Die Entlassung – Erzählung

Die Entlassung – Erzählung von Bernd Thümmel

Bernado lebt 1983 in Traunstein. Dort bewohnt er ein kleines Dachzimmer im Haus von Frau Stößer. Die Traunsteiner Fachoberschule im Technischen Zweig gerät zu einer erschreckenden Lebenserfahrung, weil im Jahre 1983 dort vor allem Rausschmeißer als Lehrer beschäftigt sind. Das sind Leute, die sich selbst genug sind, sie wollen dass Schüler am besten gar nicht kommen.

Bernados Leben spielt zwischen dem Beobachten des Autowaschen am Samstag, Autofahrten in einem gelben Opel Kadett, dem Engagement auf einer Ferienfreizeit mit Kindern aus Traunstein, dem Wäschewaschen mit einem silbernen Ei an dem eine Handkurbel angebracht ist.

Mutter

Mutter

Nachmittags schickte die Mutter den Siebenjährigen zum Metzger. Sie gab ihm einen Zettel auf dem sie alles vermerkt hatte. In seine Geldbörse steckte sie aber kein Geld. Es waren Briefmarken, die sie da hinein tat. Das Geld war ihr am Tag zuvor aus gegangen, denn sie hatte viele Hefte gekauft. Eine langjährige Freundin hatte sie besucht. Beide lasen sich Vormittags gegenseitig aus den Heften vor. Mittags kaufte die Mutter der Freundin alle Hefte ab. Die Freundin trennte sich nur ungern davon, konnte der Mutter aber deren Wunsch nicht verwehren.

Täglich erleuchteten hunderte Kerzen die Kirche. Die Mutter und ihre Freundin hatten sie entzündet. Sie hatten in den Heften darüber gelesen, dass brennende Kerzen in der Kirche ein gutes Opfer an den Herrn seien. Das Opfer, die vielen Kerzen zu kaufen, so hatten beide das verstanden, sei vor allem dann besonders groß, wenn man so wie die beiden, nur wenig Geld besaß. Das sei ein gutes Opfer für den Herrn. Zu teilen oder her zu geben, wovon man nur wenig besitze, das liebe der Herr besonders. Herzugeben wovon man kaum besitze, verursache viel Schmerz, dessentwegen das Opfer erst ein dem Herrn würdiges Opfer sei.

Die Mutter glaubte fest daran, dass es eine Fügung des Herrn sei, dass sie ihre Freundin kennen lernen und so oft treffen durfte. Genauso war es eine Fügung des Herrn, dass die Freundin die Mutter in die Kirchengemeinde eingeführt hatte.

Sie war vor Jahren mit den drei Kindern und dem Vater in den Ort gezogen. Auch das war in den Augen der Mutter eine Fügung des Herrn, genauso wie der Ehemann, den der Herr der Mutter geschenkt hatte, so wie die drei Kinder.

Neben dem uralten Schloss, unweit des Schlossplatzes, hatte die Familie eine Wohnung im ersten Stock gefunden. Das war eine göttliche Fügung. Der Vater hatte auf eine Tafel im Rathaus des Ortes einen Zettel geheftet: „Familie sucht dringend kleine, preiswerte Wohnung“. Wochen später hatte sich beim Vater eine Frau gemeldet. Ihre Nachbarwohnung sei frei geworden und die Miete sei günstig. Sofort war der Vater zur Stelle und sorgte dafür, dass die Familien binnen weniger Wochen in den Ort umzog. Der Umzug verkürzte den Weg des Vaters zu seiner täglichen Arbeitsstelle in einer Konservenfabrik um eine knappe Viertelstunde. Das sparte nicht nur Zeit, sondern auch Geld, denn der VW-Käfer brauchte täglich weniger Sprit.

Die Metzgersfrau schickte den Buben nicht nach Hause. Stattdessen gab sie ihm von der Gelbwurst, die der Junge gierig verschlang. Sie griff zum Telefon und wählte die Nummer der Mutter. Die Nummer schien sie im Kopf zu haben. Der Bub beobachtete, wie sie mit rechts zackig die Wählscheibe traktierte, während sie mit der anderen Hand kräftig an der Fleischwolfkurbel arbeitete.

Zwanzig mal ließ sie es läuten. Die Mutter hatte das Haus bereits verlassen. Sie war mit der Freundin unterwegs zur Kirche. Die Metzgersfrau schlug den schweren Hörer klangvoll auf die schwarze Gabel. Sie stopfte einen Batzen roten Fleisches oben in den Fleischwolf und kurbelte weiter, während sie nun mit einem Holzpropfen das Fleisch in den glänzenden Trichter presste.

Mit dem Buben sprach sie kein Wort. Hinter der Verkaufstheke hatte sie ihm den Rücken zugewandt, griff immer wieder in den Fleischberg neben dem Fleischwolf, während sie mit der Rechten weiter kurbelte. Minuten später war der Fleischberg abgetragen. Die Reste kratzte sie mit den Händen zusammen, um auch sie in den Trichter zu stecken.

Schließlich wandte sie sich dem Jungen zu, der geduldig vor der Verkaufstheke wartete. Sie nahm den Zettel, den der Bub ihr gegeben hatte, und blickte angestrengt drauf. Schließlich begann sie von unterschiedlichen Würsten aufzuschneiden.

Der Metzger kam hinter dem Vorhang, rechts der Verkaufstheke hervor. Er sah den Jungen und warf deshalb einen grimmigen Blick zu seiner Frau. Die ignorierte das. Der Metzger verschwand mit einem großen Messer hinter dem Vorhang. Die Metzgersfrau packte den Aufschnitt in eine Papiertüte. Sie notierte einen Betrag in ein kleines Heft, das neben dem Telefon lag.

Der Junge nahm die Tüte und reichte der Metzgersfrau die Geldbörse, die die Mutter ihm mitgegeben hatte. Die Frau sah darin eine spärliche Anzahl von Briefmarken. Sie nahm nichts davon heraus, sondern gab die Börse dem Kind zurück. Der Bub verneigte sich jetzt fast. „Vielen Dank!“ Schon war er zur Tür hinaus, hüpfte auf dem Gehsteig am großen Ladenfenster vorbei. „Bis zum nächsten Mal!“ Das rief er ohne dass es die Metzgersfrau noch hörte, denn er hatte sich auf dem Gehsteig schon mehrere Meter vom Laden entfernt.

Der Weg nach Hause führte das Kind am Bäckerladen vorbei. Dort war Frau Mayer beschäftigt den Fußboden mit einer groben Bürste zu schrubben. Das tat sie jeden Mittwoch um diese Uhrzeit. Der Junge presste seine Nase an das große Fenster der verschlossene Ladentür.

Das Kind beobachtete Frau Mayer. Deren dicker Hintern bewegte sich in ihrem hellblauen Kittel hin und her. Die Frau kniete, bewegte die grobe Bürste in einem fort auf dem grauen Steinboden von rechts nach links. Sie klatschte die Bürste in einen großen Stahlkübel. Da spritzte Wasser heraus. Sie wrang einen grauen Lappen über dem Eimer aus. Mit dem wischte sie über die zuvor gebürstete Fläche. Den Lappen warf sie schließlich in den Metalleimer, rückte auf dem Boden einige Zentimeter rückwärts Richtung Ladentür, um den Lappen erneut auszuwringen. Der Junge presste die Nase fest an die Glasscheibe. Die Frau schlug die grobe Bürste spritzend in den Wassereimer. Der Bub klopfte an das Ladentürglas.

Als wüsste die Frau, dass der Bub schon minutenlang beobachtend auf dem Fußabstreifer vor dem Laden wartete, griff sie in ihre Kitteltasche. Dort fand sie den Ladentürschlüssel. Schwerfällig erhob sie sich. Lächelnd kam sie dem Jungen entgegen, nahm an der Tür eine braune Papiertüte, die sie dort in der Schaufensterauslage deponiert hatte. Klimpernd sperrte sie die Ladentür auf.
„Na, ist zu Hause alles in Ordnung?“
„Ja, ja“, nickte der Bub, der die Frau unbekümmert anlächelte.

Frau Mayer drückte dem Kind die Papiertüte in die Hand. Wortlos drehte sie sich um. Sie versperrte die Tür von innen und widmete sich weiter ihrer Putzarbeit. Der Bub presste nochmal sekundenlang die Nase an die Scheibe.

Er schlenderte, nun rechts und links beide Tüten schwenkend, Richtung nach Hause. Am Zeitungskiosk blieb er stehen. Dort weckten seine Blicke, die auf bunte Mickymaushefte trafen, Interesse nicht nur an den farbigen Bildern, die das Kind gierig aufsog, sondern dort wurden die neusten Geschichten mit Donald Duck angekündigt, die zu lesen ihm aber noch lange verwehrt blieben. Er verweilte vor der Auslage mit den Heften. Das neuste Heft wird sein Klassenkamerad Wochen später an den Buben ausleihen. Darauf freute er sich Minuten lang. Wie ein echter kleiner Kunde, der überlegte seine fünfzig Pfennige Taschengeld zu investieren, verweilte er vor der Glasscheibe. Hinter der waren Tick, Trick und Track mit deren aufgebrachten Onkel Donald zu sehen, wie sie von Onkel Dagobert angetrieben wurden. Dagoberts gieriger Dollarblick war auf eine golden Statue gerichtet, oben auf einem hohen Berg. Schweißgebadet versuchten alle diesen Berg zu erklimmen. Nie konnte der Bub so ein schönes Heftchen neu kaufen, denn Taschengeld bekam er keines. Seine Freude am Anblick des neusten Abenteuers in Entenhausen brachte ihm die Idee, zu Hause unter dem Bett zu sehen, welches der dort liegenden geliehenen Hefte seines Freundes lohnten, nochmal gelesen zu werden.

Der Junge folgte, diesen schönen Gedanken weiter ausmalend, seinem Weg vorbei an der Glaserei, über den Schlossplatz, wo er in einen hüpfenden Ausfallschritt verfiel. Das war die einzige Freude im Sportunterricht der Schule. Er hasste den Gestank in der muffigen Umkleidekabine und den kalten Gummigeruch der Turnhalle. Der Körpergeruch von vierzig Kindern, darunter er selbst, in der eisigen Kälte der Turnhalle, dazu die Gymnastikübungen der Lehrerin, die sie vorne an der Wand vorführte. Sie hatte alle Kinder im Blick, Verwarnungen an diejenigen heraus schreiend, die ihren Übungen nur mangelhaft folgten. Das hasste er bis zu dem Tag, als die Lehrerin plötzlich einen großen Kreis von Kindern und einen kleinen in der Mitte der Turnhalle bilden ließ. Dann begann sie zu klatschen und ließ die Kinder in einem hüpfenden Schritt, den sie vorführte, im Kreis laufen. Das war endlich eine lustige Übung, die dem Buben Spaß machte.

Beide Papiertüten hatte er fest im Griff. Seine Schritte wurden langsamer. Wenige Meter vor der Haustür war er stehen geblieben. Die Gedanken des Kindes an die Mikymaushefte waren verflogen. Das Kind drückte den Finger fest auf den Klingelknopf. Die Mutter öffnete nicht. Stattdessen ließ der jüngere Bruder den Buben herein.

Der Siebenjährige räumte die Metzgerwurst in den großen Kühlschrank. Danach setzte er sich an den Küchentisch. Dort schnitt er für die beiden Geschwister vom Brot ab, das Frau Mayer ihm mitgegeben hatte.

Abends bereitete der Bub den beiden Jüngeren das Abendbrot zu. Später las er aus einem Buch vor. Weil er in der Schule das Lesen noch nicht vollständig gelernt hatte, zeigte er den Brüdern Bilder aus dem Buch. Dazu erfand er Geschichten, die sich jedes Mal änderten. Die beiden jüngeren Brüder fragten nie, warum die Geschichten immer andere waren, während die Bilder dazu aber immer die gleichen blieben.

Autokauf

Der Motor lief ruhig. Die Tachoanzeige bewegte sich auf die Einhundert zu. Schneller wollte ich an diesem Tag keinesfalls fahren. Die Autobahn war finster. Die Beleuchtung des Wagens schimmerte in gelblichem Licht auf dem schwarzen Asphalt. Der weiße Mittelstreifen reflektierte die gelbe Scheinwerferbeleuchtung in einem matten Ton. Der schien so schwach zu sein, als drohte jeden Augenblick die Gefahr, er könnte erlöschen, genauso wie eine schwache Taschenlampe. Das Auto war zehn Jahre alt.

Baujahr zweiundsiebzig, aber Top in Schuss“, das hatte der stolze Verkäufer gerufen. Ohne mein Zutun schlug der Wagen aber permanent eine Rechtskurve ein. Der Verkäufer hatte das wohl nicht gewusst. Sein Sohn hatte nachts zuvor das Auto benutzt. Er hatte dem Wagen einen schweren Schaden zugefügt.

Die Lenkung des Autos war irreparabel defekt. Das Lenkrad hielt ich deshalb fest und sicher mit beiden Händen umgriffen. Der Wagen zog ständig nach rechts. Die Fahrzeugachse war verzogen. Die Reifen zeigten deutliche Spuren wegen der einseitigen Belastung, der sie durch das Gegenlenken ausgesetzt waren. Gegenlenken war nötig um das Auto in gerader Fahrtrichtung zu halten.

Der Verkäufer, ein bayerischer Vater in mittlerem Alter, hatte keine Ahnung davon, dass der Sohn nachts zuvor den Wagen gegen einen Randstein gesetzt hatte. Der Mann war sehr stolz auf seinen zuverlässigen, aber in die Jahre gekommenen Opel Kadett. Deshalb war er mir in dem Verkaufsgespräch richtig böse geworden. Schon nach wenigen Metern hatte ich den Verkäufer gefragt:

Was ist denn mit der Lenkung passiert?“

Der Mann war von der Verkehrssicherheit seines gelben Opel vollkommen überzeugt. Jahrelang hatte er das Auto selbst gefahren. Regelmäßig hatte er es gewartet, gepflegt und gehegt. Seit zwei Jahren benutzte sein Sohn das Auto.

Der Mann dachte, ich wollte ihn mit meiner Frage nach der Lenkung provozieren. Er glaubte, ich sei ein Autokäufer der versuchte einen besonders schlauen aber dummen Trick anzuwenden. Den Preis wollte ich drücken. Der Mann glaubte, ich war gekommen um seinen zuverlässigen Wagen zuerst schlecht zu reden und dann zu kaufen.

Solches hatte ich nicht im Sinn. Ich war überrascht vom Drang des Wagens auf die rechte Straßenseite. Ich hatte noch nie in meinem Leben ein Auto gekauft. Deshalb lag es mir fern, irgendeinen Trick anzuwenden. Der Mann war sauer geworden.

Sofort anhalten und aussteigen!“

Der Mann brüllte das in mein rechtes Ohr. Ich erschrak. Ich tat wie befohlen, setzte den Blinker nach rechts und steuerte an den Straßenrand. Dort stellte ich den Motor ab und stieg schnell aus.

Steigens aus, steigens aus!“

Das rief der Mann, obwohl ich schon ausgestiegen war. Wütend knallte er die Beifahrertür zu, umrundete den Wagen und blieb mit rot glühendem Kopf neben dem Auto stehen. Ich hatte mich inzwischen einige Meter entfernt.
„Such dir einen Anderen der dir was verkauft! Bei mir zieht das nicht!“

Der Mann riss die Fahrertür auf. Er warf mir einen wütenden letzten Blick zu. In seinem hochroten Gesicht sah ich wilden Zorn. Er schäumte vor Wut.
„Ich lass mich doch nicht von einem daher gelaufenen Schulbuben verarschen!“

So schrie mich der Mann durch das herunter gekurbelte Fahrerfenster an.

Der Wagen ist super in Schuss. 600 Mark sind fast geschenkt! Da brauch ich keinen Deppen, der mir einen Schmarrn von irgend einem Fehler an der Lenkung verzapft!“
Der Mann gab kräftig Gas. Er ließ den Motor laut aufheulen. So rauschte er davon.

Ich stand verdutzt am Straßenrand. Meine erste Probefahrt war beendet. Der Autokauf geplatzt.

Langsam lief ich am Straßenrand entlang. Sekunden lang dachte ich, dass ich mich geirrt haben musste. Die Lenkung musste in Ordnung sein. Ich hatte seit zwei Wochen kein Auto mehr gefahren. Der alte rote Fordtransit vom Jugendbüro, mit dem ich schon mehrmals Jugendliche in Wochenendferienhäuser gefahren hatte, fuhr keine automatische Rechtskurve.

Oder doch? Habe ich das bislang nicht bemerkt? Habe ich so wenig Fahrerfahrung, dass ich einfach vergessen habe, wie sich ein Fahrzeug lenkt? Ich dachte so und tapste langsam am Fahrbahnrand Richtung Bushaltestelle. Ich fand keine Erklärung.

Morgens war ich mit dem Linienbus aus Traunstein in den kleinen Ort gefahren. Telefonisch hatte ich mein Interesse am Kauf und der Probefahrt angemeldet. Vielleicht sollte ich das Autokaufen erst noch lernen? Mein Blick auf meine Armbanduhr sagte mir, dass laut Fahrplan in fünf Minuten der Bus zurück fuhr. Deshalb rannte ich los.

Nach einer engen Kurve erreichte ich die Bushaltestelle. Dort sah ich den gelben Kadett und den Verkäufer wieder. Außerdem sah ich da noch einen anderen Wagen stehen. Ein Mann war gemeinsam mit dem Verkäufer daran, mit Hilfe eines Abschleppseils und dem anderen Wagen, den gelben Kadett aus einem frisch gepflügten Acker zu ziehen.

Der Verkäufer war erst jetzt an der Bushaltestelle überzeugt, dass etwas nicht stimmte. Der Wagen fuhr automatisch nach rechts. Er hatte kräftig beschleunigt. Vorderradantrieb und Zug des Autos nach rechts. Das waren Kräfte, denen der Mann nicht gewachsen war. Das Auto war in der Kurve weit über den Fahrbahnrand hinaus geschossen.

Der Verkäufer war nicht mehr rot vor Wut. Seine Wut auf schien verflogen. Stattdessen war er käsebleich. Erst Tags zuvor sei er mit dem Auto zum Einkaufen gefahren. Da sei mit dem Auto noch alles in bester Ordnung gewesen.

Ich durfte die Probefahrt, in dem nun vom Acker verdreckten Kadett, fortsetzen. So stellte ich fest, dass sich der Wagen ganz normal fuhr. Während der Fahrt sprach ich kein Wort mehr mit dem Mann. Der wischte sich mit einem grünen Stofftaschentuch die Stirn. Das Auto wollte nur gemächlich beschleunigt werden. Abgesehen von der Lenkung war der Wagen aber völlig in Ordnung.

In seinen Augen und seinem Gesicht erkannte ich, dass der Sohn des Mannes seinen Rausch noch nicht richtig ausgeschlafen hatte. Der bleiche Vater hörte seine Geschichte. Gegen fünf Uhr früh war er in dem beschädigten Fahrzeug nach Hause gekommen. Seine Hände waren noch schwarz von Wagenschmiere. Den ruinierten Reifen hatte der Sohn am frühen Morgen mühsam abmontiert und im Kofferraum verstaut.

Die kaputte Lenkung und der demolierte Reifen halbierten den Kaufpreis. Für dreihundert Mark und war ich 1982 stolzer Besitzer eines Autos geworden.

Zuhause

Die Mutter war abends oft erst sehr spät aus der Kirche zurückgekehrt. Er hörte sie kommen, als die Geschwister schon im Bett lagen. Polternd stieg sie die Treppe hinauf. Ihren Schlüssel warf sie in ein Fach neben der Küchentür. Sie verschwand in die Küche. Schnell war wieder Ruhe eingekehrt.

Die Mutter hatte vom restlichen Haushaltsgeld mehrere hundert Kerzen gekauft. Mit denen war sie in die Kirche gegangen, um sie dort alle aufzustellen und ihren geliebten Heiland zu ehren. Den Abend verbrachte sie in einer Art Dämmerzustand betend vor dem Altar. Später fühlte sie sich vom Hausmeister der Kirchengemeinde bedroht, weil der sie mit sanfter Gewalt vor die Kirchentür befahl, um das Gotteshaus für die Nacht abzusperren.

Stundenlang harrte die Mutter deshalb auf den Treppenstufen vor der Kirche aus, ohne sich ihrer kleinen Kinder zu erinnern. Die hatten den Tag zu Hause allein, völlig ohne Versorgung zugebracht. Nachbarn waren wegen Geschrei aus der Wohnung auf die Kinder aufmerksam geworden.

Die Nachbarin versorgte die Kinder an ihrem Küchentisch mit einem warmen Abendessen. Sie verständigte die Polizei, die sich auf die Suche nach der vermissten Mutter machte. Die Kinder wurden von der Nachbarin abends um halb sieben Uhr dem Vater übergeben, als der von der Arbeit nach Hause gekommen war. Die Mutter wurde gegen einundzwanzig Uhr von einer Polizeistreife auf den Treppen vor der Kirche entdeckt. Sie war nicht ansprechbar. Sie weigerte sich, den Ort an dem sie sich ihrem verehrten Heiland am nächsten fühlte zu verlassen. Von den Beamten wollte sie sich nicht nach Hause bringen lassen. Ein Notarzt brachte sie schließlich in eine Klinik.

Die Kapelle in der Klinik war sehr klein. Sie war voll von Menschen. Die Mutter konnte diese Nähe nicht lange ertragen. Sie hatte eine andere Vorstellung davon, wie der Herr zu ehren sei. Eine Menschenmenge in einer winzigen Kellerkapelle konnte dabei niemals von Nutzen sein. Es hatte in Ruhe und Einsamkeit zu geschehen. Danksagungen an das Leben für das geschenkte Glück von drei Kindern und einem arbeitsamen Ehemann, konnten den Herrn nicht erreichen, wenn dreißig Menschen einen kleinen Raum füllten und gemeinsam beteten. Der Herr sollte einzig und allein ihrer sein. In den Sekunden ihres Danks wollte sie dem Herrn stets allein gegenüber stehen. Wie schon so oft verließ sie deshalb auch diesmal die Klinik nach wenigen Tagen.

Der Jüngste, vor Tagen drei Jahre alt geworden, hatte von früh Morgens bis spät abends immer wieder quälende Schmerzen. Er weinte den Tag lang in Schüben, die wenn sie sekundenlang vorüber gegangen waren, sich langsam erneut ihren Weg bahnten. Schmerz zog vom aufgedunsenen Magen des Kleinen hinauf in dessen trockenen Mund. Jede Menge Papierfetzen hatte das Kind verschlungen. Die Wände in dem Kinderzimmer waren leer. Nur ein Bild hing da. Doch das Kind vermochte nicht hinauf zu greifen. Zwei Stunden lag der Kleine schreiend auf dem Rücken. Stechender, quälender Schmerz zog vom ausgetrockneten Mund die Speiseröhre hinab in den Magen. Der aufgequollene Bauch des Kindes schmerzte wie nie zuvor.

Die Mutter war mit den beiden Geschwistern zur Tante gefahren. Die Tante glaubte, die Freundin würde sich um den Jüngsten kümmern. Der Vater war tagelang auf Montage einer riesigen Werkshalle, die im Hafen an der See neu errichtet wurde. Er hatte eine neue Anstellung gefunden. Der Bau der Werkshalle war eine erste Bewährungsprobe.

Die Mutter hatte sich entschieden. Es war ihr schwer gefallen, doch sie hatte sich befohlen, für den Herren ihr Glück zu beschneiden. Nach Jahren in der Gemeinde war sie endlich soweit. Sie wollte sich selbst und dem Herrn gegenüber einen endgültigen Beweis erbringen. Ihr Opfer sollte schmerzlich sein. Nur großer Schmerz bewies die Wahrheit, die in ihrem tiefen Glauben steckte.

Der Dreijährige war bewusstlos, als er in die Intensivstation der Klinik eingeliefert wurde. Der Kampf um sein Leben schien anfangs aussichtslos. Die Ärzte gaben alles um das Kind zu retten. Nachts um vier Uhr brachten sie das Kind per Hubschrauber in eine Spezialklinik.

Morgens um sieben Uhr läutete es an der Wohnungstür. Die Tante hatte gerade das Teewasser vom Herd genommen. Die Beamten sprachen kaum, sie folgten der Tante in die Küche, wo sie am Tisch die Geschwister sahen. Beide tranken warme Milch und aßen süße Brote mit Marmeladenaufstrich.

Die Mutter betrat die Küche nicht mehr. Am Treppenabsatz zum ersten Stock des Hauses, wurde sie von einem Beamten begrüßt. Der Bub war vom Frühstückstisch aufgestanden. Durch einen Spalt der angelehnten Küchentür sah er die Mutter. Sie sprach kein Wort. Die Tante, neben der Mutter stehend, war blass geworden. Die Beamtin fragte die Mutter etwas, die antwortete aber nicht. Sie senkte den Kopf nach unten, so dass die frisch gewaschenen Haare ihr Gesicht verbargen. Die Mutter wurde von den zwei Beamten zur Haustüre hinaus begleitet. Die Tante nahm die Hand vor den Mund.

Schnell setzte sich der Bub zurück an den Küchentisch zu seinem Bruder. Er biss von seinem Marmeladebrot ab und trank aus dem Milchbecher. Die Tante kam, begleitet von einer Beamtin in die Küche. Beide setzten sich zu den Kindern. Die Tante begann zu sprechen. Der Bub hörte aufmerksam zu. Der jüngere Bruder fragte, ob er noch einen Becher Milch bekommen könnte.

Autofahrt

Von Traunstein bis Berchtesgaden, wo ich damals gelebt hatte, sind es knappe fünfzig Kilometer. An Wochenenden war ich im Jahr 1982 und 1983 manchmal dorthin unterwegs. Ich fuhr gerne auf der kurvigen Landstraße über Teisendorf, Piding und Bad Reichenhall. Das war eine schöne Strecke. Die Leute verstanden nicht, dass ich nicht die Autobahn nahm. Meine Bekannten und Freunde waren größtenteils darauf getrimmt, so schnell als möglich von Punkt A nach B zu kommen. Ich hatte es nicht eilig, denn ich lebte in Traunstein allein zur Untermiete bei meiner Vermieterin Frau Stößer.

Ich hatte nur wenige Freunde. Alle waren in ihren Familien eingebunden. Das war mir fremd, denn ich bewohnte einsam ein Dachzimmer im Haus von Frau Stößer. Die empfing oft laute Freundinnen, die gemeinsam auf der Terrasse im Garten bei Kaffee und Kuchen saßen. Das beobachtete ich gezwungenermaßen, denn ich wohnte oben und das Haus war zwar ein Neubau, doch trotzdem so hellhörig, dass ich selbst die Telefonate, die Frau Schlösser täglich im Erdgeschoss führte, nicht ausblenden konnte. Am Wochenende war ich meist allein, während meine Bekannten in ihren Familien ihrem deutschen Wochenendalltag nachgingen.

Auf manchem Spaziergang durch Traunstein beobachtete ich, wie das deutsche Wochenende ging. Es war die wöchentliche Autowäsche vor der Einfamilienhaustür, Besuch der Groß- oder Schwiegereltern zum Sonntagskaffee und der gemeinsame sonntägliche Kirchenbesuch. Abends folgte der Fernsehabend oder ein familiärer Theaterbesuch im Volkstheater oder dem klassischen Konzert im nahe gelegenen Salzburg. Ein vereinsamter junger Mensch wie ich, gewann auf seinen Spaziergängen durch die kleine Stadt das Gefühl, dort wie ein Verbrecher herum zu schleichen, der nicht am Leben teilnahm, dessen Strafe es wohl war, ausgeschlossen zu sein. Dabei errang er unfreiwillig einen geschärften Blick für das, was an familiärem Leben hinter beleuchteten Fenstern und auf den Straßen und Plätzen geschah. So gesehen wirkte die von mir gefühlte Strafe meines Alltag in Traunstein doppelt. Es reichte nicht dass ich allein lebte, nein ich konnte mit dem Leben vor meinen Augen nichts anfangen.

Ich war achtzehn Jahre jung, lebte allein in einem Ort, den ich mir ausgesucht hatte ohne ihn zu kennen, hatte kein Geld, weil ich mir von meinen monatlich 700 Mark, die ich als Fall des Jugenwohlfahrtsgesetzes erhielt, neben der Miete von 250 Mark an Frau Stößer noch diesen gelben Opel Kadett leistete. An den einsamen Wochenenden lief ich wie ein leiser Storenfried in der beschaulichen und wie ich vielfach fand spießigen deutschen Welt umher. Ich wandelte ziellos durch die Kreisstadt Traunstein um zu sehen, ob dort nicht doch etwas war, dem ich mich anschließen konnte, um das Gefühl der Isolation in der Bayerischen Provinz wenigstens ein bisschen zu entschärfen. In Traunstein aber fand ich damals nichts, was mich interessierte. Mich interessierte der Bauernmarkt nicht, die Bauernmalerei in den Läden wollte ich mir nicht ansehen, ich kaufte nur das nötigste bei einem Discounter ein, ich hatte niemanden, der mich ins Kino, für das ich ohnehin kein Geld hatte, begleitet hätte. So blieb es Wochenende für Wochenende bei Spaziergängen mit auf Dauer immer den gleichen Beobachtungen. Wenn ich mal nach Berchtesgaden fuhr, war das etwas besonderes. Ich hatte Zeit, um mit dem gelben Opel gemütlich die Landstraße zu nehmen, denn ich wollte das Fahren, das ich mir von meinem Lebensunterhalt absparte erleben und genießen.

Heute ist die Strecke von Traunstein nach Berchtesgaden zu einer breiten Rennstrecke ausgebaut. Vor wenigen Wochen war ich dort, wollte aus „Nostalgiegründen“ nochmal auf früheren Wegen fahren. Die Strecke ist so breit ausgebaut, dass ich sie nicht wieder erkannte.

Es trifft das Wort, dass man Orte oder in diesem Fall Wege, die man in bestimmter Erinnerung hat, heute nicht mehr besuchen sollte. Ich finde auf dem Weg nichts als Raserei von riesigen panzerartigen Autos. Es macht keinen Sinn zu versuchen die Abzweigung zu finden. An ihr hatte ich damals bei meinem Umzug von Berchtesgaden nach Traunstein gestoppt. Der geliehene Peugeot war völlig überladen. Trotzdem hielt ich wegen eines Trampers an. Der war mit einem platten Fahrrad unterwegs. Wegen ihm lud ich mein Mobiliar am Straßenrand aus und wieder ein, um im kleinen grünen Peugeot noch Fahrrad und Tramper unter zu bringen. Manfred war der erste neue Freund, auf den ich 1982 traf.

Vater

Er war vor zehn Jahren 1973 in seinem Käfer auf genau dieser Autobahnstrecke unterwegs gewesen. Während ich im gelben Opel Kadett, das nach rechts strebende Lenkrad fest hielt, stellte ich mir vor, dass der Vater Zigaretten rauchend am Steuer gesessen war. Ich steckte mir eine Kippe an. Mein Vater rauchte „Kurmark“. Das ist eine Zigarettensorte, die ich seit zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte, den seitdem hatte ich den Vater nicht mehr gesehen. Ich kannte außer ihm niemanden, der das Zeug rauchte. Erst als ich zwanzig Jahre später 2002 die Wohnung des toten Vaters zusammen mit meinem Bruder betrat, um dort zu sehen, wie viel Arbeit wohl notwendig war, um die Wohnung zu räumen und zu renovieren, um sie dem Vermieter zu übergeben, sah ich „Kurmark“ wieder. Der Vater hatte sie offensichtlich bis zu seinem Tod, im Alter von Vierundsiebzig, geraucht.

Das erinnerte mich daran, wie er die Kippenschachtel aus der Hemdtasche zog, während er das Käferlenkrad hielt, den Zigarettenanzünder drückte, aus der Schachtel eine Kippe schüttelte, sie mit dem Mund aufnahm, die Schachtel zurück in die Hemdtasche schob um mit dem Anzünder die Kippe zum Qualmen zu bringen. Ich sah ihn, wie er aufmerksam durch die Gläser seiner dicken Hornbrille blickend, den Kilometerstand des Käfers stets berechnend, wissend, wann der nächste Ölwechsel fällig würde, genau darauf achtete, nicht schneller als hundert Stundenkilometer zu fahren, um den geringst möglichen Spritverbrauch bei gleichzeitiger Schonung des Käfermotors herauszufahren.

Obwohl ich ihn, während der Fahrt auf der Autobahn, wie früher vor mir sah, fand ich das frühere Gefühl für den Vater nicht wieder. Es hatte mich damals hin und her geworfen. Es warf mich oft beinahe um, denn ich schwankte zwischen Sicherheit und Unsicherheit. Ich sah hinauf zu ihm. Aber ich sah damals nicht, welche Dinge der Vater wichtig fand.

Trotzdem forderte er stets Begründungen für alles. Was ich tat musste einen Grund haben, der den Vater zufrieden stellte. Gründe für den Vater zu finden war zu einer meiner wichtigsten Aufgaben geworden. Der Vater verlange das ohne Worte. Es war selbstverständlich. Später, als der Vater schon lange für immer weg war, ertappte ich mich oft immer noch bei der Frage: Was sagst du dem Vater? Wie begründest du ihm das, was du gerade tust oder gerade zu tun gedenkst?

Auch 1982 auf der Autobahn im gelben Opel Kadett kam plötzlich diese Frage. Ich antwortete, dass ich fuhr, um an diesem Wochenende meinen Bruder zu besuchen, der in der Nähe von Vaters Wohnung lebte, während ich weit vom Vater entfernt wohnte, in Traunstein, nahe Berchtesgaden, wo er uns Geschwister früher manchmal besucht hatte.

Berchtesgaden: Das waren für mich die siebziger Jahre. Es war die Zeit meiner Kindheit. Mein Leben beim Vater war für mich bereits nach einem Jahr 1974 vorbei, denn bei ihm war alles schief gelaufen. Ich verstand deshalb nicht, warum mich der Vater 1983 im Kopf, während ich im gelben Kadett saß, um nach Heilbronn zu fahren, immer noch beschäftigte indem er fragte, was ich heute aus welchem Grund gerade in diesem Augenblick tat.

Ich antwortete ihm: Es ist weit, das weißt du doch, es ist beinahe die gleiche Strecke, die du selbst früher gefahren warst, als du uns im Kinderheim auf dem Obersalzberg bei Berchtesgaden besucht hattest.

Um den Lebensunterhalt für die Familie zu verdienen hatte der Vater von früh morgens bis abends täglich in einer Maschinenfabrik gearbeitet. Jeden Morgen, meist war es noch dunkel, warf er hinter dem Haus den Käfermotor an. Er fuhr in die Fabrik, während seine Kinder noch fest schliefen. Abends, wenn der Vater wieder nach Hause kam, waren die Kinder, außer mir dem Ältesten, schon im Bett. Der Vater ließ sich stets schwerfällig am Abendbrottisch nieder. Er erzählte vom schweren Fabrikarbeitstag, während die Mutter und der Älteste schweigsam am Tisch saßen und aufmerksam zuhörten.

Gerne hätte der älteste Bub dem Vater davon erzählt, was er Nachmittags bei der Bäckersfrau oder der Metzgersfrau erlebt hatte. Das waren eigentlich immer die gleichen Erlebnisse. Der Bub glaubte, er würde den Vater am Abendbrottisch damit langweilen. Es war damals nicht üblich, dass ein Bub am Abendbrottisch begann, den Vater mit seinen Geschichten zu belästigen. Die Mikymaushefte, die er Nachmittags am Kiosk gesehen hatte, die Geldbörse mit Briefmarken, mit der er von der Mutter zu Frau Mayer geschickt worden war, das gelbe Heftchen in das die Metzgersfrau den Betrag notiert hatte, die Freundin der Mutter, die Nachmittags mit ihren Heften zu Besuch gekommen war, der Pfarrer, der Abends angerufen hatte, um zu fragen, ob die Mutter endlich wieder zu Hause angekommen sei, das alles konnte der Bub am Abendbrottisch nicht berichten. Es wären Berichte und Geschichten aus dem Alltag gewesen, die der Vater Abends nicht hören wollte, denn er war Abends immer zu Müde, er hatte den ganzen Tag schwer gearbeitet.

Für den Alltag zu Hause war die Mutter zuständig. Darin war der Vater von der Mutter aber schwer enttäuscht worden. Das bemerkte der Vater viel zu spät, denn er war ja immer in der Arbeit und am Abendbrottisch wollte er nichts hören. Die Kinder blieben tagsüber meist allein in der Wohnung zurück, während die Mutter in der Kirche Kerzen entzündete oder bei der Freundin Hefte mit der Aufschrift „Der Wachturm“ kaufte. Deshalb war die Nachbarin zu einer beinahe täglichen Anlaufstelle für die Kinder geworden. Daran, dass die Kinder im Heim auf dem Obersalzberg leben mussten, war die Mutter schuld. Das erklärte er 1974, als er die Kinder aus dem Heim holte. Bei ihm war dann aber alles schief gegangen. Die Kinder kamen schon nach einem Jahr zurück auf den Obersalzberg. Der Vater war immer zur Arbeit gegangen.

Ich fuhr einen Teil der Strecke, welche der Vater damals gefahren war. Ich tat das, um meine innere Vorstellung dorthin zu bringen, wo der Vater damals mit seinem weißen Käfer unterwegs gewesen war. Abends zuvor hatte ich mich entschlossen, morgens sehr früh aufzustehen, so wie es der Vater damals tat, wenn er uns auf dem Obersalzberg im Kinderheim mit seinem weißen Käfer besuchte.

Bei Dunkelheit war ich losgefahren. Im Osten sah ich einen langsam heller werdenden Schimmer am Horizont. Im Radio hörte ich etwas von der neuen Bundesregierung. Die alte Regierung war im September des Jahres zuvor im Rahmen eines sogenannten Misstrauensvotums abgesetzt worden. Ich hörte aus dem Radio, dass die neue Regierung jetzt plante die Bafögzahlungen an Studenten auf Darlehensbasis umzustellen. Das bedeutete, dass ich Geld, welches ich für mein Studium von diesem Staat erhoffte, wieder zurück zu bezahlen hatte.

Eine völlig normale Sache. So stellte mir deshalb meine Schulden vor. Ich sah, wie sie in den Jahren des Studiums zu einem hohen Berg anwuchsen. Das Studium würde ich noch besser planen, als ohnehin geplant, denn es müsste zwingend erfolgreich, vor allem aber sehr schnell verlaufen, um am Ende möglichst wenig Schulden beim Staat wegen des Bafögs zu haben.

Ich lauschte den Worten eines Regierungsmitglieds aus dem Radio. Ich drehte den Mann lauter, um das Motorengeräusch des Autos zu übertönen. Der Politiker begründete das Vorhaben. Dessen Worte bestanden im Prinzip darin, ein bekanntes Sprichwort auszulegen: Noch nie habe die Jugend in diesem Land so viele Chancen gehabt wie heute. Viele junge Menschen nutzten ihre Chancen aber gar nicht. Sie zögen es stattdessen vor, einfach vor sich hin zu „gammeln“. Was der Mann damit genau meinte, war nicht klar. Er sprach von „jugendlichen Gammlern“, als gehörte dieser Begriff zum alltäglichen Sprachgebrauch. Ich fand dessen Worte eher ungewöhnlich. Er meinte einfach, dass jeder seines Glückes Schmied sei.

Doch das sagte er nicht, stattdessen so der Mann, sei das „Gammeln der Jugend“ keinesfalls auf Staatskasse möglich. Jahrelang hätte die sozialliberale Vorgängerregierung junge Menschen studieren lassen, die mit Bildung eigentlich nichts am Hut hätten. Die Studienzeiten seien deshalb arg in die Länge gezogen worden. Wer aber Bildung ablehne oder dieser nicht zugänglich sei, sollte gefälligst arbeiten anstatt zu studieren. Solche jungen Leute sollten sich Bildung angemessen verdienen, indem sie zunächst bewiesen, dass sie es wert seien, sie überhaupt zu erwerben.

Mich beschlich das Gefühl, ich gehörte zu denjenigen, die sich den Erwerb von Bildung nicht mehr lange leisten können. Aber darüber sprach der Politiker nicht. Der Mann meinte, dass junge Leute wie ich, wegen deren Probleme, sich deren eigenes Glück selbständig zu schmieden, keine erwünschten Studenten in diesem Land waren.

Ich schaltete das Radio aus.

Kinder

Der Bub hatte den Jungen geschlagen. Er wollte dass sein Bruder das Geburtstagspäckchen, das die Tante geschickt hatte, alleine öffnete. Der Junge aber hatte trotz Warnungen des Buben nicht aufgehört, den kleinen Bruder von der Holzbank hinter dem Tisch weg zu schubsen. Er stieß den Kleinen beiseite, begann sich an den Paketschnüren, die das braune Paketpapier umschlossen, zu schaffen zu machen, während er dem Kleinen gehässige Blicke zuwarf.

Der Bub konnte das nicht zulassen. Er konnte nicht dulden, dass ein anderes Kind das Geburtstagspäckchen seines kleinen Bruders öffnete. Der Bub hatte den Jungen schon zweimal von dem Paket weg geschoben. Beim zweiten Mal hatte er ihn kräftiger als beim ersten Mal von der Holzbank gestoßen. Doch die Warnung reichte dem Jungen nicht.Trotzdem versuchte der nochmal, sich über das Geburtstagspäckchen des Bruders herzumachen. Das machte den Buben wütend. Er griff den Jungen an den Armen, riss ihn von Paket und Tisch weg, versetzte ihm einen festen Hieb in den Magen, um damit ein eindeutiges Signal zu setzen, dass nun endgültig Schluss sei. Der Schlag war für den frechen Jungen zu viel, er übergab sich. Er spie alles von sich, was er zuvor am Mittagstisch eilig verschlungen hatte.

Deshalb wurde nun eine Erzieherin aufmerksam. Sie tröstete den Jungen. Den Buben identifizierte sie als Streithahn, der gewalttätig geworden war und bestraft werden musste. Deshalb ordnete sie nächtlichen Kellerarrest an. Wer so brutal sei, so erklärte sie, müsse die Nacht im kalten Keller verbringen. Zuvor aber sollte der Bub den restlichen Nachmittag allein im Zimmer sitzen. Deshalb durfte er dem jüngeren Bruder nicht zusehen, wie der endlich in Ruhe sein Geburtstagspäckchen auspackte.

Zur Strafe gehörte auch, dass für den Buben das Abendessen ausfiel.

Den Nachmittag war langweilig, der Bub lief zwischen den Stockbetten auf und ab. Er musste sich bewegen denn er war in einem Fußballspiel auf der Wiese hinter dem Haus eingeplant gewesen. Das Spiel verfolgte er vom Zimmerfenster aus. Einige Szenen spielte er zwischen den Stockbetten im Zimmer nach. Dabei benutzte er einen unsichtbaren Fußball, der nur in seiner Phantasie existierte. Sein jüngerer Bruder spielte in einer Mannschaft, die auf einem kleineren Spielfeld im rechten Teil der Wiese kickte. Auch aus dessen Spiel hatte er zwischen den Stockbetten die jeweils spannendste Spielszene nachgespielt.

