück und spricht zu der jungen Frau:

“Ihr Ansinnen verstehe ich sehr gut, doch es tut mir wirklich Leid. Wir haben eine Betriebsvereinbarung, an die ich mich unbedingt gebunden sehe. Sie verbietet mir, Ihnen nähere Auskünfte zu geben. Ich kann Ihnen nur so viel sagen: Es liegt keinesfalls in Ihrer Qualifikation. Daher bitte ich Sie, sich durch diese Erfahrung nicht entmutigen zu lassen. Ich möchte Sie sogar ermutigen, sich auf entsprechende Positionen Ihres Fachs intensiv zu bewerben und ich bin sicher, dass der Ausrutscher in unserem Betrieb…”

Reindorf unterbricht seine Rede, denn die junge Frau vor dessen Schreibtisch, hat sich von Reindorf abgewandt und weint leise. Reindorf steht auf und legt seine Hand auf die Schulter der jungen Frau. Die wehrt ihn sofort ab, springt vom Stuhl auf, ergreift ihre Jacke und eilt zur Tür. Mit weinerlicher Stimme ruft sie:

“Ach lassen Sie das doch! Nichts als Heuchelei ist das! Tun Sie doch nicht so, als hätten Sie nichts mit der Sache zu tun. Warum machen Sie das mit, was in ihrer Firma geschieht? Warum mischen Sie sich nicht ein? Wenn Sie schon ahnen oder gar wissen, dass meine Kündigung unberechtigt ist, dann tun Sie doch etwas!”

Die Frau verlässt Reindorfs Büro.

Reindorf tritt an das Pult heran:

„Können wir das rückgängig machen?“

„Was Herr Reindorf?“

„Alles.“

Der Notator blättert im Buch zurück. Er verweilt auf einer Seite:

„Sie haben Ihre Biografie verändert, Herr Reindorf. Damit sind neue Tatsachen entstanden, zum Beispiel Ihre gemeinsame Tochter mit Michaela. Michaela geht es mit dem Kanadier und ihren vier Kindern sehr gut. Sie möchte daran nichts ändern. Wenn Sie damals nicht das Wochenende mit ihr verbracht hätten, hätte sie den Kanadier nie kennen gelernt, denn sie war nur wegen der Erziehung der gemeinsamen Tochter zurück in ihre Heimatstadt gezogen, um dort die Hilfe ihrer Mutter in Anspruch zu nehmen. Michaela ist glücklich mit ihrem Mann und ihrer Familie, dazu gehört auch ihre Tochter. Das Glück von Michaela ist aber nicht Ihre Biografie, Herr Reindorf. Das können Sie nicht ändern.“

Reindorf fällt in seinen Stuhl. Sekundenlang sitzt er schweigend. Das Telefon läutet. Reindorf hebt ab:

“Ja, Frau Krähenbring, die elf Uhr Sitzung! Vielen Dank!” Reindorf legt den Hörer auf, erhebt sich, ergreift eine Akte und verlässt sein Büro.

Der Vorhang fällt für immer.