Um fünf Uhr Nachmittags war es draußen auf der Fußballwiese ruhig geworden. Der Bub legte sich gelangweilt auf sein Bett. Die Gipsschale mit den Gurten versteckte er zuvor in der hintersten Ecke in seinem Fach in dem riesigen Kleiderschrank. Der Arzt hatte ihm die Rückenschale vor Monaten verordnet. Seither musste er sie jeden Abend umbinden. Er wurde jede Nacht gezwungen mit ihr auf dem Rücken liegend zu schlafen. Das wurde von einer Erzieherin kontrolliert.

Der Schrank war ein schlechtes Versteck, aber ein anderes gab es in dem Zimmer nicht. Er hoffte darauf, dass wenn ihn abends die Erzieherin mit seiner Bettdecke in den Keller schickte, vielleicht die Gipsschale in Vergessenheit geriet, weil die Erzieherin sie nicht auf seinem Bett liegen sah.

Er hasste die Nächte im Keller. Das Einschlafen in der harten Schale auf der Holzbank war immer sehr schwierig. Meist fror er trotz der Bettdecke auf der kalten Kellerbank. Die Bank war so hart, dass er auf ihr in der Schale liegend, immer wieder von Schmerzen geplagt aufwachte. Die Kälte des Kellers war mit dem Erwachen sofort spürbar. Die Nacht brachte viele blaue Flecken, die schmerzten tagsüber an den Knochen.

Bis neuen Uhr abends hatte der Bub allein in dem finsteren Zimmer gewartet. Die Stockbetten malten an der Wand krakelige Schatten im Licht, das über den Hof durch das Fenster einfiel. Um halb neun Uhr war der Mond aufgestiegen. Licht von unten aus dem Hof mischte sich mit Licht vom Mond, so dass er die Schatten an der Wand doppelt sah.

Um Punkt neun Uhr ging das Licht in dem Zimmer an und der Lärm begann. Sechzehn Kinder rannten auf und ab, suchten Schlafanzüge und warfen Kleidung auf Holzstühle, die gegenüber dem großen Schrank, rechts von den Stockbetten, aufgereiht standen. Jetzt verhielt er sich, als gehörte er dazu, als sei die Bestrafung bereits abgegolten. Er zog seinen Schlafanzug an, legte seine Kleider auf seinen Stuhl und rannte gemeinsam mit den anderen Kindern zum Waschen und Zähneputzen in das riesige Badezimmer. Zurück im Zimmer, legte er sich wie alle anderen Kinder in sein Bett.

Um halb zehn Uhr erschien die Erzieherin vor seinem Bett. Sie riss ihm die Decke vom Körper. Er sprang sofort aus dem Bett.

Wo ist deine Gipsschale?“, schrie die Erzieherin, sie starrte auf die leere Matratze im Bett. Der Bub rannte sofort zum Schrank und holte die Gipsschale heraus. Er hörte gemeinsames lautes Lachen von fünfzehn Kindern. Die Gipsschale unter dem Arm, folgte er der Erzieherin.

Der Keller lag zwei Stockwerke tiefer. In ihm hingen feuchte Regenjacken an einer langen Reihe von Haken. Darunter war an der Wand eine Holzbank angeschraubt. Sie diente als Sitzbank, um sich die Straßenschuhe, die unter ihr standen, anzuziehen. In der auf den Rücken gebundenen Gipsschale musste er dort liegen. Nachts um halb eins kam sein kleiner Bruder. Er brachte drei Scheiben Brot vom Abendbrottisch. Der Bub freute sich, umarmte den Kleinen und aß gierig.

Er begleitete den kleinen Bruder nach oben in dessen Schlafsaal. Der Kleine war das Risiko eingegangen in dem riesigen Haus unterwegs aufgehalten zu werden. Nachts machten Erzieherinnen Kontrollgänge. Der Kleine wäre bestraft worden. Deshalb ging der Bub mit, denn auch diese Strafe hätte er auf sich genommen. Das Brot war ein Diebstahl. Es war verboten Brot vom Essenstisch mitzunehmen. Das war eine Grundregel.

Weil der Kleine dem Buben trotzdem immer Brot in den Keller gebracht hatte, waren die Geschwister von den Heimkindern „Diebesbande“ genannt worden. Wenn etwas als gestohlen gemeldet worden war, wurde der Schrank des Buben von einer Erzieherin durchsucht. Nie fand sich etwas. Der Kleine stahl nur essbares vom Abendbrottisch und von Tellern, die nach dem Abräumen zurück in die Küche gebracht wurden.

Nachts waren die Rückenschmerzen in der harten Gipsschale unerträglich geworden. Nach der ersten Kontrolle der Erzieherin, die wohl glaubte er schlafe, riss er sich die Gipsschale vom Leib. Er versteckte sie einige Meter entfernt, dort wo die Jacken hingen. Er verbarg sie hinter einer gelben Regenjacke an der Wand. Ohne der Schale schlief er auf der Seite liegend auf der schmalen Holzbank ein.

Plötzlich wachte er auf. Es war eiskalt. Er zitterte am ganzen Körper. Die Decke war verschwunden. Die Schlafanzughose war nass. Wieder hatte er geträumt, dass er auf der Toilette sei. Wohl deshalb hatte er es laufen lassen. Zitternd tastete er Hemd und Schlafanzughose ab. Das Hemd klebte nass und eiskalt an seinem Körper. Er richtete sich auf der Holzbank auf. Wo war seine Bettdecke geblieben?

Er sah sich in dem dunklen Keller um. Da erkannte er die beiden. Zwei standen vor dem Kellerfenster nahe der Treppe. Einer der Zwei trug einen Eimer in der Rechten. Jetzt hörte er deren Lachen. Er hatte nicht eingenässt. Beide Burschen haben einen Eimer Wasser über ihn geschüttet. Dreckig lachend rannten die zwei die Treppe hinauf. Der Bub suchte nach der Bettdecke. Die hatten sie ihm offenbar weggerissen. Der nasse Schlafanzug tropfte. Er fand sie in einer Ecke. Sie war trocken.

Monate zuvor war er schon einmal nachts im Keller von einer eisigen Wasserfontäne übergossen worden. Da hatte er nicht so fest geschlafen und konnte den Tätern rechtzeitig die Gipsschale zuwenden. Er war kaum nass geworden. Das hatte großen Ärger mit der Erzieherin gegeben. Die Gipsschale war vom Wasser so beschädigt, dass sie erneuert werden musste. Niemand glaubte dem Buben, dass er nicht absichtlich versucht hatte sie mit Wasser zu zerstören.

Bis um halb sechs Uhr das Licht an ging, saß der Bub auf der Holzbank unter seiner Bettdecke. Das automatische Licht im Keller war Signal und Erlaubnis, in den Schlafsaal zurück zu kommen. Dort angekommen, legte er Decke und Gipsschale auf sein Bett, zog wie alle anderen Kinder seine Kleidung an, brachte den Schlafanzug in die Wäschekammer im Erdgeschoss, wo er ihn in die Schmutzwäschetonne warf. Die Strafe der langen kalten Nacht im Keller war vorüber gegangen.

Wohnen

Obwohl mein neues Zimmer größer und heller war, als das alte Zimmer nebenan, blieb die Miete gleich. Frau Stößer sagte, dass sich der Größenunterschied der Zimmer wegen der Dachschrägen, die mein neues große Zimmer habe wieder ausgleiche. Ich fand das gut, denn das Zimmer war viel größer, viel heller und hatte einen schönen Balkon mit Blick auf die Stadt Traunstein. Frau Stößer plante, mein bisheriges kleines Zimmer zu einem Gästezimmer ausbauen lassen. Es sei dafür bestens geeignet weil es eben keine Dachschrägen habe.

Im Haus von Frau Stößer in Traunstein fühlte ich mich wohl. Das neue große Zimmer bot wunderbaren Ausblick auf Stadt und Berge. Frau Stößer hatte sich als sehr angenehme Vermieterin erwiesen. Meine anfänglichen Vorurteile, hatten sich ganz schnell in Nichts aufgelöst.

Frau Stößer interessierte sich nicht dafür, welchen Besuch ich bekam. Es war ihr egal, dass ich ein altes schrottreifes Auto fuhr. Sie fragte nicht, warum ich spät Nachts hin und wieder das Haus verließ. Sie erlaubte, dass mich ab und an Manfred oder Pete besuchten, die das Haus als spießig und rustikal empfanden. Es schien ihr nicht ungewöhnlich, dass ich den gelben Kadett direkt neben ihrer großen Doppelgarage, in der ihr Mercedes stand, parkte. Es machte ihr auch nichts, dass ich oft angerufen wurde, was Frau Stößer jedes Mal Zwang aus ihrer Erdgeschosswohnung ins Treppenhaus zu kommen, um nach mir zu rufen. Oft schrieb sie mir Zettel wenn jemand angerufen hatte.

Um meine Angelegenheiten kümmerte sie sich nicht. Sie war die Hausbesitzerin und Vermieterin. Meine anfängliche Befürchtung, sie könnte eine gelangweilte Hausfrau sein, die mich nervte, weil sie hinter mir her spionierte, bewahrheiteten sich nicht.

Es interessierte Frau Stößer auch nicht, dass ich mit der Mutter, die das Zimmer vor einem halben Jahr für mich angemietet hatte, seit meinem Einzug gar nichts mehr zu tun hatte. Sie war gar nicht meine leibliche Mutter. Mein Kontakt zur Mutter endete mit meiner Volljährigkeit an dem Tag, als ich zur Untermiete einzog. Auch das interessierte Frau Stößer nicht..

Niemals hatte sie mich auf die Frau angesprochen, die mir die Miete des Zimmers vermittelt hatte. Sie hatte meine Mutter ein knappes halbes Jahr zuvor, beim Mietvertragsabschluss kennen gelernt. Beide hatten sich sofort wunderbar verstanden. Sie fragte nie, warum meine Mutter seither niemals zu Besuch gekommen war.

Ich wohnte 1982 in Traunstein in einem schönen Zimmer mit Blick über die Traun auf die Stadt zur Untermiete. Mein Zimmer bei Frau Schlösser war ein schönes Privileg für einen achtzehnjährigen Menschen, der von der Stütze durch die deutsche Jugendwohlfahrt auf Grundlage des Jugendwohlfahrtsgesetzes lebte. Ich war deshalb nicht einfach fallen gelassen worden. Ich war zwar aus meinem Elternhaus, ich sage mal „unehrenhaft“ entlassen worden, doch in meiner Freiheit, die in Traunstein begann, wurde ich vom Land in dem ich geboren wurde, unterstützt. Ich hatte gute Chancen diese Unterstützung in den Abschluss einer Schulausbildung so zu investieren, dass ich zusätzlich die Berechtigung zu studieren erlangte. Das war gut. Das Gute verhinderte aber nicht, dass ich mir damals in meiner Freiheit oft recht einsam vorkam. Ich konnte die neuer Freiheit nicht genießen. In Traunstein besuchte ich 1982 die Fachoberschule für technische Berufe. Mein Ziel war es, alle Hürden zu überwinden, die sich mir dort in den Weg stellten, um diese Schule zu schaffen um später zu studieren.

Hürden, die es zu überwinden galt fand ich sehr viele. Weniger der Unterrichtsinhalt und das Lernen, vielmehr aber die Konkurrenz zwischen den Schülern und teils den Lehrern waren solche Hürden für mich, sie beherrschten das Klima an meiner neuen Schule. An diese Schule hatten mich die Pflegeeltern bewegt. In technischen Dingen, so hatten sie oft zu mir gesagt, hätte ich meine hauptsächlichen Begabungen. Ich war 1982 noch nicht frei genug, um zu entscheiden, dass ich die Welt dieser technischen Schule ändern kann. Ich ging dort hin, weil ich geschickt wurde und weil ich angebliche Begabungen hatte, die von den Pflegeeltern an mir beobachtet worden waren.

Das reichte aber nicht um die Brutalität auszuhalten, die mir von den Organisatoren und Akteuren an der technischen Fachoberschule in Traunstein 1982 entgegen geworfen wurde.

In der Schule lief es völlig anders, als zuvor an der Realschule. Es ging darum, möglichst wenig zu fragen. Wer den Lehrer der Technologie, der Physik, der Mathematik, der Werkstoffkunde oder der Optik nach Zusammenhängen fragte, sagte damit: „Ich bin dumm“. Das begriff ich schnell. Es war ein Grundprinzip dieser Schule. Konkurrenz beherrschte die Menschen und sorgte für Angst das Gesicht zu verlieren. Wenn ich fragte, wonach ich Wissensdurst hatte, war ich verloren. Das musste ich neu verstehen lernen.

Die Technologie, der Lernstoff war klar. Glasklar stand alles in den Büchern. Wer da nachfragte, hatte zu hause zu wenig nachgelesen. Wer nachfragte, obwohl er zu hause gelesen hatte, dem fehlte grundsätzliches Verständnis für die Sache. Wer nicht verstand, war in der Schule für Technologie völlig fehl am Platz. Wer fehl am Platz war, sollte sich schnell von dort entfernen. Wer sich nicht selbst entfernte, wurde entfernt. Lernen funktionierte dort anders, als ich es noch von meinem Leben in der Realschule kannte. Wie Lernen dort funktionierte, verstand ich nicht. Bei mir funktionierte es erst mal gar nicht. Unter diesen Umständen lernte ich nichts. Deshalb entwickelte ich in den ersten Monaten auf dieser Schule zunächst eine ganz neue Methode zu überleben.

Pflegeeltern

Bei den Pflegeeltern konnte und durfte ich mich nicht mehr melden. Wenige Wochen nachdem ich dort ausgezogen war, hatte ich ein letztes mal telefonischen Kontakt aufgenommen. Aber sie sagten, dass es vorbei sei. Wenn ich Wäsche waschen wollte, sollte ich das bei meinen neuen Freunden tun. Dass die Wäsche nur ein Teil meines Anrufes gewesen war, interessierte meine ehemaligen Pflegeeltern nicht. Wäsche war ein Thema. Sie war ein Anhaltspunkt, wie ein Anker, etwas worüber ich mit ihnen reden konnte. Meine Wäsche begründete sozusagen meinen letzten Kontaktversuch.

Die Klarheit in der Ablehnung meiner Pflegeeltern, trotz meines Auszugs aus deren Wohnung weiterhin Kontakt zu halten, war wie eine sauber geputzte Glasscheibe. Ich sah hindurch und bemerkte die Scheibe nicht, was bedeutete, dass ich für immer entlassen worden war.

Sie waren nicht meine leiblichen Eltern, hatten sich aber über Jahre zu meinen Eltern entwickelt. Ich wohnte fünf Jahre lang bei ihnen. Ich hatte sie im Alter von vierzehn Jahren, zu Beginn der Ferien kennen gelernt. Seither waren sie für mich die Eltern. Ich war von ihnen abhängig.

Ich verbrachte meinen Alltag in deren Haus, verdankte ihnen meinen Schulbesuch, mein Schlafzimmer, meine Ernährung. Der „Waschmaschinenanruf“ wurde zum lebenslänglichen Abschied von ihnen. Ich war draußen. Die Unterstützung durch die Eltern für mich war abgeschlossen. Ich kannte solches Denken damals nicht. Ich war in meinem Alltag unterwegs und dachte nicht darüber nach, dass es zum Leben gehörte, Beziehungen zu anderen Menschen zu beginnen, zu pflegen oder zu beenden. Bei den Pflegeeltern war ich naiv von „für immer“ ausgegangen.

Eltern waren damals für mich lebenslängliche Begleiter. Ich merkte Monate nach meinem „Waschmaschinenanruf“ bei den Pflegeeltern, dass ich falsch lag. Darin war ich aber noch unsicher. Vielleicht stimmte, was ich bislang gedacht hatte trotzdem? Mein Fall lag anders. Ich hatte Eltern, die gar nicht meine Eltern waren. Vielleicht deshalb nicht lebenslänglich?

Ich hatte keine Waschmaschine. In der Kreisstadt Traunstein gab es damals keine öffentliche Wäscherei. Ich hatte noch keine Freunde gefunden. Und selbst wenn ich gehabt hätte: Neuen Freunden bringt man nicht gleich seine Wäsche.

Auf dem Flohmarkt sah ich ein seltsames, silbern farbiges Metall-Ei mit einer Kurbel. Es sah aus wie ein kleines Raumschiff. Nein, es sah aus wie ein astrologisches Beobachtungszentrum in Modellbauformat. Das, so überzeugte mich der beherzte Verkäufer, war eine Handwaschmaschine.

Billiger geht ’s nicht! Braucht keinen Strom, wenig Wasser, wenig Waschmittel aber Du hast saubere Wäsche!“

Klar, dass ich das gekauft habe. Fünf Mark wollte der Verkäufer haben. Am Nachbarstand plärrte eine Frau:

Das Ding braucht heute doch kein einziger Mensch mehr!“

Ich war der einzige der es brauchte. Also habe ich es für drei Mark fünfzig gekauft. „Metalldeckel auf, Wäsche, Waschmittel und warmes Wasser rein. An der Handkurbel fest kurbeln. Die Maschine funktioniert. Nur nicht zu viel Wäsche einfüllen.“

Jede Woche wusch ich ab diesem Tag meine Wäsche mit diesem Ding.

Junge Menschen sollten ihre großen Chancen nutzen!“

Das hatte der Sprecher im Bayerischen Rundfunk gesagt, als ich das „Wäsche-Ei“ im Haus bei Frau Stößer zum erstem mal in Betrieb nahm. Ich stelle das Ei in die Dusche und wusch damit, wie vom Verkäufer beschrieben. Ich hatte mein kleines Kofferradio ins Bad gestellt, denn ich dachte, das Wäschewaschen mit dem Ei seil langweilig, da könne Unterhaltung aus dem Radio gerade recht sein. Doch schon den ersten Satz des Radiosprechers und das Thema „Generation No future? – Heutige Chancen für Junge Menschen in Bayern“, fand ich so abstoßend, dass ich vergeblich einen anderen Sender suchte und deshalb das Radio sofort abschaltete.

Beim Kurbeln am „Waschmaschinen-Ei“ arbeitete mein Kopf: Mein Lernen in der Schule war eine legale, sogar in Bayern allseits anerkannte Methode des sinnvollen Zeitvertreibs junger Menschen. Es ging dabei um meine Zukunft, nicht um „No future“, sondern um die Sicherung der Renten und das wiederum berechtigte überhaupt erst meine Existenz. Die Aussicht auf sinnvolle Arbeit, die Sicherung meines Einkommens und der künftigen Renten! Das war es! Deshalb war die Jugend auch in Bayern nicht ausschließlich verhasst, weil sie gegen Wackersdorf und Pershing 2 lauthals rumorte, sondern, Norbert Blüm hatte sie auch dabei im Auge, wenn er seinen Spruch „Die Rente ist sicher“ auf sämtliche Litfassäulen kleben ließ. Das begriff ich beim Wäschewaschen mit der Kurbelmaschine. Das Kurbeln sicherte nicht meine Existenz, sondern es war anstrengend und stumpfsinnig, doch dabei fand ich Zeit zu denken. Das monotone langsame Kurbeln brachte mir viele neue Gedanken.

Während des Kurbelns an der Waschmaschine begriff ich, dass ich lebenslänglich frei geworden war. Ich hatte keine Bindungen. Deshalb musste ich meine Wäsche mit dem „Kurbel-Ei“ waschen. Ich hatte niemanden, zu dem ich sie sie bringen konnte.

Lebenslängliches Lernen nicht nur in der Schule sondern auch an der Kurbelmaschine war richtig wichtig geworden. Ich kapierte an der Waschmaschinenkurbel, dass Gelerntes am Dienstagvormittag in der Physikprüfung verständlich und gut wieder zu geben war. Dort musste ich unter Beweis stellen, dass die Bildungsbemühungen, die mir in Bayern zugute kamen Früchte trugen. Ich war darauf angewiesen zu zeigen, dass ich es wert war zur Schule zu gehen.

Von „No future“ war bei mir keine Rede. Ich war von den Pflegeeltern entlassen worden, hatte lebenslänglich bekommen und war darüber von ihnen nur mangelhaft informiert worden. Ich wusste nicht viel davon, wie die Welt überhaupt tickte. Ich hatte viel zu lernen, wozu gehörte, meine Wäsche in dem kleinen Ei zu waschen. Gegen Wackersdorf und Pershing 2 zu demonstrieren, hatte ich keine Zeit. Ich war da zwar auch irgendwie dagegen, weil ich Atomenergie gefährlich und Wettrüsten scheiße fand, doch ich glaubte, mir fehlten Wissen und Mut, um mich deshalb von der Polizei verprügeln und mit Wasserwerfern weg pusten zu lassen. Ich musste erst begreifen, was für mich lebenslänglich bedeutete.

Lebenslänglich

Er musste nach dem Waschen und dem Zähneputzen, wie alle Kinder sein Bett machen. Das Zimmer wurde jeden Morgen von den Kindern noch vor dem Frühstück gekehrt. Unter den Betten sollte täglich Dreck und Papier entfernt werden, das kontrollierte die Erzieherin besonders genau.

Er hatte die feuchte Seite der Bettdecke nach unten gewandt und in sein Bett gelegt, so wollte er vermeiden, dass die Erzieherin das nasse Bettzeug bei ihrem Kontrollgang sofort finden konnte. War ein nasses Bett von der Erzieherin entdeckt worden, wurde zur Bestrafung des Kindes das Frühstück an diesem Morgen gestrichen.

Deshalb hatte er den ganzen Vormittag in der Schule Magenschmerzen. Es war, als würde der leere Magen verzweifelt nach Essbarem suchen. Das fühlte sich an, als würde er beginnen an sich selbst herum zu nagen, als würde er versuchen, sich selbst aufzufressen. Die Schmerzen waren wie ein beißender Hund. Gierig zogen sie an seinem Magen, zerrten und rissen. Dabei blähte sich sein Bauch auf, als wäre er restlos voll gefressen.

Gegen mittags, auf dem Schulweg zurück in sein Kinderheim, kamen schmerzende Stöße aus dem Bauch. Es entstand ein starkes Brennen, das vom Bauch aufwärts ging, bis hinein in den Mund. Da kam dann dieser saure beißende Geschmack, den er seit langer Zeit so sehr zu hassen gelernt hatte.

Er spülte sich vor dem Mittagessen minutenlang den Mund, während sich alle anderen Kinder um ihn herum die Hände wuschen. Er säuberte seinen Mund, weil er den sauren beißenden, manchmal sehr bitteren Geschmack los werden wollte. Seltsamer Weise saß er danach am Mittagstisch und brachte vom Mittagessen keinen Happen runter, obwohl er den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte. Er hatte stattdessen das Gefühl, als sei er völlig voll gefressen.

Sein Hals brannte fürchterlich, so dass er nachmittags so viel Wasser trank, wie nur möglich. Die Magenschmerzen zogen sich den ganzen Tag hin. Abends aß er immer noch nichts. Darüber freuten sich die anderen Kinder am Tisch, denn sie durften dann mehr essen. Erst nach dem Schlafen waren die Schmerzen morgens besser, so dass er am Frühstückstisch wieder essen konnte.

Das war eine schlimme Strafe. Diese zu bekommen machte ihm Angst. Deshalb durfte die Erzieherin die nasse Bettdecke nicht finden. Auch wenn er gar nicht ins Bett gemacht hatte, sondern die Bettdecke wegen dem Wassereimer, den die Jungs ihm nachts im Keller drüber geschüttet hatten, nass geworden war, weil er sich danach mit der Bettdecke in dem eiskalten Keller gewärmt hatte. Die Erzieherin interessierte das nicht. Eine nasse Bettdecke war nass, weil das Kind eingenässt hatte. Das war verboten, deshalb musste das Kind bestraft werden und bekam kein Frühstück. Stattdessen musste es die nasse Bettwäsche in die Waschküche bringen, sich im Keller Jacke und Schuhe anziehen und im Erdgeschoss warten, bis alle Kinder zur Schule los gingen.

Die Gipsschale hatte er auf seine Bettdecke gelegt. Das wollte die Erzieherin so. Wenn sie den Tag lang auf dem Bett lag, war klar, dass das Kind sie abends nicht vergaß. Die Gipsschale musste das Kind jede Nacht tragen, um den Haltungsschaden, den der Arzt diagnostiziert hatte, zu korrigieren.

Auch das Fach im Schrank wurde täglich von der Erzieherin überprüft, ob dort alles ordentlich zusammengelegt worden war. Sie inspizierte die gemachten Betten, sah bei Kindern, die sie schon oft als Bettnässer erwischt hatte, unter die Bettdecken und überprüfte alle Schränke. Nur wenn alles in Ordnung gewesen war, durfte das Kind das Zimmer verlassen und zum Frühstück in den Speisesaal gehen. Die Erzieherin fand jeden Morgen mehrere nasse Bettdecken. Die Bettdecke auf der die Gipsschale lag hob sie an diesem Morgen nicht an.

Nach dem Frühstück ging es in einer langen Kolonne zur Schule. Der Schulweg war lang und steil. Die Kinder liefen hintereinander im Gänsemarsch. Der Weg führte auf einem Fußweg neben der Straße hinunter in den Ort.

Der Bub saß am Fenster in seiner Schulbank, von dort konnte er den Hof sehen. Täglich um halb zehn Uhr spielten da die Kindergartenkinder. Sein Bruder tobte in einer lauten Gruppe, sprang von den Sitzbänken in den Sandkasten, kletterte auf das Gerüst, rutsche und schaukelte. Manchmal hörte der Bub im Klassenzimmer das piepsige Lachen des Kleinen. Dem machte es viel Spaß im Herbst, wenn das Laub von den hohen Buchen im Schulhof fiel, in die vom Hausmeister zusammen gefegten riesigen Laubhaufen zu springen.

Die Lehrerin hatte das große Klassenzimmerfenster gekippt, so dass um halb zehn Uhr das Geschrei der Kinder aus dem Hof besonders laut ins Zimmer drang. Plötzlich knallte es, als würde mit Platzpatronen geschossen. Die Kinder in der Schulklasse und der Bub reckten neugierig die Köpfe Richtung Fenster. Dort sah der Bub den Kleinen, wie er wild von einer Sitzbank zur nächsten sprang. Auf der Bank stehend, schoss er mit einer Spielzeugpistole um sich. Die Pistole hatte der Kleine von der Tante mit dem Geburtstagspäckchen bekommen. Es knallte laut und aus dem Revolver. Mit jedem Schuss stieg leichter Qualm auf. Die anderen Kinder rasten in einer wilden Verfolgungsjagd über den Schulhof hinter dem Kleinen her. Sie juchzten und schrien, ließen sich, von dem Kleinen getroffen, in Laubhaufen fallen, während der Kleine immerfort auf sie schoss.

Minuten später rannte eine Erzieherin auf den Kleinen zu. Auch auf sie gab er mehrere qualmende Schüsse ab. Sie entriss ihm die Pistole. Darauf verfiel der Kleine in ein piepsendes Heulen. In dem Moment wurde es im Klassenzimmer vollkommen ruhig. Die Lehrerin hatte das gekippte Fenster geschlossen.

Der Bub überlegte, woher wohl der kleine Bruder die qualmende Munition für die Spielzeugpistole hatte. Die Tante hatte keine Munition mitgeschickt. Beim ersten Schuss wäre die Pistole dem Kleinen sofort von der Erzieherin weggenommen worden. Der Kleine musste sie irgendwo besorgt haben. Dafür kam nur der winzige Laden im Ort, nahe der Schule in Frage. Dort brachten die Heim-Kinder regelmäßig ihr Taschengeld durch. Der Kleine bekam aber gar kein Taschengeld. Trotzdem war er oft in dem Laden dabei.

Wenn Du Deinem Bruder die Munition nicht von Deinem Taschengeld gekauft hast, bleibt nur die Möglichkeit, dass er sie gestohlen hat!“, brüllte der Erzieher.

Zitternd saß der Bub auf dem Holzstuhl. Das Zimmer war sehr hoch, lang und finster. Licht fiel nur durch ein kleines Fenster hinter dem großen Schreibtisch ein. Da saß der Erzieher auf einem hohen Stuhl. Dessen harter Blick traf den Buben, so dass der sich ganz klein machte. Er fühlt sich in dem langen dunklen Raum wie gefesselt. Der Bub wusste, dass er die heutige Nacht wieder im Keller verbringen würde.

Trotzdem dachte er daran, zu behaupten, dass er die Munition für den kleine Bruder gekauft habe. Der Erzieher brüllte fürchterlich, dass der Bub seinen Gedanken nur schwer weiter denken konnte. Plötzlich fror er, merkte, dass er zitterte als sitze er draußen im Schnee. Sein Magen rumorte, denn er hatte kein Mittagessen bekommen. Auf dem Heimweg von der Schule wusste er schon, dass er ins Zimmer des Erziehers geschickt würde. Dort musste er zwei Stunden lang auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch warten, bis der Erzieher vom Mittagessen und von der Zimmerkontrolle vor der Hausaufgabenzeit kam.

Der Erzieher würde ganz genau nachrechnen. Er würde unten im Ort, im Laden bei Frau Mayer nachfragen, wann der Bub dort zuletzt gewesen war und ob er die Munition wirklich gekauft habe. Er würde zu dem Ergebnis kommen, dass es eine glatte Lüge war. Die Strafe für den Buben wäre fürchterlich. Hausarrest für mindestens eine Woche. Drei Nächte hintereinander im Keller. Oder mehrere Tage lang weder Frühstück, Mittagessen, noch Abendessen. Irgend etwas in diese Richtung würde der Erzieher verhängen. Dazu gäbe es eine ganze Menge kräftiger Ohrfeigen, wegen Lügen und Stehlen.

Sein Taschengeld hatte der Bub vollständig für Lutscher und Brause ausgegeben. Er war gemeinsam mit seinem kleinen Bruder im Laden bei Frau Maier. Lutscher und Brause hatte er mit dem Bruder geteilt. Frau Maier würde sich ganz genau erinnern. Er hatte Süßigkeiten gekauft. Das gleiche wie immer. Der Kleine war wie immer dabei.

Der Kleine musste die Munition gestohlen haben. Keiner hatte das gemerkt. Der Bub war sicher, dass sein Bruder gestohlen hatte. Wie auch immer der Kleine das geschafft hatte. Es gab keine andere Möglichkeit.

Ich hab das Zeug letzten Samstag bei Frau Meier im Edeka geklaut!“

Der Erzieher sprang von seinem Schreibtischstuhl auf. Wie ein Riese stand er vor dem winzigen Fenster, so dass es in dem Raum ganz finster geworden war.

Sechs Lutscher und sechs Brausetütchen hab ich vom Taschengeld gekauft! Die Munitionsdöschen habe ich einfach genommen und in meine Hosentasche gesteckt!“

Die Wut des Mannes war grauenvoll. Er warf den Buben mit heftigen Ohrfeigen vom Stuhl. Der war zu Boden gestürzt, von wo ihn der Mann hoch zog, um ihm weitere heftige Ohrfeigen zu geben und schrecklich anzubrüllen.

Der Bub verstand den Mann nicht, denn er heulte und der Schmerz aus dem Magen schien unerträglich geworden zu sein. Der Mann hatte ihn wieder auf den Stuhl gesetzt. Doch der Bub konnte nicht sitzen. Er rutschte wie ein Sack zu Boden, wo er zwischen dem schweren Schreibtisch und dem Stuhl, der umgefallen war, liegen blieb.

Er spürte kaum mehr Schmerz, stattdessen fühlte er sich unendlich müde. Er begann an einen grauen Wolf zu denken, dessen Foto die Lehrerin im Klassenzimmer einmal her gezeigt hatte. Der graue Wolf stand einsam auf einer großen verschneiten Wiese. So eine Wiese lag wenige Meter hinter dem Kinderheim. Sie reichte bis an den Waldrand. Dort sah er sich jetzt hinein rennen. Er war auf der Flucht, denn der einsame Wolf war plötzlich böse geworden. Die Lehrerin war verschwunden, so dass der Bub nun ganz allein dem Wolf ausgesetzt war. Er sah in die Augen des Wolfs und spürte dabei einen tiefen Hass, denn der Wolf wollte ihn lebenslänglich in den Keller sperren, wo er ab sofort jede Nacht verbringen sollte.

Eine Tür wurde zugeschlagen. Der Bub spürte feste Handgriffe. Sie zogen ihn hoch, zerrten ihn zurück auf den Stuhl.

Du bleibst heute den Rest des Tages hier sitzen!“

Der Bub sah zu dem Erzieher hinauf. Dort erkannte er die Augen des Wolfes. Es war nicht der einsame Wolf der Lehrerin, sondern er sah den Hass eines Mannes, den der Bub durch seinen Diebstahl enttäuscht hatte. Deshalb der Hass, deshalb die Strafe. Der Mann verließ das Zimmer, ließ den Buben allein sitzen. Abends kam die Erzieherin und schickte ihn in den Keller. Nachts kam der Kleine Bruder und brachte ihm gestohlenes Brot vom Abendbrottisch.

Oma und Opa

In Omas Haus hat sich wenig verändert. Oma und Opa sind viel älter geworden. Acht Jahre sind vergangen, seitdem ich zwei schöne Wochen bei ihnen verbracht hatte. Damals war ich zu ihnen geflüchtet, weil ich es bei meinem Vater nicht mehr ausgehalten hatte. Dessen brutale Schläge waren mir zu viel geworden.

Oma begrüßt meinen Bruder und mich freundlich. Sie umarmt uns herzlich. Auch Opa umarmt uns. Seine Rasur kratzt mich genauso wie damals beim Abschied. Opa hatte mich an einem schönen sonnigen Frühlingstag 1974 ein letztes Mal in seinem grauen Käfer die Bergstrasse nach Pfedelbach hinunter gefahren.

Von dort ging es in die Stadt zum Jugendamt. So begann meine Reise zurück ins Heim auf den Obersalzberg in Berchtesgaden, was ich damals wie eine Reise in die Vergangenheit, also einen Schritt zurück empfand. Ich wurde zusammen mit meinem Bruder in ein Auto gesetzt und dorthin zurück gebracht, wo ich lebte, bevor der Vater neu geheiratet hatte und deshalb seine Kinder wieder zu sich nahm. Ich wusste damals nicht, dass es eine Reise in meine Zukunft war. Ich war erst zehn Jahre alt und hatte meinen Kopf voll von Angst vor meinem Vater, weshalb ich froh war, dass meine Flucht von ihm weg gelang und ich vorübergehend bei Oma und Opa Unterschlupf gefunden hatte, bevor es ins Heim zurück ging.

Wir setzen uns in die Küche an den Tisch. Dort serviert Oma frisch gebrühten Kaffee und einen leckeren selbst gebackenen Apfelkuchen mit Streußeln. Die Äpfel hat sie vom eigenen Baum im Garten. Sie lagerten den Winter über im Keller. Es sind die letzten Äpfel aus dem letzten Herbst. Im Garten steht der Apfelbaum bereit zur neuen Blüte.

Alles, so sagt Oma, fängt in der Natur jedes Jahr neu an. Jeder hat, wie der Apfelbaum im Frühling, immer wieder eine neue Chance. Die Oma weiß warum sie mir das sagt.

Zu ihr hatte ich in den Jahren immer wieder Kontakt. Ich sparte jede Woche von meinem Taschengeld eine Mark. Damit lief ich am Sonntagnachmittag vom Kinderheim Salzberg in der Stadlerstraße zur Bushaltestelle Station Erika an der Straße die hinauf auf den Obersalzberg führte. Dort stand eine gelbe Telefonzelle. Omas Telefonnummer habe ich heute noch im Kopf. Ich wählte mit der grauen Wählscheibe deren lange Nummer und sah dabei meiner Mark zu, wie sie hinter der gläsernen Scheibe des Telefons in einer Metallschiene fest hing und darauf wartete, bis sechshundert Kilometer entfernt Oma den Hörer abhob, um mit einem metallischen „Klick“ in Richtung des im Telefon angebrachten Münzenbehälters, auf einer weiter unten angebrachten Metallschiene davon zu rollen. Oma hob stets nach fünf mal Läuten ab. Mein Gespräch dauerte jeden Sonntag eine deutsche Mark lang. Das waren etwa acht Minuten wöchentlicher Zeit, in der ich Oma von meinen Ängsten und Träumen erzählte und sie mich tröstete. Oma und Opa waren mein weit entfernter Rettungsanker, an dem ich mich fest hielt, um die beiden Männer zu ertragen, die mich und andere Kinder am Obersalzberg über viele Jahre in ihrer Obhut hatten.

Nach meiner Entlassung aus der Gewalt der beiden Männer vom Obersalzberg, durfte ich bei neuen Eltern einziehen. Die hatten sich bereit erklärt, einen vierzehnjährigen ungebildeten und aufmüpfigen Jungen aufzunehmen. Ab dieser Zeit wurde leider das Telefonieren mit Oma sehr selten. So verlor ich sie und Opa aus meinem Blick. Oma war sehr froh, als sie gehört hatte, dass ich neue Eltern bekomme und dass ich deshalb nicht länger in diesem, wie sie sagte „Horror-Heim auf dem Berg“ leben musste.

Doch von den neuen Eltern aus, durfte ich sie kaum mehr angerufen. Die Pflegeeltern wollten nicht, dass ich alte Kontakte pflegte. Sie hatte Angst, denn sie wussten, dass ich aus widrigen Verhältnissen kam und sie glaubten, dass alle Kontakte aus dieser Zeit für mich nicht nützlich, vielleicht sogar schädlich seien. Die Pflegeeltern sprachen mit mir nie über meine widrige Vergangenheit, stattdessen sorgten sie dafür, dass ich möglichst wenig Kontakt dorthin zurück hatte, woher ich stammte.

Opa fährt immer noch seinen grauen Käfer. Er sagt, dass er gar kein anders Auto will. Der Käfer sei nicht tot zu kriegen. Mit meinem Bruder spricht er über dessen Auto. Es ist ein Opel. Ein riesiger Wagen. Opa fragt wie viel Sprit der frisst. Jede Menge, meint mein Bruder. Aber das sei nicht so schlimm, schlimm sei die teure Versicherung. Deshalb wolle er die Kiste bald wieder verkaufen.

Mich fragt Opa nicht, ob ich ein Auto habe. Ich bin darüber froh. Er kommt nicht auf diese Frage, denn ich kam zusammen im Auto meines Bruders zu dem Besuch. Im Grunde kann es sich keiner von uns beiden wirklich leisten. Mein Bruder, der regelmäßig zur Arbeit geht und Geld verdient sagt, dass das Auto sein gesamtes Geld fresse. Was soll ich da zu Opa sagen? Ich leiste mir einen gelben Opel Kadett, für den ich sechshundert Mark Versicherung pro Halbjahr zahle, wo ich doch vom Staat lebe, um zu Schule zu gehen. Es wäre mir sehr unangenehm, wenn Opa das wüsste.

Das Gespräch am Küchentisch dreht sich lange Zeit um Autos. Mein Bruder kennt sich aus. Er erklärt, was er an seinem Auto schon alles reparieren musste. Der Kühler, die Antriebswellen, die Lenkung, der Motor. So ein altes Auto ist ständig defekt. Ich weiß das, denn mein Kadett lenkt ja von selbst nach rechts. Ich bin sehr froh, dass ich es in der Klapperkiste von Traunstein ohne Panne zu meinem Bruder geschafft habe.

Wie mein Bruder weiß ich, dass wir uns mit den Autos Freiheit vorgaukeln. Mein Bruder fährt täglich früh morgens zur Arbeit. Aber das Auto nutzt er auch viel in der Freizeit. Abends und am Wochenende kann er hinfahren, wohin er will. Das ist seine Freiheit. Für die arbeitet er, um von seinem Geld Ersatzteile zu kaufen, die er am Wochenende in das Auto baut, damit es fahren kann.

Ich finde diese Freiheit seltsam. Doch ich sage am Küchentisch nichts dazu. Ich beobachte meinen Bruder, wie er leise berichtet, ich sehe Opa zu, wie er verständnisvoll nickt, denn er scheint die technischen Dinge alle zu kennen. Ich sehe Oma zu, die vom Kaffee nippt, den Kuchen auf unsere Teller verteilt und der Unterhaltung folgt. Ich glaube, dass ich zu jung bin, um wirklich zu begreifen, warum das Thema so wichtig ist. Ich denke darüber, dass es Quatsch ist, sich für eine fahrbare Schrottmühle auf vier Rädern den ganzen Tag lang in eine lärmende Fabrik zu stellen.

Ich kenne das von mir. Deshalb mische ich mich in das Gespräch zwischen Opa und meinen Bruder nicht ein. Ich denke oft, dass um mich herum unsinniges geschieht und gesprochen wird. Ich weiß nicht recht, ob ich vieles einfach nicht begriffen habe.

Mein gelber Opel-Kadett hat mich heute zu meinem Bruder gebracht. Morgen bringt er mich wieder zurück nach Traunstein. Sicherlich bringt er mich demnächst auch wieder nach Berchtesgaden, um dort alte Bekannte zu besuchen. Jeder Zeit kann ich einsteigen und losfahren. Dafür nimmt mein Bruder in Kauf, dass sein ganzes Geld draufgeht. Was ich daran verstehe ist, dass diese Art von Freiheit zusätzliche Arbeit zu schaffen scheint. Warum noch zusätzliche Beschäftigung, wo der Mensch eh nur wenig Zeit ohne Beschäftigung hat, die ihm neben der täglichen Fabrikarbeit bleibt?

Zum Schluss des Nachmittags bei Oma erfahren wir, dass der Vater seit einigen Monaten ganz in der Nähe eingezogen ist. Er lebe allein, sei von seiner Frau geschieden. Das finde ich wirklich interessant. Das wäre ein Thema für den Nachmittag gewesen! Warum sprechen wir den ganzen Nachmittag über Autos und Beschäftigung? Warum erwähnen Oma und Opa den Vater erst, als wir schon dabei sind, uns zu verabschieden? Was mich interessiert kommt erst zum Schluss und dann auch nur ganz kurz zur Sprache. Das finde ich schade. Aber ich schaffe es nicht, gleich zu Beginn des Besuches nach dem Vater zu fragen.

Immerhin erfahre ich, das Vater sich von dieser Frau getrennt hat. Das finde ich gut, denn ich konnte sie nicht ertragen. Sie hat damals jeden Tag um sich geschlagen und geschrien.

Beim Abschied kommt der Gedanke den Vater zu besuchen. Darüber spreche ich mit Oma und Opa nicht. Bestimmt denken sie nicht daran, dass ich die Idee haben könnte, den Vater nach allem was damals geschehen war, zu besuchen. Ich denke daran, weil es lange her ist, weil ich weit weg wohne und weil klar ist, dass „Damals“ vorbei ist, auch wenn es nie vergessen sein wird. Ich denke daran, weil es mein Vater ist.

Der Abschied ist herzlich. Wir versprechen Oma und Opa, bald wieder zu kommen. Ich bin sehr froh über den gemeinsamen Besuch mit meinem Bruder, denn ich weiß nicht, wann „bald“ sein wird.

Vater

Ich finde ihn. Er wirkt unverändert. Er ist älter geworden, aber sonst? Die schwarzen Haare mit einer Welle, die wie früher nach vorne fällt. Die schwarze Hornbrille. Seine leicht gebeugte Statur, selbst die braune Cordhose und die karierte Jacke, die er trägt. Alles unverändert wie damals. Die Jacke trug er immer, dazu dieses karierte Hemd. Er riecht nach Pfeifentabakrauch und nach „Kurmark“. Er sieht aus wie vor acht Jahren im Frühsommer 1974, als ich ihn das letzte Mal sah.

Niemand weiß, dass ich ihn heute besuche. Selbst meinem Bruder habe ich das nicht gesagt. Gestern Abend waren wir noch lange unterwegs. Wir haben Freunde meines Bruders besucht. Ich konnte da nicht mit ihm über meine Idee den Vater zu besuchen sprechen. Wir haben Musik gehört und uns über alles mögliche unterhalten, nicht aber über die Familie. Heute schliefen wir bis in den frühen Nachmittag hinein. Ich verabschiedete mich von meinem Bruder, der eigentlich wollte, dass ich noch bleibe und erst abends fahre. Aber ich will mit dem Auto nicht in die Nacht kommen. Ich bin unsicher wie lange die Beleuchtung am Opel-Kadett noch funktioniert. Die Lichtmaschine ist laut und schwach. Ich möchte nicht im Dunklen auf der Autobahn stehen bleiben. Das verstand mein Bruder, so verabschiedete ich mich und fuhr los.

Kurz vor der Autobahnauffahrt war meine Idee von gestern wieder da. Deshalb bog ich nicht auf die Autobahn ab, sondern fuhr gerade aus weiter. Ich fuhr nach Pfedelbach und von dort hinauf auf den sogenannten Heuberg. Ich fuhr bis zur letzten Kurve vor ein Haus, von dem Oma gesagt hatte, dass dort kürzlich der Vater eingezogen sei.

Mein Läuten bleibt ohne Reaktion. Ich läute noch einmal. Keine Reaktion. Nach dem dritten Läuten denke ich daran, es aufzugeben. Plötzlich höre ich von drinnen ein Poltern. Es sind schwere Schritte. Sie poltern und knarren sehr langsam eine Holztreppe hinunter. Schlüssel klimpern. Ich höre ein metallisch kratzendes Türschloss. Eine schwere dunkelbraune Holztür wird langsam nach innen aufgezogen.

Vor mir steht ein kleiner Mann mit gewelltem, fettig glänzendem, schwarzen Haar, das ein paar graue Stellen zeigt. Er trägt die Jacke, die so aussieht, als sei es die gleiche wie damals. Er hat ein kariertes rötliches Hemd an und trägt wie damals eine schwarze Hornbrille. Er trägt wie damals braune Cordhosen und steckt in dunkelbraunen Filzpantoffeln. Er blickt mir ins Gesicht. Ich sehe im ins Gesicht. Ich spüre nichts, nur ein leichtes Zittern meiner linken Hand. Ich reiche ihm meine rechte Hand.

Ich bin es.“

Ich merke, dass ich stottere, was ich noch nie getan habe. Meine Stimme ist schwergängig, was ich von mir nicht kenne. Meine wenigen Worte sind eintönig. Ohne Regung drücke ich stotternd aber völlig gleichmäßig heraus, was mich seltsam unberührt lässt.

Das gibt’s doch nedde! Komm rein!“

Jetzt erst erkenne ich den Vater vollständig. Dessen schwäbischer Ton hat mir so wenig gefehlt, dass ich ihn völlig vergessen hatte. In meinen Gedanken an die Geräusche von damals, gab es nur dessen damalige Ehefrau und deren stets laut kreischende Stimme. Der Vater sprach damals ein leises schweres Schwäbisch. Abends, wenn er den schwarzen Gürtel aus der Hose nahm und mich über den Holzstuhl im Kinderzimmer legte, schrie er mich mit seiner nicht besonders kräftigen Stimme an. Das waren schwäbische Hasstiraden voll von Wut über mich. Ich verstand davon oft fast nichts. Vaters Stimme und deren Tonfall, waren bis zum heutigen Tag, bis zu diesem Wiedersehen vergessen. Plötzlich ist die Erinnerung wieder da.

Der Vater weicht ein paar Schritte zurück in das dunkle Treppenhaus, um mich herein zu lassen. Ich folge langsam die steile Holztreppe hinauf. Oben klimpert wieder der Schlüsselbund. Der Vater öffnet eine weiß gestrichene Wohnungstür, an der sich ein Oberfenster befindet, das von einem vergilbten Vorhang verdeckt wird.

Die Treppe zu Vaters Wohnung in Pfedelbach war genau so eng, dass ich nur dessen gebeugten Rücken sah, während er klimpernd an der kleinen Tür das Schloss öffnete.
Im Sommer 1974 war ich froh aus dem Kinderheim in Berchtesgaden am Obersalzberg zum Vater entlassen worden zu sein. Im Heim in Berchtesgaden am Stadlerweg auf dem Obersalzberg hatte ich von 1970 bis 1974 und erneut von 1975 bis 1977 immer wieder die harten Schläge zweier Heimleiter namens Gunter Hennings und Horst Büchter zu ertragen. Ich wusste damals, als ich mit dem Vater zum ersten Mal dessen Wohnung betrat, noch nicht, dass es bei ihm viel schlimmer werden sollte. Gunter Hennings und Horst Büchter, die mich im Berchtesgadener Kinderheim am Obersalzberg regelmäßig verprügelten, waren eben nicht mein Vater. Ich denke, es ist wohl am schlimmsten von den eigenen Eltern regelmäßig misshandelt zu werden. Misshandlungen durch „Erzieher“ wie Hennings und Büchter in privat geführten Kinderheimen, in denen meine Geschwister und ich in den späten Sechzigern und siebziger Jahren leben mussten, waren damals für mich alltäglich. Ich erlebte an meinem Leib, dass das damals zum „täglichen pädagogischen Repertoire“ von privat geführten Kinderheimen gehörte. Ich lebte in drei privat geführte Kinderheimen, in Scheidegg im Allgäu, am Obersalzberg in Berchtesgaden und in eine Großfamilie in Baden Württemberg. Überall dort waren regelmäßige Prügel von sogenannten Erziehern mein Alltag.

Als der Heimleiter Horst Büchter mir in Berchtesgaden am Obersalzberg im Kinderheim Salzberg im Sommer 1973 zum Beispiel einen tiefen Magenschwinger verpasste oder mir ein dunkel anschwellendes blaues Auge schlug, weil ich im Sandkasten meine kindlich laute Wahrheit über Gunter Hennings und Horst Büchter, die ich zum Beispiel lauthals „Verbrecher“ nannte, einfach heraus brüllte, da war deren blutige Strafe zwar hart, aber nie habe ich das so hart empfunden, wie die Gürtelschläge meines eigenen Vaters 1974 in Zweiflingen, wo wir nach dem Umzug von Pfedelbach in einem alten Bauernhaus bei der Dorfkirche wohnten.

Ich empfand das was mein Vater tat viel härter als die Verbrechen von Gunter Hennings und Horst Büchter im Kinderheim Salzberg in Berchtesgaden. Wegen eines Faustschlages von Horst Büchter durch eine Milchglastüre geschleudert zu werden war weniger hart für mich, weil ich das Gefühl hatte, dem Vater und dessen Gürtel vollkommen ausgeliefert zu sein. Das System Familie bedeutete bei meinem Vater für immer gefangen zu sein und täglich rund um die Uhr von dessen neuer kreischender Frau berwacht zu werden. Fluchten im Alltag gab es in der Familie nicht.

In Berchtesgaden im Kinderheim Salzberg bei Gunter Hennings und Horst Büchter konnten wir Kinder nachmittags in den Wald oberhalb des Kinderheims vor deren Gewaltausbrüchen fliehen. Dort waren wir von den beiden schlagenden Männern stundenlang unbeobachtet. Vielleicht empfand ich deren Misshandlungen deshalb nicht so schlimm? Zudem waren viele andere Kinder da. Mit denen spielte ich nachmittags im Wald wilde Räuber-Spiele. Im Wald oberhalb des Kinderheims in der Stadlerstraße rannten wir täglich herum, waren uns selbst überlassen, kletterten auf Bäume, spielten Cowboy und Indianer, bastelten Pfeil und Bogen, schnitzten mit Taschenmessern unsere Initialen in dicke alte Buchen, schrien stundenlang lauthals herum.

In dem finsteren Raum stehen Tisch und Sofa, Fernsehapparat und in der Mitte ein elektrisches Klavier. Dorthin bewegt sich der Vater.

Ich spiele gerade.“

Er weist mir mit der rechten Hand einen Stuhl am Tisch, neben dem kleinen Klavier zu. Er lässt sich am Klavier nieder. Von dort blickt er in meine Richtung. Er sieht mich nicht an. Vor sich hat er sein Klavier. Seine Stimme klingt wie früher. Es ist keine unangenehme Stimme. Sie ist leise. Früher schrie der Vater abends, wenn er nach der Arbeit nach hause kam. Seine Stimme war laut und wütend. Jetzt wirkt sie ruhig. Unsicher, fast zitternd wirkt das, was ich in der Luft in dem Raum zwischen uns spüre. Er Vater fragt nichts. Ich frage nichts. Sekundenlanges Schweigen.

Soll ich dir was vorspiele?“

Wenn du willst.“

Der Vater beginnt zu spielen. Seine Augen richtet er konzentriert auf ein Notenblatt, das auf dem Notenhalter auf dem Klavier klemmt. Ich erkenne die Melodie eines Schlagers, den der Vater früher oft gehört hatte. Er besaß viele kleine Schallplatten und massenweise orangene, von ihm selbst aufgenommene, säuberlich beschriftete Musikkassetten. Alles hatte er in einer Musiktruhe, in der sich ein Radio, ein Schallplattenspieler und ein Kassettenrekorder befanden. Es waren seichte und eingängige Melodien, wie sie jeden Samstagabend auch im Fernsehprogramm serviert wurden.

Ich sehe dem Vater bei dessen konzentrierten Spiel zu. Mein Inneres folgt seiner Melodie. Ich weiß genau wie die Melodie weitergeht. Vaters Spiel ist perfekt. Aufgerichtet sitzt er da, die Augen durch die Brille starr auf das Notenblatt gerichtet.

Jetzt stockt die bekannte Melodie, die ich im Kopf weiter singe. Die Geschwindigkeit stimmt nicht mehr und ein falscher Ton schleicht sich ein. Der Vater blättert das Blatt vor sich um. Doch anstatt weiter zu spielen, beendet er sein Spiel. Es schaut zu mir herüber, sieht mich aber nicht an. Ich versuche zu lächeln.

Sehr gut.“

Mehr bringe ich nicht heraus. Der Vater erhebt sich. Ich denke plötzlich, dass es keine gute Idee war, ihn heute zu besuchen. Ich denke das, denn mir fällt nichts ein, worüber ich mit ihm sprechen soll. Eigentlich gibt es nichts zu reden, denn eigentlich ist zwischen uns alles klar. Der Vater hatte mich schwer misshandelt, deshalb kam ich 1975 zurück in das Kinderheim zu den beiden Verbrechern Gunter Hennings und Horst Büchter, deshalb hatte ich später, im Herbst 1977 zum Glück neue Eltern bekommen, deshalb war ich ohne ihn aufgewachsen. Damit ist alles gesagt. Warum also mein heutiger Überraschungsbesuch?

Du gäähscht noch zur Schul gell?“

Ja, die Fachoberschule in Traunstein. Ich will auch noch ein Studium machen.“

I kriiieg immer so Briefe vom Bafögamdt. Geschdern erscht is wieder oiner im Briefkaste drinne gwääse!“

Ah ja? Was wollen die denn von Dir?“

Ha ja! Hundertfünfadreißigg Margg zahl i mooonadlich für Dich wääge Deiner Schul!“

Der Vater reicht mir ein Papier. Es kommt aus Bayern. Es ist ein Bescheid in dem steht, dass der Vater monatlich für meine Ausbildung zu bezahlen hat.

Willschd du Kaffeeä?“

Jetzt stehe ich auf.

Nein danke. Ich wollte nur einmal kurz vorbei kommen. Ich muss wieder weiter.“

Ich merke, dass ich die Vorstellung hatte, mit dem Vater ein Gespräch über die Vergangenheit zu führen. Doch das ist unmöglich. Mein Besuch ist eine zu große Überraschung für ihn und für mich. Nach allem was früher gewesen war, heute einfach so vorbei zu kommen! Ich kann jetzt mit dem Vater unmöglich über das Geld sprechen, das er für mich bezahlt. Deshalb gehe ich langsam zur Wohnungstür. Der Vater folgt. Ich höre Schlüssel klimpern in seiner Hosentasche.

Ich öffne einfach die Tür, sehe mich nicht nach dem Vater um, sondern steige langsam die steile Treppe hinunter. Der Vater folgt mir. Die Tür unten war zuvor ins Schloss gefallen, deshalb komme ich nicht raus. Der Vater schiebt sich am Treppenabsatz an mir vorbei. Sein Schlüssel klimpert in seiner Hand. Wir stehen ganz eng beieinander in dem finsteren, engen Korridor. Ich rieche den Vater. Er riecht wie früher. Es ist nicht nur „Kurmark“ sondern es ist der Geruch von schwerer Arbeit, die den Vater sein ganzes Leben lang begleitete. Ein leicht süßlicher Schweißgeruch. Ich kenne das von früher. Ich roch das, wenn er vor mir stand um mir feste Ohrfeigen zu geben. Ich roch es, wenn er seinen schwarzen Gürtel kräftig auf meinen Rücken trieb.

Die Tür öffnet sich. Ich gehe am Vater vorbei, mehrere schnelle Schritte hinaus in das helle Licht der Frühlingssonne. Ich bin schon Meter weit weg vom Vater. Dann nähere ich mich schnell noch einmal und reiche ihm meine rechte Hand. Die Hand des Vaters ist rau von Arbeit, doch ich merke, dass sie nicht so kräftig und groß ist, wie früher.

Auf Wiedersehen.“

Lass dich mal wieder blicken!“

Ich drehe mich weg vom Vater. Schnell und zielstrebig laufe ich zurück zur Straße. Ohne mich um zu blicken laufe ich bis ich die erste Kurve hinter mir habe. Dort steht der gelbe Opel-Kadett.

Nachts unterwegs

Der gelbe Opel-Kadett bringt mich heil zurück in meine bayerische Kreisstadt. Keine Panne, keine Probleme mit dem Wagen. Das Auto fährt einwandfrei. Abends um halb neun, gerade zum Einbruch der Dunkelheit komme ich in meinem Zimmer im Haus von Frau Stößer an. Das Wochenende ist vorbei. Ich mache mir einen Tee und schmiere mir in der kleinen Küchenzeile, sie liegt in einem großen Raum neben meinem Zimmer und ich darf sie mit benutzen, ein paar Butterbrote.

Von unten höre bayerische Stimmen aus der Wohnung von Frau Stößer. Vor der Haustür parken große Limousinen. Sie gehören den Gästen von Frau Stößer. Ich bin todmüde, sitze auf dem alten Sofa vor dem schwarz-weiß Fernseher. Ich sehe und höre den Nachrichtensprecher, denke dabei aber an den Vater und meinen Bruder, an Oma und Opa und daran, dass ich im Haus von Frau Stößer allein zur Untermiete wohne, in einer Stadt, mit der mich außer wenigen Menschen, wie Manfred, die ich bis jetzt hier kennen gelernt habe, eigentlich noch nichts verbindet.

Lebenslänglich heißt, dass Neues und Altes irgendwie immer wieder zusammen treffen und ständig geht es weiter, so wie es Oma vom immer wieder blühenden Apfelbaum im Frühling erklärt hatte. Heute ist es mein Leben in Traunstein, einer Stadt mit der mich noch nichts verbindet, im Haus bei Frau Stößer, mit der mich nichts als das Zimmer, das ich bewohnen darf, verbindet. Das ist wohl lebenslänglich. Es heißt, dass ich irgendwann von dieser Stadt und von meinem heutigen Leben so reden werde, wie von meinem zurückliegenden Leben bei meinen neuen Eltern oder von meinem Leben im Kinderheim am Obersalzberg. Was mir 1982 hier auf dem alten Sofa einsam erscheint, wird in vielen Jahren einer Erinnerung an einen Teil in meinem Leben weichen. Das ist lebenslänglich und schon heute ein bisschen tröstlich, genauso wie meine Erinnerung an die Schläge von Vater in Zweiflingen, wohin wir zogen, weil dessen Wohnung in Pfedelbach für eine Familie zu klein war. Ich erinnere mich mit tiefem Schrecken daran zurück, wie ich auf dem Stuhl im Kinderzimmer lag, vom Schmerz geplagt schrie und heulte, wegen Vaters Schlägen mit dem Gürtel. Das bleibt lebenslänglich ein Teil meines Lebens, der zum Glück vorbei ist. Genauso wird auch das einsame Leben in Traunstein vorbei gehen und zu einem Stück meines Lebenslänglich werden. So denke ich weiter und weiter und merke dabei gar nicht, wie ich irgendwann einschlafe.

Nachts wache ich auf. Auf dem grünen, kleinen Metallwecker erkenne ich in der Dunkelheit dessen grün schimmerndes Ziffernblatt. Es ist viertel nach Drei Uhr. Der Wecker wird wie jeden Morgen um viertel vor Sieben läuten. Er hat oben zwei grüne Metallglöckchen und dazwischen einen winzigen Metallklöppel. Der sorgt täglich dafür, dass ich morgens aufwache.

Der Wecker tickt in zwei unterschiedlichen Tönen. Das Tick ist ein dumpfer Ton, der mich an einen leisen Schlag eines Teelöffels gegen einen vollen Keramikteebecher erinnert. Das Tack dagegen klingt etwas höher. Es ist der leise Schlag des Teelöffels gegen ein halbvolles Glas Wasser. Dem folgt ein kurzes gläsernes Abklingen. Ich liege auf dem Rücken. Ich höre das regelmäßige Keramikteebecher-Wasserglasschlagen des Weckers. Keramik-Wasser, Keramik-Wasser, Keramik-Wasser so tickt und tackt das Ding in einem fort neben meinem Kopf.

Ich spüre unter meinem Rücken die drei Teile aus denen meine Matratze besteht. Es sind drei alte Federkernmatratzenteile, die ich aus dem Jugendkeller aus Berchtesgaden vor einem halben Jahr mit in die Kreisstadt genommen hatte. Ich habe sie im Zimmer bei Frau Stößer auf der rechten Seite in eine Ecknische auf den Boden gelegt. Sie passen dort genau hinein.

Durch die Balkontür scheint ein schwacher Schimmer, der auf den Dachschrägen im Raum einen Schatten wirft. Schatten und Schimmer bewegen sich in einer ungeraden Linie an der Wand. Die Bewegung kann nicht von einem Vorhang an der Balkontür kommen, denn ich habe keinen Vorhang.

Minutenlang beobachte ich das Bewegungsspiel an der schrägen Decke. Der Rhythmus der Bewegung passt nicht zu dem regelmäßigen Keramik-Wasser-Tick-Tack, das der Wecker von sich gibt. Es ist ein anderer Rhythmus, es ist ein leichtes Wippen. Die Linie an der Wand wippt zwischen Lichtschein, der vom Balkonfenster kommt und Dunkelheit an der Wand hin und her. Unregelmäßig ist das, es ist mal kürzer, mal länger. Ich frage mich was das sein kann.

Ist das der eigentliche Rhythmus? Das hat mit der Regelmäßigkeit des Weckers nichts zu tun. Einmal lebe ich hier, demnächst lebe ich dort und bald wieder ganz wo anders. Das Leben wippt unregelmäßig dahin. Es wirkt dabei nicht unfreundlich. Es wirkt ganz ungefährlich. Es wirkt ruhig, wie das Wippen von Licht und Dunkelheit an der Wand. All das könnte eine Täuschung sein. Ist es aber nicht.

Der Alltag fließt unregelmäßig, ruhig, normal. Täglich bewege ich mich zwischen dem Zimmer bei Frau Stößer, der Schule, den neuen Freunden, die ich in der Kreisstadt suche und wieder dem Zimmer. Dabei wirke ich ruhig und alltäglich. Mein Fließen sieht alltäglich aus. Es ist das, was mir täglich begegnet.

Langsam tapse ich die Wendeltreppe hinunter ins Erdgeschoss. Ich schließe die Haustür leise und behutsam auf. Kühle, feuchte Luft strömt mir entgegen. Im Gang bis zu dem riesigen, schweren, schmiedeeisernen Tor zwischen dem Zaun und der Garage von Frau Stößer knöpfe ich meine Jacke zu.

Rings um mich herum in der Dunkelheit höre ich es tropfen. Der nasskalte Regen hat noch nicht lange aufgehört. Ich schließe das schwere Tor auf, ziehe es zu mir und zwänge mich hindurch.

Das schwere Ding versucht sogleich krachend ins Schloss zu fallen. Ich fange das Gartentor mit der linken Hand auf und lasse es leise in sein Schloss einrasten. Anfangs war mir mehrmals das Tor aus der Hand geglitten und laut ins Schloss gekracht. Das passiert mir nun nicht mehr. Die schweren Limousinen der Gäste von Frau Stößer sind alle verschwunden. Vor dem schwarzen Gartentor steht nur mein gelber Opel-Kadett. Er leuchtet im Mondschein. Schwere Wolken treiben am Himmel entlang. An der Hausecke, hinter Frau Stößers Doppelgarage schlägt mir eiskalter Wind entgegen.

Neben dem Haus von Frau Stößer, Richtung Waldrand hinunter in die Stadt, steht ein sehr altes Haus. Es ist das Moulin Rouge. Vor diesem Puff parken jede Nacht um diese Zeit große schwere Wagen. Der Sturm hat die rechteckige Metallmülltonne einige Meter nach vorne Richtung Straßenrand geblasen.

Der Parkplatz bietet sich an, um dort zu wenden. Er liegt am Ende der Sackgasse, man muss dort umdrehen. Der Jugendleiter fuhr langsam auf den Parkplatz. Er wendete den Wagen indem er einen Bogen über den Parkplatz fuhr. Im Schein seiner Autoscheinwerfer fuhr er langsam an den schweren Limousinen vorbei. Bei einigen Autos nannte er mir die Namen, deren Besitzer er aus der lokalen Politik kannte. Er kenne diese Herren alle, weil er selbst in der lokalen Politik der Kreisstadt tätig sei.

Hinter dem Moulin Rouge führt ein schmaler Pfad bergab in den Wald. Ich laufe ihn langsam hinunter. Der kalte Wind bringt viel Bewegung und Lärm in den Wald. Obwohl es nicht mehr regnet, ist meine Jack klatschnass.

Ich habe die Winterstiefel angezogen. Der Boden ist von Laub übersät und er ist matschig. Ich tapse vorsichtig hinunter. Hätte ich die Fahrstraße, die um diesen Wald herum hinunter Richtung Stadt führt, nehmen sollen? Zu spät, ich gehe weiter. Rechts neben dem Fußweg fließt ein kleines Rinnsal, das sich dort wegen dem schweren Regen der Nacht gebildet hat. Einmal rutsche ich mit dem rechten Fuß leicht nach unten ab, kann mich aber sofort wieder fangen.

Der eisige, feuchte Wind ist im Wald schwächer geworden. Mich fröstelt am ganzen Körper. Hätte ich den dicken, gestrickten Wollpullover anziehen sollen? Zu spät. Unten sehe ich durch die wankenden Baumstämme die Straßenlaternen neben dem Hochufer am Fluss. Auf dem Weg peitscht der böige Wind die Nässe der Nacht direkt ins Gesicht.

Der Fluss brüllt wie ein gejagter, dunkler Bär. Ich laufe vom Fußweg hinunter auf die windgeschützte Straße. Kein Auto fährt um diese Uhrzeit. Im Licht einer Straßenlaterne werfe ich einen Blick auf meine Armbanduhr. Viertel vor vier. Die Gäste des Moulin Rouge fahren hier wenn sie den Schuppen verlassen.

An der Kreuzung überquere ich den Fluss. Dort steige ich die glitschigen Wiese im Windschutz der Brücke hinunter. Unterhalb der Brücke bläst der Wind mit voller Wucht. Ich laufe den Pfad flussaufwärts. Der Fluss dröhnt links neben mir.

Im Mondenschein erkenne ich, dass der Fluss randvoll ist. Die Brühe ist dunkel. An den Felsen gibt es helle Stellen von der schlagenden, schäumenden Gischt. Ich rutsche hin und wieder ab, keine Gefahr, denn es geht leicht bergauf. Ich will wieder warm werden.

An der Waldbrücke sehe ich wie sinnlos das ist. Hier will ich mich aufhalten und Feuer machen. Seit Stunden tobte das Wahnsinnswetter, es war klar dagegen.

Trotzdem habe ich mich aus dem Haus getrieben. Meine Feuerstelle unter der Brücke ist vom Wind zerwühlt. Aber sie ist nicht überspült, wie das im letzten November einmal passiert war. Da stand das Wasser aus dem Fluss nach einem Herbststurm um gut drei Meter höher als normal. Ich sehe nach meiner Holzlagerstelle hinter dem Brückenpfeiler. Ich habe das gesammelte Holz unter einer grünen Plane versteckt. Der Sturm hat einen Zelthaken der Plane weggerissen. Die lose Ecke der Plane schlägt im Wind auf und ab. Mit der Taschenlampe suche ich den Boden ringsum ab. Der Hacken ist noch da. Er liegt matschig verschmiert neben dem Pfeiler. Ich schlage den Haken mit einem Stein samt Ecke der Plane in den glitschigen Boden.

Um viertel vor sieben scheppert der grüne Blechwecker. Ich ergreife die beiden grünen Glocken oben am Wecker. Das Scheppern ist jetzt ein gedämpftes Rasseln. Ich taste nach dem kleinen Metallhebel und drücke ihn mit meinem Daumen um. Aus.

Ich liege matt wie jeden Morgen auf den drei kleinen Matratzen. Ich könnte sofort wieder einschlafen. Ich brauchte nur die Augen zu schließen. Ich darf das aber nicht, denn ich muss in die Schule gehen. Ich öffne die Augen. Im Zimmer ist es finster. An den Dachschrägen im Zimmer sind Schatten und Licht der Nacht verschwunden. Der Regen trommelt.

Vormittags in der Schule

Wenn ’s das bis heute noch nicht gelernt haben, dann sind ’s morgen immer noch fehl am Platz hier drin! Das hab ich ihnen doch letzte Woche schon gesagt!“

Der Mann, der das meinem Tischnachbarn zu brüllt ist mittelgroß und drahtig. Er trägt eine eng anliegende Jeans und ein im Schein des Neonlichts glänzendes, dunkelblaues, sportliches, oben weit offenes Hemd. Er hat eine getönte leicht gebräunte Gesichtsfarbe und trägt glatte, kurz geschorene, schwarze Haare.

Vor der grünen riesigen Tafel bewegt er sich wie ein Tennislehrer. Er hat seinen Schülern gerade einen Matchball verpasst. Das ist selbsterklärend, meint der Mann. Mein Banknachbar soll vom Platz gefegt werden. Er blickt angestrengt nach vorne zu dem drahtigen Lehrer. Er sagt aber nichts, er verzieht keine Mine. Ich sitze neben ihm und versuche es ihm gleich zu tun. Ich versuche in einen ganz ernsten, mittelmäßig beteiligten Blick nach vorne an die Tafel zu verfallen. Ich versuche jeden Blickkontakt mit dem Lehrer zu meiden. Ich tue so, als lese ich ernst aber unaufgebracht.

Ich lese verstehend und doch irgendwie unbeteiligt, dabei aber äußerst interessiert den Text, den der Lehrer da an die Tafel geschrieben hat. Die Wahrheit ist, dass ich nichts verstehe. Ich verstehe von dem Geschriebenen an der Tafel wahrscheinlich viel weniger als mein Banknachbar.

Meine Methode heiß „nicht auffallen“. Mein Banknachbar hatte den Tennisplatzfeger etwas zu viel gefragt. Das wäre mir niemals eingefallen. Ich will zwar auch eine Antwort auf das, was mein Banknachbar da gerade fragte, denke aber, dass ich die Antwort lieber heute Nachmittag in den Schulbüchern suche, als mit dem Platzfeger ein Gespräch anzufangen. Ich liege mit meiner Vermutung richtig. Schülern an der bayerischen Schule eine Antwort auf deren Fragen zu geben ist hier zu dieser Zeit nicht üblich.

Ein Mann, wie der Ministerpräsident gibt hier und heute keine Antworten. Er ist lieber selbstgefällig und gerecht. Es genügt, diejenigen die nicht mitlaufen können oder wollen darauf hinzuweisen. Verschwinden sollen sie, wenn sie das hier nicht verstehen. Matchball. Schon sechs Stunden später ist das Spiel vorbei.

Mittags um halb zwei laufe ich von der Schule durch die Kreisstadt zurück hinunter zum Fluss. Das Haus von Frau Stößer liegt auf der andern Uferseite durch den Wald oben an der Bahnlinie. In der Stadt kaufe ich bei einem Discounter Lebensmittel. Von meinen monatlich siebenhundert Mark habe ich nach Abzug der Miete an Frau Stößer noch vierhundertfünfzig. Im Discounter kaufe ich stets das billigste. Brot, Nudeln, Dosentomaten und so weiter.

Was ich an manchem Wochenende an den Verkaufsständen an Waren aus der sogenannten dritten Welt für das Jugendbüro verkaufe, kostet das fünf bis sechsfache von dem Geld, das ich mir zum Beispiel für Kaffee leisten kann. Ich verkaufe etwas, an den Wochenend-Verkausfsständen, das ich mir niemals leisten kann. Ich werbe mit Informationsbroschüren gegen Waren wie Kaffe aus herkömmlichem Verkauf. Ich kaufe diesen Kaffee aber selbst für mich ein, weil ich mir anderes nicht leisten kann und weil ich darauf nicht verzichten möchte. Das ist das Leben. Ein wackeliger Rhythmus voller Gegensätze überall. Der Ministerpräsident, der Lehrer an der Technologieschule oder der Politiker vor dem Puff neben dem Haus von Frau Stößer. Das Leben ist bunt und unrhythmisch. Nichts ist wie es scheint, weil der Schein das ist, wie es eigentlich sein sollte. Alles ist so wie es ist, nämlich ganz anders als ich weiß oder glaube, dass es gedacht ist.

In der kleinen Küchenzeile haue ich ein paar Eier vom Discounter in die Pfanne. Ich schneide von einem weichen hellen Brot ein paar Scheiben ab. Ich schäle ein paar Karotten und würze die Eier in der Pfanne. Wie gut, dass niemand weiß, was ich hier tue. Auf der Realschule, noch letztes Jahr bei meinen Pflegeeltern hatte ich Kochunterricht gehabt. Ich nehme die Pfanne von der Platte. Ich gehe in mein Zimmer, wo ich mich mit diesem Mittagessen auf das Sofa vor dem kleinen, braunen Tischchen setze. Von unten höre ich Frau Stößer. Sie ruft.

Das Telefon steht vor der Eingangstüre in Frau Stößers Wohnung im Erdgeschoß. Es ist in Ordnung, dass ich mich anrufen lasse. Telefonieren darf ich aber nicht. Es ist Karin aus Berchtesgaden.

Na, guten Tag der Herr! Alles im Lot?

Ja, klar, passt schon.

Wie sieht’s bei Dir heute Nachmittag aus, ich komme in die Stadt, weil ich bei Erich übernachte. Sollen wir uns vorher mal eben treffen?

O.k. Wo?

Könnte bei dir vorbeikommen!

Alles klar, wann?

Um halb sechs?

O.k.

Karin hat einen Freund. Der ist Busfahrer und viele Jahre älter als sie. Der Mann lebt in der Kreisstadt. Weil das ganze von ihren Eltern nicht gesehen werden soll, haben wir uns darauf verständigt, dass ich für sie den Lügner spiele. Sie übernachtet bei ihm, ist für ihre Eltern aber bei mir. Ihre Eltern haben meine Telefonnummer. Sie haben mich aber noch nie angerufen.

Nachmittags Zuhause

Weil ich nach dem Mittagessen, wie schon oft todmüde bin, kippe ich auf dem alten, dunkelgrünen Sofa einfach um und schlafe ein. Matthias, mein Tischnachbar in der Unterrichtsstunde bei dem Tennisplatzfeger hat endlich seine Meinung geändert. Ich habe schon zwanzig Mal in der Schulpause mit ihm vernünftig zu sprechen versucht. Er ist, genauso wie alle anderen Mitschüler ein Bayer. Er ist so ein Bayer, genauso wie der uns vom Platz fegende Lehrer. Eigentlich sind alle Lehrer an der Schule für Technologie solche Bayern. Ich bin froh, dass er nach so vielen Gesprächsversuchen endlich mit mir spricht. Ich sehe uns beide, wie wir auf einer der Sitzbänke in dem kleinen Grünstreifen hinter der Schule in der sonne sitzen und uns angeregt unterhalten. Ich habe Matthias erklärt, dass ich in Berchtesgaden ein, zwei Lehrer kennen lernen konnte, die ganz anders gewesen waren. Ich finde es erstaunlich, dass hier in der Schule in Traunstein anscheinend kein Lehrer unterrichtet, der die Schüler nicht in Wahrheit rausschmeißen will. Das sage ich ganz offen und ganz einfach zu Matthias. Matthias hat endlich verstanden, dass ich mit ihm darüber reden möchte.

Ich bin froh, es hat endlich geklappt, Matthias weiß endlich, dass ich ihn nicht ausnutzen will. Ich will mir nicht sein Wissen zu Eigen machen. Ich will mich nicht mit fremden Federn, seinen Federn, seinem Wissen vor der Schulklasse und den Lehrern schmücken. Ich will nur mit ihm darüber reden, wie es in der Schulklasse täglich ist. Ich will wissen, was er über diese Schule, über diese Lehrer, über diese Mitschüler denkt. Ich möchte hören, wie es ihm dabei geht, wenn er von Morgens bis Mittags, nicht fragen darf, ohne zu riskieren als dumm diffamiert zu werden. Das Gefühl der Denunziation vor der Schulklasse von fünfundreißig Mitschülern einschließlich mir, seinem Tischnachbarn. Dem Lehrer zuhören zu müssen, wie er eindringlich klar macht, dass Matthias der dumme Frager völlig Fehl am Platze ist. Das möchte ich mit Matthias besprechen. Was fühlt er, was denkt er, wenn er erstarrt nach vorne zur Tafel blickt? Das Schweigen der Schulklasse hinter sich und neben sich. Darüber möchte ich mit Matthias sprechen. Wie geht es Dir Matthias? Was fühlst Du, während Du die Worte dieses gebräunten, erholten Gebildeten, der vor der grünen Tafel tänzelt, hörst? Ich will das wissen, weil ich klären will, ob ich mit dir gemeinsame Sache machen kann. Wenn ich von Dir erfahre, wie Du darüber denkst, kann ich Dich unterstützen, könnten wir uns gegenseitig unterstützen, weil ich dann weniger Angst davor hätte auch von diesem gebildeten Denunzianten bloß gestellt zu werden.

Ich will nicht länger wie die andern Mitschüler ein schweigendes, braves, dummes Lamm spielen. Auch ich möchte, wie Du in der Schule etwas wissen. Ich würde gerne nachfragen, doch ich traue mich nicht. Matthias sitzt still in der Frühlingssonne neben mir auf der Parkbank. Wir sprechen lange miteinander. Zu lange, mir kommt das jetzt sehr lang und sehr ruhig vor. Ist die Schulpause nicht längst vorbei? Ich blicke auf meine Armbanduhr. Das tue ich langsam und etwas verdeckt, denn ich will nicht, dass Matthias denkt, dass ich es eilig hätte. Ich habe Zeit ihm zuzuhören, denn jetzt hat er endlich zu sprechen begonnen. Ich konzentriere mich auf seine Worte, denn er spricht sehr bayerisch. Ich verstehe das kaum. Aber ich spüre seine Erleichterung. Meine Worte müssen ihn erreicht haben. Er scheint zu merken, dass ich nicht länger sein Konkurrent sein will, wie es in der Schulklasse wo jeder gegen jeden sticht, alltäglich ist. Matthias sagt endlich, was er denkt. Er will genauso wie ich, dass Lehrer Fragen ordentlich beantworten. Er will gemeinsam mit allen Schülern in der Klasse weiterkommen. Er will, so wie ich, dass wir in der Schulklasse miteinander reden und Probleme die ein Mitschüler erkennt, besprochen werden. Er sieht, dass dieses dumpfe „Schleicht’s Eich, wenn’s des immer no need kapiert’s!“, der bayerischen Lehrer an dieser Schule jedem Mitschüler in der Klasse schadet.

Auch Matthias brütet wie ich nachmittags allein zuhause über den Büchern. Er erzählt mir von den Büchern. Er versucht zu verstehen, was in den Büchern steht. Er versucht aus den Büchern zu holen, was er mit Hilfe des Lehrers, oder mit Hilfe eines Gesprächs in der Klasse viel besser kapieren würde. Das geht aber in der Klasse nicht, weil sich dort jeder selbst am Nächsten ist. Das sagt Matthias! Endlich eine der das sagt! Ich bleibe ganz ruhig neben ihm sitzen, freue mich aber riesig, dass der so denkt. Er sagt mir, dass er schon oft gedacht hat, dass diese Bücher sehr schlecht sind. Es ist kaum möglich zu kapieren, was da drin steht. Nicht weil wir dumm sind, wie die Lehrer dieser Schule es täglich behaupten, sondern weil diese Schulbücher ohne Gespräch und Austausch über den Inhalt und ohne Fragen und Erklärungen gar nicht zu verstehen sind. Das habe ich bisher noch nie gedacht! Aber es könnte stimmen. Matthias könnte richtig liegen, die Bücher sind dafür gedacht, dass über den Inhalt gesprochen wird. Bisher glaubte ich tatsächlich, ich sei blöd. Ich brüte über mancher Erklärung im Buch stundenlang und finde des Problems Lösung trotzdem nicht. Das kann nur an mir liegen. So dachte ich bisher. Ich schaffe das Niveau der Schule einfach nicht! So war mein Denken bis heute. Matthias sieht das anders.

Jetzt zeigt mir Matthias ein Beispiel. Er hält mir das dicke Physikbuch vor’s Gesicht und überdeckt damit die ersten wärmenden Sonnenstrahlen des Frühlings. Wo hat er plötzlich das Physikbuch hergezogen? Ist die Schulpause immer noch nicht vorüber? Matthias fährt mit dem Finger über einen Text und zeigt mir dazu eine Abbildung in dem Buch. Dass die in dem Buch das Problem so kompliziert erklären! Da brauchst du Stunden, bis du endlich durchblickst, wie der Autor tickt. Erst dann kapierst du was gemeint ist. Matthias schreit jetzt fast. Manchmal sagt Matthias habe er gedacht, dass er richtig spinne. Erst nach vielen Stunden am Abend habe er dann kapiert welche Denke der Autor habe und warum er das Problem im Buch so schildert, wie er es schildert.

Matthias dreht mir jetzt kurz den Rücken zu. Ich höre ein Rauchen, wie Wasser, wie Tropfen oder vielleicht einen Fluss. Das sind wahrscheinlich die ersten Blätter im Frühlingswind, so denke ich jetzt. Sein Wissen, dieses Verstehen, so Matthias nun, werde er aber niemand anderem geben. Denn damit konne er im Physiktest beweisen, dass er was verstanden hat. Matthias knallt das dicke Physikbuch jetzt auf die Parkbank. Er rutscht ein gutes Stücken von mir weg. Das Rauschen wird lauter, es hört sich jetzt wie ein Trommeln an. Jetzt sieht er mich an, er fixiert mich. Mit seiner Hand, sie sieht schwer aus und ist groß, stützt er sich auf das Physikbuch. Du willst was von mir? Ausgerechnet Du? Du willst mein Wissen, meine schwere Arbeit, die ich nachmittags vor den Büchern investiere! Das wollt ihr doch alle! Matthias schreit jetzt plötzlich aufgebracht, die Ruhe ist verflogen, stattdessen höre ich ein Trommeln und Rauschen. Nix da Bürschen, daraus wird aber nichts! Jeder hier ist seines Glückes eigener Schmied! Matthias spricht eindeutiges Hochdeutsch. Was ist mit seinem Bayerisch passiert? Jetzt rücke ich ein Stück von Matthias ab. Ich rücke an den äußersten Rand der Parkbank, beinahe falle ich von der Bank. Erschrocken sehe ich Matthias an. Der lacht. Es ist ein gehässiges, schäbiges Lachen. Mit dem Zeigefinger, der dünn und lang ist, wie ein Stock fuchtelt Matthias vor meinem Gesicht herum. Jetzt zeigt er mit dem langen Finger auf die Wiese vor unserer Parkbank. Die ist zu einer grünen Tafel geworden. Mit dem langen Finger kritzelt er weiße Rechenformeln auf die Tafel. Die große Tafel schreibt er ganz schnell voll. Ab und zu blickt er zu mir auf. Er lacht mich gehässig an. Er fragt mich, ob ich weiß, was er da schreibt. Ich versuche den Eindruck vorzutäuschen, dass ich alles gut verstehe. Das gelingt mir aber nicht. Stattdessen laufen mir plötzlich Tränen aus den Augen. Ich kann die Tränen nicht aufhalten. Es sind dicke Tränen. Sie tropfen auf die grüne Tafel. Die weißen Formeln verlaufen. Meine Tränen werden stärker. Sie Trommeln jetzt auf die Tafel. Die weiße Kreide verschwimmt. Ich erkenne nichts mehr. Ich versuche Matthias zu erkennen. Der Sitzt ganz weit entfernt von mir, er sieht pitsch nass aus.

Regen trommelt auf das Hausdach. Wind peitscht gegen die Balkontür in meinem Zimmer in Frau Stößers Haus. Ich stehe langsam von dem dunkelgrünen Sofa auf, ich fühle mich schwer und matt. Ich ertaste meine Armbanduhr, im Zimmer ist es fast finster. Ich kann das Ziffernblatt nicht lesen, gehe deshalb zum Licht an der Balkontüre. Beinahe zwei Stunden lang habe ich geschlafen. Draußen geht ein schwerer Wolkenbruch nieder. Ich nehme mein Mittagsgeschirr vom Tisch vor dem Sofa und spüle es in der kleinen Küchenzeile ab.

Besuch

Karin ist pünktlich. Auf sie ist verlass, sie kommt nie zu spät. Sie bringt mir ein kleines, grünes Büchlein mit. Es ist ein Kochbuch für Junggesellen. Das ist kleine Provokation von Karin, obwohl sie es natürlich lustig findet, mir so etwas mitzubringen. Sie erklärt mir, dass die Portionen, die in dem Büchlein beschrieben sind für eine Person bemessen seien. Das sei beim Kochen eine große Hilfe. Karin ist trotz ihrer jungen Jahre eine gestandene Hausfrau. Sie ist etwas mollig, wirkt bodenständig und strahlt Zuversicht aus. Sie lacht viel, das sehe ich ihr an.

Sie ist verheiratet. Sie hat aber wohl leider den falschen Mann geheiratet. Der Busfahrer wäre wohl der richtige für sie gewesen. Sie hat aber einen jungen Menschen ihres Alters geheiratet, den ich aus meiner früheren Jugendgruppe kenne. Ich glaube, sie hat einfach zu schnell und zu früh geheiratet. Ihr Mann hat das Heiraten zu schnell von ihr gewollt. Vielleicht hatte er gemerkt, dass er nicht der richtige ist und hat sie deshalb zu einer zügigen Hochzeit gedrängt. Das rächt sich nun für ihn aber auch für Karin. Sie lebt nun mit einer schweren, belastenden Lüge. Sie liebt den Busfahrer, nicht ihren Mann. Ihr Mann wiederum lebt in dem Glauben, er habe es geschafft Karin an sich zu binden.

Ihr Glück ist, dass sie einige wenige Menschen kennt, denen sie dieses Geheimnis anvertrauen kann. Das macht die Sache für sie leichter. Einer davon bin. Und sie hat eine gute Freundin, die ihre Situation kennt. Ich muss gar nicht viel tun, um Karin zu unterstützen. Es reicht, wenn sie mich hin und wieder besuchen kommen kann und wenn sie ihren Eltern und ihrem Mann erzählen kann, dass sie in der großen Kreisstadt bei mir zu Besuch vorbeischaut und bei mir im Haus von Frau Stößer übernachtet. Ich bin für ihren Mann offenbar ungefährlich und für ihre Eltern glaubwürdig. Erstaunlich daran ist, dass ich weder mit ihrem Mann noch mit ihren Eltern über Karins Besuche bei mir in der Kreisstadt je gesprochen habe. Die haben bisher noch nie bei mir angerufen, um zu fragen, ob Karin tatsächlich hier ist, um das zu überprüfen. Ich habe nichts weiter zu tun, als Karins Anweisungen und Vorschläge in dieser Sache zu befolgen und sie gewähren zu lassen.

Sie kommt und erzählt mir, dass sie sich mit ihrem Busfahrer trifft. Sie sagt mir exakt, um wie viel Uhr sie zuhause losgefahren ist und wann sie in Traunstein angekommen ist. Sie sagt mir genau, um welche Zeit sie von mir weg fährt und wann sie wieder in Berchtesgaden ankommen wird. Sie erklärt exakt, was sie in der Kreisstadt alles gekauft hat, in welchen Geschäften sie um welche Uhrzeit vorbei schaut oder ob Sie sich mit anderen Personen zum Beispiel aus der Jugendgruppe trifft. Meist kauft Karin in der Kreisstadt Wolle unterschiedlichster Art, in verschiedenen Geschäften. Sie strickt sehr viel, weil das auf sie beruhigend wirkt. Ich schreibe mir alles sauber in einen Block. Den halte ich auf meinen Schreibtisch griffbereit. Wenn Frau Stößer wegen einem Telefonanruf nach mir ruft, nehme ich immer diesen Block mit hinunter zum Telefon. Im vorderen Teil habe ich Notizen, Termine und Telefonnummern, die ich am Telefonapparat bei Frau Stößer notiere. Im hinteren Teil des Blockes habe ich, von hinten angefangen, genau mit Datum und Wochentag notiert, wann Karin in der Kreisstadt war, um wie viel Uhr sie kam, wann sie wieder fuhr und was sie eingekauft hat. Noch nie hat ihr Mann oder haben ihre Eltern bei Frau Stößer angerufen um mich danach zu fragen.

Karin sieht blass aus. Sie lacht zwar aber sie wirkt abgehetzt. Sie bittet mich den Zeitplan ihres diesmaligen Aufenthaltes in meinem Block zu notieren. Sie sieht auf ihre Armbanduhr und sagt, sie habe nur eine halbe Stunde Zeit. Der Busfahrer habe dann einen Schichtwechsel und sie könnte bei ihm zusteigen. Der Mann wohnt außerhalb der Kreisstadt in einem winzigen Nest. Ich biete ihr eine Tasse Tee an, den sie gerne nimmt. Karin sitzt mir gegenüber vor dem kleinen Tischchen in dem orangenfarbigen Schaumstoffsessel, den ich aus meinem Zimmer in Berchtesgaden mit nach Traunstein umgezogen habe. Ich sitze auf dem grünen Sofa. Das Sofa habe ich erst vorletzten Samstag auf dem gleichen Flohmarkt gekauft, auf dem ich auch das Waschmaschinen-Ei erstanden hatte. Karin mustert das Sofa. Etwas schäbig findet sie aber, irgendwie passend zu dem Mobiliarsammelsurium in meinem Zimmer. Das Sofa habe ich für nur drei Mark erstanden. Der Verkäufer hatte es auf der Ladefläche eines Anhängers. Eigentlich wollte er das gar nicht verkaufen, sondern zum Sperrmüllsammelplatz bringen. Der Platz hatte aber am Samstagvormittag schon um zwölf Uhr dichtgemacht. Also nahm er das Ding zum Flohmarkt mit, auf dem er grundsätzlich nicht vor halb eins auftauche. Das erklärte mir der Verkäufer. Weil um diese Uhrzeit der Verkauf am besten laufe. Als ich ihn fragte, was das Sofa auf seinem Hänger kosten sollte, lachte der Mann herzlich. Schließlich verständigten wir uns auf drei Mark. Ich musste dem Verkäufe um halb fünf beim Abbau seines Standes helfen, als Gegenleistung fuhr der Verkäufer mit mir zum Haus von Frau Stößer, schließlich half er mir sogar dabei, das Sofa hinauf in mein Zimmer zu schleppen. Montagnachmittags, als Frau Stößer mit ihrem großen Mercedes zum Einkaufen in die Stadt gefahren war, schob ich das Sofa auf den Balkon hinaus. Dort bearbeitete ich es mit einem Teppichklopfer. Das staubte wie eine riesige Rauchwolke.

Karin lächelte mich an, nachdem ich alles brav in den Block notiert hatte. Sie hat immer Neuigkeiten aus Berchtesgaden dabei. Darüber fängt sie stets in der gleichen Weise zu berichten an.

Weist du schon das Neuste?

Nein.

Willst du’s denn überhaupt wissen?

Na klar, schieß los.

Dorit ist schwanger.

Nein!

Ich sehe Karin verblüfft an.

Wie ist das gegangen?

Wenn Du’s nicht weißt, ist klar dass sie nicht von Dir Schwanger ist.

Karin lacht verschmitz.

Sie hat vor einem halben Jahr, gleich als es mit Euch beiden vorbei gewesen war, einen neuen Mann kennen gelernt. Der ist der künftige, stolze Vater. Er war auf der Durchreise im Ort. Beide haben sich gleich ineinander verguckt.

Oje.

Ich stöhne ein bisschen vor mich hin, ob dieser Nachrichten. Ich versuche entspannt und unbeteiligt zu wirken. Ich lehne mich in das grüne Sofa zurück, schenke Karin noch etwas Tee nach. Dabei sehe ich wie meine rechte Hand zu zittern beginnt. Ich stelle deshalb die Kanne, nachdem die Tasse nur halb gefüllt ist zurück auf das Stövchen.

Eine echte Überraschung für Dich geh?

Karin lächelt.

Das schein ja alles recht schnell gegangen zu sein mit den beiden.

Diesen Satz versuchte ich möglichst einsilbig und unbeteiligt zu sprechen. Das gelingt mir aber nicht.

Bist doch wohl nicht eifersüchtig auf ihren Liebhaber, den du nicht einmal kennst?

Nein, nein.

Ich schüttle den Kopf. Ich weiß einfach nicht was ich sein soll.

Noch ne Nachricht, oder reicht das schon?

Karin lacht beinahe frech.

Nein, das genügt völlig.

Ich hab auch gar nichts weiter anzubieten.

Sind die zwei denn noch beieinander?

Das sieht schon so aus. Der Typ, der im Übrigen ganz nett ist, plant in den Ort zu ziehen. Die suchen sich eine Wohnung und in knapp sechs Monaten ist es dann soweit.

Dorit wollte doch studieren?

Ich glaube, das hat die jetzt erst mal abgehakt, unter den Umständen.

Aha.

Karin erhebt sich aus dem orangenfarbigen Sessel.

Ich glaub ich muss jetzt, sonst verpass ich am Busbahnhof den Schichtwechsel.

Ich begleite Karin hinaus über den Gartenweg durch das große Schmiedeeisentor bis zu ihrem Auto. Es kam noch nie vor, dass sie mit dem Auto ihres Mannes zu mir fuhr. Sie fährt sonst immer mit dem Zug und dem Bus. Weil sie aber das Auto früh am nächsten Morgen in die Werkstatt zur Inspektion bringen will, hat sie ihrem Mann vorgeschlagen damit zuvor noch zu mir in die Kreisstadt zu fahren, um von hier aus morgen früh direkt in die Autowerkstatt zu fahren. Karin steigt ein, wendet den Wagen auf dem Parkplatz vor dem Moulin Rouge und braust winkend davon.

Ich steige die Treppenstufen im Haus von Frau Stößer langsam hinauf, gehe in mein Zimmer und nehme auf dem Sofa platz. Ich hatte Dorit zwei Monate vor meinem Wegzug aus Berchtesgaden kennen gelernt. Der Kontakt entstand über einen Freund in der Jugendgruppe, der mit ihr in einer Schulklasse saß. Es war eine Abiturklasse. Der Freund hatte mich gefragt, ob ich mit ihm und einigen Schulfreunden im Sommer für ein paar Wochen eine Reise nach Griechenland unternehmen wolle. Unter den Schulfreunden war Dorit. Wir hatten uns zwei, drei mal getroffen um die geplante Reise zu vereinbaren, eine Route und den Termin gemeinsam festzulegen. Von da an besuchte ich Dorit, die am Rande von Berchtesgaden, etwas außerhalb in einer Mehrfamilienhaussiedlung bei ihren Eltern wohnt, regelmäßig. Wir verstanden uns gut. Dorit ist sehr gebildet und sehr vielfältig interessiert. Sie erzählte gerne von politischen Sendungen und satirischen Beiträgen, die sie gerne im Fernsehen sah. Sie nahm seit Jahren Tanzunterricht, ihr Berufswunsch ist das Tanzen, das man offenbar studieren kann. Deshalb strebte sie das Abitur an, dass sie sehr gut bestanden hat.

Abends war ich bei meinen Pflegeeltern in den letzten Wochen in deren Haus nur noch ganz selten zuhause. Ich kam immer sehr spät nach Hause. Ich besuchte Dorit, hatte aber nie bei ihr in ihrem Zimmer in der Wohnung ihrer Eltern übernachtet. Ich war oft mit dem alten, aber guten Moped aus der Garage bei meinen Pflegeeltern zu ihr gefahren. Das Moped durfte ich eigentlich nicht benutzen. Meine Pflegeeltern hatten mir das nicht erlaubt. Ich habe es mir abends trotzdem oft genommen. Die Pflegeeltern haben das entweder nicht bemerkt oder sie ließen mich einfach gewähren, weil mein Aufenthalt bei ihnen ohnehin auf nur noch wenige Wochen begrenzt gewesen war. Das Moped verwendete ich gegenüber Dorit stets als Vorwand, wegen dem ich spät abends immer wieder nach Hause zu fahren hatte, damit es früh morgens in der Garage stand. Wegen ihrer täglichen Arbeit waren die Pflegeeltern stets sehr früh am Morgen unterwegs. Das fehlen des Mopeds wäre aufgefallen.

Der Urlaub in Griechenland mit der Abiturientengruppe und Dorit war wunderschön. Es war mein erster Urlaub nach Volljährigkeit und Auszug bei den Pflegeeltern. Ich hatte den Urlaub mit Geld bestritten, das ich zuvor bei einem Ferienjob verdient hatte. Es war sehr wenig Geld, reichte aber. Die Gruppe Abiturienten war auch deshalb sehr angenehm, weil keiner von denen hohe Ansprüche hatte. So war es in der Gruppe kein Problem für mich, mit meinem wenigen Geld auszukommen. Es war eine Zugreise, wir waren mit Rucksäcken von Ort zu Ort unterwegs. Der Kontakt zu Dorit war vertraut. Wir haben Händchen gehalten und uns bestens miteinander verstanden. Mehr wurde daraus aber nicht. Ich war mir nicht sicher. Sie war sich sicher. Wir reisten per Zug aus Griechenland zurück. Vor diesem Urlaub hatte ich meinen Umzug in die Kreisstadt organisiert. Am Bahnhof verabschiedete sich die Gruppe voneinander. Dorit und ich blieben allein am Bahnhof stehen. Sie fragte mich, ob sie mit mir mitkommen dürfe, in die große Kreisstadt. Ich nahm ihre Hand, sah sie an und versuchte zu lächeln. Dann ließ ich sie los. Seitdem habe ich sie nicht wieder gesehen.

Abends Zuhause

Das Fernsehprogramm ist grauenvoll. Ich empfange mit der alten Kiste drei deutsche Sender und einen Sender aus Österreich, in dem ständig dicker Schnee rieselt. Ich versuche mich von meinen Gedanken, die seit Karins Besuch kommen und nicht verschwinden wollen, abzulenken. Mein Abendbrot habe ich hinter mir, ich knabbere an Salzstangen aus einer Knistertüte herum. Meine Schularbeiten habe ich nicht erledigt. Ich müsste für morgen noch einiges tun. Aber die Bücher kommen mir ganz weit entfernt vor, obwohl sie auf einem ordentlichen Stapel neben dem Sofa auf dem Schreibtisch liegen.

Neben Dorit gibt es da eine andere Frau, Martina. Von ihr hatte ich das Auto geliehen, mit dem ich meinen Umzug von Berchtesgaden nach Traunstein gemacht hatte. Ich glaube, sie habe ich wirklich geliebt. Martina hat mich aber nicht geliebt. Sie war mit mir lange Zeit irgendwie befreundet. Dann kam Dorit. Sie liebte mich. Was hätte ich besser machen können? Warum liebt mich nicht die richtige Frau? Oder würde ich Martina niemals geliebt haben, wenn sie mich, wie Dorit von Anfang an geliebt hätte?

Jetzt wäre es gut, wenn Frau Stößer von unten hoch rufen würde, dass ich einen Anruf hätte. Jetzt wäre es gut, wenn Martin oder Thomas anriefen. Heute Abend habe ich kein Arbeitsgruppentreffen mit dem Arbeitskreis, den Thomas rund um die Verkaufsstände der Waren aus der sogenannten Dritten Welt gegründet hatte. Das wäre jetzt eine ausgezeichnete Ablenkung für mich. Die Arbeitsgruppe findet leider erst morgen am Dienstag statt. Jetzt wäre es gut, wenn der Jugendgruppenleiter vorfahren würde, um mich ins Auto einzuladen, mit mir den Wagen auf dem Parkplatz vor dem Moulin Rouge zu wenden, und wie Karin davon zu düsen, um mit mir zu einem politischen Arbeitskreis in die Großstadt zu fahren. So ein Termin mit dem Jugendgruppenleiter steht aber erst wieder nächste Woche an.

Da hat mir Karin ja was hübschen eingebrockt, mit dieser tollen Nachricht von Dorits Schwangerschaft. Wäre es gut gewesen, mit ihr zusammen zu bleiben, obwohl ich nicht sicher gewesen war? Ich werde jetzt ein bisschen wütend auf Karin. Die kommt hier her, erzählt mir was und verschwindet wieder. Danach sitze ich da und komme davon nicht mehr los. Karin hat mir mal erzählt, dass ihr das Stricken hilft, aber auch das Putzen. Wenn es schwierig wird, tut sie entweder das eine oder das andere. Ich stehe vom Sofa auf, schalte den Fernsehapparat ab und gehe ins Bad. Wenn putzen hilft, hilft vielleicht auch Wäschewaschen. Ich stopfe Klamotten in das silberfarbige Wäsche-Ei. Oben durch den Deckel lasse ich warmes Wasser hineinlaufen und gebe Waschmittel dazu. Danach fange ich zu kurbeln an.

Nachts um drei Uhr wache ich auf. Der Wecker gibt wieder sein gleichförmiges Keramikbecher und Wasserglas-Ticken von sich. Ich sehe an der Dachschräge die Linie am Rande des Lichtes, das durch die Balkontüre fällt und sich in dem dunklen Schatten an der Wand bewegt. Die Bewegung scheint langsamer geworden zu sein. Der Sturm draußen hat sich gelegt. Ich stehe auf und sehe durch die Balkontür hinaus. Der Mond nimmt zu. Es ist sternenklar. Unten sehe ich die Lichter der Kreisstadt. Der Fluss schlängelt sich in der Dunkelheit wie eine Gischtschlange durch die Stadt. Der Wasserstand hat erneut zugenommen. Ich ziehe meine Klamotten an. Ich ziehe den dicken Wollpullover über, den mir Karin und Martina gemeinsam gestrickt hatten und zu Weihnachten geschenkt haben. Sie haben dafür die dickste Wolle verwendet, die zu bekommen war. Der Pullover ist schwer und warm. Das Balkonthermometer zeigt minus drei Grad an. Hoffentlich ist das die letzte Frostnacht in diesem Frühjahr. Ich nehme die Jacke und tapse leise die Wendeltreppe ins Erdgeschoss hinunter. Draußen ist es saukalt aber trocken und windstill. Die Mülltonne vor dem Moulin Rouge steht wieder ordentlich links vom Haus an der Hausmauer. Der Parkplatz ist voller als in der Nacht zuvor, ich zähle zehn große Limousinen. Ich laufe den Waldweg hinunter Richtung Stadt. Das muss komisch sein, wenn man da reingeht, die Leute müssen sich doch kennen. Der Puff neben dem Haus von Frau Stößer ist im Grunde winzig, die Kreisstadt ist überschaubar. Die Kennzeichen der Autos weisen auf die Kreisstadt und den Landkreis hin. Aber auch der Landkreis ist klein und überschaubar.

Der Fluss steht nun fast bis zum Fußweg auf dem Hochufer. Die Feuerstelle ist wieder überspült, so wie im November. Aber Holz und Plane sind noch da. Beides liegt einige Meter höher als die Feuerstelle. Ich kann kein Feuer machen, so lange der Fluss so hoch steht. Vielleicht fällt der Pegel bereits. An dem unteren Betonpfeiler der Brücke nahe der überspülten Feuerstelle sehe ich einen angefrorenen Wasserabdruck. Vielleicht war der Pegelstand tagsüber dort oben. Das Getöse des Flusses unter der Brücke ist ohrenbetäubend. Ich prüfe die grüne Plane über dem Holz und die Heringe im Boden. Der Hering, den ich vergangene Nacht befestigt hatte fehlt, ich suche und finde ihn. Ich schlage die Plane erneut in den gefrorenen Boden. Auf dem Rückweg nehme ich die Straße, denn die Taschenlampe hat schlapp gemacht. Ich sehe trotz des Mondscheines die kleinen Eisschollen im Matsch und auf den Felsen des Pfades ohne Taschenlampe zu schlecht. Auf der Straße kommen mir mehrere Autos entgegen. Es sind große Limousinen, die ich zuvor noch auf dem Parkplatz vor dem Moulin Rouge gesehen hatte. Außer ihnen fährt um diese Uhrzeit kein Auto durch den Wald. Am Flussufer unterhalb des Hauses von Frau Stößer biege ich von der Straße ab und laufe hinauf durch den Wald. Der Parkplatz ist leer. Das Licht am Eingang des Moulin Rouge schimmert finster, die weitere Beleuchtung an dem Haus, die zuvor noch eingeschaltet war, ist aus. In der Eingangstür ins Haus von Frau Stößer ziehe ich meine verdreckten Winterstiefel aus. Ich tapse im Haus leise die Treppe hinauf und verschwinde in meinem Zimmer. Die schmutzigen Stiefel stelle ich auf den Balkon neben die Balkontüre.

Ich gehe ich die winzige Küche und setzt Wasser auf. Ich setzte mich auf einen Stuhl in dem Zimmer, das ich eigentlich nicht betreten darf. Die Stühle stehen rund um einen großen Tisch. Dahinter liegt die kleine Küchenzeile. Auf der anderen Seite des Zimmers ist eine Fensterfront mit Balkontüre hinaus auf den gleichen Balkon auf den auch meine Balkontüre führt. Ich sitze in der Finsternis und Stille dieses großen Raumes und warte bis das Wasser kocht. Frau Stößer empfängt an diesem großen Tisch einmal pro Woche nachmittags zehn bis zwölf Damen, die alle etwa in ihrem Alter sind. An den Nachmittagen geht es in diesem Zimmer, das neben meinem Zimmer liegt, lebhaft manchmal sogar laut zu. Das ist ungewöhnlich in diesem Haus, in dem es abgesehen von seltenen Besuchen, die Frau Stößer in ihrer Wohnung empfängt, sehr ruhig ist. Die Damen sind ein Bastelkreis. Frau Stößer erklärte mir das, als sie mich in ihr Haus einführte. Ich könne die Küchenzeile nutzten, wenn ich sie sauber hielte und wenn ich sie bitte nicht gerade an dem Nachmittag betrete, an dem die Damen kommen. Gebastelt wird das ganze Jahr über wöchentlich einen Nachmittag lang für einen gemeinnützigen Verkaufsstand auf dem Weihnachtsbazar. Seitdem Thomas den Arbeitskreis rund um die Verkaufsstände der Dritte-Welt-Waren gegründet hat, geht es auch bei mir im Zimmer einmal pro Woche etwas lauter zu. Die Lautstärke ist aber wohl nicht zu vergleichen mir Frau Stößers Damengruppe. Jeden Dienstag treffen wir uns am Abend in meinem Zimmer um die Verkaufsstände zu organisieren, aber auch um zu diskutieren oder um Handzettel und Informationsbroschüren für die Verkaufsstände zu erarbeiten. Dieser Kreis besteht aus Ida und Pete, zwei Mädchen, die Thomas aus seiner früheren Schule kennt und aus Martin, Thomas und mir.

Bevor der Wasserkessel zu pfeifen beginnt nehme ich ihn von der heißen Platte. Ich prüfe ob mein Stuhl an dem Tisch in dem Zimmer steht wie zuvor. Mit dem heißen Wasser gehe ich zurück in mein Zimmer. Ich brühe mir einen starken Kaffee auf. Mit dem dampfenden Becher setze ich mich an den Schreibtisch. Ich nehme mir zuerst die Einträge der letzten Physikstunde vor. Damit beginnt mein nächster Schulvormittag. Bis am frühen Morgen der grüne Blechwecker zu scheppern beginnt, arbeite ich mich am Schreibtisch durch den bevorstehenden Schulvormittag. Den Bücherstapel habe ich in der Reihenfolge der heutigen Schulstunden sortiert und packe ihn jetzt in meine Tasche. Ich gehe ins Bad, putze meine Zähne, stehe kurz unter der Dusche, setze Wasser für den Tee auf, schmiere mir zwei Marmeladenbrote, setze mich mit dem Tee und den Broten auf das Sofa und lese nochmal etwas in dem Materialkundebuch nach. Ich kann mir das einfach nicht merken. Woran das wohl liegen mag? Die Technik ist im Moment nicht meines. Die gesamte Theorie, die da dahinter steckt, erscheint mir leblos. Die Unterrichtsstunden an dieser Schule könnten das lebendig machen. Das Gegenteil aber ist der Fall. Mein Gebüffle jeden Tag scheint immer weniger zu nützen. Der Platzwart würde mir sofort erklären, woran das liegt, bevor mich der gebildete, satt gebräunte Bavarese im glänzenden Hemd mit einem kräftigen Matchball von meinem Schulplatz fegt. Es liegt natürlich an meiner Art zu lernen. Das, was ich heute Nacht gemacht habe, bringt zum Beispiel gar nichts. Es ist doch sonnenklar, das einer der todmüde in die Schule kommt, dort nichts zerreißen kann. Da ist es schon berechtigt, wenn der Feger an die Tafel kommt und schreit: „Sie verschwenden hier in der Schui bloß unsere und erna Zeit. Suachens erna an anderen Zeitvertreib oder lassens erna am besten glei einglasen!“

Schulvormittag

Im Physikunterricht am Morgen wird eine spontane Extemporale über ein Teilgebiet der Lasertechnik geschrieben. Ich habe Glück, denn tatsächlich kann ich die Fragen verstehen. Sie haben mit denjenigen Inhalten und Dingen zu tun, die in der letzten Stunde in der Vorwoche am Donnerstag behandelt worden waren und über die im Physikbuch unter dem entsprechenden Kapitel nachzulesen war. Der Physiklehrer verteilt vervielfältigtes, gelbliches, glänzendes Papier. Er hat die Ex mittels des immer seltener gebräuchlichen Linoleumdruckverfahrens vervielfältigt. Blaue Tintendruckschrift auf gelblich glänzendem Papier. Das Papier hat die Eigenschaft, rechts und links nach unten zu fallen, dabei auch schnell mal abzuknicken, wenn man das Blatt in der Mitte hochhebt. Das Papier und der Druck erinnern mich an meine alte Schule in Berchtesgaden. Dort war alles, was die Lehrerin im Unterricht verteilt hatte in solcher Weise auf solchem Papier gedruckt. Die Lehrerin kurbelte das Papier und ihre Vorlage selbst durch die Maschine, die im Wesentlichen aus zwei Walzen und der Druckvorlage bestand. Auf die Walzen wurde mit einem Schaber möglichst gleichmäßig die Tinte aufgebracht. Dass der Physiklehrer das moderne Thema mittels Vervielfältigung anhand der inzwischen veralteten Drucktechnik abfragt, finde ich gut. Was er da abfragt finde ich schwierig. Wie der Lehrer dabei auftritt finde ich unmöglich. Es ist das typische Auftreten der Lehrer die mich an dieser Schule unterrichten, solches Auftreten kannte ich von keiner meiner vorhergehenden Schulen.

Der Mann betritt morgens den Klassenraum ohne einen Schüler auch nur anzusehen, geschweige denn die Schulklasse zu begrüßen. Den großen, schwarzen Aktenkoffer stellt er auf seinen Lehrertisch und knipst klackernd die Verschlüsse auf. Einen Schüler aus der ersten Reihe, dessen Name er offenbar nicht kennt und wohl nicht kennen lernen will, weist er zu sich. Dem drückt er einen Stapel Papier in die Hand, den er mit einem festen Griff aus seinem Aktenkoffer hebt.

Verteilen!

Alle Unterlagen vom Tisch!

Das plärrt er in den Klassenraum, spricht damit aber keinen von uns an, meint uns aber eindeutig mit dieser Ansage. Er spricht, als sei der Raum vor ihm leer.

Sie benötigen nur ein funktionsfähiges Schreibgerät!

Sofort packen die Mitschüler und ich alles, was vor uns auf dem Tisch liegt in die Schultaschen. Übrig bleibt nur ein Stift.

Im Zimmer herrscht totenstille.

Der Verteiler beeilt sich, die Blätter auf dem Kopf liegend auf den Tischen zu verteilen. Ich berühre das Blatt nicht. Ich berühre es selbst dann nicht, als es droht, wegen dem Wind, den der Verteiler im Vorbeihuschen macht, vom Tisch zu fliegen. Ich kenne dieses Spiel aus dieser Schule. Jeder, der das Blatt vor dem Befehl des Lehrers berührt, hat verloren. Meine Arme sind vor meiner Brust verschränkt. So ist klar, dass ich weder auf dem Tisch noch unter dem Tisch irgend ein Papier lese.

Der Verteiler ist fertig und liefert beim Physiklehrer den Rest seiner nicht verteilten Blätter ab. Jetzt schaut der Physiklehrer angestrengt auf seine riesige, dicke, silberne Armbanduhr. Er drückt auf einen Seitenknopf an der Uhr. Er blick auf, starrt in den Klassenraum an einen Punkt, den ich nicht sehe. Sein breiter Mund öffnet sich, jetzt höre ich ihn:

Ab jetzt hamm’s zwanzig Minuten!

Alle Mitschüler wissen was los ist. Jeder dreht sofort das Papier um. Sämtliche Schüler im Zimmer beginnen ohne Zeitverzögerung auf dem Papier herum zu kritzeln. Auch ich fülle das Papier oben rechts sofort mit meinem Namen und blicke die nächsten zwanzig Minuten nicht mehr von diesem Papier auf. Ich rattere eine Frage nach der nächsten durch. Schreibe zu jeder Frage so schnell wie möglich so viel mir dazu einfällt hin. Und tatsächlich fällt mir etwas ein. Es sind diejenigen Dinge, die ich wenige Stunden zuvor, nachts an meinem Schreibtisch im Physikbuch gelesen hatte. Alles, woran ich mich erinnern kann, was zu den jeweiligen Fragen passt, schreibe ich jetzt hin. Dabei achte ich darauf, dass ich mich bei jeder Frage höchstens drei Minuten lang aufhalte. Es sind sieben Fragen. Bei zwanzig Minuten Zeit kann ich mir mehr Zeit pro Frage nicht leisten. Weil jede Frage mit Punkten bewertet wird, glaube ich daran, dass es effektiv ist, möglichst alle Fragen abzuklappern anstatt mich an einer festzubeißen. Bei diesen Tests unter diesem Zeitdruck geht es nicht darum tatsächlich etwas verstanden zu haben. Die Materie wurde mir nie verständlich erklärt. Sie wurde vergangene Woche von diesem Lehrer an die Tafel gekritzelt. Ich habe sie heute Nacht im Physikbuch gefunden. Verstanden habe ich sie nicht, erinnere mich aber an den Inhalt.

Darum geht es. Glücklicher Weise habe ich das Kapitel im Physikbuch erst heute Nacht angestrengt und verbissen gelesen. Ich habe es in mich hineingezwungen. Die Methode ist mein Alltag. Diese Schule und ihre Methoden sind mein Alltag. Ich lese Sätze und Formeln und wiederhole sie so oft bis ich das Gefühl habe, dass ich das behalten kann. Um das zu erreichen muss ich die Inhalte mit Gewalt und Kraft in mein Hirn hineinprügeln. Ich muss einen inneren Widerstand überwinden, das wissen zu wollen. Wenn das geschafft ist, muss ich alles stupide so oft wie möglich wiederholen. Das habe ich heute Nacht getan. In meinem Alltag geht es darum, möglichst schnell und möglichst viel Wissen wiederzukäuen und in solchen Prüfungen wie heute Morgen einfach wieder auszukotzen. Ich höre leises rascheln von rechts neben meinem Tisch. Ich höre ein leises Flüstern. Es ist kaum hörbar. Aber es ist deutlich vorhanden. Da will einer was von mir wissen. Ein Nachbar von rechts, es ist nicht Matthias, der sitzt links von mir. Der da was von mir will, den kenne ich nicht, obwohl ich schon ein knappes halbes Jahr in dieser Schule sitze. Mit dem habe ich noch nie gesprochen. Das geht unmöglich. Ich kann dem Flüsterer nicht helfen. Der gefährdet mich, wo ich doch heute Morgen tatsächlich etwas zu wissen glaube. Ich habe das erst heute Nacht gelesen. Ich neige meinen Kopf noch dichter herunter zu dem Blatt auf das ich schreibe und lese und schreibe und lese. Ich muss so viel wie möglich von dem Wissen an das ich mich aus diem Kapitel erinnere hier auf dieses gelbliche Blatt kotzen. Der Lehrer ruft jetzt laut einen Namen. Welcher Name ist das? Wer ist das, den er da ruft? Es ist der Namen meines rechten Nachbarn.

Vortreten und abgeben!

Ich höre jetzt leise Flüche. Ich weiß nicht ob der Nachbar mich meint. Er rückt seinen Stuhl nach hinten. Jetzt geht er mit seinem Papier in der Hand vor zum Physiklehrer.

Das verstehe ich nicht.

Ruhe!

So brüllt der Physiklehrer ihn an.

Gebens her!

Er entreißt meinem Nachbarn sein Papier. Nun weist er mit dem linken Arm, an dessen Hand die schwere Armbanduhr hängt, zur Tür.

Raus, in elf Minuten sand’s wieder da, sonst brauchans garnicht mehr kemman!

Ich gehe zu Frage Nummer vier. Für die verbliebenen vier Fragen sind nur noch elf Minuten übrig. Ich lese, schreibe, schreibe und schreibe.

Schluss jetzt, sofort die Schreibgeräte neben dem Papier ablegen.

Ich und alle anderen Mitschüler tun was der Physiklehrer so befiehlt. Der winkt wieder dem unbekannten Mitschüler in der ersten Reihe zu.

Einsammeln!

Schnell geht der Mitschüler Reihe für Reihe durch, sammelt alle Papiere ein und liefert sie vorne ab. Die Klassentür öffnet sich, herein kommt mein rechter Nachbar, der mir zuvor von rechts zugeflüstert hatte. Der Lehrer würdigt ihn keines Blickes. Der Mitschüler setzt sich rechts von mir an seinen Tisch. Er starrt nach vorne Richtung grüner Tafel. Die Anspannung, welche ich wegen dieser kurzen Prüfung spüre, interessiert den Lehrer nicht. Ich spüre sie wegen meinem schnellen Atmen und ich spüre auch das Atmen der Mitschüler ringsum. Der Lehrer steckt den Papierstapel in seine Aktentasche. Er schlägt im Physikbuch eine Seite auf, öffnet die Tafel und beginnt dort einen Text zu notieren. Laut referiert er in Richtung der Tafel über das nächste Kapitel welches im Physikbuch im Anschluss an die Lasertechnologie behandelt wird. Bis zum Ende der Stunde schreibt er die Tafel restlos voll. Dann teilt er die Aufgabennummern aus dem Physikbuch mit, welche bis zur morgigen nächsten Physikstunde in diesem Zusammenhang zu lösen sind. Der Gongschlag ertönt. Der Lehrer lässt sein Physikbuch in seiner schwarzen Aktentasche verschwinden und verlässt wortlos das Klassenzimmer. Meine Mitschüler und ich verräumen sämtliche Unterlagen dieser Stunde in unseren Taschen. Der Tisch wird nun vom nächsten Buch belegt, das ist Mathematik. Nach wenigen Minuten, ich spreche in dieser Zeit niemanden an und werde nicht angesprochen, sondern blicke einfach nur zum Fenster hinaus, erscheint der Platzfeger in seinem blau glänzenden, weit geöffneten Hemd. Der Mann spricht wenigstens ein Paar grüßende Worte.

Setzens erna, und san’s ruhig.

Musterung

Bereits um halb zwölf Uhr verlasse ich heute das Schulgebäude. Mit einer Kopie des Musterungsschreibens das mir im Sekretariat abgenommen, und vor meinen Augen in meiner Schulakte abgeheftet wird, verabschiede ich mich. Das Kreiswehrersatzamt finde ich in einem runtergekommenen, hohen, vom Straßenverkehr grau verschmutzten Gebäude an einer vielbefahrenen Kurve im unteren Teil der Kreisstadt. Im ersten Stockwerk dieses Hauses betrete ich durch eine weiße, hohe Schwingtür einen deckenhoch gefliesten Raum, der mit einem Tresen ausgestattet ist, dem gegenüber an der Wand eine Stuhlreihe steht. Dort sitzen eine Reihe junger Männer. Die meisten von ihnen haben ein Schreiben, wie ich es in meiner Schultasche habe, in der Hand. Ich setze mich auf einen freien Stuhl. Hinter dem Tresen befinden sich hohe Regale und ganz oben sehe ich ein paar Fenster, die mit gewelltem Milchglas verschlossen sind. Dass draußen jetzt die Sonne scheint lässt sich in dem hohen Raum nicht nachvollziehen. Das wenige Licht, das da oben einfällt bleibt unsichtbar, weil der gesamte Raum von der Eingangstüre bis zur Türe am Ende des langen Raumes mit drei Reihen Neonröhren durchzogen ist. Hinter dem Tresen laufen drei Frauen mittleren Alters auf und ab. Sie sortieren graue Papiere in den Regalen hinter sich in unterschiedliche Ordner ein. Hin und wieder holen sie aus einem Ordner ein Papier heraus, das sie auf den Tresen legen. Eine Frau sitzt an einem Tisch hinter dem Tresen, wo sie eine Schreibmaschine bearbeitet. Vor dem Tresen, nahe der Eingangstür, steht ein junger Mann. Er ist offenbar gerade an der Reihe. Er überreicht sein Musterungsschreiben. Er kramt in einer kleinen Tasche nach seinem grauen Personalausweis, den er in der Tasche findet und auf den Tresen legt. Die Frau prüft beides und schickt den jungen Mann weiter zur nächsten Frau am Ende des Tresens. Diese Frau übergibt dem Mann einen Plastikbecher und ein Papier. Sie deutet auf die Tür am Ende des Raumes. Durch die verlässt der Mann den Raum. Die Frau an der Schreibmaschine erhält nun von ersterer das Musterungsschreiben. Sie spannt einen neuen Bogen in die Maschine, tippt Daten, die sie von dem Musterungsschreiben abliest, ein, zieht anschließend den Bogen aus der Maschine, erhebt sich und übergibt den neu beschriebenen Bogen einschließlich dem Musterungsschreiben der Frau am Tresen. Die verschwindet nun mit beidem ebenfalls durch die Tür am Ende des Raumes. Wenige Minuten später erscheint sie wieder. Sie begibt sich hinter den Tresen, wo sie eine in einer Klarsichthülle steckende Liste studiert. Dann hebt sie den Blick zu der Stuhlreihe, auf der die jungen Männer einschließlich mir sitzen. Sie ruft einen Namen. Ein hagerer Typ, er sitzt links von mir, erhebt sich und begibt sich mit seinem Musterungsschreiben an den Tresen.

Zwei Räume weiter ziehe ich mich bis auf die Unterhose aus. Ich werde von einem Arzt, der nebenher Notizen in einem Formular macht, von Kopf bis Fuß vermessen und gewogen. Der Mann fragt mich nach Alkohol und Drogen, nimmt mir Blut ab, biegt mir beide Arme um, schlägt mir mit einem Hämmerchen gegen die Knie, leuchtet mir in die Augen und schickt mich zum Schluss auf die Toilette. Das Becherchen mit meinem Urin stelle ich dem Arzt Minuten später auf den Schreibtisch. Er weist mich an, mich wieder anzuziehen, die Untersuchung ist abgeschlossen. Er drückt mir sein Formblatt in die Hand und sagt lächelnd, dass ich voll tauglich sei, ich sollte nur darauf achten, mehr zu essen um an Körpergewicht zuzulegen. Er winkt mich hinaus aus seinem Untersuchungszimmer, das in diesem Moment vom nächsten jungen Mann betreten wird.

Draußen setze ich mich wieder auf einen Stuhl in der Stuhlreihe vor dem Tresen. Dort warte ich eine knappe halbe Stunde, bis ich von einer der Frauen an den Tresen gerufen werde. Ich lege das Formblatt mit den Untersuchungsergebnissen auf den Tresen. Die Frau gibt mir ein anderes graues Papier. Es ist eine abgestempelte Bestätigung, die beweist, dass ich heute hier bin. Der Stempel am rechten Ende des Papiers erinnert mich an den Reichsadler, den ich aus Geschichtsbüchern meiner früheren Schule kenne. Kurz finde ich es seltsam, dass die heute immer noch diese Symbole verwenden. Beim Falten des Blattes sehe ich da genauer hin und erkenne, dass es der Bundesadler ist. Wie ich das finden soll, wei0ß ich nicht. Ich stecke das gefaltete Papier in meine Schultasche.

Ich verlasse das Gebäude. Draußen lärmt die Straße. Schnell gehe ich durch die Kurve den Berg hinauf in den oberen Teil der Stadt. Das wäre nun also geschafft. Ich weiß noch nicht, ob ich darüber froh oder traurig sein soll. Das Ergebnis, dass ich für den Waffendienst voll tauglich sein werde, war mir von vorn herein klar. Ich bin drahtig und nicht völlig unsportlich, wenngleich ich den Sportunterricht an der Schule hasse, weil der einem militärischen Drill gleichkommt. Es war mir klar, dass Fälle von Untauglichkeit im Grunde nur bei attestierten, klaren oder chronischen Leiden vorkommen, oder bei festgestellten körperlichen oder anderen Behinderungen. Der Wehrdienst wurde vom Bundestag mit Beschluss durch die neue Regierung erst kürzlich auf künftig fünfzehn Monate verlängert. Prophezeit wird eine weitere Verlängerung in den kommenden Jahren auf voraussichtlich vierundzwanzig Monate. Wütend denke ich, dass dies mehr als genügend Zeit ist, um völlig zu verblöden. Mein früherer Freund in Berchtesgaden, Thomas erzählte mir oft wilde Geschichten von seiner Kompanie. Da ging es um irgendwelche sinnlosen Saufgelage, Wachschichten, Nachtschichten und irgendwelche Leute, die wegen irgendeinem Unsinn in eine Zelle gesperrt wurden. Die Langeile, die sich in den Monaten nach der Grundausbildung einstelle, die sich ausbreitende Sinnlosigkeit, so Thomas, das sei das schlimmste für ihn am Wehrdienst. Deshalb war Thomas froh, dass er mich und andere junge Leute in Berchtesgaden kennen lernen konnte, die mit seinem Wehrdienst nichts zu tun hatten.

Sinnlosigkeit und militärischer Drill ist das letzte, was ich brauche, denke ich während ich im Discounter Käse, Butter und Tomaten einkaufe. Mit der Vorstellung, dass ich täglich den Umgang mit so einem schweren Gewehr lernen müsste und üben sollte, damit auf Pappfiguren zu schießen, die dem Klischee nach den klassischen Russen darstellen, kann ich nichts anfangen. Außer diese Idee abzulehnen. Diese Vorstellung ist von mir sehr weit entfernt. Heute ist sie zum ersten Mal sehr nahe an mich herangerückt. Ich muss mich damit auseinandersetzen. Ich bin voll wehrfähig sagt der Arzt.

Gruppe

Pünktlich um sieben Uhr abends kommen Pete, Ida, Thomas und Martin. Sie sitzen auf meinem Sofa. Pete sitzt in meinem orangenfarbigen Sessel und ich sitze auf dem einzigen normalen Stuhl, den ich habe. Wir sitzen rund um meinen kleinen Wohnzimmertisch, auf dem ich in fünf Keramikbechern Tee ausschenke. Der Fußboden rund um den Tisch ist bald übersäht von Papieren. Wir besprechen den Inhalt von neuen Handzetteln, mit denen wir über die Menschenrechtssituation in Lateinamerika informieren wollen. Von dort stammt der Kaffee, den wir an den Verkaufständen am Wochenende anbieten.

Thomas hat einen Schreibblock auf den Knien, er führt das Protokoll der Besprechung. Am kommenden Samstag steht ein Verkaufsstand auf einem Marktplatz in einer nahegelegenen Gemeinde an. Thomas hat die amtlichen Formblätter der Gemeinde dabei. Der Jugendleiter hat die Genehmigungen eingeholt. Vor dem Treffen hatte Thomas sich das alles beim Jugendleiter abgeholt. Ein Problem besteht darin, dass der Bus des Jugendleiters am Samstag nicht zu haben ist, weil der damit auf ein Seminar fährt. Ich erkläre, das sei kein Problem, weil ich nun ein Auto hätte. Das löst in der Runde Staunen und Lachen aus.

Der gelbe Schrotthaufen vor dem Gartentor da draußen gehört also Dir! Und ich dachte schon, Deine Vermieter seien finanziell am Ende und haben ihren Fuhrpark gegen diese Rostlaube tauschen müssen.

Thomas lacht mich an.

Passt denn in den Kübel alles rein?

Ich hoffe es. Ausprobiert habe ich es noch nicht.

Ich könnte noch das Auto von meinem Vater leihen.

Das wäre sehr gut.

Thomas ist ein aufgeschlossener Typ, der eigentlich ständig lacht. Er war der erste Mensch, den ich in der Gegend der Kreisstadt kennen gelernt hatte. Ich traf ihn auf meiner Umzugsfahrt, er trampte. Ich hatte ihn bis zum nahegelegenen Hof seiner Eltern am Rande der Stadt mitgenommen. Von diesem Tag an, habe ich ihn regelmäßig getroffen. Im Herbst letzten Jahres ist er aktiv in die Verkauf- und Informationsarbeit an den Dritte-Welt-Verkaufsständen eingestiegen. Er ist am häufigsten dabei, im Grunde jedes Wochenende. Ich glaube er ist ein sogenannter „Alternativer“. Aber er ist kein Freak. Sondern er lebt sehr bewusst, isst nur bestimmte Dinge, macht eine Schreinerausbildung und hilft seinen Eltern viel in deren Töpferei. Ida und Pete hat Martin eines Tages mit zu den Verkaufsständen gebracht. Sie sind Geschwister und wirken auf mich manchmal fast noch kindlich. Sie sind begeistert davon in der Arbeitsgruppe mitzumachen. Seit Martin sie mitgebracht hatte, sind sie sind nicht ganz so oft wie Thomas, aber auch sehr häufig bei den Verkaufständen dabei. Ich glaube ihnen gefällt es, dass wir in der Gruppe etwas tun, das sich ganz allgemein gesagt, gegen die Ungerechtigkeit in dieser Welt richtet. Zudem glaube ich, dass Ida in Thomas verliebt ist. Ich glaube Thomas weiß das, aber er ist sich nicht sicher, ob er deren Liebe erwidern will.

Martin habe ich im Jugendbüro kennen gelernt. Er macht dort Zivildienst. An seinem ersten Arbeitstag hatte der Jugendleiter mich gebeten, mit Martin durch den Keller unterhalb des Jugendbüros zu stöbern. Ich habe ihm den Materialkeller gezeigt, in dem wir die Verkaufswaren der Dritte-Welt-Verkaufsstände lagern und ihm die Ordnung dort erklärt. Martin ist Einzelhandelskaufmann. Er hat die Ausbildung in der Großstadt gemacht und abgeschlossen. Nach seinem Zivildienst soll er in der Holzverarbeitungsfirma seines Vaters am Rande der Kreisstadt einsteigen. Martin ist sich noch nicht sicher ob er das wirklich machen will. Sein Vater spekuliert darauf, dass er die Firma eines Tages übernimmt. Martin aber möchte lieber Musikinstrumente verkaufen als Hölzer. Er sagt, dass er die Zeit seines Zivildienstes nutzen wird, um zu überlegen, welche Entscheidung für ihn die beste ist und wie er das mit seinem Vater bespricht. Ida und Pete leben mitten in der Kreisstadt in einer kleinen Wohnung bei ihrer Mutter. Wo deren Vater geblieben ist, weiß ich nicht, ich habe mit beiden darüber noch nicht gesprochen. Beide besuchen ein Mädchengymnasium. Ida schließt die Schule voraussichtlich in diesem Jahr ab, während Pete nächstes Jahr dran ist.

Ich bin sehr froh, diese Leute kennen gelernt zu haben. Am Anfang in der Stadt, vor etwas mehr als einem halben Jahr, hatte ich mich eine Zeitlang richtig einsam gefühlt. Das ist jetzt nicht mehr so schlimm, wegen dieser Bekannten und den regelmäßigen Treffen.

Um kurz nach drei Uhr Nachts liege ich wieder wach auf meinen drei kleinen Matratzen aus dem alten Jugendkeller. Der Wecker tickt aber seltsam. Ich höre nur ein leichtes klack, klack, klack. Er zeigt elf Uhr an, auf meiner Armbanduhr ist es aber viertel nach Drei. Ich ziehe den Wecker auf und stelle ihn auf viertel nach Drei. Im Zimmer und im Haus ist es absolut still. In einer Minute muss der drei Uhr sechzehn Zug Richtung Österreich hinter dem Haus vorbeidonnern. Ich bleibe noch liegen und finde an der Wand wieder die Linie von Licht und Schatten. Sie bewegt sich heute kaum. Es ist ein ganz feines Wippen das ich nur erkenne, weil ich länger hinsehe. Jetzt kommt der Zug. Auf seinem Weg ins Ausland lärmt er durch die Nacht. Heute Nacht ist im Moulin Rouge wenig los. Auf dem Parkplatz stehen nur zwei Autos.

Erstmals seit einer Woche entfache ich wieder ein kleines Feuerchen. Meine Steine rund um die Feuerstelle sind nicht weggespült worden. Der Platz unter der Brücke ist noch voll von Schlamm, der aber im Laufe des Tages angetrocknet ist. Das Holz unter meiner Plane ist im Laufe der stürmischen Woche feucht geworden. Das Feuerchen ist etwas widerspenstig. Als es endlich brennt, beginnt es zu qualmen. Aber das ist um diese Uhrzeit wohl egal, denn oben auf der Brücke fährt kein Mensch um diese Zeit, den das stören könnte. Die Nacht ist stockdunkel, der Mond kommt erst um vier, bis dahin ist das Feuer heiß genug und es raucht nicht mehr. Die Taschenlampe ist mit den neuen Batterien, die ich im Discounter bekommen habe, fast zu hell. An diese Helligkeit der Lampe kann ich mich nicht erinnern und ich muss mich daran erst gewöhnen.

Ich setzte mich auf meinen kleinen Felsbrocken, direkt vor das Feuer. Aus meinem kleinen Rucksack nehme ich das Buch und beginne zu lesen. Die Lampe ist zu hell. Die Seiten reflektieren so stark, dass ich sie kaum lesen kann. Das Feuerchen brennt jetzt gut, es wärmt schon richtig. Das Licht vom Feuer reicht gerade aus, um zu lesen. Trotzdem zünde ich noch die dicke Stumpenkerze an, die ich an ihren Platz auf dem Felsen neben dem Feuer stelle. Ich schlage das Kapitel im Buch auf, das morgen dran kommt. Der Text ist trocken und langweilig. Ich spüre, wie wenig mich das interessiert. Aber es muss sein. Jeden Satz lese ich zwei Mal. Es ist eine absolut trockene Materie. Es geht um Materialkunde, um die Beschaffenheit verschiedener Werkstoffe, um deren spezifische Gewichte, deren Dichte und so weiter. Ich merke, dass ich mich kaum konzentrieren kann. Ich lese jeden Satz, jede Maßangabe drei, vier Mal und versuche mir die Zuordnungen zu den beschriebenen Materialien einzuprägen. Langsam wird es besser und klarer in meinem Kopf. Ich fange noch mal von vorne zu lesen an. Ich stelle fest, dass ich das gerade eben bereits gelesen habe. Es muss also etwas hängen geblieben sein. Ich spreche jetzt laut mit. Ich muss mir diesen ganzen Mist doch merken können! Andere können das doch auch.

Später sehe ich auf meine Uhr. Es ist halb fünf. Ich lebe noch mal Holz nach. Aus meinem Rucksack nehme ich jetzt das Physikbuch und den großen Rechenblock. Ich schlage die gestern am Ende der Stunde markierte Seite auf. Dort finde ich die Übungsaufgaben, von denen der Physiklehrer gesprochen. Jetzt arbeite ich eine Aufgabe nach der nächsten ab. Um viertel nach sechs hole ich den alten Blechkübel. Ich stülpe ihn über die kleine Feuerstelle, die ich zuvor ein bisschen mit einem Stock zusammenschiebe. Auf den Blechkübel lege ich den großen Stein. Mit der Taschenlampe leuchte ich den Boden ab. Dann mache ich mich auf den Rückweg. Um kurz vor sieben stehe ich unter der Dusche in Frau Stößers Haus. Draußen ist es bereits hell geworden.

Fahrt mit Begleitung

Abends fahre ich zu einem kurzen Abendseminar, das der Jugendleiter in einem nahegelegenen Dorf in der Nähe der Kreisstadt organisiert. Ich hole Ida und Pete vor dem Haus bei deren Mutter ab. Sie steigen in den gelben Opel-Kadett und los geht’s. Es ist die erste Autofahrt dieser Art. Ich fahre sehr vorsichtig, denn ich habe noch nie Passagiere befördert.

Es scheint nun endlich Frühling zu werden. Die tiefstehende Sonne strahlt, rechts und links der Straße ist es grün, gelber Löwenzahn sprießt am Straßenrand. Ich lenke den Wagen zuerst zurück in Richtung meines Zimmers im Haus von Frau Stößer. Unten am Fluss biege ich aber nicht Richtung Frau Stößer ab, sondern fahre geradeaus weiter. Hinauf durch den Wald überquere ich die Brücke unter der meine Feuerstelle liegt. Ich fahre zügig, aber nicht zu schnell. Ich versuche ein angemessenes Tempo zu fahren. Meine innere Aufregung über diese erste Autofahrt mit Begleitung in meinem ersten Auto verberge ich. Ich glaube es wirkt beruhigend, wenn ich einen möglichst routinierten Eindruck als Fahrer erwecke. Ich versuche das, obwohl ich überhaupt keine Routine habe. Denn mein Führerschein ist erst wenig mehr als ein knappes halbes Jahr alt. Das Auto habe ich seit zehn Tagen. Von Routine kann da dar keine Rege sein. Ich versuche Routine vorzutäuschen, indem ich möglichst vorausschauend fahre. Kein abruptes Manöver. Frühzeitiges, weiches Bremsen. Nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig Gas. Auf keinen Fall beim Anfahren das Auto abwürgen. Es ist gut, dass ich das alte Radio vom Schrottplatz im Handschuhfach eingebaut habe. Die Einbaumulde für das Radio ist leer. Das sieht so aus, als habe dieses Auto noch kein Radio. Sehr gut, denn das Getöse aus dem Radio, könnte die Konzentration auf den routinierten Fahrstil, den ich vortäuschen möchte, erschweren.

Pete, die neben mir sitzt, scheint das alles nicht zu interessieren. Wie ich dieses Gefährt steuere scheint ihr egal zu sein. Nein, es scheint für sie klar, vielleicht sogar selbstverständlich zu sein, dass ich einen routinierten Fahrstil habe. Es scheint für sie völlig eindeutig zu sein, dass wir sicher dort ankommen werden, wohin wir heute fahren wollen. Anstatt auf meinen Fahrstil meiner ersten Autofahrt mit Begleitung zu achten, fragt sie mich, wie ich finde, ein paar lustige Dinge. Ob ich ein Musikinstrument spiele, ob ich ein Fahrrad habe mit dem ich auch mal fahre, anstatt mit dem Auto (sie weiß genau, dass ich, bevor ich letzte Woche dieses Auto gekauft habe, so gut wie alles mit dem Fahrrad gefahren bin), wie viel das Auto gekostet hat, wie lange ich den Führerschein schon habe, wann ich zum ersten Mal Autogefahren sei, warum den da kein Radio in diesem Loch mit den vielen Kabeln drin stecke und noch einiges mehr. Sie ist neugierig. Sie fragt so viel, dass ich nicht jede Frage antworten kann, und offenbar auch gar nicht antworten muss, weil gleich ihre nächste Frage kommt. Das ist gut, denn so kann ich ihre Frage nach dem Radio einfach unbeantwortet lassen. Sofort kommt ihre nächste Frage. Was ich denn bei Frau Stößer für eine Miete bezahle, seit wenn ich dort wohne, wo ich zuvor gewohnt habe, warum ich da ganz allein wohne, warum ich kein eigenes Telefon habe, wieso Frau Stößer gleich zwei Garagen hat, warum sie mir nicht einfach eins von ihren zwei Autos leihe, weshalb ich denn ein eigenes bräuchte, seit wann ich diese Verkaufsstände mit Thomas organisiere, wie ich Thomas kennen gelernt habe.

Petes Fragenkatalog ist unerschöpflich, aber sie erwartet nicht auf jede Frage eine Antwort. Mit jeder Frage lächelt sie mich an. Ida sitzt hinten rechts. Sie hält sich zurück. Von ihr höre ich im Vergleich zu Pete so gut wie nichts. Thomas ist mit dem Jugendleiter zusammen im Bus unterwegs in den Ort des heutigen Seminars. Das erklärt Ida, nachdem ich in einer kurzen Pause von Pete nachfrage, warum wir eigentlich Thomas und Martin nicht auch mitnehmen. Martin sei schon in dem Ort, wo er den Raum für das heutige Seminar vorbereite, erklärt Ida. Das habe sie von Thomas am Telefon erfahren.

Das Seminar dauert zwei Stunden von neunzehn bis einundzwanzig Uhr. Ich finde es sehr langweilig. Vielleicht liegt es daran, dass ich sehr müde bin. Der Jugendleiter spricht über Aufsichtspflicht. Das tut er routiniert, fast ein bisschen gelangweilt. Es geht darum, dass wir auf der geplanten Kinderferienmaßnahme wissen, in welchen Situationen wir die Aufsichtspflicht verletzen und worauf wir zu achten haben, um dies nicht zu tun. Nach dem Seminar werden Termine vereinbart, zur weiteren Vorbereitung der Kinderferienmaßnahme. Weil ich zusammen mit dem Jugendleiter diese Maßnahme leiten werde, zücken wir beide unsere Terminkalender und stimmen mit den Seminarteilnehmern, also auch mit Ida, Pete, Martin und Thomas unsere Termine ab. Das nächste Seminar wird einen ganzen Samstag lang dauern. Es geht darum, die Ferienmaßnahme abschließend zu planen und vorzubereiten. Ida und Pete fahren auf dem Rückweg mit Thomas und Martin im Bus des Jugendleiters mit. Das ergibt sich auf dem Parkplatz vor dem Seminarraum. Und es scheint, als ergebe sich das automatisch so.

In der Dunkelheit bin ich froh festzustellen, dass die Beleuchtung am Auto einwandfrei funktioniert. Das Problem mit der Lichtmaschine scheint vorbei zu sein. In meinem Zimmer bei Frau Stößer herrscht die überwiegende Zeit Schweigen. Ich kenne die Ruhe und ich kenne die Nachdenklichkeit, die sich einstellt, wenn Ruhe herrscht. Ich muss mich auf die spärlich von meinem Wagen ausgeleuchtete Straße konzentrieren. Meinen Blick wende ich nicht von ihr ab. Die Straße ist kurvenreich und manchmal wird sie sehr eng. Sie führt durch einen Wald. Meine Hände umklammern fest das Lenkrad um dem Zug des Lenkrades nach rechts entgegenzusteuern. Ich lenke das Auto durch eine steile Linkskurve, vor der ich sanft aber bestimmt abgebremst habe. Ich kenne die Strecke kaum. Ich bin hier noch nie mit dem Auto gefahren. Beinahe nirgendwo in der Gegend bin ich bislang mit dem Auto unterwegs gewesen, abgesehen von der Autobahn zurück zu Frau Stößer und vom Autoverkäufer zu Frau Stößer. Im Grunde kenne ich die Straßen aus Sicht des Autofahrers nicht.

Im vergangenen Jahr, im Herbst, kurz nach dem Ende der Ferien mit der Abiturientengruppe in Griechenland, war ich auf dieser Straße an einem Sonntagnachmittag mal mit dem Fahrrad unterwegs gewesen. Die Strecke ist sehr wenig befahren. Ich freute mich deshalb über die gute Fahrradroute, die ich an dem Sonntag gefunden hatte. Ich durchquerte mit dem Fahrrad auch den Ort in dem das heutige Seminar stattgefunden hatte. Die Strecke führt danach noch etwa fünf Kilometer weiter bevor sie auf eine vielbefahrene Bundesstraße trifft. Bis dorthin fuhr ich mit dem Rad. Ich mag es, solche kurzen Touren auf solchen ruhigen Straßen zu machen. Unvorbereitet, ohne Karte, ohne Plan, einfach mal drauf los und sehen was kommt. Das finde ich gut. Das ist in dieser Gegend möglich, denn es gibt viele kleine Strecken, auf denen kaum Autos fahren. Jedoch enden diese Routen meist abrupt auf großen Bundesstraßen. Das könnte ein guter Grund sein, irgendwann eine Karte der Gegend zu kaufen. Mein Fahrrad ist inzwischen alt geworden. Es hat nur drei Gänge und wirkt deshalb in der hügeligen Landschaft mit den teils sehr steilen Straßen etwas anachronistisch. Da fällt mir Thomas ein. Was der fährt ist wirklich alt und objektiv unzeitgemäß. Sein Fahrrad ist ein uraltes Opafahrrad, schwarz und riesig, ohne Gangschaltung. Dagegen ist mein rotes Dreigangfahrrad moderner Luxus.

Plötzlich höre ich ein leises Schluchzen. Es kommt von Pete. Sie sitzt im Wagen neben mir. Es hört sich an, als weine sie. Was hat sie? Warum sitzt sie da neben mir. War sie nicht zusammen mit Ida im Bus des Jugendleiters gemeinsam mit Martin und Thomas zurück in die Kreisstadt unterwegs? Jetzt höre ich das Schluchzen noch mal, es ist eindeutig. Es ist Pete, die da neben mir sitzt. Sie fragt mich nicht, wie auf der Hinfahrt, sondern sie weint. Warum? Was ist mit ihr passiert. Warum sitzt sie plötzlich wieder neben mir im Auto?

Soll ich anhalten? Was ist mit dir los? Nichts, es hat nichts mit dir zu tun. Aber warum weinst du? Ach, es ist nichts, ich werde manchmal beim Autofahren traurig. Traurig? Das scheint mir aber mehr zu sein. Warum? Es tut mir Leid. Es hat nichts mit Dir zu tun. Willst du es mir nicht sagen? Nein, es hat nichts mit dir zu tun. Aber du kannst es mir ja trotzdem sagen. Nein ich möchte nicht. Jetzt überquere ich die Brücke über meiner Feuerstelle. Das ist schade, vielleicht könnte ich dir ja irgendwie helfen. Nein, das möchte ich nicht. Brauchst du ein Taschentuch? Nein danke, ich hab eines.

Ich lenke den gelben Opel jetzt über den Fluss, biege nicht nach links zu Frau Stößer ab, sondern fahre gerade aus in Richtung der Oberstadt. Die ersten Straßenlampen sind erreicht. Die erste Ampel ist grün, ich biege rechts ab und fahre durch die Kurve am Kreiswehrersatzamt vorbei hinauf. Die Ampel oben ist auch grün. Ich biege rechts ab, setze den Blinker gleich wieder nach rechts und biege in die Zufahrt zum Haus in dem die Wohnung von Ida, Pete und ihrer Mutter liegt. Dort stelle ich den Motor ab.

Willst du wirklich nicht darüber reden? Pete wischt sich mit dem Taschentuch die Augen trocken. Nein, wirklich nicht, Entschuldigung. Na gut, wie du meinst. Vielen Dank dass du mich hergebracht hast. Na klar doch. Also dann, bis bald. Pete reicht mir ihre Hand. Sie ist klein, warm und weich. Grüße Ida noch mal schön, bis bald, tschüßchen! Ja mache ich tschüßi!

Pete knallt die Autotüre zu. Sie dreht sich dem Haus zu und verschwindet sogleich im Hauseingang. Seltsam ist das. Ich starte den Motor starte um das Auto vor dem Haus zu wenden. Was sollte das jetzt sein? Hat das was mit mir zu tun? Obwohl Pete mehrmals betonte, dass es nichts mit mir zu tun habe, frage ich mich das. Petes Verhalten und Antwort war für mich so wenig begreifbar oder einschätzbar, dass mir jetzt ein ganz schlechtes Gefühl übrig bleibt. Was ist mit dieser Frau los? Warum diese Rückfahrt, nach ihrer lebendigen Fragerei während der Hinfahrt?

Ich erreiche das Gartentor von Frau Stößer. Ich parke das Auto direkt davor. Das ist mein mit Frau Stößer vereinbarter Parkplatz. Jetzt fällt mir die Kinderferienmaßnahme ein. Ob es überhaupt Sinn macht, jemanden wie Pete auf solch eine Maßnahme als ehrenamtliche Mitarbeiterin mitzunehmen? Ich weiß nicht, was mit ihr los ist. Die Heimfahrt mit ihr hat mich verunsichert. Vielleicht kommt so etwas auch auf der Kinderferienmaßnahme vor? Wenn sie dann auch nicht darüber sprechen will, was ist dann zu tun?

Ich krame meinen Schlüssel hervor, blicke auf meine Armbanduhr. Zweiundzwanziguhrfünfzehn. Ich schmiere mir in der kleinen Küche ein paar Butterbrote, schäle eine Gurke und schneide sie in Scheiben. Mit diesem Abendbrot setze ich mich auf das Sofa. Um fünf vor halb elf schalte ich den Fernseher ein. Nach fünf Minuten erscheint das Bild des Nachrichtensprechers. Die Helligkeit des Bildes schwankt mehrfach zwischen schwarz und weiß hin und her und beginnt schließlich zu flackern, bis es völlig verschwindet. Ich stelle den Teller auf den Tisch, gehe zu dem Apparat und klopfe oben drauf. Das Bild erscheint wieder, es sieht abgesehen von einem hellen Streifen am oberen Bildrand fast perfekt aus. Ich setze mich wieder. Die Umstellung des Bafög für Studenten auf voll rückzahlbares Darlehen scheint fast beschlossene Sache zu sein. Von der neuen Bundesregierung wird ein Gesetzentwurf dafür vorbereitet. Das könnte in einigen Jahren richtig teuer für mich werden. Die Verlängerung von Wehr- und Ersatzdienst ist ebenfalls auf den Weg gebracht.

Der helle Streifen an der Zimmerdecke, an der Grenze zu dem dunklen Bereich, bewegt sich wie eine feine Welle, die kommt und geht. Das grüne Ziffernblatt auf dem Wecker zeigt halb drei Uhr an. Ich spüre die drei kleinen Matratzen unter meinem Rücken. Ich schwitze. Ich bin froh, dass der Traum vorbei ist. Minutenlang liege ich da. Zunächst denke ich nicht daran, dass es ein Traum gewesen sein könnte. Sekunden glaube ich, dass ich wirklich zusammen mit Pete im Auto am Abend nach hause gefahren war. Nach den Sekunden, ich erkenne die Dachschräge im Zimmer von Frau Stößer, verschwimmt das Bild. Ich erinnere mich, während ich noch Pete neben mir sitzen sehe, kurz bevor sie aus dem Wagen steigt, dass es ganz anders gewesen war. Ich war allein nach hause gefahren. Ich war froh, allein fahren zu können, denn der Beleuchtung des gelben Opel-Kadett bei Nacht traue ich nicht. Ich fand den Vorschlag gut, dass beide im Bus mitfahren, zumal das Büro des Jugendleiters, vor dem er den Bus immer parkt, ganz in der Nähe der Wohnung von Ida und Pete liegt. Sekunden später, es ist in dem Moment in dem ich den Blick in der Dunkelheit des Zimmers auf den grünen Wecker richte, erinnere ich mich an alles, was gestern Abend tatsächlich geschah. Das Licht am Opel-Kadett war während der Fahrt schwächer und schwächer geworden. Die rote Leuchte am Armaturenbrett zeigte an, dass der Ladestrom für die Batterie zu schwach geworden war. Ich steuerte den Wagen so schnell wie möglich durch die Dunkelheit, schließlich war ich erleichtert, als ich die Kreisstadt und deren Straßenbeleuchtung erreicht hatte.

Eine Fahrradtour

Der Physiklehrer verteilt die Extemporale stets in der nachfolgenden Stunde. Das tut er auch, wenn die nächste Stunde schon am nächsten Tag stattfindet. Die Klassenarbeiten werden in dieser Schule immer zum Ende der Stunde zurückgegeben. Sie werden in den letzten fünf Minuten einer Stunde verteilt.

Das ist anders als an meiner vorherigen Schule in Berchtesgaden. Dort wurden die Arbeiten immer am Anfang der Stunde zurückgegeben. Die Lehrer korrigierten die Arbeiten gemeinsam mit der Schulklasse. Der Lehrer schrieb die Ergebnisse an die Tafel. Er ließ sich bei der Ergebnissuche von der Klasse helfen, zumindest versuchte er dass. Es ging darum, dass möglichst viele derjenigen Schüler in die Erarbeitung der Lösung einbezogen wurden, die in der Prüfung keine richtigen Lösungen gefunden hatten. Das Ergebnis, vor allem den Weg dorthin, erklärte der Lehrer. Hin und wieder verwies er auf Irrwege, die mancher von uns Schülern in der Klassenarbeit eingeschlagen hatte. Gut an dieser Methode fand ich, dass ich meist während und nach dieser Korrekturarbeit die Zusammenhänge und Lösungswege verstand. Schlecht daran war, dass mir dieses Verstehen keinerlei Nutzen mehr brachte. Denn meine schlechte Note hatte ich in der Prüfung je bereits kassiert. Der Lösungsweg, den ich danach verstanden hatte, war zwar interessant, verbesserte aber meine Note nicht. In der nächsten Extemporale oder Prüfungsarbeit ging das gleiche Spielchen dann wieder von vorne los. Was ich zuvor mit der gemeinsamen Korrektur der letzten Arbeit gelernt hatte, brachte mir in der nächsten Arbeit nur sehr geringen Nutzen, denn es kam so gut wie nie vor, dass zwischen der einen und der nächsten Arbeit ein Zusammenhang bestand. Die behandelte Materie und die erarbeiteten Lösungswege waren stets völlig anders geworden. Dieses Phänomen erstaunte mich die gesamte Schulzeit. In Berchtesgaden wunderte ich mich darüber, wie wenig der in der Schule durchgeschleifte Lernstoff aufeinander aufbaute.

In der Schule für Technologie in der Kreisstadt setzen die Lehrer eins drauf, indem sie offenbar auf Verständnis von Zusammenhängen oder gemeinsames Arbeiten generell keinerlei Wert legen. Ziel scheint zu sein, dass jeder Schüler selbst begreift, wie etwas funktioniert. Jeder in dieser Schule ist seines Glückes Schmied. Das sagte Anfangs einmal der Lehrer in Deutsch. So etwas habe ich auf keiner Schule zuvor von einem Deutschlehrer gehört. Das sagte mir, dass hier etwas anders ist. Deshalb sah ich von Beginn an sehr genau hin.

Ich tue mir sehr schwer. Jede Nacht hämmere ich das blanke Wissen in meinen Kopf. Verstehen tu ich dabei aber nichts. Es geht ausschließlich darum, dass der Kopf das Wissen für kurze Zeit behält, um es in der Schularbeit wieder ausspucken zu können. Danach interessiert das nicht mehr. Mein tägliches, konsequentes Training solchen Verhaltens ist meine Chance, eine akzeptable Note zu bekommen. Ich muss zusätzlich noch das große Glück haben, exakt in dem Moment, genau in der viertel Stunde, wenn die Extemporale geschrieben wird, das in meinem Kopf eingemeißelte Wissen noch zu finden, welches abgefragt wird. Vielleicht meinte das der Deutschlehrer mit dem Schmied und dem Glück? An dieser Schule muss der Schmied unheimliches Glück haben. Das Hämmern, so könnte der Deutschlehrer das gemeint haben ist notwendig, damit der Schmied sein wissen behält, dann braucht er noch das Glück es rechtzeitig auszukotzen, um danach weiter zu hämmern. Das exakte Timing beim Auskotzen meines Hirninhaltes ist meine Kernaufgabe. Auf die verwende ich all meine Energie in dieser Schule.

Ich versuche mein Glück zu beeinflussen. Das Glück, Wissen dann parat zu haben, wenn es ausgekotzt werden soll. Ich sehe genau hin. Was deutet der Lehrer an? Wie ist er gestrickt? Wann lässt er die Arbeit schreiben? Das gelingt mir momentan schon besser als zu Beginn auf dieser Schule. Nachts hämmere ich in mein Hirn gezielt für diejenigen Stunden, in denen ich glaube an Signalen des Lehrers erkannt zu haben, dass das Auskotzen in der nächsten Stunde wieder gefragt ist.

Ich gehe davon aus, dass die Zukunft für mich genau dieses Bild der Arbeitswelt sein wird. Ich lerne in meiner Schule in der Kreisstadt, wie die berufliche Welt aussieht. Es ist eine Schule, von jungen Leuten wie mir, die teils bereits erwachsen sind, oder es gerade werden, besucht wird. Es ist eine ganz andere Schule, als meine vorhergehenden Schulen. Hier sehe ich, wie meine berufliche Zukunft als Erwachsener aussehen wird. Ich sehe, dass es vorbei ist mit der Förderung durch Lehrer und deren Willen auf mich zuzukommen, um mich zu unterstützen. Die erwachsene Zukunft läuft ohne Menschen ab, die andere unterstützen wollen. Jeder in meiner beruflichen Zukunft in diesem Land ist seines Glückes Schmied. Das meinte der Deutschlehrer! Was ich hier täglich sehe ist meine berufliche Wahrheit. In meiner Zukunft ist jeder sich selbst am Nächsten. Deshalb brüte ich nächtelang allein vor den Büchern.

Der Physiklehrer lotst wieder den Schüler, dessen Name ihn nicht interessiert, zu sich. Er drückt ihm den Stapel seiner korrigierten Arbeiten in die Hand und weist ihn an, das zu verteilen. Danach packt er sein Physikbuch in seinen schwarzen Aktenkoffer. Wort- und Grußlos verlässt er das Klassenzimmer. Ich habe eine Drei. Das ist mehr als ich erwartet habe. Das bringt mich weiter. Ich könnte es schaffen an dieser Schule. Ich habe einen Weg gefunden. Anfangs hatte ich nur Fünfen. Jetzt werden es mehr und mehr Dreier. Ich brauche viel Kraft. Aber ich könnte es schaffen. Ich bin jetzt knapp ein dreiviertel Jahr auf dieser Schule. Was besser wird, sind meine Noten. Was schlechter wird ist mein Verstehen. Ich sehe kaum Zusammenhänge mehr. Deshalb verstehe ich in dieser Schule immer weniger. Ich kann das schaffen! Es ist meine Zukunft.

Das Fahrrad läuft wie geschmiert. Ich habe einige Tropfen Getriebeöl vom gelben Opel-Kadett verwendet, um damit die Kette zu ölen. Das Getriebeöl sammle ich in einer Plastikwanne. Die habe ich am vergangenen Wochenende fest unter dem Auto unterhalb des Getriebes angebracht. Nach jeder Fahrt laufen aus dem Getriebe vier, fünf Öltropfen heraus. Sie laufen stets an der gleichen Stelle herunter. Dort habe ich eine alte Plastikwanne angebracht.

Thomas kommt mit seinem schwarzen Opafahrrad. Ich stehe mit meinem Fahrrad vor der Doppelgarage vor Frau Stößers Haus. Die Satteltaschen sind schon etwas morsch. Ich hatte sie von den Pflegeeltern zu meinem vierzehnten Geburtstag zusammen mit dem Fahrrad bekommen. Ein Lederriemen ist abgerissen. Ich fummle an einem Stück Paketschnur herum, durch das ich den Lederriemen notdürftig ersetzen will. Thomas beäugt mein Tun skeptisch. Schließlich verständigen wir uns darauf, dass er es mit einem Stück Zeltschnur, das er von seinem mitgebrachten Zelt erübrigen kann, versucht. Im Gegenzug biete ich an auch seine Fahrradkette mit wenigen Tropfen Getriebeöl zu versorgen. Ich krieche noch mal unter den Opel, nehme vorsichtig die Wanne ab und tupfe einige Getriebeöltropfen auf Thomas Fahrradkette. Thomas schafft es, die Satteltasche mit dem Stück Zeltschnur gut an meinem Gepäckträger zu befestigen. Er kennt feste Knoten, die sicher sind, sich aber wieder gut öffnen lassen. Ich habe davon keine Ahnung.

Thomas Onkel hat ein Segelboot an einem Steg am See. Der See ist das Ziel, das wir heute ansteuern wollen. Es ist ein spontan vereinbarter Ausflug. Genau so etwas, das ich liebe, keine lange Planung, keine wochenlange Terminvereinbarung, einfach los. Vormittags hatten wir den Verkaufsstand auf einem Marktplatz aufgebaut. Dort vereinbarten wir uns, angeregt durch das gute Wetter, zu der kleinen Frühlingsradtour am späten Nachmittag. Die Radtasche hält, was Thomas verspricht. Da fehlt sich nix, sagt er. Los geht’s. Wir fahren die steile Bergstraße hinter dem Wald hinunter zum Fluss. Danach geht es über die Brücke hinauf durch die Kurve vorbei am Kreiswehrersatzamt, an der Ampel rechts und hinein in die Einfahrt zu Ida und Pete. Beide stehen mit ihren Rädern vor dem Haus. Sie sind damit beschäftigt, Zelt, Schlafsack und Isomatten auf den Fahrradgepäckträgern zu verstauen. Mein erster Blick auf deren Fahrräder betrifft die Fahrradketten. Nach dem langen Winter sind die meist in bösem Zustand. Ich habe das mit Getriebeöl getränkte Papiertaschentuch in eine kleine Plastiktüte gesteckt und mitgenommen. Damit öle ich nun auch die Ketten der Räder von Ida und Pete.

Wir fahren auf schönen, ruhigen, abgelegenen Wegen, die Thomas gut kennt. Er lebt seit vielen Jahren in der Gegend. Er fährt immer mit dem Fahrrad, es sei denn, es stürmt, schneit oder schüttet wie aus Eimern. Das Treten sei traumhaft, meint Thomas. Das so wenig Öl so viel ausmache. Ich denke, dass Thomas mit diesem Fahrrad in dieser Gegen ein klarer Exot ist. Das sucht schon seines Gleichen. So ein Fahrrad! Er merkte nicht, wie schwerfällig seine Fahrradkette ohne einen Tropfen Öl war. Das passt zu seiner Art und zu seinem Fahrrad. Das geht jetzt ja viel leichter! So ruft der, während er munter einen steilen Schotterweg zwischen Feld- und Waldrand hinaufstrampelt. Ohne Gangschaltung in dieser Gegen zu fahren, da gehört schon ein gehöriges Maß Gewohnheit dazu.

Das Rad von Ida oder von Pete quietscht. Sie fahren zwischen Thomas, der vorne weg fährt und mir. Es ist wahrscheinlich das Tretlager von Idas Rad. Ich höre es regelmäßig. Das ist ein Nachteil an der Spontanität. Ich bin noch nicht auf Fahrradfahren eingestellt. Der Winter hatte sich lange hingezogen. Es ist das erste sonnige Frühlingswochenende. Mein Fahrradwerkzeug habe ich im Schrank im Zimmer vergessen. Dort habe ich auch eine winzige Ölflasche. Immerhin habe ich die Luftpumpe dabei. Ob ich das Tretlager auch mit dem Taschentuch Getriebeöl zum Schweigen bringen kann?

Der Winter gewöhnt dem Körper die Bewegung ab. Die nasse Kälte, der viele Regen, der matschige Schnee. Eigentlich hasse ich das. Wenn man im Winter nicht Ski fährt ist man hier in der Gegend falsch. Der viele Matsch und Dreck, manchmal Eis und das Tauwasser, das hat wenig Sinn. Den gesamten Winter hindurch ging es auf und ab. Kaum hatte es ordentlich geschneit, taute alles wieder weg um tagelang zu regnen. Später find es dann wieder an zu schneien. Die Kreisstadt, das wird immer wieder in der Zeitung geschrieben liege in einem Kälteloch. Hier zieht sich der Winter besonders lange hin. Sind dreißig Kilometer weiter schon grüne Wiesen zu sehen, kann sich in der Kreisstadt immer noch eine schwer, nasse Schneedecke bilden. Damit ist es jetzt für dieses Jahr vorbei. Wir fahren auf sonnigen Wegen über Hügel und durch Täler. In einer kurzen Pause sehe ich nach Idas Pedalen. Ich schmiere das letzte Öl vom Taschentuch dort hin. Aber weil das Getriebeöl zähflüssig ist, habe ich kaum Hoffnung. Ich ärgere mich, dass ich das Fahrradwerkzeug und das Öl nicht dabei habe. Ein bisschen fließendes Öl müsste dort am Pedal in das Tretlager hineinlaufen und das Quietschen beim Treten wäre vorbei. Im Sommer könnte die Hitze reichen um das Getriebeöl in das Tretlager laufen zu lassen. Dafür ist es noch zu kühl. Wir fahren weiter, das Quietschen endet nicht.

Der See liegt wunderschön. In einem riesigen Tal breitet er sich aus. Lange bevor wir ihn erreichen, können wir ihn sehen. Thomas kennt einen hübschen Rundweg, auf dem wir eine zeitlang mit herrlicher Aussicht auf den See entlang fahren. Thomas hat Idas Gepäck fest mit einer weiteren Zeltschnur an deren Fahrradgepäckträger angebunden. Während eines holprigeren Teils der Strecke war alles heruntergefallen. Thomas kümmerte sich sofort darum. Er ist ein Meister darin Gepäckstücke, oder Dinge jeder Art zu befestigen oder zu verstauen. Das erinnert mich an meine Umzugsfahrt vom Berchtesgaden nach Traunstein. Da hatte ich ihn erstmals getroffen. Mit seinem Fahrrad stand er am Straßenrand. Wegen seines platten Fahrradreifens stand er da und ich nahm ihn mit. Er packte mein Umzugsgut neu in den Wagen ein, so dass wir sein Fahrrad auch mitnehmen konnten. Thomas ist ein geduldiger Tüftler und Bastler. Wenn wir den Verkaufsstand auf einem Markplatz aufbauen, hat er die besten Ideen, wie wir uns am effektivsten vor Wind und Regen schützen. Er weiß immer, welche Schnur wie zu spannen ist, damit bei Regen und Schnee nichts nass wird.

Das Grundstück am See beim Steg von Thomas Onkel liegt zwischen hohen Birken und Buchen. Die tragen aber noch keine Blätter, deshalb erwischen wir dort noch eine schöne, wärmende Abendsonne. Gemeinsam bauen wir die beiden Zelte auf. Zuerst das von Ida und Pete, die Hilfe brauchen, weil sie dieses Zelt noch nie benutzt haben. Sie haben es von einem Nachbarn geliehen. Das Zelt ist genauso simpel aufzubauen, wie das von Thomas. Gemeinsam schaffen wir das schnell. Aber der alte Reißverschluss macht Ärger. Thomas erklärt, dass die Dinger im Winter im Keller gerne vor sich hin korrodieren und dann im Frühjahr nicht mehr funktionieren wollen. Man müsste sie regelmäßig mit Talg einreiben, was heutzutage aber kein Mensch mehr habe, geschweige denn anwende. Thomas ist geduldig mit dem Reißverschluss und er schafft es ihn wieder in Gang zu bringen.

Auf dem Areal sammeln wir Äste ein. Direkt am Wasser gibt es eine kleine Feuerstelle. Ich bin überrascht, wie viel trockenes Holz Thomas findet. Er sagt, das Holz sei trocken, weil es alt sei. Je älter, desto leichter und trockener sei es. Vom Regen nehme das kaum Wasser auf. Allerdings sei sein Brennwert auch sehr niedrig. Für unsere Zwecke, einem kleinen Feuerchen, reicht das aber leicht. Die Sonne geht glühend hinter einigen Wolkenstreifen unter.

Es wird schnell kühl. Thomas entfacht das Feuer. Wir sitzen auf unseren Isomatten um das kleine Feuerchen vor dem See. Schnell wird es dunkel. Unser Abendbrot besteht in geschmierten Broten, Gurken, Karotten und anderen Dingen, die jeder von uns mitgebracht hat. Morgen früh gibt’s Spezialkaffee, meint Thomas. Er habe einen winzigen Esbitkocher im Gepäck. Darauf ließe sich wunderbar Getreidekaffee kochen. Darauf bin ich ja mal gespannt. Wir unterhalten uns über Thomass Onkel, das Grundstück und das Segelboot. Wir sprechen über den Verkaufsvormittag am Stand auf dem Marktplatz und die gute Idee von Thomas zu dem Frühlingsausflug. Irgendwann wird mir klar, dass es die erste Nacht in einem Zelt sein wird, seitdem ich im vergangenen Sommer in Griechenland gewesen war. Das bedeutet wenig. Es bedeutet nichts. Irgendwann werde ich mich nicht mehr erinnern können, wie oft ich schon in einem Zelt übernachtet habe. Deshalb ist es völlig belanglos, daran jetzt zu denken. Mein Schlafsack ist für diese Frühlingsaktion eigentlich etwas zu dünn. In Griechenland war er zu dick.

Ida lehnt sich an Thomas Schulter an. Beide decken sich mit seinem Schlafsack den Rücken zu. Von vorne wärmt uns das Feuer. Pete sitzt neben mir, sie hat sich ihren Schlafsack über den Rücken gelegt. Ich überlege, wie lange Ida und Thomas sich kennen. Es muss der Samstagvormittag gewesen sein, als Martin mit Ida und Pete an dem Verkaufsstand vorbeigekommen war. Jetzt erinnere ich mich. Thomas hatte beide freundlich begrüßt und Hände geschüttelt. Beide waren mir und Thomas unbekannt. Er kennt sie genauso lange wie ich. Ist mir da etwas zwischen ihm und Ida aufgefallen? Ich glaube ja, da war etwas. Er hat sie die ganze Zeit lang angesprochen und angesehen. Pete stand neben ihrer Schwester, mir war aber als spreche Thomas hauptsächlich Ida an. Hatte sich das ergeben, weil Pete, die jünger ist?

Sie spielt die Rolle der jüngeren Schwester. Als ich sie erstmals an diesem Tag sah, stand sie neben Ida, die mit Thomas sprach und nickte und lachte, aber sie sagte wenig. Ich glaube sogar, sie sagte gar nichts. Ida sprach mit Thomas und er mit ihr. Die beiden hatten eigentlich den gesamten Rest des Vormittages miteinander gesprochen. Martin war nach einer knappen halben Stunde verschwunden. Ida und Pete blieben. Pete verabschiedete sich mittags und Ida blieb bis zum Schluss, sie half uns sogar beim Einpacken.

Ich habe keine Ahnung, was da zwischen Thomas und Ida passiert war. Dass aber etwas passiert war, scheint nun klar. Denn beide sitzen jetzt am Feuer unter einem Schlafsack und sie haben sich an die Hand genommen. Das Gespräch ist eingeschlafen. Wir haben über Martin gesprochen und darüber, warum er heute nicht dabei ist. Er ist wieder mit dem Jugendleiter auf einer Wochenendaktion unterwegs. Martin macht sein Zivildienst viel Spaß, er ist aber viel an den Wochenenden weg. Ich lege Holz nach. Das Feuer wärmt gut, aber von hinten ist es kühl. Deshalb hole ich meinen Schlafsack aus dem Zelt und ziehe mir den über meinen Rücken.

Pete durchbricht das Schweigen. Sie setzt jetzt ihre Fragestunde von der Fahrt zu dem letzten Seminar fort. Wo ich denn zuvor gewohnt habe, warum ich diese Schule besuche, ob ich einmal studieren wollte, was ich den beruflich werden will. Irgendwann will ich nicht mehr antworten und frage Pete einfach: Warum willst du all das von mir wissen? Sie antwortet: Weil ich neugierig bin. Ich hatte also Recht.

Ida und Thomas sind verschwunden. Ich merke das erst jetzt. Sie sitzen nicht mehr am Feuer. Ich habe das Flackern der Flammen, das Farbspiel zwischen blau und gelb beobachtet, das sich ergibt, wenn ich feuchtes Holz nachlege. Ich habe nebenbei auf Petes Fragen geantwortet. So habe ich gar nicht bemerkt, wann sich Ida und Thomas vom Feuer erhoben. Pete lächelt mich von der Seite an. Sie sieht pfiffig aus, mit ihren kurzen dunklen Haaren und ihrem runden Gesicht in dem sie eine runde Nickelbrille trägt. Sie öffnet den Mund, ich komme ihr aber zuvor: Bitte keine Frage mehr. Sie lacht. Das sieht nett aus.

Warum habe ich letzte Nacht geträumt, dass sie im Auto neben mir sitzt und weint? Sie hat keine Frage. Sie sagt sie wolle mir etwas sagen. O.k., sage ich, wenn’s keine Frage ist, ist das gut. Sie sagt, sie finde mich nett. Oje, was soll das werden? Sie sagt, sie mag mich. Ich stöhne leise und müde, weil ich nicht anders kann. Ich finde sie sehr nett, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass das gut ist, wenn wir beide etwas miteinander anfangen. Was soll ich jetzt zu ihr sagen? Ich schweige kurz und sehe in das Flackern im Feuer. Das Flackern kommt aus einem kleinen Holzstamm, den ich gerade nachgelegt habe. Unten flackert unruhig ein blaues Licht. Oben flackert die Flamme gelb. Ich sage ihr genau das.

Ich rücke etwas näher an sie heran. Ich sehe sie an. Sie lächelt nicht. Sie sieht ernst aus. Es ist ein trauriger Ernst in ihrem sonst so lebendigen Geicht. Jetzt sehe ich Tränen auf ihren Wangen. Es sind zwei kleine Bahnen auf ihren Wangen. Sie glänzen im hellen, bewegten Licht der Flammen. Es ist ein ganz warmes Licht, dem ich in ihrem runden, hübschen Gesicht dabei zusehe, wie es sich in der Feuchtigkeit ihrer dunklen, braunen Augen spielt, wie es sich auf ihren nassen Wangen spiegelt. Ich ziehe ein Päckchen Taschentücher aus meiner Hosentasche und nehme ein Tuch heraus. Das gebe ich Pete. Ich sage nichts weiter. Mir fällt nichts mehr ein, was ich so zu ihr sagen könnte, dass es für sie Grund wäre, aufzuhören zu weinen.

Ich sehe in das Feuer, weiß dabei genau, dass da eine neben mir sitzt, die jetzt weint, wegen mir. Ich kann sie aber nicht trösten. Es geht nicht, ich weiß nicht, wie ich das machen sollte. Ich kann nichts Ehrlicheres zu ihr sagen. Ich kann ihr kein Trost sein, ich kann ihr nicht geben, was sie sich wünscht. Es bringt nichts, wenn ich etwas vorgebe, was falsch ist.

Ich habe das Gefühl, dass ich täglich viel Falsches tun muss. Jeden Tag sitze ich lange Zeit in der Schule. Ich sitze dort fast die halbe Zeit des Tages, dreimal in der Woche sitze ich dort auch nachmittags. Das Lügen und Spielen dort reicht mir. Mehr schaffe ich nicht. Denke ich noch richtig? Manchmal zweifle ich daran.

Blaues Haus

Freitags in der letzten Stunde vor dem Wochenende wandelt der Deutschlehrer seinen Satz vom glücklichen Schmied ab, beziehungsweise er differenziert ihn. Nicht einfach nur jeder sei seines Glückes Schmied meint er, sondern, um Glück tatsächlich selbst schmieden zu können, sei die passende, für das Glück notwendige Gesinnung erforderlich. Glück hänge erheblich davon ab, welche Gesinnung in der jeweiligen Gegend, in der der Mensch lebt, dem Glück als zuträglich definiert worden sei und welche Gesinnung dem Menschen eher als im Wege stehend definiert wurde. Dieses kennen wir aus verschiedenen Versuchen in der Chemie, der Physik und auch der Mathematik. Ein Experiment klappt nur, wenn die Rahmenbedingungen exakt stimmen. Das Experiment lasse sich wissenschaftlich nur auswerten, wenn es exakt wiederholbar ist. Voraussetzung für das Schmieden von Glück sei quasi das Einhalten einer klassischen, definierten Versuchsanordnung. Glück eine Versuchsanordnung? Was Glück sei, sei letztendlich eine Definitionsfrage. Denn es spiele eine wesentliche Rolle, welche Gesinnung per Definition in einer Gesellschaft notwendig sei, um in dieser glücklich zu werden. Die Versuchsanordnung müsse so sein, dass jeder die Chance habe, sein Glück zu schmieden. Das, so schließt der Lehrer überraschend ab, sei aber unmöglich.

Da sind die Augen groß. Um mich herum im Klassenzimmer sehe ich sekundenlang offen stehende Münder. Nicht nur mich scheinen diese Worte verblüfft zu haben. Der Gongschlag ertönt, das Wochenende beginnt, doch für Sekunden spüre ich in diesem Klassenraum etwas Neues. Ruhe, die nicht erzwungen ist. Interesse und Nachdenklichkeit, die entstanden ist. Wir diskutieren das nächste Woche, sagt der Lehrer und verlässt das Klassenzimmer.

Diskutieren? In dieser Schule, ich habe da Zweifel. Auf meinem Heimweg beim Einkaufen im Discounter, auf der Strecke hinunter zum Fluss, in der Kurve vorbei am Kreiswehrersatzamt, auf dem Fußweg über die Brücke, hinauf in den Wald, oben raus aus dem Wald, vorbei am geschlossenen Moulin Rouge, durch das schwere schmiedeeiserne Gartentor, hinein in das Haus von Frau Stößer, die Wendeltreppe hinauf in die Küche, überall wiederholt sich in meinem Kopf immer wieder das Bild von uns Schülern im Klassenzimmer: Was hat der da gerade gesagt?

Um einundzwanzig Uhr fahre ich mit dem gelben Opel vor dem Haus von Ida und Pete vor. Ich stelle den Wagen vor der Tür ab. Die Lichtmaschine hätte mich fünfundzwanzig Mark kosten sollen. Ein Vermögen, das ich mir unmöglich leisten konnte. Der Schrotthändler war hart geblieben. Ich versuchte alles. Ich könnte ihm zusichern, mein Auto, ich zeigte nach draußen vor seine Bürotüre, in weniger als einem halben Jahr zu ihm zu bringen. Dann nämlich sei der TÜV an dem Wagen abgelaufen. Da seien noch jede Menge brauchbarer Teile dran. Auch die Lichtmaschine könne er dann wieder zurückbekommen. Ich brauche sie also nur für eine halbes Jahr. Ich würde das Teil im Grunde nur mieten. Da müsste doch was gehen. Wenn ich ihm einen Zehner gäbe und einen kleinen Vertrag dazu, dass er das Teil und noch einige brauchbare Trümmer mehr von mir zurückbekommt. Der Händler lachte ob meines ungewöhnlichen Auftritts in seinem versifften Büro. Aber mein Angebot interessierte ihn nicht wirklich. Also zog ich mich enttäuscht zurück. Enttäuscht fuhr ich die Straße vom Schrottplatz Richtung Bundesstraße zur Kreisstadt entlang. Kurz vor der Abzweigung auf die Bundesstraße kamen mir zwei Wagen entgegen. Der Hintere der beiden war ein roter Opel-Kadett. Beide fuhren dicht hintereinander und sie waren sehr langsam. Im Vorbeifahren erkannte ich, dass ersterer den Hinteren abschleppte. Sofort drehte ich um, folgte beiden und überholte. Ich bremste beide langsam aus, winkte, dass sie auf die Seite fahren sollten. Die blieben am Straßenrand stehen. Die zwei wirkten eicht verdutzt wegen meiner Frage, ließen sich aber auf den Deal ein. Als sich herausstellte, dass ich nicht mal passendes Werkzeug dabei hatte, wurde der eine der beiden ungehalten und fluchte leise, der andere lehnte ohnehin nur am Auto und rauchte. Beide halfen mir schließlich trotzdem. So kam ich zu der gebrauchten, neuen Lichtmaschine. Die zwei bauten mir das Ding sogar am Straßenrand noch in meinen gelben Opel ein. Das ist jetzt ein bisschen Glück, das ich mir selbst schmiede. So dachte ich kurz an den Deutschlehrer aus der letzten Stunde zurück. Das die zwei jetzt hier vorbeigekommen waren, war eine glückliche Fügung. Niemand hatte auf diese Begegnung an der Straße Einfluss. Ich schmiedete nur noch eine bisschen. Die Voraussetzung für mein Schmieden aber war, dass beide überhaupt zu dieser Uhrzeit mitten auf meinem Weg dort auftauchten, das war völlig ohne meinen Einfluss entstanden. Die Beleuchtung am gelben Opel-Kadett funktioniert jetzt einwandfrei.

Ich läute. Die Tür öffnet sich. Ich steige eine von Teppichboden belegte Steintreppe hinauf. Die zweite Türe, sie liegt links Richtung Straße ist angelehnt. Ich schiebe sie langsam auf, trete ein uns sage leise Hallo. Hallo höre ich jetzt auch von Pete. Es kommt von links. Ich schiebe die Türe langsam zu bis es klackt, gehe durch einen engen Gang, links und rechts erkenne ich Photographien an den Wänden. Auf ihnen sind Personen abgebildet. Soweit ich das im Vorbeigehen erkenne sind es Familienfotos. Pete sitzt am Küchentisch. Tee? Sie lächelt mich an, hebt die Teekanne vom Stövchen und schenkt in einen Becher, der am Tisch vor dem Stuhl neben ihr steht, ein. Ich setze mich.

Ich bin unsicher. Hätte ich ihr zu Begrüßung ein Küsschen geben sollen? Sie macht dazu keinerlei Anstalten. Also ist es schon o.k. das nicht zu tun. Sie sieht mich an. Sie lächelt. Ich bin froh, dass sie lächelt. Na, alles klar? So fangen wir das Gespräch an. Meine Unsicherheit verschwindet aber nicht einfach. Pete fragt mich nach keinen Details mehr. Ihre Neugier ist verschwunden. Sie sieht mich an und lächelt. Sie denkt wohl, es ist an mir das Gespräch zu beginnen. Also sage ich, ja, alles klar und bei dir? Sie nickt und nippt an der Teetasse. Kurz frage ich mich, was das hier nun werden soll. Dann wird mir klar, dass ich als Gast gekommen bin und nicht hätte kommen müssen, wenn ich das nicht gewollt hätte. Was also will ich hier? Dass ich sie nett finde und sehr gern habe, mehr aber nicht, weiß sie von dem Gespräch am Feuer beim Fahrradausflug. Wie also das weitere Zusammentreffen gestalten, unter den Bedingungen, die zwischen uns soweit geklärt sind?

Es ist anders geworden, als es vorher gewesen ist zwischen uns beiden. Die Offenheit und die Entspannung in unserem Kontakt trotz zeitgleich vorhandener Spannung zwischen uns ist verschwunden. Was geschieht jetzt? Pete hat ihre Fragestunde endgültig beendet. Noch in den Sekunden am Feuer, als sie erneut begonnen hatte mich zu befragen, wünschte ich mir, und sagte ihr schließlich, dass sie das bitte lasse. Jetzt sitzen wir sekundenlang schweigend in der Küche in der Wohnung ihrer Familie. Ich weiß nicht, was jetzt zwischen uns noch los ist.

Da ist es sehr gut, als schlüsselklimpernd die Wohnungstür aufgesperrt wird und Ida laut Hallo ruft. Sie betritt gefolgt von Thomas die kleine Küche. Na wie läuft denn die gelbe Seifenkiste? Das ist ein deutsches Markenprodukt, berichtige ich Thomas, zwar in die Jahre gekommen, aber bisher zuverlässig. Mit der neuen Lichtmaschine sollte nun auch die Verkehrssicherheit bei Nacht gegeben sein. Thomas setzt sich neben mich, Ida sitzt mir gegenüber. Wir können es also riskieren, uns von dir heute Abend dort hinfahren zu lassen, fragt Thomas. Solange ihr nicht erwartet, in der Kiste wie auf Federn gebettet zu sitzen, dürfte das kein größeres Risiko sein.

Das blaue Haus ist eine knapp zwanzig Autominuten entfernte Diskothek. Sie liegt am Ortsrand eines kleinen Dorfes. Bei unserem Eintreffen ist der Parkplatz noch beinahe leer. Entsprechen wenige Menschen halten sich in dem Haus auf. Es besteht aus zwei Stockwerken, oben kann man der lauten Musik entgehen und Billard spielen. Das tun wir. Ida und Pete haben darin Übung, sie sind richtig gut und machen Thomas und mich richtig fertig. Deshalb spiele ich die nächste Runde mit Pete gegen Ida und Thomas. Da wird es richtig spannend, zum Schluss bleibt nur noch die schwarze Acht übrig, die Thomas eher zufällig versenkt. Das ruft nach Revanche. Das Spiel macht richtig viel Spaß. Nach drei Spielen räumen wir den Billardtisch, für eine andere Mannschaft. Wir setzten uns in eine Ecke an einen Bistrotisch. Der Laden hat sich binnen einer Stunde gut gefüllt. Ida und Pete besuchen das Haus öfter, sie sind bekannt, sie werden permanent von neuen Gästen begrüßt. Irgendwann sitze ich alleine am Tisch, denn Thomas ist mit Ida nach unten zum Tanzen gegangen und Pete verschwindet mit einem Typen, der sie herzlich begrüßt hat. Ich hasse Diskotheken. Leider kann ich nicht mal ein Bier trinken, wegen der Autofahrerei. Zwei Pärchen fragen mich, ob sie sich an den Tisch setzten können. Ich nicke, stehe auf und verlasse den Tisch, weil ich es jetzt unangenehm finde, allein dort mit fremden Leuten zu sitzen. Ich gehe einen Stock tiefer. Kaufe mir an der Bar ein zweites, teures Spezi und beobachte die Szenerie auf der Tanzfläche. Erst nach Minuten sehe ich Ida, Thomas, Pete und den Typen, mit dem sie verschwunden war. Sie hüpfen ausgelassen auf der Tanzfläche herum. Mir kommt das ganze Sekundenlang blöd vor, dann verschiebe ich dieses Vorurteil und denke, dass es eben eine Disko ist. Es ist wohl normal.

Pete hüpft gelenkig und sehr dynamisch durch die Menge auf der Tanzfläche. Es ist kein gemeinsamer Tanz mit ihrem Begleiter. Den habe ich jetzt sogar aus den Augen verloren. Ah, nein, er taucht nun wieder hinter Pete aus der Menge auf. Warum beobachte ich sie jetzt? Bin ich eifersüchtig auf diesen Knaben, der sie da auf die Tanzfläche geschleppt hat? Wahrscheinlich ist das so. Warum sonst war ich gerade erleichtert weil ich den Typen aus den Augen verloren hatte? Ich dachte, dass es gut ist, dass der Typ verschwunden ist. Wenn Pete fertig mit dem Tanzen ist, könnten wir uns vielleicht ein wenig unterhalten. Aber worüber? Mir fällt kein Thema ein, das ich unbefangen mit ihr besprechen könnte. Was wir zwischen uns an dem Lagerfeuerabend geklärt haben, überschattet alles Weitere.

Jetzt sehe ich Ida. Sie schnappt sich die Hände von Pete und die beiden Schwestern tänzeln kurzzeitig gemeinsam durch die Menge. Sie rufen sich irgendetwas gegenseitig zu. Die Aktion auf der Tanzfläche macht beiden riesigen Spaß. Was machen sie jetzt? Sie sind mir jetzt ganz nahe. Sie kommen direkt auf mich zu. Ah, jetzt weiß ich, was kommt. Sie versuchen mich auf die Tanzfläche zu bewegen. Ich kann das jetzt nicht. Ich verneinen das Vorhaben, winke mit der linken Hand, hebe mir der rechten mein Glas hoch um deutlich zu machen, das es voll ist und ich es nirgendwo abstellen kann. Ich bin froh, das beide sofort aufgeben. Die Tanzfläche ist sehr voll, die Diskothek scheint nun restlos gefüllt zu sein. Mir gefällt es überhaupt nicht, wenn in solcher Öffentlichkeit, etwas geschieht, wie gerade eben, das die Aufmerksamkeit anderer auf mich zieht. Leute, die rechts und links von mir stehen, haben natürlich aufmerksam beobachtet, wie die beiden Mädchen versuchten mich auf die Tanzfläche zu bewegen. Andere, die ich gar nicht sehe, haben das wahrscheinlich aus einiger Entfernung ebenfalls beobachtet. Um zumindest zu den Beobachtern rechts zu links von mir mehr Abstand zu haben, Bewege ich mich jetzt durch die Menge rund um die Tanzfläche, um auf die andere Seite zu gelangen.

Drüben ist es nicht ganz so voll. Das liegt wohl daran, dass dort keine Gedränge rund um die Bar statt findet. Ich suche von dem neuen Standort die übervolle Tanzfläche ab. Nichts, ich finde sie nicht mehr. Es sind zu viele Menschen die dort herumhüpfen. Nach zehn Minuten gebe ich es auf. Vielleicht haben sie die Tanzfläche verlassen. Ich bewege mich Richtung Ausgang. Draußen ist es angenehm kühl. Die Luft in dem Laden ist zum Schneiden, das merke ich jetzt, wo ich in vollen Zügen die frische Außenluft einatme. Der Parkplatz ist jetzt voll. Ich suche den gelben Opel-Kadett. Gar nicht so einfach, den jetzt wieder zu finden. Ich bewege mich in die Richtung, sehe ihn aber erst, nachdem ich umdrehe und eine andere Reihe parkender Autos zurücklaufe. Da ist er. Ich sperre auf und nehme meine Jacke vom Fahrersitz.

Im nahen Wald ist es stockdunkel. Ich habe eine kleine Forstpiste in den Wald gefunden. Die Nacht ist sternenklar, der Mond ist aber noch nicht da. Ich laufe langsam. Die dicht stehenden, kahlen Bäume rechts und links wirken wie schwarze Riesen, mit Armen, die dem Kleinen, der in der Finsternis hier herumläuft, den Weg in alle Richtungen zeigen. Ohne den angelegten Weg hätte er keine Chance zwischen den vielen Riesen und den vielen Richtungen, in die deren Arme zeigen, eine bestimmte Richtung einzuhalten um sein Ziel zu finden. Den Rückweg zu finden wäre wegen der vielen Riesen und deren Ähnlichkeit in der Dunkelheit völlig ausgeschlossen. In der Dunkelheit merkt der Kleine nicht mehr, dass die Riesen alle sehr unterschiedlich sind. Keiner gleicht dem anderen. Die Dunkelheit macht den Eindruck etwas gleicher. Das erleichtert dem Kleinen die Suche nach einem Weg aber nicht. Da ist es gut, dass er sich auf einem angelegten Waldweg bewegt, der eine breite Schneise zwischen die dunklen Riesen zu schneiden scheint und einen eindeutigen Verlauf, eine eindeutige Richtung, anzeigt. Doch wohin führt der Weg, den er beschritten hat? Wohin bin ich hier unterwegs? Wo komme ich her, was führt mich in den Wald, wo will ich hin und wohin zurück möchte ich nach hause kehren? Wo liegt Zuhause?

Je mehr der Kleine darüber nachdenkt, desto weniger klar scheint das Bild von seinem künftigen Zuhause zu werden. Die Schritte des Kleinen auf dem breiten Weg zwischen den Riesen werden schneller. Er schlendert hier nicht mehr gemächlich entlang, sondern nun fühlt er sich getrieben. Je weniger Klarheit er hat, über die Fragen, die ihm hier einfallen, desto schneller treibt es ihn diesen Weg entlang. Der Wind rauscht durch den hohen, kahlen Wald. Der Wald spricht seine Sprache. Es ist eine unverständliche Sprache. Es ist ein Rauschen. Manchmal ist es ein Zischen, dann wird es ein dumpfes Grollen, plötzlich wird es ein Fegen, das sich lauter und lauter aufbaut und langsam abfällt.

Vielleicht sollte ich Pete künftig in Ruhe lassen. Dorit treffe ich nicht mehr. Seit meinem Umzug von Berchtesgaden nach Traunstein ist der Kontakt vorbei.

Müde von meinem schnellen Lauf durch den Wald setze ich mich in den gelben Opel-Kadett. Das halbvolle Glas mit dem Spezi steht unbeeindruckt vom kräftigen Wind auf dem Autodach. Ich trinke es in einem Zug leer. Der Parkplatz hat sich ein bisschen geleert. Ich sitze bei offener Wagentür und beobachte den Ausgang des blauen Hauses. Immer wieder öffnet sich die Türe. Paarweise kommen die Menschen dort heraus. Sie lachen und manche von ihnen unterhalten sich lautstark auf ihrem Weg über den Parkplatz. Was tue ich hier? Jetzt erkenne ich auf den Treppenstufen, die von der dunklen Eingangstüre hinunter auf den Parkplatz führen, Pete. Sie verlässt zusammen mit dem Menschen, der sie auf die Tanzfläche begleitet hatte, das Haus. Beide schlendern über den Parkplatz. Sie gehen zwei Reihen entfernt an den geparkten Autos vorbei. Nun bleiben sie stehen. Jetzt sehe ich deutlich das Profil von Pete. Ihre langen, dunklen Haare werden vom Wind durcheinandergewirbelt. Sie streicht sich über die Haare. Sie öffnet die Wagentüre. Weg ist sie. Zwei, drei Minuten geschieht offenbar nichts. Dann bewegt sich das Auto. Ich höre kein Motorengeräusch. Ich höre das Rauschen des Windes und das Ächzen der Bäume.

Kinderurlaub

Es gibt keinen Vertretungslehrer. Die Doppelstunde am Freitag entfällt ersatzlos. Die Pfingstferien beginnen deshalb zwei Stunden früher. Die Diskussion mit dem Deutschlehrer findet nicht statt. Der Lehrer kommt nicht.

Martin holt mich samt Gepäck im Haus von Frau Stößer ab. Mein Gepäck besteht in einer kleinen, blauen Reisetasche, meinem Schlafsack und einer Isomatte. Pünktlich um halb acht Uhr begrüße ich den Jugendleiter und eine Anzahl von Mitarbeitern auf einem Parkplatz vor dem Jugendbüro. Der Reisebus steht mit offenen Gepäckklappen noch menschenleer da. Ich verfrachte meine Sachen dorthin, wo bereits ein kleines Gepäckhäufchen der Mitarbeiter liegt. Der Jugendleiter drückt mir eine Liste mit den Namen aller Kinder, die auf die Maßnahme mitfahren, in die Hand. Ich falte die Liste zusammen und stecke sie mir in meine Hemdtasche. Das erste Auto biegt auf den Parkplatz ein. Ich schüttle Hände und begrüße Kinder. Ich erhalte Anweisungen und Informationen von Eltern. Auf dem Parkplatz höre ich aufgeregte Kinder, ich sehe weinende Kinder, die sich von ihren Eltern verabschieden. Martin sammelt in einer großen Mappe Papiere. Es sind Ausweise der Kinder und es ist ihr Taschengeld. Das steckt er jeweils in Umschläge, die er in Fächern der großen Mappe verräumt. Die Mappe hat viele Fächer, für jedes Kind ein Fach.

Um halb neun Uhr ist es soweit. Der Bus ist voll von Kindern. Ich gehe durch den Bus und zähle. Die Zahl stimmt, da werden die Namen auch stimmen. Das spreche ich kurz mit dem Jugendleiter ab. Der ist aber der Meinung, dass alle Kinder per Mikrophon beim Namen genannt werden sollten. Also begrüße ich alle Kinder und gehe jedes Kind namentlich anhand meiner Liste durch. Das finden die Kinder lustig, denn nicht alle Namen spreche ich korrekt aus. Ich lasse mich korrigieren und übe jeden falsch gesprochenen Namen richtig auszusprechen. Das finden die Kinder noch lustiger. Um viertel vor Neun kann es losgehen. Der Busfahrer wirft den Motor an.

Durch das Mikrofon erklärt der Jugendleiter den Kindern, dass wir eine lange Reise vor uns hätten, aber zwischen drin auch mal Pausen machen würden. Martin fährt zusammen mit einem ehrenamtlichen Mitarbeiter, wie es auch ich einer bin, in dem roten Kleinbus vom Jugendbüro. Der ist bis unter die Decke vollgestopft mit Spielmaterial und Lebensmitteln für die Pausen der Fahrt. Ich setze mich vorne im Bus auf einen Sitz neben den Jugendleiter. Der kontrolliert die Fächertasche, welche Martin ihm gegeben hatte, ob darin auch wirklich alle Ausweise der Kinder stecken und prüft jeden einzelnen Ausweis, ob der auch noch gültig ist.

Die Busfahrt ist laut und es wird sehr warm. Am späten Nachmittag erreichen wir das Ziel. Es ist ein in der Schweiz liegender Gebirgssee. Wir wohnen mit fünfzig Kindern, die wir in zwei Gruppen aufteilen, in einem dreistöckigen, großen Haus, wenige hundert Meter vom See entfernt. Abends sind wir todmüde ob der anstrengenden Anreise. Trotzdem starten wir mit einem großen Spielabend, der manchem Kind die letzte Energie abverlangt. Der Jugendleiter meint, dass es gut sei, nach dem langen Sitzen im Reisebus noch ein Bewegungsprogramm zu veranstalten. Nur so könne die Nacht einigermaßen ruhig werden, denn alle Kinder seien aufgeregt. Manches Kind übernachte zum ersten Mal nicht Zuhause, oder sei zum ersten Mal von Zuhause fort. Tatsächlich verläuft die erste Nacht in dem vollen, riesigen Haus ruhig.

Ich falle um halb zwölf Uhr schwer auf meine Isoliermatte. Wir Mitarbeiter bewohnen in dem Dachspeicher des riesigen Hauses einen einzigen großen Raum. Dort schlafen wir auf Isoliermatten auf dem Boden. Der Komfort stört niemanden. Es gibt keinen Privatraum. Mit meiner Einsamkeit in meinem Zimmer im Haus von Frau Stößer ist es jetzt erst mal vorbei. Ich falle in schweren, tiefen Schlaf.

Mein grüner Wecker steht auf dem Boden neben meinem Kopf. Ich höre das Keramikbecher-Wasserglas-Ticken. Ich suche an der Zimmerwand nach der bewegten Linie zwischen Hell und Dunkel. Ich sehe weder Wand noch Linie. Jetzt höre ich einen schweren Atem. Es ist der Atem des Jugendleiters, der neben mir liegt. Ich blicke nach links. Dort ist ein winziges Dachfenster. Draußen sehe ich den Mond. Er wirft einen hellen Lichtstrahl durch den Raum. Ich sehe nach rechts. Wie eine Reihe geparkter Autos liegen die Menschen dort neben mir. Es sind die ehrenamtlichen Mitarbeiter. Die Frauen schlafen in einem eigenen, großen Zimmer im Erdgeschoss. Ich denke darüber nach, wie ich von diesem Dachboden zur Toilette komme. Bad und Toiletten liegen ein Stockwerk tiefer. Ich schäle mich leise aus dem Schlafsack und tapse zur Tür.

Zurück in meinem Schlafsack, auf meiner Isoliermatte neben dem schwer atmenden Jugendleiter kann ich nicht wieder einschlafen. Ich liege auf dem Rücken, sehe oben an der Decke die dunklen Dachbalken des Dachstuhls. Der Schimmer des Lichtes, das der Mond in den riesigen Raum wirft, sorgt für einen Schatten der Balken an der Decke. Ich fixiere dort oben eine Schattenlinie. Langsam beginnt sie sich zu bewegen. Wie eine leichte Welle bewegt sie sich auf und ab. Das Licht des Mondes lebt. Es wirft den Schatten der Dachbalken. Die Dachbalken leben. In ihnen bewegen sich Millionen von Atomen. Wahrscheinlich leben sie nicht nur wegen der Atome, denn im Lichtschein des Mondes sehe ich Staub, der durch den Raum fliegt und ich sehe feinen Holzstaub, der wegen tausender Holzwürmer aus den Balken gearbeitet wird und langsam durch die bewegte Luft im Raum zu Boden sinkt.

Ida und Pete sind nicht mitgekommen. Pete hatte sich vor Wochen beim Jugendleiter abgemeldet. Sie müsse die Ferien nutzen, um vieles für die Schule zu lernen. Es tue ihr leid. Sie wäre gerne dabei, aber es ginge nicht anders. Auch Ida könne nicht mitkommen, denn sie bereite sich auf ihre Abschlussprüfung vor, die kurz nach den Pfingstferien ansteht. Für den Jugendleiter war das in Ordnung. Er hatte noch Zeit, für die Kinderferienfreizeit Ausschau nach anderen jungen Menschen zu nehmen, die ehrenamtlich mitkommen wollen. Und er fand sie.

Pete kommt nicht mehr zu den Verkaufsständen. Aus der Arbeitsgruppe von Thomas und mir ist sie ausgestiegen. Seit dem Abend vor dem blauen Haus habe ich sie nicht wieder getroffen. Trotzdem habe ich oft an sie gedacht. Auch jetzt fällt sie mir ein, weil sie ursprünglich mitkommen wollte, denn sie war ja auf dem Vorbereitungsseminar, zu dem ich sie und Ida im Auto mitgenommen hatte. Nun ist sie nicht dabei. Vieles erinnert mich an sie. Es ist der Verkaufsstand, an dem sie nicht mehr steht, lacht und redet, während der Wind ihr schwarzes Haar nach hinten legt und ihre dunklen Augen durch ihre runde Brille glänzen. Es ist mein orangenfarbiger Sessel, der während der Sitzungen der Arbeitsgruppe so lange leer blieb, bis ich mich nach drei Terminen schließlich selbst dort niedergelassen habe, um den leeren Sessel nicht mehr ansehen zu müssen. Es ist mein täglicher Weg zur Schule, der mich nach der steilen Kurve rechts am Kreiswehrersatzamt vorbei an der Wohnung von Ida und Pete vorbeiführt und mich jeden Morgen daran denken lässt, dass sie dort wohnt. Seltsam ist das alles. Wäre sie es gewesen? Ich weiß es nicht. Warum weiß ich es nicht? Sie kann es nicht sein, sonst müsste ich es doch wissen.

Zwei Wochen lang toben und rennen wir mit den Kindern durch den Wald, auf die Berge, machen mit ihnen Lagerfeuer und wilde Verfolgungsjagden, mit Rätselspielen und Schnitzeljagd. Wir sind mit ihnen permanent draußen, paddeln mit Schlauchbooten über den See, baden und plantschen im See und steigen mit ihnen auf die Berge. Dabei vergesse ich Pete tatsächlich. Ich denke einfach nicht mehr an sie, weil mich hier nichts weiter an sie erinnert. Es ist nur die erste Nacht, in der sie mir einfällt, weil ich in dieser darüber nachdenke, mit welchen Menschen ich hier unterwegs bin. Es ist ein bunter Haufen von Menschen, der ein bisschen zusammengewürfelt wirkt.

Mit Martin mache ich Musik. Wir spielen Gitarre und unterhalten damit die Kinder, Wir singen und Grölen mit ihnen am Lagerfeuer. Martin ist begeistert von der Musik. Er kann neben Gitarre auch Klavierspielen, einmal versuchen wir das verstaubte Klavier im Erdgeschoss des großen Hauses zu benutzen. Das ist aber so verstimmt, dass es nur für ein Lied reicht, in dem es um Katzenjammer geht und die Kinder das Gejammere von Katzen nachmachen sollen. Das macht den Kindern viel spaß, Martin klimpert das Lied in den schrägsten Tönen.

Spät abends sitze ich mit Martin an der Feuerstelle hinter dem Haus. Wir sind an dem Abend die letzten, die sich noch nicht hingelegt haben. Das Feuer ist schon weit runter gebrannt, wir legen nichts mehr nach, denn auch wir sind schon müde. Ich sehe einen Gluthaufen, der in hellem und dunklem Rot schimmert. Martin wird mit seinem Vater sprechen. Er wird ihm sagen, dass er Musikinstrumente verkaufen will. Er wird ihm nach dem Ende seines Dienstes im Jugendbüro in aller Ruhe erklären, dass er das Geschäft des Vaters sehr schätzt, dass es aber für ihn besser ist, in einem anderen Bereich zu arbeiten. Das könnte auch deshalb eine gute Idee sein, weil selbst der Vater schon festgestellt hat, dass die Entwicklung auf dem Holzmarkt immens dynamisch voranschreitet. Es könnte sein, dass in einigen Jahren so ein großer Holzverkaufsmarkt, wie ihn der Vater von Martin betreibt, nicht mehr gefragt ist. In den großen Städten haben erste Baumärkte eröffnet. Diese Entwicklung könnte in den kommenden Jahren auch in der Kreisstadt ankommen. Wenn ein solcher Markt in der Nähe eröffnet, dann könnte dies das Aus für den großen Holzfachmarkt des Vaters bedeuten.

Ich stimme Martin zu. Ich finde seine Idee gut, das mit dem Vater so zu besprechen. Der Vater könnte in den nächsten Jahren den Holzfachmarkt noch gut verkaufen, sagt Martin. Das wäre wohl der richtige Schritt. Er würde Martin die Freiheit verschaffen sich zu orientieren. Er könnte für Martin bedeuten, dass er den zu ihm passenden Beruf findet. Wenn der Vater heute schon erlebt, dass Bewegung in den Markt geraten ist und sieht, dass sein Fachbereich in Frage steht, weil die Leute in den Städten im Baumarkt einkaufen, dann könnte es sein, dass Martins Idee für den Vater kein größeres Problem darstellt. Der Vater hätte dann nur noch das Problem, sich von seinem Beruf zu verabschieden, und er hätte das Problem zu erleben, dass der Beruf vom Sohn nicht weitergeführt wird. Ein anders Problem bleibt ihm aber möglicher Weise erspart. Er muss nicht mit ansehen, wie der Sohn mit dem Holzfachmarkt scheitert, weil der Markt das nicht mehr hergibt. Ich finde Martins Idee sehr gut, hoffentlich schafft er es, den Vater zu überzeugen.

Ob ich das schaffen würde, weiß ich nicht, denn für mich stellt sich die Frage nicht. So eine Situation ist bei mir nicht gegeben, ich habe eine ganz andere. Trotzdem verstehe ich Martin. Seine Lage ist nicht einfach. Er muss erst mal den Vater überzeugen, um sich Raum zu verschaffen, eigene Entscheidungen zu treffen. Ich habe keinen Vater, den ich von irgendetwas zu überzeugen hätte. Im Gegenteil ich bin froh, mich vom Vater damals losgesagt zu haben. Trotzdem ist er in meinem Kopf und Handeln noch da. Ich denke an ihn, wenn ich mit Martin spreche. Ich kann frei entscheiden, was ich tun will. Kein Gespräch mit dem Vater darüber ist notwendig. Er hat mit mir seit Langem nichts mehr zu tun. Ich kann machen was ich will. Vielleicht suche ich deshalb so lange. Martin sucht nicht, ich glaube er sucht gar nicht, sondern er sieht, was er hat und er überlegt, wie er damit umgeht. Mein Suchen hat vielleicht damit zu tun, dass ich das nicht habe. Ich habe nichts zu tun mit dem Vater also kann ich auch nicht tun, was ihm gefallen würde, kann mit ihm nicht drüber sprechen, ob das für mich richtig wäre oder ob mir etwas anderes einfällt. Fällt mir deshalb nichts ein? Suche ich ständig etwas, weil ich vom Vater nichts habe? Martin hat etwas vom Vater. Er kann, er muss sich dazu Gedanken machen. Erst wenn all das nichts wäre, müsste auch er zu suchen anfangen. Ich liege neben dem grünen Metallwecker, der mir sein Keramikbecher-Wasserglas Ticken ins Ohr schlägt. Ich sehe die Schatten, die von den Holzdachbalken an die Decke geworfen werden. Ich sehe da oben wieder die Wellenbewegung und das Leben.

Am vorletzten Abend sitze ich abends wieder sehr lange am Lagerfeuer. Die Kinder haben heute so laut und lange mitgesungen und mit gegrölt, bis manche von ihnen heiser geworden waren. Hoffentlich erholen sich Kinderstimmbänder über Nacht schnell. Der Tag war sehr anstrengend. Wir haben eine sehr ausgedehnte Wanderung gemacht. Martin hat vor Minuten laut und müde gegähnt. Schließlich packte er die Gitarre in den Koffer und verschwand begleitet von den letzten noch auf gebliebenen Kindern ins Haus. Neben mir sitzt nun nur noch Paul vor dem kleinen Lagerfeuer.

Karin habe sich in den letzten Monaten ziemlich verändert. Peter überrascht mich mit diesem Satz nicht wirklich. Er erschrickt mich. Ich weiß, dass Karin sich ihm gegenüber verändert haben muss, denn ich weiß ja, dass sie ihn mit dem Busfahrer betrügt. Ich hatte mehrmals darüber nachgedacht, wie es wäre, mit Paul auf den Vorbereitungsseminaren über Karin zu sprechen. Ich habe es nie getan. Anfangs war Karin auf zwei Abendseminaren noch mit dabei. Sie hatte sich schließlich von der Vorstellung auf diese Kinderferien mitzufahren verabschiedet. Das begründete sie mit ihren Abiturprüfungen, die sich bei ihr über die Pfingstferien hinaus erstrecken würden. Sie brauche die Ferien weil sie nichts riskieren wolle, sie brauche sie für intensive Vorbereitungen auf den mündlichen Prüfungsteil.

Jetzt sitze ich mit Paul am Feuer, der mich anspricht. Wochenlang habe ich daran nicht mehr gedacht. Karin war drei Wochen vor Beginn der Ferien das letzte Mal bei mir zu Besuch. Sie hatte mir erneut alle Details ihres Zeitplanes und ihrer Einkäufe in der Kreisstadt diktiert, die ich ordentlich in meinen Notizblock schrieb. Auch an diesem Wochenende kam kein Anruf wegen Karin bei Frau Stößer an. Frau Stößer rief mich ein einziges Mal an dem Wochenende ans Telefon. Martin hatte angerufen. Ich habe den Notizblock immer noch regelmäßig dabei. Noch nie trat der Fall ein, dass ich die Notizen wegen Karin brauchte.

Paul könnte denken, dass Karin sich wegen der Besuche bei mir verändert hat. Das mit dem Busfahrer läuft nun schon etwas länger als ein halbes Jahr. Paul scheint davon nichts zu wissen. Aber er ahnt etwas. Schließlich sagt er, er glaube, Karin liebe ihn nicht mehr. Er merke das genau. Er frage sich inzwischen sogar, ob sie ihn je geliebt habe. Zumindest frage er sich ob sie ihn seit der Hochzeit noch je geliebt habe. Zuvor, so sagt er, war da etwas, daran erinnere er sich noch. Aber seit der Hochzeit wäre da eigentlich nichts mehr zwischen ihnen.

Ich sitze neben Paul, starre auf die winzigen Flammen, die von einem letzten herausragenden Hölzchen aus dem Feuer aufgeworfen werden. Ich schweige. Mir fällt nichts ein. Ich habe das Gefühl, dass ich nicht sprechen kann. Meine Stimme ist heiser vom Singen mit den Kindern. Sie würde mir versagen, wenn ich ansetzen würde. Mein Hals ist wie zugeschnürt. Ich würde nur ein Krächzen herausbringen. Ich könnte mich Räuspern und versuchen, die Stimmbänder zu aktivieren. Ich müsste mich zusammenreißen und Gewalt anwenden um da einen ehrlichen Ton herauszupressen. Das geht nicht. Ich habe nichts, was ich antworten kann. Paul hat Recht. Karin hat sich ganz bestimmt verändert. Ich hätte ihm das schon längst einmal in aller Ruhe sagen sollten. Ich hatte dazu Gelegenheit gehabt, denn wir haben uns auf zwei Vorbereitungsseminaren gesehen und wir sind jetzt seit zwölf Tagen zusammen mit den Kindern hier. Mein Hals fühlt sich an, als würde er fest zu gepresst. Die Stimmbänder sind von einer schweren Kette belegt, die sie verschließt. Ich habe das Gefühl, für lange Zeit kein einziges ehrliches Wort mehr herauszubringen.

Paul spricht über sie. Er liebt sie. Er spricht über sie in leisen Tönen. Er will sie behalten. Er hat sie geheiratet, weil er sie liebt. Er weiß aber nicht, wo sie seitdem geblieben ist. Er erklärt, dass er sie nicht mehr spüren kann wie früher. Er sucht sie schon lange. Jetzt sei es besonders schlimm geworden, denn sie ist weit von ihm weg. Wenn sie miteinander telefonieren, was er täglich tut, merkt er dass er sie nicht finden kann. Er hat sich in der Zeit mit den Kindern hier in den Ferien überlegt, dass er neu anfangen will mit Karin. Wenn wir Übermorgen wieder zuhause sind geht das los. Es wird einen neuen Anfang geben zwischen ihm und Karin. Er sei sich ganz sicher.

Ich schweige. Das Feuer ist fast aus. Nur ein leichtes Züngeln einer winzigen Flamme erkenne ich über dem Gluthaufen. Plötzlich merke ich, wie eine Träne durch mein Gesicht rollt. Ich wende mich kurz ab von Paul und wische mir flüchtig mit dem Arm über mein Gesicht.

Der letzte Abend wird eine tolle, laute Show. Die Kinder bereiten Spiele und Theatereinlagen vor. Sie basteln den ganzen Tag über an ihren Vorstellungen, die sie abends präsentieren. Martin und ich begleiten mehrere Kindergruppen mit der Gitarre, die eigene Lieder mit eigenen Texten gedichtet haben. Die Kinderstimmbänder haben sich nachts erholt, sie plärren ihre Lieder aus voller Kehle. Erst nach halb zwei Uhr kehrt im Haus langsam Ruhe ein. Draußen regnet es in strömen, weshalb der Abend im Haus stattfindet und kein Lagerfeuer möglich ist. Eine letzte Gruppe bleibt noch lange im großen Raum im Erdgeschoss zusammensitzen. Ich bin todmüde, lege mich gegen zwei Uhr in meinen Schlafsack.

Die Heimreise vergeht schnell. Den ganzen Tag lang regnet es. Die Kinder sind müde vom letzten Abend und wohl auch von der vielen frischen Luft der vergangenen zwei Wochen. Der Abschied vor dem Jugendbüro geht rasend schnell. Die Kinder werden sehnsüchtig von ihren Eltern in Empfang genommen. Ich schüttle Hände und höre Dank. Ich sehe lachende Eltern und erholte Kinder. Ich schüttle Paul lange die Hand und wünsche ihm alles Gute. Der Jugendleiter dankt mir und rauscht in seinem Wagen davon.

Mit meiner kleinen Tasche, der Isoliermatte und dem Schlafsack unterm Arm steige ich mit Martin zusammen in den roten Jugendbus ein. Martin wendet den Bus auf dem leeren Parkplatz vor dem Moulin Rouge. Er hält vor dem Haus von Frau Stößer. Ich steige aus, krame nach meinem Schlüssel, finde ihn, gebe Martin durch das Wagenfenster die Hand. Wir vereinbaren ein Zusammentreffen am kommenden Wochenende. Martin rauscht mit dem Bus davon. Ich sperre das schmiedeeiserne Tor auf. Der gelbe Opel Kadett steht, wie ich ihn geparkt hatte, davor. Ich durchquere entlang der Garagenmauer den Gartenweg. An der Haustüre fällt der Schlüssel runter. Ich setze mein Gepäck, Tasche, Schlafsack, Isoliermatte ab, greife nach dem Schlüssel uns sperre auf. Meine Hände zittern. Ich bin müde und aufgekratzt. Niemand erwartet mich im Treppenhaus. Ich steige die Wendeltreppe hinauf. Ich betrete mein Zimmer, gehe zur Balkontüre und öffne sämtliche Flügel der Tür. Feuchte Luft strömt mir entgegen. Ich setze mich auf den orangefarbenen Sessel und Blicke über den Balkon hinaus über die verregnete Kreisstadt. Es ist ruhig in meinem Zimmer.

Arbeiten

Der Sonntag ist ein seltsam ruhiger Tag. Nachts um halb vier Uhr wache ich auf. Der grüne Metallwecker ist ruhig. Er steht. Er zeigt sieben Uhr an. Der Regen hat aufgehört. Ich öffne die Balkontüre. Die Luft ist noch feucht, aber es liegen keine Wolken mehr über der Stadt. Am Nachmittag bekommt Frau Stößer Besuch. Ich sitze auf der Terrasse vor meinem Zimmer. Es ist wieder richtig warm geworden. Der Himmel ist blau und völlig klar. Die Stadt liegt in klarem hellem Licht vor mir. Der Fluss glänzt wie eine messerscharf blinkende Klinge, welche die Stadt in zwei Teile schneidet. Von unten höre ich leise Gespräche zwischen Frau Stößer, ihrem Mann und einem Paar mittleren Alters, die zusammen bei Kaffee und Kuchen sitzen. Ich kann mich trotz des Traumwetters zu nichts aufraffen. Die Ruhe irritiert mich. Sie kommt aus dem Gegensatz zwischen meiner Einsamkeit und dem Remmidemmi der vergangen zwei Wochen. Es ist eine Ruhe, die nicht erholsam ist. Sie ist anstrengend, sie nimmt mir Energie. Was erst gestern endete scheint plötzlich in dieser Ruhe weit zurück, ist aber noch sehr nah. Heute Nacht habe ich die Deckenbalken aus dem großen Raum, oberhalb der Zimmer in denen zwei Wochen lang die Kinder schliefen, gesucht und nicht gefunden.

An meinem Feuer sitze ich nun wieder allein. Meine Alltagsroutine hat mich aber verlassen. Ich war ohne meine Schulbücher losgelaufen und bemerkte es erst, als ich das Feuer entfacht hatte. Allein vor dem Feuer, ohne meine Schulbücher fiel mir erst nach Minuten ein, dass die nächste Woche anders wird. Der Alltag wird anders zu mir zurückkehren. Morgen gehe ich nicht in die Schule, sondern ich habe ein Betriebspraktikum. Die Unterlagen dafür habe ich in meiner Schultasche gefunden. Sie liegen auf meinem Schreibtisch. Ich habe sie noch nicht angesehen. Mein Denken ist noch nicht hier.

Die Zeit ist vorbei, wie ein gerissener Film, der eigentlich noch nicht zu ende ist, aber nicht mehr geflickt werden kann. Zwei Wochen lang Dauereinsatz, ohne Rückzugsmöglichkeit, daran hatte ich mich erstaunlich schnell gewöhnt. Das Jetzt und Hier ist ungewohnt. Ich weiß gar nicht, was ich machen soll. Ich kann niemanden fragen, mit niemandem sprechen. Ich werde nicht angerufen. Alle sind beschäftigt. Jeder ist heute wieder in die Routine seines Alltags versunken. Diejenigen, mit denen ich zwei Wochen lang täglich sprechen konnte, sind nun unerreichbar geworden. Die Selbstverständlichkeit, die galt, indem man täglich miteinander sprach, ist beendet. Nichts mehr geht automatisch. Mich spricht niemand einfach an. Das ist ungewöhnlich. Morgen ist es für mich vielleicht schon wieder gewöhnlich.

Endlich, um vier Uhr nachmittags setze ich mich auf mein Fahrrad. Ich fahre einfach los. Doch es treibt mich die kleine Straße entlang, die ich schon einmal mit dem Rad unterwegs gewesen war. Es ist die Straße auf der ich mit Pete und Ida zum ersten Abendseminar in den kleinen Ort gefahren war. Eine andere Strecke fällt mir jetzt nicht ein. Ich trete einfach weiter. Schon nach den ersten wenigen Kurven sehe ich Pete, wie sie neben mir im Wagen sitzt und anfängt mich auszufragen. Ich habe viel Zeit sie mir im Sitz neben mir anzusehen. Sie lächelt verschmitzt bei jeder Frage, die sie mir stellt. Sie will, dass auch ich lache und ich tue es, denn ihre Fragen finde ich lustig. Ihre Art zu fragen finde ich nett. Sie fragt das alles gar nicht, weil sie das wirklich wissen will, sondern sie will mit mir ein bisschen spielen. Sie will wissen wie ich bin. Wir kennen uns kaum, ihre vielen Fragen sind ihre Art mit mir Kontakt zu suchen. Sie will mich kennen lernen.

Die Strecke durch den Wald ist angenehm kühl. Es geht durch steile, enge Kurven bergan. Ich strample und schwitze. An der ersten Anhöhe sehe ich weit unten die Kreisstadt liegen. Der noch morgens so klare Himmel ist diesig geworden. Die Sicht auf die Berge ist von Dunst verstellt. Ich trinke in großen Schlucken das Leitungswasser aus einer Glasflasche, die ich aus der Fahrradtasche nehme.

Um viertel nach sechs Uhr morgens fährt der Werksbus vor dem grauen Bahnhofsgebäude ab. Ich fahre mit dem Fahrrad durch den kühlen Morgen, vorbei am Kreiswehrersatzamt, vorbei an der Wohnung von Ida und Pete, danach aber nicht nach rechts Richtung Schule, sondern geradeaus. Dort kommt rechter Hand nach dreihundert Metern der Bahnhof. Das Fahrrad kette ich an eine Straßenlaterne, denn ich bin knapp dran. Ich sehe links vom Bahnhof einen Bus, steige beim Fahrer ein, frage, ob das der Werksbus ist, sehe ein Nicken, zeige ein Papier von meiner Schule vor und suche mir hinten im Bus einen freien Sitzplatz. Es ist völlig ruhig. Zehn bis fünfzehn Personen sitzen verschlafen da. So kann es in einem Bus also auch zugehen. Verglichen mit der Busfahrt von Samstag, mit den Kindern zurück in die Kreisstadt, wirkt der Morgen nun wie eine Fahrt zu einer Beerdigung. Das ist er also, der Montagmorgen, wenn man zur Arbeit fährt. In meinem Kopf höre ich jetzt das Lied „I Don’t Like Mondays“ von Bob Geldorf. Nein es ist nicht mein Kopf, es ist das Radio. Ganz leise höre ich es aus dem Lautsprecher über dem Sitzplatz. Jetzt weiß ich, was der meinte, als er das geschrieben hat. Diesen grauen Morgen an diesem Bahnhof in diesem Bus könnte man wirklich niederschießen, so wie Bob Geldorf da singt. Der Fahrer wirft den Motor an. Ich schnüffle an meiner Jacke, sie riecht leicht nach Rauch vom Lagerfeuer. Der Bus klappert mehrere Dörfer und Ortschaften ab. Um fünf Minuten nach sieben Uhr erreicht er in einem kleinen Ort, nahe dem großen See an dem Thomass Onkel das Grundstück mit dem Steg hat, einen großen Parkplatz. Er fährt unter einer geöffneten Schranke hindurch und dreht vor einem stählernen Eingangstor an einer großen Halle mit hohen Fenstern um. Dort öffnen sich die Bustüren.

Ich stehe von meinem Sitzplatz auf. Ich spüre, wie meine Knie leicht zittern. Ich fühle mich müde. Ich laufe einfach den Frauen und Männern hinterher. Sie schlendern größtenteils gelangweilt durch das Eingangstor. Die meisten gehen danach rechts, die wenigsten gehen geradeaus weiter. Eine Frau die dort stehen bleibt, frage ich, wo es denn hier zum Ausbildungsbereich geht. Sie zeigt mit der Rechten nach oben. Da hinten die Treppe rauf. Ich durchquere die tiefe Halle, rechts und links sehe ich Arbeitstische die mit elektronischen Geräten belegt sind. Ich sehe Platinen und Lötkolben. Dann kommt ein Fließband, auf dem Gehäuse und Bildröhren stehen. Am Ende der Halle öffne ich eine Glastüre, dahinter steige ich eine steile Treppe hinauf, wo ich durch eine Tür die Lehrlingswerkstatt erreiche.

Die Auszubildenden haben blaue Latzhosen an. Genau so habe ich mir das vorgestellt. Ich nicke, sage aber gar nichts sondern gehe schnurstracks durch einen Raum mit Werkbänken, vorbei an Auszubildenden, die dort arbeiten. An einer Glaswand öffne ich eine Glastür. Es ist das Büro des Werkstattleiters. Ich sehe dort einige bekannte Gesichter wieder, worüber ich jetzt froh und beruhigt bin. Es sind Mitschüler aus meiner Klasse. Auch Matthias ist dabei. Sie stehen rund um einen Schreibtisch. An dem sitzt ein stämmiger, leicht untersetzter Typ, der ganz freundlich aussieht, weil er beim sprechen permanent lächelt. Es ist der Werkstattleiter und Ausbilder. Ich stelle mich am Rand des Kreises zu meinen Mitschülern. Ich sehe auf meine Armbanduhr, es ist acht Minuten nach sieben Uhr. Der Werkstattleiter blickt auch auf seine Uhr. Acht Minuten sagt er und Grüß Gott. Ich sage nur: Der Bus. Ah so, sie kommen mit dem Bus aus der Kreisstadt. Ja, der hat sich anscheinend leicht verspätet. O.k., sagt der Leiter und fährt mit seinen Erklärungen fort.

Ich bin der Einzige der von der Schule zum Betriebspraktikum erscheint und täglich aus der Kreisstadt kommt. Alle anderen Mitschüler wohnen in der Umgebung der Kreisstadt und erreichen diese Praktikumsstelle über unterschiedlichste Wege. In dem Praktikum lerne ich Grundsätzliches. Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Regelmäßigkeit, Aufmerksamkeit, Sauberkeit, Ordnung, Genauigkeit, Respekt und Unterwürfigkeit gegenüber dem Vorgesetzten. Daraus ergeben sich Anerkennung, gute Bewertungen und Häkchen im täglichen Arbeitsbericht, der zwischen halb fünf und fünf Uhr Nachmittags geschrieben werden muss. Ich finde in meinem Berichtsheft positive Bemerkungen über mich, die der Werkstattleiter dort hineinschreibt. Beobachtungsgabe, Verständnis, Praktisches und theoretisches Denken, kann sich eingliedern, findet sich schnell in Arbeitsprozessen zurecht, kann räumliche und technische Zusammenhänge verstehen. Ich sehe in der Produktion, in dieser Fabrik, wie das Arbeitsleben abläuft. Es kommt mir sehr diszipliniert und sehr stupide vor. Es benötigt viel Energie und Aufmerksamkeit. Der Tag ist mit Arbeit voll ausgefüllt. Um viertel vor sehr Uhr abends steige ich gerädert uns sehr Müde aus dem Bus am Bahnhof aus. Am Freitag komme ich schon um viertel vor Drei am Bahnhof an, kann aber den Nachmittag nicht nutzen, weil ich auf dem Sofa in meinem Zimmer einfach einschlafe.

Die Arbeit in der Produktion ist so langweilig, dass ich ständig über anderes nachdenke als über die Arbeit, die ich mache. Ich sitze an Automaten, die ich bediene. Das sind Pressen, mit denen an bunten Kabeln kleine Stecker angepresst werden. Oder es werden Metallformen ausgestanzt. Manchmal sitze ich an Lötmaschinen, die automatisch Widerstände, Kondensatoren und Transistoren auf Platinen auflöten. Die Arbeit besteht darin, die Platinen und die einzulötenden Bauteile einzulegen, im Fehlerfall den roten Knopf zu betätigen, den Fehler zu beseitigen, das Ding zu reinigen und erneut Platinen und Bauteile in die Maschine einzulegen.

Ich denke bei dieser Arbeit an vieles. Ich lenke mich ab, denn sonst vergeht die Zeit nicht. Ich erinnere mich an den nahen See, der von dieser Fabrik nur wenige Kilometer entfernt liegt. Ich denke zurück an die kurze Fahrradtour und an den schönen Abend mit Thomas, Ida und Pete am Lagerfeuer direkt am Wasser. Die Zeit seitdem ist schnell vergangen. Jetzt, wo Sommer geworden ist, sehe ich Ida und Thomas nur noch in der Arbeitsgruppe, die immer öfter ausfällt. Thomas hat seither keinen gemeinsamen Ausflug mehr vorgeschlagen. Sogar der Verkaufsstand findet nur noch selten statt. Das liegt daran, dass Thomas viel bei seinen Eltern in deren Töpferwerkstatt arbeitet. Ab Herbst wird er seine Ausbildungsstelle wechseln. Am Dienstagabend erzählten er und Ida mir und Martin in der Arbeitsgruppe, dass er eine Ausbildungsstelle als Holzkunsthandwerker gefunden hat. Das sei das, was ihn wirklich interessiere, was er schon immer lernen wollte. Die Schule für diese Ausbildung nimmt aber jedes Jahr nur wenige Schüler auf. Er habe sich schon vor Jahren beworben, und sich seitdem immer wieder gemeldet. Das sei ein Riesenaufwand, weil man immer eine große Mappe mit Zeichnungen zur Bewerbung abgeben müsse. Das habe er Jahre lang getan und das habe sich jetzt gelohnt. Er hat eine Zusage. Er habe seine Schreinerlehrstelle heute gekündigt. Das muss gefeiert werden! Ida hat eine Sektflasche dabei. Der Korken knallt an die Dachschräge in meinem Zimmer. Den Sekt müssen wir aus Teebechern trinken, denn ich habe keine Gläser. Das macht aber nichts. Wir freuen uns mit Thomas, lachen und gratulieren.

In der zweiten Praktikumswoche arbeite ich mit Matthias zusammen in der Endmontage und Kontrolle. Dort werden Fernsehgeräte, Radios und Kassettenrecorder abschließend zusammenmontiert, getestet und am Fließband verpackt. Während ich in der Endmontage die Gehäuse von Radios an einer Maschine mit deren technischen Inhalt zusammenfüge, weist mich Matthias auf eine junge Frau hin. Sie sitzt uns gegenüber. Sieh sie dir genauer an. Sie arbeitet an einer Druckmaschine. Die Maschine bedruckt die Gehäuse. Dazu legt die Frau die Gehäuse in eine Form ein, schiebt die Form unter eine Stanze und zieht einen Hebel. Nach einem Zischen ist der Druck in das Kunststoffgehäuse eingebrannt. Die Gehäuse laufen dann auf einem Förderband zu mir. Ich verschließe sie an meiner Maschine mit deren Inhalt. Von mir laufen die Radios auf dem Band dann weiter zu Matthias und anderen, die einen genau vorgeschriebenen Funktionstest durchführen. Danach gehen die Geräte in die Verpackung. Zuerst verstehe ich Matthias nicht. Warum soll ich die Frau ansehen? Dann sehe ich genauer hin. Ich erkenne, dass die Frau blind ist.

Matthias hat gemerkt, dass ich lange gebraucht habe um das zu erkennen. Er muss frühzeitig bemerkt haben, dass die Frau da drüben nicht sehen kann. Er scheint mir zeigen zu wollen, wie schlecht ich sehe, was vor meinen Augen geschieht. Erst jetzt erkenne ich die Frau. Sie fährt täglich in meinem Bus. Sie sitzt jeden Morgen direkt hinter dem Busfahrer. Matthias zwinkert mir zu.

Er hat einen großen Kopfhörer auf, das gehört zu dem Funktionstest. Der hängt um seinen Hals. Damit testet er, ob auch die Steckerbuchse für den Kopfhörer an dem Radio funktioniert. Matthias sieht mit dem riesigen Kopfhörer und den weißen Kunststoffhandschuhen ganz lustig aus. Er könnte sehr gut einen überdrehten Clown spielen. Wie er mit den Handschuhen das Radio genau abtastet, jeden Schalter nach Vorschrift betätigt, das Batteriefach öffnet, Batterien einlegt und herausnimmt, den Stromstecker anschließt, den Kopfhörer auf die Ohren schiebt, das Radio dicht vor die Augen hält um zu sehen, ob die Senderbeleuchtung bei der Sendersuche automatisch ein und ausgeschaltet wird. Matthias hat ein Lächeln, das ihn mit diesen großen Kopfhörern auf seinen Ohren aussehen lässt, wie ein Pausenclown im Zirkus, er versucht, sich mit der Bedienung eines neuartigen Gerätes zu Recht zu finden. Einmal fällt Matthias dieses Ding tatsächlich runter. Weil er sich entgegen der Vorschrift mit seinem Stuhl zu weit hinter die Tischkante begeben hat, droht das Radio auf den Boden zu krachen. Doch Matthias fängt das Teil, bevor es aufschlagen kann, flink mit der linken Hand ab. Das wirkt wie eine lange einstudierte Nummer. Er blickt sich nach diesem Vorfall in alle Richtungen der Halle um. Schließlich lacht er mir zu, weil er feststellt, dass keiner außer mir ihn beobachtet hat.

Am vorletzten Tag des Praktikums spricht Matthias mich an. Ob ich nicht Lust hätte mit ihm zusammen in der Mittagspause an den See zu fahren. Er habe ein Auto auf dem Parkplatz stehen. Ich sehe ihn verdutzt an. Das habe ich nicht erwartet. Ich nicke und sage, na klar komme ich da mit.

Um halb Eins verlassen wir die Werkshalle durch den Haupteingang. Matthias fährt einen roten VW-Golf. Ich sitze neben ihm und frage ihn, wie er zu diesem neuen Auto kommt. Das gehört meiner Mutter. Sie leiht es mir nur solange ich dieses Praktikum machen muss, weil es aus unserem Ort keine Busverbindung hierher gibt. Matthias fährt schnell und routiniert. Er hat seinen Führerschein, so wie ich, seit seiner Volljährigkeit. Auch er hat exakt an seinem achtzehnten Geburtstag das Papier bekommen. Ohne Führerschein kommt man hier in der Gegend nicht weiter. Ich stimme zu. In der Großstadt ist das anders. Aber vor dem Studium muss die Schule in der Kreisstadt absolviert werden, erst danach geht es in die Großstadt. Dort braucht eigentlich keiner wirklich ein Auto. Ich stimme Matthias zu, obwohl ich die Großstadt kaum kenne. Matthias hat sich dort schon die Uni angesehen. Aber leider, so meint Matthias, dauert es bis zum Studium ja noch ein weiteres Schuljahr und dann noch mal zwei Jahre für den Wehrdienst. Ob ich auch schon die Musterung hinter mir hätte?

Matthias parkt auf einem Parkplatz direkt am Wasser. Die Sonne spiegelt sich auf dem bewegten Wasser. Wir laufen ein Stück entlang dem Wasser. An einem kleinen Strand, den Matthias zielstrebig ansteuert, setzen wir uns auf die Steine. Dort essen wir unsere mitgebrachte Brotzeit.

Das ist das schönste an diesem langweiligen Praktikum, sagt Matthias. Ich nicke zustimmend, sehe dabei hinaus auf das Wasser. Zwei Segelboote dümpeln unweit vom Strand entfernt vor sich hin. Warst du schon auf so einem Boot? Nein, antworte ich. Ich war öfter schon auf dem Wasser, auf einem alten großen Windsurfbrett habe ich das Fahren gelernt, aber Segeln, davon habe ich keine Ahnung. Dann kannst du es ganz schnell lernen. Die Technik ist anders aber die Theorie ist die gleiche. Natürlich ist die Segelprüfung schwer aber die braucht man eigentlich nicht unbedingt. Hast Du ein Segelboot? Nein natürlich nicht, aber mein Vater hat eins, hier am See. Das liegt nicht weit weg. Sonntags sind wir oft draußen. Gerade jetzt, bei dem herrlichen Wetter ist das traumhaft.

Ich erkenne Matthias kaum wieder, er schwärmt von der Natur am See, erklärt mir, welche Vögel hier nisten, wo ein Wasserschutzgebiet ist, wie die Berge in der Gegend heißen, welches die schönsten Wandertouren sind, wo am wenigsten Touristen herumlaufen und um welche Zeit welche Berghütte noch geöffnet hat. Mir wird klar, dass ich ihn im Grunde nicht kenne. Ihn kenne ich so wenig, wie alle anderen Mitschüler.

Diese Schule ist kein Ort, um sich kennen zu lernen, sagt Matthias. Dort gibt es keine Zeit, die Pausen sind kurz und, wie ich erst in diesem Praktikum bemerkt habe, kommen die meisten Schüler gar nicht aus der Kreisstadt. Sie wohnen in alle Richtungen verstreut. Mein erstes Gespräch mit einem Mitschüler führe ich heute, vier Wochen bevor dieses Schuljahr beendet wird. Auch mit Matthias könnte ich mich nachmittags gar nicht verabreden und treffen, weil er ziemlich weit entfernt von der Kreisstadt hinter diesem See wohnt. Die Busverbindung gibt es nur morgens, mittags und am späten Nachmittag. Die zwei Nachmittage in der Woche, an denen Nachmittagsunterricht stattfindet, hat Matthias mit zusätzlichen Nachhilfestunden belegt, die er gleich neben der Schule bei einem Mathematiklehrer von einer anderen Schule nimmt.

Matthias macht auf mich großen Eindruck. Ich habe ihn völlig falsch eingeschätzt. Ein einziges Gespräch in der einen Stunde Pause am See genügt, damit ich ihn in völlig anderem Licht erkennen kann. Er hat wie ich große Schwierigkeiten mit dieser Schule. Er sagt, es sei dort kaum auszuhalten. Aber, weil er wisse, dass es ja nur noch ein Jahr ist, sei ihm das inzwischen egal. Die ersten Wochen hat er kaum ausgehalten. Die Lehrer, aber auch die Schüler seinen unglaublich abweisend und verschlossen dort. Die Forderungen seien völlig überzogen. Was dort gelernt werde, könne niemals wieder hervor geholt werden. Das zusammenhangslose Pauken sei größtenteils unbrauchbar. Das Praktikum sei bestes Beispiel. Die Schule passe da nicht dazu. Was der Werkstattleiter jeden Morgen erzähle, sei zusammenhängendes Denken, damit habe die Schule nichts am Hut.

Abends denke ich an das Zusammentreffen mit Matthias in der Pause am See. Mit wenigen klaren Worten hat er Kontakt zu mir aufgenommen. Hauptsächlich hat er von der herrlichen Umwelt geschwärmt, die seine Heimat ist. Er hat prägnant mit wenigen Worten gesagt, dass seine Haltung zu dieser Schule nahe der Meinen liegt. Was bedeutet das für mich? Kann ich eine Haltung wie Matthias einnehmen. Nur noch ein Jahr? Danach ist diese Schule eh vorbei. Sollte ich so zu denken lernen?

Nachts an meinem kleinen Feuer kommen mir die Worte von Matthias schon sehr weit entfernt vor. Hat er sie überhaupt gesagt? Waren wir überhaupt diese eine Stunde an dem See gewesen und haben miteinander gesprochen? Wenn man einen Menschen kaum kennt, beziehungsweise nur in einer Situation, wie in dieser Schule kennt, da ist es schon sehr komisch, wenn dieser sich plötzlich ganz anders nähert und zu erkennen gibt. Matthias Worte erinnern mich an eine Aussage meiner Pflegemutter. Später fragt dich keiner mehr, welche Lehrer du hattest. Es kommt nur auf das Ergebnis an. Matthias sagte das zwar ganz anders, meinte es auch anders, aber das Ergebnis ist das gleiche. Es ist nur noch ein Schuljahr, da fragt dich im Studium keiner, auf welcher Schule du die Zugangsberechtigung bekommen hast. Matthias findet nicht gut, was auch mir an der Schule negativ aufgefallen ist. Aber er blendet das mit der Perspektive aus, die er sich in den Kopf gelegt hat. Bei mir aber fehlt diese Perspektive. Das könnte mein Problem sein. Deshalb kann ich da vielleicht nicht so leicht drüber hinwegsehen, wie Matthias das tut.

Der letzte Praktikumstag. Der Werkstattmeister lässt uns heute viel Zeit in der Werkstatt, damit wir unsere Berichtshefte fertig schreiben können. Er unterschreibt alle Tagesberichte und versieht sie mit Häkchen und teils Kommentaren. Mittags verabschiedet er sich. Er wünscht uns alles Gute für unsere Zukunft. Er erinnert uns daran, dass alles was wir hier gesehen haben nur ein winziger Ausschnitt unserer Zukunft gewesen sei. Jeder von uns habe die Aufgabe, sich zu überlegen, ob er das wirklich machen will, wovon er hier einen kleinen Teil kennen lernen konnte. Die Worte geben allen zu denken. Sie wirken ganz anders als die Rausschmeißerkommentare der Lehrer in der Schule. Es geht darum, genau zu überprüfen, ob die Richtung stimmt. Es geht darum genau hinzusehen, denn die Richtung ist, so der Lehrmeister, eine Festlegung der Grundlage, die dem Beruf dient. Niemand soll rausgeschmissen werden, sondern jeder soll nachdenken.

Politik

Montags in der Schule ist es, als habe kein Praktikum stattgefunden. Auch die Pfingstferien hatte es nie gegeben. Die Praktikumshefte werden eingesammelt. Sie kommen in eine Akte. Sie gehören als Nachweis zu den Unterlagen die notwendig sind um die Versetzung in das nächste Schuljahr zu schaffen. Der Inhalt des Praktikums und des Heftes wird nicht besprochen. Das hat mit dem Schulunterricht nichts zu tun.

Mir fehlen noch zwei gute Noten in abschließenden Arbeiten, die in dieser Woche geschrieben werden. Ich habe deshalb das gesamte Wochenende vor meinen Büchern verbracht. Ich habe, wie eine Maschine in der Fabrik, alles in meinen Kopf hinein gehämmert, was in den letzten entscheidenden Prüfungen behandelt werden könnte. Heute in der sechsten Stunde steht der erste Test an. Er läuft genau so ab, wie ich das an dieser Schule kenne. Eines ist anders. Matthias fehlt. Er ist heute einfach nicht gekommen. Am Freitag hatte er noch zu mir gesagt, dass kommenden Montag und Mittwoch ja noch zwei wichtige Prüfungen anstünden. Wir haben darüber gescherzt, dass wir uns über das Wochenende die Birnen mit Wissen zudröhnen würden. Danach wäre das Schuljahr dann ja wohl endgültig gelaufen.

Ich denke nicht darüber nach, wo Matthias geblieben sein könnte, sondern ich sitze und schreibe die Prüfung. Ich kotze alles auf das Papier, was mir annähernd mit dem Lösungsweg und der Materie tu tun zu haben scheint, die in der Prüfung abgefragt wird. Ich wende meine stupide und konsequent eingeübte Methode an. Um jede Aufgabe zu bearbeiten habe ich nur eine bestimmte Zeit zur Verfügung. Ich deute bei allen Aufgaben den Lösungsweg an. Schreibe die dazu passenden Formeln hin, die mein Hirn ausspuckt. Ich habe am Wochenende viele Formeln auswendig gelernt. Dann beginne ich Lösungen zu errechnen. Auf halbem Weg, meist komme eh nicht weiter, springe ich zur nächsten Aufgabe. Zum Schluss habe ich alle Aufgaben irgendwie abgearbeitet. Mir bleiben noch knappe zehn Minuten Zeit. Ich gehe diejenigen Aufgaben noch mal kurz an, zu denen mir, während der Arbeit an anderen Aufgaben, zwischenzeitig eine Erinnerung an das am Wochenende in mein Hirn mit Gewalt hinein gehämmerte Wissen kommt. Ich ergänze diese Aufgaben mit diesen Einfällen.

Die ganze Klassenarbeit hindurch wende ich meinen Kopf, meinen Blick nicht von den karierten Blättern auf dem Tisch vor mir ab. Mein Blick geht nicht nach rechts, nicht nach links zu dem leeren Platz von Matthias und nicht nach vorne zum Mathematiklehrer. Alles um mich herum blende ich von der Sekunde an aus, ab der der Lehrer seine Stoppuhr am Handgelenk betätigt hat. Als der Lehrer ruft: Schluss jetzt, keiner schreibt mehr, lasse ich mechanisch den Stift einfach fallen, um mich keine Sekunde lang der Gefahr auszusetzen, dass er meine Arbeit einkassiert und mit der Note sechs bewertet. Erschöpft lasse ich mich in den Stuhl zurück sinken. Mein Blick fällt auf den leeren Stuhl von Matthias.

Im Sekretariat ist um diese Uhrzeit Mittagspause. Eine schlecht gelaunte Mitarbeiterin, hinter einem hohen grauen Tresen raunst mich an: Warum woins denn des wissen? Is des a Verwandter von erna oder wos? Sand sie der Bruader vo dem? In was für a Klass geht jetzt der? Was hamms gsagt?

Ich verlasse das Sekretariat nach wenigen Minuten. Von der Frau bekomme ich keine Auskunft. Matthias geht mich nichts an. Weder Adresse, noch Telefonnummer kann ich über diesen Weg herausfinden. Ich verlasse das Schulgebäude, laufe meine tägliche Strecke in Richtung Stadtmitte. Erst an der Telefonzelle kurz vor dem Discounter fällt mir ein, dass ich morgens mit dem Fahrrad gefahren war. Das habe ich jetzt vor der Schule stehen lassen. Im Telefonbuch finde ich im regionalen Bereich das Verzeichnis über den kleinen Ort den Matthias mir als seinen Wohnort genannt hatte. Ich suche nach seinem Namen. Nichts. Ich gehe den Buchstaben noch einmal langsam mit dem Zeigefinger durch. Doch! Da ist er! Heißt Matthias Vater mit Vornamen Michael? Keine Ahnung, aber das ist der einzige Name in diesem Ort, der passt. Ich krame in meiner Tasche, wo ich mehrere Zehnpfennigstücke finde.

Das Telefon ist alt. Es ist noch nicht so ein silbernfarbiger, kleiner Kasten, wie sie von der Post am Bahnhof inzwischen in einer Reihe angebracht worden sind. Ich sehe, wie die Münzen in dem Apparat hinter der Sichtglasscheibe entlang rollen und schließlich hintereinander aufgereiht liegen bleiben. Ich erinnere mich an meine früheren Anrufe am Sonntagnachmittag bei Oma. Der schwarze Apparat, der schwere schwarze Hörer, das gelbe Telfonhäuschen. Alles in dieser Telefonzelle ist so, wie es noch vor sechs Jahren und die Jahre davor gewesen war. Jeden Sonntag hatte ich bei Oma angerufen. Selbst der Geruch dieses Telefons kommt mir genauso vor.

Das Freizeichen höre ich sieben, acht mal. Ich lege auf keinen Fall auf. Ich lasse es so lange läuten, bis entweder jemand abhebt, oder ein Belegt – Signal kommt, dann versuche ich es eben noch mal. Dazu kommt es nicht. Ich höre eine tiefe Männerstimme. Ist das sein Vater? Vielleicht ist das sein Vater, oder ist es sein Großvater? Was ich von Matthias will, der sei nicht da. Warum ich wissen will, wo er ist? Ob ich ein Lehrer sei? Nein ich bin ein Mitschüler. Es gehe mich zwar überhaupt nichts an, aber der Junge, komme künftig gar nicht mehr in diese Schule. Er macht ab Herbst eine Ausbildung. Das bringe doch nichts in dieser Schule. Der ganze Stress jeden Tag, das viele Geld für die Nachhilfe und trotzdem diese saumäßigen Noten, damit sei jetzt endgültig Schluss. Dem Buben sei es zum Schluss richtig schlecht gegangen mit dieser Schule. Das Betriebspraktikum letzte Woche, das sei gut gewesen, da gings ihm richtig gut. Jetzt habe er einen Lehrvertrag unterschrieben. Einen guten Platz im Installationsbetrieb, direkt im Ort habe er gefunden. Alles ist unterschrieben und damit unter Dach und Fach. Jetzt sei Schluss mit dieser Arschplattsitzerei in der Schule. Bis September werde Matthias in einem guten Job arbeiten. Er habe ihm einen super Job in einer Fabrik verschafft. Danach geht’s los mit der Ausbildung. Das sei jedem jungen Mann zu empfehlen, auch mir. Lassens die depperte Schule sein! Das ist doch nix, da verdienen’s nix und da lernen’s nix! Das ruft der Mann in den Hörer. Ich gebe ihm die Telefonnummer von Frau Stößer und sage, dass ich mich freuen würde, wenn Matthias anruft, wenn er dazu einmal die Zeit hätte.

Ich hänge den schwarzen Hörer auf. Die zwanzig Pfennig rollen hinter der Sichtglasscheibe weiter, klick und weg sind sie. Die schwere Telefonzellentür geht nur auf, weil ich alle Kraft anwende und unten am Metalltürrahmen, er hält die schwere Glasscheibe, mit dem rechten Fuß nachhelfe. Es ist genau die gleiche Bewegung, die ich früher nach den Gesprächen mit Oma eingesetzt habe, um die gelbe Telefonzelle zu verlassen.

Langsam laufe ich die Wegstrecke zurück Richtung Schule. Matthias sehe ich vielleicht nie wieder. Sein Vater oder Großvater ist überzeugt absolut das Richtige zu tun. Vielleicht sieht das auch Matthias so. Denn warum sonst hat er einen Lehrvertrag unterschrieben? Das hat sicher nicht sein Vater getan, denn Matthias ist, wie ich, volljährig. Aber warum hat Matthias nichts davon in der Mittagspause am See erzählt? Vielleicht war die Zeit dafür zu knapp. Wir haben vorher nie miteinander gesprochen, da gab es viele andere Dinge zu besprechen. Aber eine Lehre, das ist doch so wichtig, das hätte er doch gesagt. Vielleicht wusste er noch nichts davon. Aber was war am Freitag, beim Abschied nach dem Praktikum vor der Fabrik, als ich zum Werksbus ging und wir noch über die zwei Prüfungen dieser Woche sprachen? Vielleicht hatte er da auch noch keine Ahnung. Wahrscheinlich hat er erst am Freitagnachmittag die entscheidende Post bekommen. Vielleicht wollte er mit niemanden darüber sprechen, bevor es nicht sicher war. Der unterschriebene Lehrvertrag lag erst am Freitagnachmittag in der Post. Damit war das Wochenende für Matthias frei geworden für alles Mögliche, nur nicht für die folgende Schulwoche, denn die gab es nicht mehr. Vielleicht ist es so gewesen. Matthias schwärmte mir von der Großstadt und dem kommenden Studium nur vor, weil er noch nicht wusste, dass der Lehrmeister seine Bewerbung mit einem Vertrag für ihn quittieren werde.

Abends um halb sechs Uhr wendet der Jugendleiter seinen VW-Scirocco auf dem Parkplatz vor dem Moulin Rouge. Er steigt aus und läutet bei Frau Stößer. Ich laufe sofort die Wendeltreppe hinunter, erkenne durch das Fenster an der Haustür draußen den Jugendleiter vor dem schmiedeeisernen Tor und entschuldige mich bei Frau Stößer, die ihre Wohnungstür öffnet. Ich erkläre, dass ich abgeholt werde. Ich begrüße den Jugendleiter und setze mich im Wagen neben ihn. Die gesamte Fahrt über diskutieren wir über den Nachrüstungsbeschluss der Nato und über die desolate Situation der deutschen Friedensbewegung. Der Jugendleiter flucht mehrfach über die neue Bundesregierung und deren Übertreibungen betreffend der russischen Bedrohung. Der Verteidigungsminister sei unglaubwürdig, er habe wichtige Analysen der alten Bundesregierung nicht beachtet, vielleicht sogar verschwinden lassen, welche den Doppelbeschluss aus deutscher Sicht noch einmal in erheblich zweifelhaftes Licht rücken würden.

Ich interessiere mich insgesamt dafür, habe aber von den Details nicht wirklich Ahnung. Trotzdem begleite ich den Jugendleiter in die Großstadt. Dort findet abends ein ausgedehntes Treffen einer politischen Arbeitsgruppe statt. Diese Treffen gibt es etwa monatlich, ich war schon auf vielen dabei. Wir sind sozusagen eine Delegation aus der Provinz. Die Diskussionen sind meist hitzig und ziehen sich oft bis Mitternacht hin. Der Jugendleiter lädt mich eineinhalb Stunden später, so lange dauert die Autofahrt zurück, wieder vor der Tür bei Frau Stößer aus. Um diese Uhrzeit, das ist meist zwischen halb zwei und zwei Uhr nachts, wendet er dann auf dem Parkplatz vor dem Moulin Rouge, wo er mich auf die Landräte, Stadträte oder andere Politiker hinweist, deren Autos er angeblich vor dem Puff wiedererkennt. Das geschieht heute Nacht nicht, denn ich habe meine kleine Reisetasche dabei, in der mein Schlafsack und meine Zahnbürste stecken.

Der Politische Arbeitskreis findet mitten In der Großstadt statt. Um halb ein Uhr nachts ist er beendet. Der Jugendleiter fährt ohne mich zurück. Ich übernachte in einem Raum neben dem Zimmer, in dem der Arbeitskreis stattgefunden hatte. Morgens um viertel nach acht Uhr weckt mich eine Putzfrau. Sie versucht das Zimmer von außen aufzuschließen. Sie ist überrascht, dass es offen ist und sie ist überrascht davon, dass ich auf einem Sofa, das an der Wand neben einem Besprechungstisch steht, in meinem Schlafsack liege. Morgen, gähne ich und erkläre, dass ich hier übernachten durfte und gleich aufstehe und verschwinde. Die Putzfrau nickt. Sie zieht die Tür wieder zu. Ich erhebe mich von dem Sofa, fühle mich wie gerädert und so als habe ich abends Alkohol getrunken. Das Treffen am Vorabend war lang und anstrengend. Der Raum war von Tabakrauch völlig verqualmt. Das könnte die Kopfschmerzen verursachen, die ich jetzt spüre. Ich habe nur Wasser getrunken. Auf solchen Sitzungen gibt es immer nur Wasser und Kaffee. Den könnte ich jetzt brauchen. Ich öffne ein Fenster und spüre einen kühlen Luftzug. Von draußen höre ich Verkehrslärm. Ich ziehe meine Klamotten an, schüttle den Schlafsack aus, rolle ihn ein und verstaue ihn in meiner Tasche. Ich schließe das Fenster und verlasse den Raum. Ich sehe in einen langen, finsteren Gang. Die Putzfrau dröhnt mit einem Staubsauger hinter einer offenen Bürotüre. Ich gehe auf die Toilette. Dort putze ich mir die Zähne.

Danach gehe ich vorbei an dem Raum in dem abends zuvor die Besprechung stattfand. Ich war noch nie am hellen Tag in diesem Gebäude. Ich kenne es von langen-, aber, wegen meiner stets sehr kurzen abendlichen Aufenthalte in dieser Stadt zusammen mit dem Jugendleiter, irgendwie unwirklichen Besuche in dem politischen Arbeitskreis. Das Haus ist mir mit Tageslicht fremd. Ich kenne diesen Gang. Aber ich kenne ihn nur bei Nacht. Er sieht ohne eingeschaltete Deckenbeleuchtung völlig verändert aus. Der Raum, in dem der Arbeitskreis gestern getagt hatte, steht offen. Ich betrete ihn kurz. Alle Fenster sind geöffnet. Es stinkt nach kaltem Rauch. Die Stühle, die Tische, die Sitzecke, alles sieht tagsüber anders aus. So habe ich das noch nie gesehen. Es ist leer, kalt und miefig. Abends, bei der Ankunft mit dem Jugendleiter war dieser Raum stets voll besetzt. Wir waren immer die letzten, die dazustießen, denn unser Weg ist am weitesten. Ich kenne diesen Raum laut und voll. Ich sehe die leeren Stühle, in denen in meinem Kopf die Menschen aus dem Arbeitskreis sitzen. Jeder hat seine feste Position auf einem Stuhl von dem aus er seine feste politische Überzeugung lautstark in die Diskussion einwirft. Jetzt wirkt dieser Raum fremd. Er ist leer, schäbig und kalt, lauter Verkehrslärm dringt durch die hohen, geöffneten Fenster. Ich stehe vor der Ausgangstür. Sie ist verschlossen. Ich bitte die Putzfrau aufzusperren.

Am Bahnhof frage ich mich, was ich hier will. Die gesamte Hektik dieser Stadt ist mir fremd. Trotzdem verstaue ich die Tasche in einem Schließfach. Meine Unterlagen stecke ich in die Jackentasche. Zu Fuß habe ich zum Bahnhof gefunden. Mit Hilfe eines Passanten habe ich die Richtung ausfindig gemacht. Es ging immer geradeaus. Ich will die Stadt erleben, das geht nur, wenn ich an deren Oberfläche laufe. Nun aber muss ich hinunter in die U-Bahn, denn mein Ziel an diesem Vormittag ist zu weit um pünktlich dort anzukommen. Im Stadtplan habe ich mein Ziel mit einem kleinen Kreuz markiert. Ich werde die U-Bahn und danach den Bus nehmen. Die Fahrkarte ist teuer. Das System durchblicke ich nicht. Ich frage einen Mann, der den Automaten auch nicht versteht. Gemeinsam finden wir heraus, wie wir dem Automaten entlocken, was wir wollen. Die U-Bahn ist um diese Zeit leer. Auch ich müsste jetzt in der Kreisstadt in der Schule sitzen. Ich habe mich für heute gestern im Sekretariat offiziell abgemeldet. Mein Eindruck war, dass die Frau im Büro nicht wirklich interessiert war. Sie schrieb meinen Namen, das Datum des heutigen Tages und eine Stichwort zu meiner Begründung auf einen Zettel. Das wars. Was sie mit diesem Zettel tat, weiß ich nicht, denn wegen der schlechten Laune der Frau verließ ich umgehend das Sekretariat.

An der Bushaltestelle dröhnt der Verkehr. Morgens fährt der Bus alle fünf Minuten. Mittags zwischen ein und zwei Uhr auch. Ich warte eine viertel Stunde, dann kommt er. An der Endstation, sie kommt schon nach fünf Haltestellen, steige ich aus. Dort wendet der Bus vor einem riesigen Gebäude, das aus grauem Beton erst vor fünfzehn Jahren errichtet wurde. Ich finde es hässlich und finde, dass es aussieht, als könne es bald einstürzen. Ich betrete eine riesige Aula, mit schwarzem, genopptem Gummifußboden. Rechts finde ich eine große schwarze Hinweistafel. Das Sekretariat ist im dritten Stock. Dorthin suche ich jetzt meinen Weg. Es gibt mehrere Treppenaufgänge. Ich nehme den falschen, laufe im dritten Stock einmal rings um das ganze Gebäude und finde schließlich eine Schlange wartender junger Leute. Das ist das Sekretariat. Ich stelle mich hinten an. Ich stehe fünf Minuten, höre die Menschen in der Warteschlange sprechen, beobachte nervöses auf und ab Getapse, sehe jungen Frauen in der Schlange beim Stricken zu, und höre coole Sprüche, die ich auch von meiner Schule in der Kreisstadt kenne.

Die Tür öffnet sich. Zu meiner Überraschung spricht mich eine Frau, sie trägt eine riesige Brille, mich, der ich ganz hinten in der Schlange stehe, an. Sie blickt aus dem Türspalt, lotst die vordere Person in der Warteschlange durch die Türe und sagt danach zu mir: Sie sand der Letzte! Die Anmeldefrist ist jetzt abgelaufen, es ist zwölf! Die Frau sieht auf ihre Armbanduhr, die sie nach oben in meine Richtung hält, und mit dem Finger darauf tippt. So signalisiert sie die Uhrzeit. Nach ihnen keiner mehr! Das ruft sie mir zu. Sie verschwindet hinter der Tür, die sie wieder zu zieht.

Ich kenne das aus dem Discounter. Wird eine Kasse dichtgemacht, bittet die Verkäuferin den Letzten an der Kasse darum, Nachfolgende an eine andere Kasse zu schicken. Doch was hat die große Brillenträgerin vor? Wohin soll ich die Nächsten, die kommen schicken? Eine junge Frau, sie wartet direkt vor mir, lacht mich an. Na da haste dir ja nen tollen Job an Land gezogen! Diese Ansprache erschrickt mich, denn ich kenne hier niemanden und habe heute noch mit keinem Menschen außer der Putzfrau gesprochen. Aber ich reagiere prompt. Mit verschränken Armen stehe ich am Ende der Warteschlange, blicke in Richtung Sekretariatstüre und sage zu der Frau, die mich da abgesprochen hat: So geht das nicht, ich werde hier niemandem sagen dass er zu spät ist. Ich merke, dass Blicke auf mich gerichtet sind. Jeder in der Warteschlange muss gesehen haben, welchen Auftrag mir die Brillenträgerin gegeben hat. Deshalb entschließe ich mich zu einer schnellen Reaktion. Ich gehe an der Schlange wartender Menschen vorbei, bis vor an die Türe. Dort klopfe ich, sage dabei den dort wartenden: Hab nur kurz da drin was zu klären, stelle mich gleich wieder hinten an.

Ich öffne die Türe, sehe drinnen die Brillenträgerin, sie steht hinter einem hohen Tresen, wie die Sekretärin in der Schule in meiner Kreisstadt. Ich sage zu ihr: Entschuldigen Sie, aber sie meinten sicherlich nicht, dass ich hier irgendwelche Nachzügler wegschicken soll? Die Brillenträgerin sieht mich verdutzt an. Was wollen sie? Warten sie draußen! Aha. Ich merke, dass die Atmosphäre in diesem Büro etwa so ist, wie um ein Uhr Mittags im Schulsekretariat in der Kreisstadt. Deshalb gebe ich einfach auf. Ich schließe die Tür, sage den ersten Wartenden an der Tür: Lässt sich nicht klären! Und stelle mich wieder nach hinten in die Schlange. Dort sind inzwischen zwei eingetroffen. Ich stelle mich hinter ihnen an.

Zehn Minuten später, bis dahin sind zu der Warteschlange noch weitere fünf Leute hinzugestoßen, holt die Brillenträgerin alle Wartenden in das Zimmer. Die Schlange steht nun in dem Zimmer vor dem Tresen.

Eine Stunde später verlasse ich das Gebäude. Meine Papiere waren vollständig, meine Anmeldung in dieser Schule wurde angenommen. Es gab mit mir keine große Diskussion. So wie es manchem in der Schlange ergangen war, erging es mir nicht. Einige hatten schon bevor sie dran waren den Raum wieder verlassen, denn dadurch, dass jeder mitverfolgen konnte, welche Unterlagen zur Anmeldung zwingend vorzulegen waren, hatte jeder seine Papiere auf Vollständigkeit überprüft. Drei, vier Leute merkten, dass ihnen wichtige Papier fehlten. Das Verkürzte die Wartezeit für den Rest, auch für mich.

Zurück zum Bahnhof bleibe ich an der Oberfläche. Ich fahre nicht mal mit dem Bus. Ich will alles laufen, um ein Gefühl für die Stadt zu bekommen. Ich sehe auf meinen Plan, vergleiche die Straßennahmen und schlage die Richtung zum Bahnhof ein. Leider hat sich der Himmel zugezogen, es ist bewölkt und dunkler geworden. Deshalb sieht die Stadt jetzt fast grau aus. Ich laufe an einer großen Straße. Der Verkehr tobt und es stinkt. So stelle ich mir die Großstadt vor. Aber schon nach zehn Minuten führt mein Weg mich rechts ab von der Straße, durch kleine Straßen. Dort stehen Häuser, die zum Teil wenig größer sind, als die Häuser in der Straße beim Haus von Frau Stößer. Dann wird die Strecke richtig grün. Sie führt mich durch einen Park. Der ist im Stadtplan mit einem riesigen grünen Fleck eingetragen. Ich finde den Weg durch den Park, so wie er im Stadtplan steht. Ich komme vorbei am riesigen Stadion und weiteren Hallen. Dort sehe ich eine Gruppe von Touristen, Japaner, alle mit Fotoapparat um den Hals. Ich kenne das aus Berchtesgaden. Dort kamen viele ausländische Touristen an. Sie wurden aus Bussen ausgespuckt, für einen Tagesausflug mit Führung. Tatsächlich höre ich im Vorbeilaufen eine Touristenführerin. Sie ist klein und schreit laut. Ich verstehe gar nichts. Später überquere ich einen großen Parkplatz. Dort stehen Busse und ich sehe ein- und aussteigende Gruppen von Touristen. Durch enge Straßen verlasse ich den Park. Ich finde den Bahnhof nach einer weiteren knappen Stunde. Um fünf Uhr sitze ich hungrig mit meiner kleinen Tasche im Zug. Ich verschlinge meine zwei Käsebrote, die ich mit abends zuvor in der Küchenzeile geschmiert hatte und trinke aus meiner Wasserflasche. Der Zug fährt los. Es hat alles geklappt. Aus dem Zugfenster sehe ich die Stadt an mir vorbeifahren.

Um viertel vor sieben Uhr klimpere ich mit meinem Schlüsselbund an Frau Stößers Haustür. Wieder fällt der Schlüssel runter. Wie oft ist er mir wegen diesem schwergängigen Schloss schon runter gefallen? Ich krieg den Schlüsseln nur ins Schloss, nachdem ich die Tasche ablege. Nicht ärgern, es ist bald vorbei. Ob das wirklich gut ist, dass es hier bald vorbei ist? Der Schlüssel ist jetzt drin, ich öffne leise und vorsichtig wie immer die Tür. Auf dem Treppenabsatz liegt ein kleiner Notizzettel. Frau Stößer schreibt, dass Karin angerufen habe. Sie meldet sich morgen wieder. Ich nehme die Tasche, schließe die Tür und steige die Wendeltreppe nach oben.

Mein Berchtesgaden an einem Abend und Morgen 1983

Die Schularbeit am Mittwoch gehe ich völlig anders an. Ich sitze vor den Aufgaben, die ich genau studiere. Ich denke daran, welche Lösungen für die Aufgaben notwendig wären. Obwohl ich keinerlei Vorbereitung getroffen habe, könnte ich einiges hinschreiben. Stattdessen verwende ich einen Teil des Papiers, um einen Brief zu schreiben. Ich richte ihn an Pete. Ich schreibe ihr, was mir in der Zeit, seitdem wir uns nicht mehr gesehen haben, alles passiert ist und was mir alles klar geworden ist. Ich plane ihr den Brief nach der Schule in ihren Briefkasten zu werfen. Es wird ein langer Brief, denn ich habe neunzig Minuten Zeit, so lange dauert die Klassenarbeit.

Ich schreibe davon, dass ich sie auf der Kinderferienmaßnahme vermisst hätte und davon dass ich sie erst jetzt, nach Wochen und Monaten richtig verstanden hätte. Ich schreibe davon, dass ich mir über uns viele Gedanken gemacht hätte und dass ich die Autostrecke, die wir das erste Mal gemeinsam fuhren mit dem Fahrrad abgefahren sei. Ich schreibe, dass sie mir oft begegnet wäre und ich ihren leeren Stuhl in der Arbeitsgruppe selbst besetzen musste.

Nachdem ich glaube, der Brief sei fertig, lese ich ihn noch einmal genau durch. Es sind drei Seiten geworden, die ich voll geschrieben habe. Ich gehe den Brief durch, als habe ich die Aufgaben der Klassenarbeit gelöst und nutze nun die letzten zehn Minuten, um jede Aufgabe noch einmal zu überfliegen und Dinge einzutragen, die mir noch eingefallen sind. Diesmal ist es aber anders. Ich erkenne, dass ich vieles eindeutig falsch bearbeitet habe. Zum Glück ist das nicht die Klassenarbeit, sondern der Brief an Pete, denn sonst würde mir jetzt richtig heiß werden, bei den vielen falschen Dingen, die ich da lese. Zum Glück habe ich in dieser Schule nichts mehr verloren, deshalb wäre ein Schweißausbruch vor Aufregung auch unnötig, auch wenn dieser falsche Brief an Pete die Klassenarbeit wäre. Ich denke daran, dass ich hier bald weg bin. Ich lache erleichtert. Zum ersten Mal blicke ich nach vorne. Dort sehe ich den Physiklehrer. Den lächle ich jetzt an. Der lässt seine Augen aufmerksam durch den Raum wandern und beachtet mein Lachen nicht.

Es ist falsch was ich geschrieben habe. Deshalb streiche ich in dem Brief weite Passagen durch. Ich habe Pete während der Kinderferienfreizeit nicht vermisst. Nur am ersten Abend habe ich an sie gedacht, weil sie und Ida ursprünglich mitkommen wollten, dann aber abgesprungen waren. Ich streiche das alles durch. Ich habe Pete nach Wochen und Monaten erst richtig verstanden. Das stimmt nicht, denn ich verstehe sie immer noch nicht. Ich kann sie deshalb nicht verstehen, weil wir nie wieder miteinander gesprochen haben. Das ist richtig. Ich habe mit ihr nie wieder gesprochen, seitdem wir das blaue Haus besucht hatten. Das wäre richtig. Das habe ich aber nicht aufgeschrieben. Ich habe auch nicht geschrieben, dass ich mit ihr reden will. Davon ist in meinem Brief gar keine Rede! Stattdessen schreibe ich davon, dass ich sie verstanden hätte. Wie soll das denn funktionieren? Wie kann ich sie verstehen, wenn ich wochenlang nicht mit ihr rede? Ich streiche das alles durch. Welche Gedanken habe ich mir über „uns“ gemacht? Keine. Ich habe mir Gedanken über mich gemacht. Da habe ich Pete dazugemischt. Hauptsächlich sind es aber meine Gedanken gewesen, die mich betrafen. „Uns“ gibt es gar nicht. Es hat „uns“ nie gegeben, dazu kam es gar nicht, denn nie waren wir zusammen. Ich streiche das alles. Die Autostrecke war ich mit dem Fahrrad abgefahren. Dort habe ich an sie gedacht. Aber hat das wirklich ihr gegolten? War das nicht eine Einsamkeit, die wegen der Ruhe an dem Sonntag nach der lauten Kinderfreizeit eingetreten war. Ich hatte auch an diesem Tag nicht den Gedanken gefasst, Pete anzurufen um mit ihr zu reden. Also streiche ich auch das. Übrig bleibt der leere Stuhl in der Arbeitsgruppe. Ich habe mich tatsächlich dort hinein gesetzt.

Der Lehrer ruft seinen Schlussatz. Ich lasse wie immer den Stift sofort fallen. Nehme aber das Papier in die Hand, falte es ordentlich zusammen und stecke es in meine Hemdtasche.

Der gelbe Opel-Kadett klappert, wenn ich Gas gebe und einen Berg hinauf fahre. Das sind die Ventile. Sie müssten mit einem ganz feinen Messblatt neu eingestellt werden. Ob sich das bei dem Wagen noch lohnt glaube ich nicht, deshalb kümmert es mich nicht. Bei jeder Steigung erinnert mich das Klappern daran. Ich weiß nicht, wie weit ein Auto so fahren kann. Ich parke oberhalb der Kneipe. Man kommt dort nur zu Fuß hin. Das sind aber nur knappe hundert Meter. Die Kneipe ist sicherlich voll, wie ich das von Früher kenne. Einerseits ist die Idee von Karin gut, sich hier zu treffen, denn ich war lange nicht da, andererseits ist gerade in dieser Kneipe ein ruhiges Gespräch ausgeschlossen. Ich laufe den Schotterweg vom Parkplatz hinunter. In der Kneipe kenne ich viele, die da jeden Samstag sitzen. Ich muss versuchen mit Karin die Kneipe zu wechseln oder ich schaffe es mit ihr ein paar Schritte zu laufen, um in Ruhe mit ihr zu sprechen. Ich will ihr sagen, dass ich wegziehe. Aber auch die nächsten Wochen, so lange ich noch in der Kreisstadt wohne, kann sie mich nicht mehr besuchen. Ich schaffe das nicht mehr.

Ich könnte oder müsste auch mit ihrem Mann Paul reden, aber ich rede mit ihr. Obwohl mich an den zurückliegenden Wochenenden nie jemand angerufen hat, um sich nach ihr zu erkundigen, möchte ich das nicht weiter. Vielleicht versteht Karin das. Ich bin spät dran, das weiß ich. Ich habe fast ein Jahr gebraucht, um ihr heute zu sagen, dass ich das nicht mehr möchte. Soll ich ihr sagen, was Paul auf der Kinderferienfreizeit zu mir gesagt hatte? Soll ich ihr meinen Eindruck von Paul schildern, bringt das was?

Die Kneipe ist übervoll. Es ist kein Platz mehr frei. Es ist laut und es ist verraucht. Ich sehe einige winkende Hände. Ich winke zurück und ich nicke Leuten an verschiedenen Tischen zu, die mich begrüßen. Ich sage Hallo und ich schüttle Hände. Hinter die Bar winke ich Martina zu. Sie arbeitet immer noch hier, heute ist sie wieder schwer beschäftigt. Jetzt kommt Karin auf mich zu. Ich habe sie bisher gar nicht gesehen. Sie kommt von Hinten. Sie schüttelt mir die Hand, lacht mich an, begrüßt mich, wie ich finde, fast etwas überschwänglich und lotst mich in die linke Ecke der Kneipe. Dort stehen viele Menschen mit Biergläsern in der Hand.

Der Laden ist ja knallvoll, rufe ich Karin zu, die sich vor mir durch die Menschentraube arbeitet. Dahinter erreichen wir einen Bistrotisch. Dort steht Paul zwischen einigen anderen Leuten. Auf die Idee bin ich nicht gekommen. Mir schießt das jetzt durch den Kopf. Na klar! Die zwei sind verheiratet, sie wohnen hier im Ort zusammen, also gehen sie auch mal zusammen in die Kneipe! Das ist doch klar! Ich lache Paul an, schüttle ihm die Hand. Ich finde, dass er sehr schlecht aussieht. Er kommt mir bleich vor und er hat wohl auch abgenommen. Na, alles klar? So frage ich. Paul nickt, lächelt, antwortet aber nicht. Ein Bier? Ich nicke. Ja, klar! Karin winkt. Hinter mir steht Martina mit einem runden Tablett. So schnell geht das hier? Schon habe ich ein kühles Bierglas in der Hand und stoße mit Paul und Karin an.

Die beiden werden sich scheiden lassen. Das erfahre ich Stunden später. Der Laden ist leer geworden, wir sitzen zu dritt am Tisch. Der Abend war lang, ich habe viele Leute gesprochen, die ich von früher in diesem Ort kenne. „Früher“ endete für mich in dem Ort erst vor nicht ganz einem Jahr, als ich mit Dorit und der Abiturientengruppe nach Griechenland unterwegs gewesen war. Kurz davor war ich von hier nach Traunstein gezogen. Es ginge nicht mehr, erzählt mir Karin, als erzähle sie mir das alles zum ersten Mal, als wüsste ich nicht, dass sie ihn schon lange Zeit betrogen hat, als habe ich sie darin nicht unterstützt, indem ich sie durch ihre Besuche bei mir gedeckt habe. Seit Paul von der Kinderferienfreizeit zurückgekommen sei hätten sie viel und lange darüber gesprochen. Es sei aus zwischen ihnen. Sie würden Freunde bleiben. Die Scheidung sei zwischen ihnen besprochen. Sie wohnten schon nicht mehr zusammen. Vor zwei Wochen sei Karin zu ihren Eltern zurückgezogen. Paul sagt nichts. Er sitzt am Tisch und trinkt. Ich finde, er sieht deprimiert aus.

Gegen halb zwei Uhr morgens, schenkt Martina das letzte Bier aus. Es reicht auch, finde ich. Sie sieht müde aus, von dem langen Abend. Als letzter Gast betritt Thomas den Laden. Eigentlich ist bereits geschlossen, aber er darf noch reinkommen, weil wir alle eh gleich gehen. Er war auf einem Musikkonzert und kommt deshalb erst so spät. Ich habe mit ihm vor Tagen telefoniert. Er setzt sich zu uns an den Tisch.

Er beschreibt, wie die Wohnung aussieht. Sie bestehe aus zwei Bereichen. Im ersten Stock seien Küche, Toilette, Wohnzimmer und sein Zimmer. Durch das Treppenhaus gehe es in den zweiten Stock, dort seien ein weiteres WC, das Bad und zwei kleine Zimmer mit Dachschrägen. Eines der beiden Zimmer könnte ich mieten. Er zeigt mir den Mietvertrag. Wenn ich wolle, könne ich ihn gleich behalten. Ich müsste ihn nur unterschreiben und an den Vermieter schicken. Der einzige Haken an der Sache sei, dass die Wohnung am Stadtrand der Großstadt liege. Genau dort beginnt die Autobahn. Der Lärm in der Wohnung sei aber halb so schlimm. Daran gewöhne man sich, wie an alles. Thomas lacht und alle andern am Tisch lachen mit. Die Miete für mein Zimmer sei echt ein Schnäppchen für die Großstadt. Dort gäbe es ganz andere Preise, da seien dreihundert Mark ein Witz, zumal ich eine ganze Wohnung mitbenutzen könne. In den Sommerferien ginge es los. Ab August zahle er Miete und beginne mit den Renovierungsarbeiten. Ich könnte ab dem ersten August jederzeit einziehen, müsste aber vorher mein neues Zimmer noch streichen.

Das Angebot von Thomas ist in Ordnung. Es hört sich gut an, sagen alle am Tisch. Problem sei halt die Autobahn vor meinem Zimmerfenster, aber was soll das, die Stadt sei nun mal kein Kuhdorf. Der Preis sei wirklich o.k. Also stecke ich den Mietvertrag ein und sage Thomas zu. Die Sache geht klar, sage ich. Ich komme ab ersten August zur Renovierung und ziehe danach ein.

Um zwei Uhr morgens verlassen wir die Kneipe. Martina gibt mir einen Schlüssel der zu unserem ehemaligen Jugendkeller passt. Ich soll ihn morgen früh dort in den Briefkasten einwerfen. Wir verabschieden uns alle auf dem Parkplatz voneinander. Ich lehne das Angebot ab, die paar Meter im Wagen von Martina mitzufahren. Ich brauche jetzt die frische Luft. Ich möchte durch den Ort laufen. Ich will sehen, wie es dort aussieht, obwohl es dunkle Nacht ist und sich im Ort sicher so gut wie nichts geändert hat. Aus dem gelben Opel-Kadett nehme ich meine Tasche mit dem Schlafsack. Dann gehe ich los. Auf der Straße sehe ich noch die Rücklichter der Autos von Karin, Paul, Martina und von Thomas. Sie sind alle in unterschiedliche Richtungen abgebogen. Jetzt ist es ruhig. Nachts um diese Uhrzeit ist im Ort nichts los. Kein Mensch ist unterwegs. Und es stimmt, nichts hat sich verändert, seitdem ich vor einem knappen Jahr weggezogen war. Das stimmt nicht, es hat sich vieles verändert, bei den Leuten, aber davon sehe ich nichts. Karin hat sich von Paul getrennt, Thomas zieht in die Stadt, ich komme hier wieder mal vorbei.

Der Jugendkeller müffelt wie früher. Die Matratzen stapeln sich in der Ecke hinter dem Vorhang. Ich hole mir da drei Stück herunter. Mitten im Raum lege ich sie aus. Der Plattenspieler steht an der alten Stelle im Schrank, den ich vor Jahren einmal gebaut hatte. Das Schloss im Schrank ist das gleiche geblieben. Ich sperre mit einem winzigen Schlüssel, den ich am Schlüsselbund von Frau Stößers Haus befestigt habe, auf. Die Schallplatten sind alle noch da. Ich lege eine Platte auf und drehe den Verstärker leise auf. Es erklingt die Musik, die ich früher hier gehört habe. Die Gruppe, die sich hier jede Woche getroffen hatte, gibt es nicht mehr. Ich habe heute Abend von vielen aus der Gruppe gehört. Einige habe ich getroffen. Manch einer wohnt nicht mehr im Ort. Andere bereiten sich vor, weg zu ziehen. In Jahren werde ich hier niemanden mehr kennen. Ich verkrieche mich in meinem Schlafsack. Es ist richtig spät geworden. Geht schon die Sonne auf? Nein, es ist der Mond, den ich von draußen durch das Oberfenster in den Raum hinein scheinen sehe.

Der Sonntagmorgen ist richtig ungemütlich. Ich höre Schritte, Klappern und Schlüsselklimpern aus dem Treppenhaus. Ich stehe auf und spüre einen schweren Kopf. Heute ist es der Alkohol des gestrigen Abends und der Rauch der den ganzen Abend schwer in der Kneipe hing. Martina hatte mich gewarnt. Sie gebe mir den Schlüssel nicht mehr so gerne wie früher, denn im Haus neben dem Jugendraum sei nun eine neue Pfarrerin eingezogen. Die wäre etwas unberechenbar. Sie wüsste nicht, wie oft und wann die den Jugendraum nutze, um dort mit Jugendlichen aus Salzburg Gesangsstunden, Bibelstunden und solche Dinge zu veranstalten. Ich hatte zugesichert vorsichtig zu sein und den Raum frühzeitig zu verlassen. Ich schalte Plattenspieler und Verstärker aus und sperre den Schrank wieder ab. Danach ziehe ich mich an und staple die Matratzen auf den Haufen hinter dem Vorhang. Jetzt packe ich den Schlafsack in die Tasche. Im Treppenhaus höre ich Schritte und Schlüssel. Trotzdem gehe ich noch auf die Toilette. Ich verlasse das Haus durch den hinteren Ausgang. Die Tür geht nur von innen auf. Draußen ist es noch kühl und sehr ruhig. Es ist nicht einmal halb acht Uhr. Ich gehe um das Haus herum, stecke den Schlüssel in den Umschlag von Martina und werfe den am Eingang in den Briefkasten des Jugendraumes. Der zweite Briefkasten trägt den Namen der Pfarrerin von der Martina sprach. Aus dem Keller höre ich jetzt Geräusche, das Fenster unter dem ich gerade noch lag wird geöffnet, ich hatte es gekippt gelassen. Ich drehe mich um und gehe langsam die Straße hinauf in den Ort.

Ich spüre meine schwere Müdigkeit und die Kopfschmerzen. Ich atme tief durch, denn ich hoffe, dass die frische Luft vielleicht den Kopfschmerzen zusetzt. Der Parkplatz ist leer, nur ein Auto steht noch dort, es ist der gelbe Opel-Kadett. Ich lasse mich schwer hinter das Lenkrad fallen. Durch die Windschutzscheibe sehe ich, wie die Sonne einige Berggipfel schon in helles Licht getaucht hat. Das Tal, in dem der Ort liegt, hat noch keine Sonne, die kommt erst in zehn Minuten. Das warte ich nicht ab. Ich starte den Motor.

Wochenendbesuch

Das Treffen am Wochenende kann jetzt stattfinden. Immer wieder hatten wir es verschoben. Jetzt, wo ich am Wochenende nichts mehr für die Schule lerne, weil ich die Zeit dort neben dem leeren Stuhl von Matthias nur noch absitze, um am Schuljahresende eine vollständige Schulbesuchsbestätigung für das Amt erhalten, von dem ich Zahlungen aus dem sogenannten Jugendwohlfahrtsgesetz erhalte, weil ich die Schule regelmäßig besuche, habe ich Zeit. Martin hat vorgeschlagen, auf dem Balkon vor meinem Zimmer zu grillen. Das ist eine gute Idee. Frau Stößer meinte dazu, dass ihr das egal sei, solange wir dort oben kein wildes Gegröle veranstalten und mit dem Grill sorgsam umgehen. Sie leiht mir sogar ihren Grill, der elektrisch funktioniert. Ich wundere mich ein bisschen über so viel Freundlichkeit, denn nie hatten wir seit meinem Einzug mehr miteinander zu tun gehabt als kurze Gespräche wegen Anrufen für mich auf ihrem Telefon. Ich denke daran, dass das vielleicht damit zu tun hat, dass ich mein Zimmer zum Monatsende gekündigt habe. Noch während ich das denke, merke ich ein schlechtes Gewissen, weil ich so denke, denn das bedeutet, dass ich meiner Vermieterin misstraue, obwohl sie seit fast einem Jahr immer freundlich war. Sie hatte ohne Murren akzeptiert, dass ich meine Schrottkarre, den gelben Opel stets direkt vor ihrem schmiedeeisernen hohen Gartentor geparkt habe, sie hat immer Nachrichten geschrieben wenn ich angerufen wurde, sie hat mich stets im Flur ihrer Wohnung im Erdgeschoss mit Karin telefonieren lassen. Es gäbe noch mehr Beispiele für deren Vertrauen in mich, trotzdem denke ich, dass sie nichts dagegen hat, dass ich nun bald ausziehe.

Ich spreche mit Martin darüber, dass ich auch Ida, Thomas und vielleicht sogar Pete einlade. Das findet Martin super. Er wird Würstchen einkaufen und sogar einen Kartoffelsalat von seiner Mutter mitbringen.

Von der gelben Telefonzelle am Discounter erreiche ich Ida. Obwohl es regnet und recht frisch geworden ist, schwitze ich. Mir ist richtig heiß. Das ist immer so, wenn ich aufgeregt bin. Ich hätte genauso gut Pete erwischen können. Ida hat Zeit und sie weiß, dass auch Thomas Zeit haben wird. Pete habe vielleicht Zeit, genau wisse sie dass nicht, aber sicher wird sie es ihr sagen.

Martin findet die Idee nicht so gut den Elektrogrill zu benutzen. Er könnte einen guten Holzgrill mitbringen. Ich sage ihm: Das lassen wir lieber, denn ich weiß gar nicht wohin ich vom Balkon aus die Grillkohle entsorgen soll. Darüber macht Martin einen Witz. Haben die Stößers nicht einen Pool im Garten? Weil ich darüber nachdenke, wie ich es am besten erkläre, dass ich wegziehe, schaffe ich es nicht, darüber zu lachen. Ich sage nur: Ja den haben sie.

Pünktlich um sieben Uhr stehen alle zusammen vor der Tür. Pete ist tatsächlich mitgekommen. Es fällt mir sehr schwer sie anzusehen. Sie lacht mich an, wie während der Autofahrt. Wir stellen das Sofa einfach auf den Balkon. Der ist doch groß genug und hat ein schönes Dach, meint Thomas. Martin übernimmt die Grillerei mit dem Elektrogerät. Ich habe Bier besorgt, wir stoßen miteinander an und Pete fragt völlig unbefangen, im gleichen Tonfall in dem Sie mich im Auto gelöchert hatte: Was haben wird denn heute Schönes zu feiern? Alle sehen mich an. Die machen mir das aber leicht. Ich werde wegziehen, ich ziehe bald in die Großstadt.

Nein, wirklich? Ich sehe Pete jetzt sehr genau an. Sie sieht nicht traurig aus, sondern sie ist genauso überrascht, wie alle anderen. Das finde ich einerseits sehr gut, andererseits spüre ich, dass ich mir ein bisschen Traurigkeit gewünscht habe. Lange habe ich sie nicht gesehen, nichts war zwischen uns, trotzdem wünsche ich das. Es hätte mir gezeigt, dass sie nicht mit einem anderen zusammen ist. Das denke ich jetzt. Was ist das? Ist das mein verletzter Stolz? Ich hätte ihr am Feuer sagen können, dass ich sie liebe. Das habe ich nicht getan, also habe ich sie auch nicht geliebt. Dass sie mich zu diesem Zeitpunkt geliebt hat, hat etwas ausgelöst in mir. Was? Seitdem hänge ich ihr nach, obwohl ich sie nie wieder getroffen habe. Und jetzt sogar noch das: Ich erwarte von ihr ein Zeichen der Traurigkeit, weil ich wegziehe. Was stimmt da nicht? Ich weiß es nicht, aber ich spüre es. Was ich denke passt nicht zur Realität zwischen uns, die ich und sie geschaffen haben.

Ist es gut das durch meinen Wegzug aufzulösen? Oder haben wir beide noch etwas zu klären miteinander? Hätte ich das besser offen mit Pete geklärt, anstatt es jetzt mit einem Wegzug zu regeln? Würde es Sinn machen, Pete das was ich denke zu sagen? Ich kann nur vermuten, dass es mir wehtun würde, denn dadurch würde sich für mich nichts ändern. Sie würde ich wahrscheinlich verunsichern. Denn was soll sie mit so einer Botschaft anfangen? Seitdem du mir gesagt hast, dass du mich liebst und ich das verneint habe, denke ich oft an dich, obwohl wir uns nie mehr sehen. Was soll das einem Menschen sagen? Vielleicht spinne ich einfach. Das könnte es sein. Ich unterliege dem Wahn, Frauen dann hinterher zu weinen, wenn die mir gesagt haben, dass sie mich lieben, ich das aber abgelehnt habe und sie daraufhin verschwinden. Das ist mein Irrsinn! So denke ich jetzt.

Ich begründe meine Entscheidung damit, dass die Schule in der Kreisstadt mich echt geschafft habe. Ich müsste da raus, weil ich dort sonst krank werde. Deshalb habe ich eine andere Schule in der Großstadt gefunden, in der das hoffentlich besser wird. Alle finden es schade, dass ich gehe, aber sie verstehen, dass ich die Schule schaffen muss und wenn das in Traunstein nicht sicher ist, etwas verändern muss.

Der Abend gerät zu einer Art Abschiedsabend, denn auch Thomas ist im Kopf schon damit beschäftigt, nach Berchtesgaden an seine neue Lehrstelle umzuziehen. Ida hat die Schule ziemlich gut abgeschlossen. Sie wird nach Salzburg gehen um dort zu studieren. Ida und Thomas haben sich vor zwei Wochen getrennt. Weil die Arbeitsgruppe nicht mehr stattfand und auch der Verkaufsstand eingeschlafen ist, habe ich davon nichts mitbekommen. Sie haben miteinander noch telefonischen Kontakt gehabt und in zwei Gesprächen geklärt, dass die Trennung endgültig ist.

So wird der Abend kein lustiger Grillabend, wie ich das eigentlich nach der Kinderfreizeit mit Martin besprochen hatte, sondern die Gespräche an dem Abend werden immer ruhiger. Gegen ein Uhr Nachts erheben sich meine Freunde und ich begleite sie hinunter bis vor die schmiedeeiserne Gartentüre. Ich spüre, dass es nun vorbei ist mit uns. Das ist endlich die Situation, in der ich Pete umarme. Sie küsst mich auf die Wangen.

Umzug

Der Deutschlehrer kommt nach wochenlanger Erkrankung heute ein letztes Mal in die Deutschstunde. Er kommt um mit uns zusammen die letzte Prüfung des Schuljahres in seinem Fach zu korrigieren. Er verteilt die Ergebnisse zu Beginn der Stunde und bespricht mit uns das Thema des Textes der Textanalyse. In dem Text geht es um einen Schmied, der versucht sein Glück zu schmieden. Der Schmied scheitert daran, dass ihn in seiner nächsten Umgebung niemand unterstützt. Er scheitert daran, dass er anderes gelernt hat, als das, was in seiner Umgebung nun notwendig geworden ist. Sein Scheitern hängt schließlich auch damit zusammen, dass die vielen Ideen die er hat, um an seinem Glück zu arbeiten, von niemandem gutgeheißen oder anerkannt werden. Seine Ideen, so stellt der Schmied schließlich fest, sind einfach nicht zeitgemäß, sie passen nicht zum Zeitgeist. Der Zeitgeist regiert seine Welt, so denkt der Schmied, aber er hat Ideen, die zu weltoffen sind für den Zeitgeist. Manchmal flucht der Schmied wütend über diesen, wie er findet, komischen Geist. Dann schreit er laut in seiner Werkstatt herum und trampelt darin auf und ab.

Der Schmied will zum Beispiel in seiner Arbeit nicht nur für sich allein Arbeiten, sondern er versucht ein Team zu gründen, in dem er zusammen mit anderen arbeiten möchte. Aber alle Kollegen, die er für sein Team zu gewinnen versucht, begegnen dem Schmied mit Misstrauen. Ständig wird der Schmied gefragt, was er eigentlich im Schilde führe, welche Tricks hinter seinen Ideen steckten, hinter welches Licht er die Menschen nun führen wolle, um mehr Geld zu verdienen, um einen Vorteil zu erreichen, um besser zu sein, als die Konkurrenz. Er findet keinen Weg seine Ideen umzusetzen, denn der Zeitgeist, auf den er stößt, ist eine völlig anderer. Er ist geprägt von Abgrenzung, Konkurrenz und Ablehnung der Menschen.

Schließlich erklärt der Schmied sein Schmieden für gescheitert. Er zieht sich zurück und beginnt in einer anderen Stadt von vorne. Dort will er sich von Beginn an dem Zeitgeist unterwerfen. Er schmiedet nicht mehr an Glück, sondern er will nur noch arbeiten um zu produzieren, er will gewinnen, er will an Anderen vorbeiziehen, anstatt zu versuchen sie mitzunehmen. Das ist nun sein Ziel: Er wird sein Glück suchen indem er den Zeitgeist in sein Leben integriert, anstatt ständig eigene Ideen zu entwickeln und zu verfolgen. Am Glück zu schmieden, das funktioniert nicht. Glück ist etwas anderes, es ist schon da, man muss es nur finden, dazu braucht man den Zeitgeist, es muss nicht erst geschmiedet werden. So denkt der Schmied nun.

Im Laufe der Deutschstunde wird mir klar, dass der Deutschlehrer einen Text ausgesucht hatte, der große Teile seiner eigenen Situation beschreibt. Auch der Deutschlehrer wird die Schule verlassen, dann er ist an ihr gescheitert. Er verabschiedet sich mit einer letzten Unterrichtsstunde und einer letzten Prüfung in der er seine eigene Situation aufgreift. Aber im Gegensatz zum Schmied erklärt er, dass er nicht nur die Kreisstadt verlässt um in eine andere Stadt zu gehen, sondern er wird das Bundesland wechseln. Er hofft darauf, nicht eines Tages neu beginnen zu müssen wie der Schmied, sondern er versucht es noch einmal. Deshalb wechselt er das Bundesland. Erst wenn er auch dort scheitert, bleibt ihm nichts anderes als sich, so wie der Schmied es plant, dem Zeitgeist bedingungslos anzupassen.

Es ist die Unterrichtsstunde des großen Interesses. Nie zuvor hatte ich in der Schulklasse solch interessierte Augen gesehen. In dem Klassenraum herrscht keine Ruhe aus Zwang, so wie dass üblicher Weise der Fall ist, sondern die Ruhe entsteht aus Erstaunen darüber, was hier vorgeht. Im Gesicht von manchem Mitschüler beobachte ich höchste Spannung und Aufmerksamkeit.

Was der Lehrer tut ist ungewöhnlich. Spannung entsteht, weil er nicht davon spricht, dass er gescheitert ist, sondern davon, dass er weitermachen wird. Aber er wird anderen Ortes weitermachen. Darin sieht der Lehrer Sinn. Sein Ziel ist nicht gescheitert, sondern er ist an seiner Umgebung gescheitert. Auch ich sehe, genauso wie viel Mitschüler den Lehrer ungläubig und überrascht an. Noch einmal versuchen, was hier nicht funktioniert? Die Umgebung wechseln, weil die Umgebung schlecht ist? Das finde ich interessant. Vielleicht gibt es für mich auch eine bessere Umgebung? Vielleicht ist auch meine Entscheidung zum Wechsel dieser Schule völlig richtig. Vielleicht ist das Klima der Menschen an dieser Schule so stark vom Zeitgeist geprägt, dass Menschen wie ich einfach keine Chance haben. Wenn das stimmt, ist es vollkommen richtig, nach anderen Chancen zu suchen, denn die können sich hier, an dieser Zeitgeist-Schule, nicht entwickeln.

Die letzte Deutschstunde ist für mich die interessanteste Stunde an dieser Schule. Sie hat Inhalt, Aussage und Perspektive. Sie ist zumindest für zwei Leute, dem Deutschlehrer und mir, voll von Bestätigungen für wichtige Entscheidungen. Sie rüttelt mindestens dreißig andere Mitschüler zumindest kurzzeitig auf. Sie regt die Mitschüler zu Überraschung, Erstaunen und schließlich Nachdenklichkeit an. Auch wenn das zunächst nichts ändert, könnte die letzte Deutschstunde zumindest ein winziges Sandkorn im Getriebe der Gleichgültigkeit, Anpassung und schlichten Unterwerfung unter den Zeitgeist aus selbstherrlicher Konkurrenz und Ausgrenzung, die an der Schule täglich gelebt wird, sein. Aus derartigen Erlebnissen könnte sich für manchen Mitschüler eines Tages eine hübsche Handlungssumme ergeben.

Der rote Bus vom Jugendbüro ist bis unters Dach vollgestopft mit meinen Sachen. Das alte Sofa haben wir nun endlich zum Sperrmüll gebracht. Den alten Fernsehapparat, er hatte schon seit Wochen nur noch Ton aber kein Bild mehr von sich gegeben, versenkte ich früh morgens nach der letzten Rückkehr von meiner Feuerstelle in der großen Mülltonne neben dem Moulin Rouge. Dort parken keine Autos mehr, sondern auf dem Parkplatz wurde vor Tagen ein großer Kran aufgebaut. Das Moulin Rouge hat das Zeitliche hinter sich. Dort werden keine angeblichen Kreis- und Landräte mehr ein und ausgehen. Es wird abgerissen. An seiner Stelle entstehen neue Einfamilienhäuser. Die Bautafeln, die das bewerben, stehen bereits.

Der gelbe Opel-Kadett hat seine letzte Fahrt hinter sich. Sie führte mich zu einem Feuerwehrfest. Dort habe ich die Kennzeichen abgeschraubt und das Auto den Feuerwehrleuten überlassen. Die bauten das Auto in eine Sicherheitsvorführung ein. Zum Schluss erkannte ich den Motor, der aus einem Haufen zerschnittenen, gelben Blechs herausragte. Am Motor erkannte ich aus sicherer Entfernung die Lichtmaschine, die ich mir am Straßenrand für wenig Geld hatte einbauen lassen.

Frau Stößer verzichtet auf die halbe Monatsmiete für die Hälfte des Monats August. Sie hat verstanden, dass ich die neue Wohnung erst renovieren muss und deshalb nicht sofort umziehen kann, aber in der Stadt schon Miete bezahle. „Das ist der Zeitgeist!“ So rief Frau Stößer und dass es in der Großstadt eben anders zuginge. Ich könnte ruhig noch bis Mitte des Monats bleiben, so schnell finde sie eh keinen Nachmieter für mein Zimmer. Sie überlege, ob sie das Zimmer überhaupt weiter vermieten werde, eigentlich könne sie auch ein Gästezimmer daraus machen für Besucher.

Martin fährt den roten Jugendbus dicht an die Haustür meiner neuen Bleibe heran. Das Ausladen ist in eine knappen halben Stunde geschafft. Ich wohne, wie bei Frau Stößer im zweiten Stock, aber die Aussicht ist unvergleichbar. Anstatt der Kreisstadt mit dem Fluss, sehe ich aus meinem Fenster heraus die tosende Autobahn mit sechs Fahrspuren. Martin stellt mit mir zusammen Schrank und Schreibtisch in meinem neuen Zimmer auf. Nach der Arbeit lässt er sich erschöpft in den orangenfarbenen Sessel fallen. Martin kennt die Stadt, denn hier hat er seine kaufmännische Ausbildung gemacht und währenddessen in einem Wohnheim gewohnt. Hin und wieder führt ihn sein Weg in die Stadt zu alten Bekannten. Er versichert mir, dass er mich anrufen und besuchen wird.

Von Thomas, meinem neuen Mitbewohner in der Stadt sehe ich nichts, er ist offenbar in einem Baumarkt unterwegs. Die Renovierung der Wohnung ist noch nicht abgeschlossen. Die Küche ist noch nicht fertig und das Wohnzimmer steht voll mit Tapeziertisch und Farbeimern. Deshalb sitze ich mit Martin in meinem neuen Zimmer, das kleiner als die Hälfte meines Zimmers bei Frau Stößer ist. Wir sprechen über meine neue Schule, die im Herbst beginnt und über Martins alte Freunde, die er in der Stadt besucht. Er sitzt mir gegenüber, im orangenfarbigen Sessel, der mich an Pete erinnert. Ich denke, dass ich den Sessel wegwerfen werde.

Zusammen tragen wir den orangenfarbenen Sessel über die zwei Stockwerke durch das Treppenhaus hinunter. Martin fährt den roten Bus dicht vor die Tür. Draußen ist es dunkel geworden und es regnet. Wir laden den Sessel in den leeren Laderaum. Martin befestigt ihn rechts und links mit einer Schnur. Martin schüttelt mir die Hand und wirft einen prüfenden Blick durch die Fenster auf den Sessel im Laderaum des Jugendbusses. Den kann ich in meinem Zimmer gut gebrauchen. Vielen Dank! Der hat halt jetzt eine kleine Reise in die Stadt gemacht! Martin lacht mich an, während er das sagt. Bis bald, wir telefonieren!

Der rote Jugendbus verschwindet im Verkehrsgetümmel der Autobahn. Ich steige die zwei Stockwerke hinauf in mein neues Zimmer. Ich habe es gelb gestrichen. Gelb wie die Farbe vom Opel-Kadett. Ich schalte das Licht ein. Ich setze mich an meinen Schreibtisch. Es ist ein grelles Gelb. Jetzt bin ich hier.